Im Auge des Betrachters von bloody_venus ================================================================================ Prolog: Hin ----------- Ich denke, jeder, der sich irgendwann mal zum sterben elende gefühlt hat, kann verstehen was ich schreibe. Allerdings ist dies nur der Prolog und gibt keine Aufschluss über die folgende Geschichte, die sich zwar mit der Problematik auseinandersetzt, aber auf einer vollkommen anderen Ebene spielt. Ich schreibe diese Geschichte eigentlich für mich, um mit diesem Teil meines Lebens abzuschließen, würde mich aber trotzdem freuen, wenn es Menschen gibt, die das lesen, was ich schreibe. Prolog - Hin Ring, ring. Ring, ring. Weckerklingeln. „Guten Morgen, Schatz, Zeit zum Aufstehen!“ Ihre Mutter trampelte durch das Zimmer, stieß dabei diverse Gegenstände um und zog geräuschvoll die Rollläden hoch. Sie stöhnte und drehte sich auf die andere Seite. Keine Lust zum Aufstehen, wozu auch? Die blöde Schule würde auch ohne sie auskommen. „Heute sind draußen 18 °C und für den Nachmittag...“ Sie schaltete ab. Jeden morgen dasselbe: Aufwecken, Wetterbericht, uninteressante Nachrichten aus der Zeitung. Sie döste wieder ein, träumte davon einen wichtigen Zug zu verpassen und wachte auf, als die Tür hinter einem fröhlichen „Bis heute Mittag!“ Ihrer Mutter ins Schloss fiel. Stille. Sie überlegte einige Minuten lang, ob sie nicht doch im Bett bleiben sollte. Schließlich entschied sie sich dagegen und stand auf. Für einen Augenblick tanzten bunte Lichter vor ihrer Augen und ihr wurde schwindelig. Sie stand einen Moment reglos, bis das Gefühl der Benommenheit verblasst war und sah sich dann sich streckend und lauthals gähnend in ihrem Zimmer um. Einige mickrige Grünpflanzen verkümmerten auf dem staubigen Fensterbrett. Ein Bücherschrank voller ungelesener Bücher quoll in einer Ecke über in der der Fußboden von unzähligen getragenen Wäschestücken strotzte. Ein paar Kuscheltiere lagen am Fußende ihres zerwühlten Bettes und erinnerten an die Zeit, in der ein kleines Mädchen hier geschlafen hatte. Sie war nicht mehr klein, jedenfalls was die Körpergröße anging. Sie betrachtete unzufrieden ihre Brüste als sie das Longshirt, das sie zum Schlafen trug über den Kopf zog – zu klein, aber wer sollte das ändern? Sie seufzte unhörbar und ging in die Hocke um zwischen den Kleidermassen nach einem sauberen Oberteil zu fischen. Sie bekam ihr rotes Lieblingsteil zu fassen – ziemlich tief decoltiert, aber so mochte sie es, denn schließlich musste man ja irgendwie Aufmerksamkeit erregen, wenn man weder besonders hübsch noch besonders beliebt war. Sie schlüpfte in einen schwarzen BH und dann in das rote Oberteil. Einen Augenblick rümpfte sie die Nase, dann zog sie es wieder aus. Sie hatte es seit der letzten Party nicht gewaschen und das hübsche Ding stank ganz bestialisch. Also, was anderes. Weiß war auch okay. Hose oder Rock? Sie warf einen Blick aus dem Fenster: blauer Himmel mit weissen Wattewölkchen. Sie runzelte die Stirn und stand auf, um aus dem Wohnzimmerfenster zu sehen: dunkelgraue Wolkenberge türmten sich bedrohlich über dem Dach des Nachbargebäudes. Für einige Sekunden stand sie reglos da und dachte an nichts, dann fiel ihr Blick auf die Uhr auf dem Fernseher. Höchste Zeit! Sie entschied sich kurzerhand für die Hose und warf ein paar Bücher und Hefter in ihre Schultasche, die sie im Flur aufgelesen hatte. Dort war die Tasche meistens anzutreffen, denn sie feuerte jeglichen Gedanken an schulische Leistungen mitsamt der Mappe sofort von sich, wenn sie am Nachmittag die Wohnung betrat. Ihre Mutter ermahnte sie stets Hausaufgaben zu machen, sie scherte sich nicht darum und erledigte alles, was dann doch sein musste zwischen den Stunden. Suchend sah sie sich um. Wo waren die Stiefel? Sie warf noch einen Blick auf die Uhr und wusste im selben Moment, dass sie wieder einmal viel zu lange im Bett gelegen hatte. Für Sekunden tauchte das schöne Bild ihrer selbst wieder zurück im Bett vor ihrem inneren Auge auf und sie war versucht dem Wunsch nachzugeben und einfach wieder ins Bett zu kriechen, dann schüttelte sie entschlossen den Kopf und suchte in fieberhafter Eile die Wohnung nach ihrem Schuhwerk ab. Ah, da waren die Biester ja, neben der Couch, auf der sie sie gestern ausgezogen hatte, während sie ihrer Mutter erzählte, dass sie mit der nächsten Fünf in etwa zwei Wochen rechnen musste, da die Klausur ziemlich schlecht gelaufen war. Stiefel an. Sie rannte durch den Flur, griff nach Tasche und Mantel und wollte grade zur Tür hinaus rasen, als ihr Blick in den Spiegel fiel. „Verdammt, sehe ich heute scheiße aus!“ War ihr erster Gedanke und dann: „Kein wunder, du hast dir ja heute weder die Zähne geputzt, noch die Haare gekämmt“ Als die Tasche mit dumpfem Knall auf dem Boden landete, hatte sie schon die Zahnbürste in der Hand und ersann in Gedanken schon die Lüge, die sie ihrer Lehrerin auftischen würde, warum sie schon wieder zu spät kam. Sie bürstete sich die Haare und überlegte, ob sie das strohige Nest auf ihrem Kopf nicht mit einem Haarband zusammenhalten sollte. Sie ärgerte sich über sich selbst, während sie ein Gummi vom Haken zog – warum hatte sie sich auch ihre langen, blonden Haare abgeschnitten? Fertig. Sie drehte sich ganz automatisch zu dem Regal mit ihren Schminkutensilien um und griff einen Kajalstift, Wimperntusche, Lipliner und ihren Lieblingslipgloss. Dann stockte sie mitten in der Bewegung – ein Blick auf die Uhr (oh nein, schon so spät!), ein blick in den Spiegel... der Spiegel gewann mit überragender Mehrheit. Sie überlegte welchen Lidschatten sie heute nehmen sollte und entschied sich für blau – das passte wenigstens zu ihren Augen. Als sie endlich mit Hut und Stock aus dem Haus hetzte, begannen in der Ferne laut Kirchenglocken zu schlagen. Sie fluchte und fragte sich nun schon zum dritten mal an diesem morgen, ob sie die schule für heute nicht lieber sausen lassen sollte. Sie verscheuchte den Gedanken ans Schwänzen und presste sich die Hand auf die Seite als sie den Schulhof des Gymnasium rennend überquerte. Sie keuchte laut und fluchte erneut, diesmal auf sich selbst und ihre schlechte Kondition. Sie wusste selbst, wie faul sie war, aber sie sah einfach keinen Grund sich etwas besser in Form zu bringen. Eigentlich sah sie in allem, was sie tat keinen Grund. Der Gedanke überfiel sie plötzlich als sie die Treppe zum zweiten Stockwerk erklomm. Für einen Augenblick schien die Welt zu beben, dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Aber die schwarzen Gedanken, die seit Monaten in ihrer Seele kreisten hatten sie erneut eingeholt. Sie zwang sich tief durchzuatmen und ein freundliches Lächeln aufzusetzen als sie die Tür zum Geschichtsraum öffnete und mit einem leisen „Entschukldigung!“ auf ihren platz huschte. Die Lehrein lies sich von ihr nicht stören und erzählte munter weiter; dass dieses Mädchen zu spät kam, war weiß Gott nichts Neues. Sie packte ihre Unterlagen aus und begann dann den Unterrichtsgeschehen zu folgen, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Angefangen hatte es ganz harmlos. Sie hatte sich in der zehnten Klasse oft abends verabredet, war viel mit Freunden unterwegs gewesen und hatte sich wenig um die Schule geschert. Als dann die Versetzungszeugnisse näherrückten, hatte sie ihr Klassenlehrer nach einer besonders miesen Vorführung an der Tafel seines Mathematikraumes aufgehalten um mit ihr ein ernstes Gespräch zu führen. Erst dachte sie, es ginge um die nicht gekonnten Aufgaben, doch dann musste sie erkennen, dass diese zwar etwas damit zu tun hatten, aber nicht dass eigentliche Hauptthema waren. Das eigentliche Hauptthema war der Umstand, dass ihre Versetzung in die Oberstufe auf der Kippe stehe und sie sich besser darauf gefasst machen solle, das zehnte Schuljahr noch einmal zu wiederholen. An diesem Tag weinte sie lange und je länger sie darüber nachdachte, umso aussichtsloser erschien ihr ihr Leben. In dieser Woche begann sie sich mehr und mehr von ihren Mitschülern, von denen sie kaum einen mehr als oberflächlich gut kannte, abzusondern. Sie wanderte allein durch das Schulgebäude oder saß auf einer Steinbank, die den Blick anderer auf sie durch eine dicken Mauer versperrte. Sie dachte viel über die Zukunft nach. Sie wusste ganz genau, dass sie nicht Sitzenbleiben wollte, dass sie das Abi mit ihren Freunden schaffen wollte, dass sie sich was antun würde, wenn sie das Schuljahr wiederholen müsste. Das war das erste Mal, das sie an Selbstmord dachte. Sie dachte lange darüber nach und entschied schließlich, dass sie es der Schule heimzahlen würde, sollte man sie durchfallen lassen. Zufällig hatte sie bei einer ihrer einsamen Wanderungen durch das Schulhaus eine unverschlossene Tür zum Dachboden des alten Hauses gefunden. Sie entschied sich von dort zu springen, wenn ihr Zeugnis ein „nicht versetz“ beinhalten sollte. Sie sprang nicht, was aber nicht an mangelndem Mut lag, sondern an der Tatsache, dass sie gegen alle Überzeugungen doch knapp durchrutschte und in die Oberstufe aufstieg. Dort angekommen, verbesserten sich alle ihre Noten und sie lernte wie eine Besseene um nicht noch einmal in diese Situation zu kommen. Sie freundete sich mit ein paar Leuten ganz speziell an und ihr Leben war gut – bis auf den Umstand, dass die Vorstellung eines Suizides ihr nicht mehr aus dem Kopf ging. Mehrmals wöchentlich musste sie einen Fluss über eine Brücke überqueren und mehrmals wöchentlich blieb sie stehen und überlegte, ob sie nicht springen solle. Das Problem hierbei war nicht die Angst vor dem Tod, die hatte sie nicht, sondern die Angst vor dem Leben – sie fürchtete, nicht zu sterben sollte sie springen und danach gelähmt zu sein und keine zweite Chance zu bekommen ihr Werk zu vollenden. Außerdem ging ihr eine Bemerkung ihrer Mutter nicht aus dem Sinn: Sie würde Selbstmörder verabscheuen; und sie wollte nicht, dass ihre Mutter sie verabscheute. Sie wollte auch nicht, dass sie allein war. Deswegen tat sie es nicht, nie. Aber die Gedanken waren allgegenwärtlich. Das Gefühl allen egal zu sein, das Gefühl ganz allein zu sein, das Gefühl, dass niemand einen versteht, das Gefühl nutzlos zu sein... Aber es wurde besser, je älter sie wurde. Ihre Noten waren annehmbar, ihre Freunde liebenswert, in ihrer Familie ging alles glatt. Sie vergaß ihr Vorhaben und lebte einfach. Bis plötzlich eine neue Angst ihr Herz eroberte und diese Angst war größer als je zuvor: die Zukunftsangst. Von überall her läutete plötzlich die Wichtigkeit der Abinoten für die spätere Berufswahl, das Numerus-Clausus-Problem, der Jobmangel – auf einmal betraf sie das alles und sie wusste nicht, ob sie damit fertig werden würde. Und diese Zeit war nicht vorbeigegangen, sie hing wie eine dunkle Wolke aus Angst, Zweifel und Verzweiflung ständig um sie und drückte ihre Laune auf den Nullpunkt. Die alten Wünsche nach dem endgültigen Ausstieg aus der Gesellschaft waren wieder da und behaupteten sich vehement gegen die Behauptungen anderer, es werde schon nicht so schlimm werden. Der von ihr selbst erschaffene Gedankenteufel plagte sie wieder, sodass sie ... Die Frage der Lehrerin riss sie aus ihren dunklen Grübeleien, doch bevor sie sich eine Antwort überlegt hatte klingelte es zur Pause. Für den Augenblick war sie gerettet. „He, willst du vielleicht hier bleiben?“ Irritiert sah sie zu ihrer Sitznachbarin auf und bemerkte, dass diese sich ihre Tasche bereits über die Schulter geworfen hatte. Nach einem kurzen Blick durch die Runde registrierte sie, dass alle anderen es ihr gleichgetan hatten und jetzt laut schwatzend Richtung Klassentür drängten um sich mit den Horden anderer Schüler in den Gängen zu vermengen. Schnell beeilte sie sich ihren Mantel überzuwerfen und griff nach dem Riemen ihrer Tasche. Sie musste sich schon über sich selbst wundern, denn sie hatte soeben ohne es zu bemerken eine ganze Doppelstunde in ihrer eigen kleinen Einsamwelt voller Dunkelheit und Kälte verbracht und dort im Stillen vor sich hin geweint. Vom Unterricht, hatte sie nichts mitbekommen, gar nichts. Als sie in die Masse der albernden und lachenden Schüler eintauchte fühlte sie sich plötzlich wie ein Eindringling, wie jemand, der nicht dazugehörte, jemand, der nicht hier sein sollte. „Na, wie geht’s?“ Ihre Freundin M legte ihr den Arm um die Schulter und grinste breit (auch bei ihr aufgesetzte Fröhlichkeit, das wusste sie). Die beiden gaben sich beim Treppe hinuntergehen ungeschickte Bisses und begannen über belangloses Zeug zu reden. Jedenfalls für sie belanglos: M’s neuer Freund aus dem Internet und ihre Probleme mit ihren Eltern. I gesellte sich zu ihnen und begann eine angeregte Diskussion über irgendeinen Film, den sie letztens im Fernsehen gesehen hatte. Sie klinkte sich aus und lies den Blick durch den prall gefüllten Raum gleiten. Hier und da saß eine einzelne Person zwischen den zahllosen Schülergrüppchen. Instinktiv hatte sie Mitleid mit ihnen und dann in logischer Konsequenz auch Mitleid mit sich selbst. Sie stand im Kreise ihrer engsten Freunde (T war angekommen und beschwerte sich über die zehn Stunden, die sie heute haben würde) und fühlte sich doch so allein, als wäre der Raum um sie herum vollkommen leer. Es tat weh, irgendwo in sich spürte sie die unsichtbare Wand, die sie von ihnen trennte. Auch ihrer Freunde hatten Probleme, ja vielleicht sogar größere als sie selbst, aber sie waren stärker, sie kamen damit klar. Sie kam nicht mit ihren Problemchen klar, sie konnte es nicht. Sie war schwach, sie war wehleidig und weinerlich und sie hasste sich dafür so egoistisch und mitleidheischend zu sein, aber sie konnte es nicht ändern. Sie hatte nicht die Kraft dazu... Als sie vier Stunden später erneut in dieser Halle stand, war diese tatsächlich leer. Allerdings nur, weil ihr Lehrer seinen Kurs einige Minuten früher beendet hatte und sie nun seit geschlagenen sechs Minuten auf T wartete, um ihr einige geliehene Blätter zurückzugeben. Sie fühlte sich gut, seltsamerweise war ihr der große Raum lieber ohne Menschen, aber das war bei ihr schon immer so gewesen. Nicht, dass sie schüchtern wäre, nein, sie war zu einem gewissen Grade menschenscheu. So war es ihr immer unangenehm, Jugendliche ihres Alters auf der Strasse zu begegnen, egal, ob sie sie kannte oder nicht. Bei ihr stellten sich dann mit sofortiger Wirkung Minderwertigkeitskomplexe ein, die sie erst dann wieder los wurde, wenn die Leutchen schon einige Straßenblocks weit entfernt waren. Auch mochte sie es nicht, ihren Nachbarn im Hausflur zu begegnen, woran dass wiederum lag, wusste sie allerdings nicht so genau. Sie riet, dass es sich dabei um einen Schutzmechanismus ihrer Privatsphäre handelte ... oder so ähnlich. T kam die Treppe herunter, zusammen mit etwa einen duzend anderer Schüler, die sich über den vergangenen Schultag oder ihre Pläne für den Nachmittag unterhielten. Der Austausch von Blättern, Küssen und Grüßen fand reibungslos statt und sie wanderten gemeinsam über den noch leeren Schulhof in Richtung ihrer Wohnhäuser. Sie klingelte dreimal – das verabredete Zeichen innerhalb ihrer Familie – und wurde von ihrer Mutter an der Tür begrüßt. Nach Kuss und Umarmung verschwand sie in ihr Zimmer, um sich umzuziehen und als sie ihre Zimmertür hinter sich schloss, fühlte sie sich zum erstenmal seit Stunden wieder vollkommen frei und sicher. Sie verließ ihr Zimmer nur äußerst ungern um Mittag zu essen, da sie selbst der Meinung war, auch ohne Essen auskommen zu können. Sie fand sich eh zu dick, etwas hungern würde da schon mehr helfen als zweifelhafte Diäten. Ihre Mutter verabschiedete sich von ihr mit einem Kuss auf die Wange und ging einkaufen. Während sie dem Geräusch der sich schließenden Tür lauschte, klingelte das Telefon. „Hallo?“ fragte sie in den Hörer hinein, nachdem sie beschlossen hatte, dass das ein wichtiger Anruf sein könnte. „Irgendwas ist ja immer!“ kam es von der andren Seite. „Na, was geht, Cousinchen? Bleibt’s bei heute?“ Sie lächelte. Ihre Cousine war einer der wenigen Menschen, der sie wirklich zum lächeln bringen konnte. „Sorry, geht heut nicht. Mir ist da was Hyperprioritäres dazwischen gekommen: Ich hab dir doch demletz erzählt, dass meine bekannte aus Sydney vielleicht herkommen wollte für’n paar tage und, na ja, jetzt ist sie gestern Abend hier reingeschneit und sie hat nicht viel Zeit. Deswegen geh ich heute mit ihr weg. Sei nicht böse, ja? Nicht pudeln! Es ist echt nulltäglich, dass sie vorbeikommt. Es wäre für sie ne echte Fürstentüte, wenn ich jetzt nichts mit ihr unternähme.“ Ihre Cousine hatte ihren eigenen Slang voller selbsterfundener Wörter. „Mhm, dann kann ich doch mit euch kommen?“ Das Lächeln war ihr vom Gesicht getropft wie warmer Honig. „Nein, das mag sie nicht so. Na ja, ich find's ja auch echt ronny von ihr, aber was soll man machen. Ich glaube nicht, dass sie dich mispeln will, sie will einfach nur was mit mir allein unternehmen. Das verstehst du doch, oder?“ „Klar.“ Sie spürte ein schmerzhaftes Stechen, ignorierte es und verabschiedete sich in übertrieben fröhlichem Ton von ihrem Lächeln. Sie legte den Hörer auf und betrachtete mit geistesabwesendem Blick ihren Teller. Sollte sie sich noch mal an das kalte Essen wagen? Grade hatte sie sich entschieden ein Video einzulegen und zu einem kitschigen Liebesfilm so richtig zu heulen und das Essen Essen sein zu lassen. Als das Telefon erneut klingelte. Diesmal war es N. „Hey Süße, hast du Lust auf ein Abenteuer?“ „Worum geht’s denn?“ „Ach nichts weiter, wir wolten in die Disco gehen. Ein bisschen abtanzen. Willst du mitkommen?“ Immer noch besser als kitschige Liebesfilme! „Wann geht’s los?“ „Um acht bei mir. Und zieh dir was Hübsches an.„ Klick. N hatte aufgelegt, ohne Tschüss zu sagen. Überhaupt hielt sie sich fast nie mit Begrüßungs- oder Abschiedsfloskeln auf. Sie kam immer direkt zum Punkt, das war faszinierend an ihr, aber auch ein bisschen nervig. Den restlichen Nachmittag verbrachte sie damit, sich zu entscheiden, was sie anziehen wollte. Sie war immer extrem nervös, wenn sie mit fremden jungen Menschen zusammentraf und wollte besonders gut aussehen. Nachdem sie sich geduscht und geschminkt hatte, suchte sie Schmuck und Outfit passend zusammen und wechselte innerhalb des Nachmittags etwa fünfmal ihre Meinung, sodass sie sich am Ende beeilen musste, um noch rechtzeitig am Haus ihrer Freundin aufzutauchen. Sie fühlte sich schlecht und wünschte, sie wäre zu Hause geblieben. Aber sie bis die Zähne zusammen und steuerte mit strahlendem lächeln auf das wartende Auto zu, vor dem ihre Freundin in weißem Minirock stand und sich angeregt mit dem Fahrer des Wagens unterhielt. „..kommt bestimmt gleich. Warten wir noch.“ „Hi, da bin ich!“ Ihr lächeln wurde eine Spur unsicherer. N drehte sich zu ihr um und lächelte abfällig: „Mal wieder zu spät. Wir wären fast ohne dich gefahren. Du steigst hinten ein!“ Damit war sie auch schon auf den Beifahrersitz gefallen und hatte die Tür hinter sich zugeschlagen. Sie musste sich beeilen, in den anfahrenden Wagen zu steigen und ärgerte sich wiedereinmal über die episodenhafte Rohheit ihrer Freundin. Wieder mal weder ein „Hallo“ noch ein „wie geht’s?“ Und nichts als Gemecker. Das konnte ja heiter werden. Die Gesellschaft im Auto war zuallererst mal zu voll. In einem Wagen, der für fünf Personen konzipiert war saßen sieben Leute. Zwei Mädchen, die sie nicht kannte saßen auf jeweils einem schoss eines Jungen. Sie, N und der Fahrer waren die einzigen Passagiere, die einen eigenen Sitzplatz ihr Eigen nennen konnten. Die Musik wurde voll aufgedreht und die fröhliche Gesellschaft begann Bierflaschen im Auto herum reichend laut jedes Lied mitzugrölen. Sie kam sich wieder einmal fehl am Platze vor und wünschte, diesmal nein gesagt zu haben und zu Hause geblieben zu sein. Aber nun war es zu spät. Die Musik dröhnte ihr in die Ohren und sie fühlte den bohrenden Kopfschmerz, der sich immer dann einstellte, wenn sich ihre Laune dem Nullpunkt zu nähern begann. Sie spürte ihren eigenen Körper nicht mehr und kam sich vor als würde sie einen schweren, nassen Sack von einer Seite auf die andere schwingen. Das Licht blendete sie und sie wühlte irgendwo in ihrem Gedächtnis nach dem Grund der Tortur, die sich gerade selbst antat. Nach dem stundenlangen Warten vor der Disco, wobei sie sich beinahe die Beine abgefroren hatte, war ihr der stickige, verrauchte, aber warme Innenraum der beliebten Discothek als angenehmes Ziel erschienen. Doch schon nach wenigen Minuten im überfüllten Innern war ihr klar geworden, dass dies hier der falsche Ort für sie war. Sie liebte sowohl singen als auch tanzen, doch hasste sie es, dies vor anderen Menschen zu tun. Auch verabscheute sie die unausweichlichen, zufälligen Berührungen der um sie her ausgelassen tanzenden Menschenmassen. N trat zu ihr, tanzte sie an, lachte. Sie lachte zurück, ihr Innerstes schrie dabei. Sie hasste dies hier und ertrug es nur, um mit ihrer Freundin zusammenszusein. Der neue Song begann mit hämmernden Beats ihrem verwirrten Kopf den Rest zu geben. Sie drängte sich qualvoll durch die Menge und fand ihren Cocktail leer und ihren Platz von einem knutschenden Pärchen eingenommen. Der Wunsch zu verschwinden wuchs und brach aus ihr hervor. Sie griff, freundlich um Verzeihung bittend, an den beiden vorbei und zog ihre Handtasche hinter ihnen hervor. "Ich hab Kopfschmerzen. Ich geh nach Hause." Sie beachtete das wenig begeisterte Gesicht ihrer Freundin nicht und beeilte sich, ihren Mantel aus der Aufbewahrung zu erhalten. Als sie die musikerfüllten Räume der Disco verliess, spürte sie Erleichterung - und sogar Fröhlichkeit, als sie schließlich allein auf dem menschenleeren Bahnsteig auf einen Nachtzug wartete. Sie lächelte zynisch: ihr war die Abnormität ihres Verhaltens durchaus bewusst. Andere Menschen waren gern mit ihren Freunden unterwegs, machten einen drauf und erfreuten sich ihres Lebens die ganze Nacht hindurch; sie war erst dann glücklich, wenn sie endgültig alle Menschen hinter sich gelassen hatte und allein sein konnte. Das Geräusch des einfahrenden Zuges lies sie aufblicken. Sie trat an die Bahnsteigkante und zögerte für den Bruchteil einer Sekunde. Aber letztendlich war ihr klar, das nur sie allein ihre Probleme lösen konnte. Das war ein sehr befriedigender Gedanke und er erfüllte sie mit einer inneren Leichtigkeit. Dann sprang sie vor den Zug. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)