Melancholy Requiem von Flordelis ================================================================================ Kapitel 8: She -------------- Sherry griff nach der Taschenlampe in ihrer Tasche und zog sie heraus. Es wurde Zeit, dass sie ein wenig Licht in die Dunkelheit brachte. Sie schaltete das Licht an und wandte sich zur Seite, um nach Walter zu sehen. Ihr erwartungsvolles Lächeln erstarb auf ihren Lippen. Das neben ihr war nicht Walter! Sie schrie auf und fiel rückwärts zu Boden. Das Wesen kam näher, während Sherry versuchte, davon wegzukommen. Es sah ein wenig so aus wie Valtiel, vielleicht war es das sogar, aber diesmal war er nicht hinter einem Käfig, sondern direkt vor ihr. „NEIN! Bleib weg!!“ Der Kopf des Wesens fing an unkontrolliert zu zucken. Sherry rappelte sich auf, fuhr herum und rannte so schnell wie möglich in den Park hinein. Egal, in welche Richtung, hauptsache, schnell weit weg von diesem Ding, welches Walters Platz eingenommen hatte. Jedes Fahrgeschäft an dem sie vorbeilief, setzte sich plötzlich in Bewegung. Es war bizarr, unheimlich und auch ein wenig faszinierend. Nach einer Ewigkeit blieb Sherry wieder stehen. Sie hielt sich die schmerzende Seite und versuchte tief durchzuatmen, während sie sich umsah. Entweder war das Wesen ihr nicht gefolgt oder sie hatte es abschütteln können. Die leuchtenden Fahrgeschäfte warfen zuckende Schatten in die Gegend. Die fröhlichen Melodien wirkten total fehl am Platz. Sherry wünschte sich, dass endlich Stille herrschte. Im nächsten Moment blieben die Geschäfte stehen und die Lichter erloschen. War das die Macht, von der Reue gesprochen hatte? Zögerliche Schritte ließen sie aufhorchen. „Warum haben alle angehalten?“ Sie drehte sich um und entdeckte - „Wally?“ Der kleine Junge sah sie fragend an. „Hast du alle anhalten lassen?“ „Was tust du hier?“, fragte sie, ohne auf seine Frage einzugehen. „Wie kommst du hierher?“ Er zuckte mit seinen Schultern. „Ich weiß es nicht, ich war einfach hier.“ Sherry seufzte. „In Ordnung... weißt du, wo ich Alessa finde?“ Der Name schien etwas in ihm auszulösen. Er schüttelte heftig seinen Kopf. „Ich muss los.“ Eilig fuhr er herum und verschwand in der Dunkelheit. „Warte!“ Sherry rannte ihm hinterher. Er wusste etwas, da war sie sich sicher und sie wollte wissen, was es war, das er wusste. Da sie die längeren Beine hatte, war es kein Problem für sie, die entstandene Distanz wieder aufzuholen. Wally lief an an einem dieser überdimensionalen Plüschhasen vorbei. Sherry beachtete ihn nicht – und stürzte. Der Junge verschwand erneut in der Dunkelheit. Sie fluchte leise und wandte den Kopf. Der Plüschhase hatte sie am Bein gepackt. Sein Lächeln wirkte höhnisch, das verkrustete Blut in seinem rosa Fell ließ darauf schließen, dass er nicht gerade zimperlich mit Eindringlingen umging. Panisch trat Sherry mit ihrem freien Bein nach dem Wesen. Als Ergebnis hielt der Hase nun beide Beine fest im Griff. Sollte das ihr Ende sein? Ausgerechnet hier? Vielleicht war ja doch alles nur ein Traum. Sie schloss ihre Augen und wünschte sich zurück in ihr Apartment. Ein lautes Geräusch erklang, der Druck auf ihren Knöcheln verschwand. War sie zurückgekehrt? Langsam öffnete sie ihre Augen. Der Hase lag neben ihr auf dem Boden, jemand half ihr hoch. „Alles okay, Sherry?“ Sie wandte ihren Kopf in Richtung der Stimme. „Andrew? Wie kommst du hierher?“ Er schnaubte und schulterte das Eisenrohr. „Das sollte ich dich fragen. Du tauchst auf und verschwindest dauernd. Weißt du, wieviel Angst ich immer habe, dass dir etwas passiert? Und dann komme ich gerade rechtzeitig noch dazu, um dich vor diesem Hasen zu retten. Was ist nur los in dieser Stadt?“ „Ich kann dir das jetzt nicht erklären, ich muss...“ Ein plötzliches Geräusch unterbrach Sherry. Sie sah auf den Hasen hinab. Etwas drückte von innen gegen den Pelz. Sherry und Andrew wichen zurück. Ein Riss entstand im rosa Pelz, schwarzes Blut strömte daraus hervor, eine Gestalt schälte sich aus dem Kostüm. „Lauf!!“, rief Andrew. Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Sie fuhr herum und rannte immer einen Schritt hinter dem Polizisten durch den Vergnügungspark. Erneut begannen die Fahrgeschäfte, sich zu bewegen, als sie vorbeirannten. Immer mehr dieser Gestalten kamen aus den Schatten auf sie zu. Manche dieser Wesen waren die Hunde, welche sie bereits mehrmals verfolgt hatten. Andere wiederum sahen genau so aus wie das Monster, das Sherry im Keller der Post getötet hatte. Und wieder andere waren ihr völlig fremd und sie verspürte auch keinerlei Interesse daran, sie sich näher anzusehen. Andrew blieb plötzlich stehen. Sherry ebenfalls. „Was ist los!?“ Er deutete stumm nach vorne. Sie folgte seinem Blick. Auch von dort kamen nun Monster. Sie kamen von allen Seiten, es gab keinen Ausweg mehr. Andrew schloss seine Hände so fest um das Stahlrohr, dass die Adern hervortraten. Sherry sah sich hektisch um. Es ist aus, schoss es ihr durch den Kopf. Hier kommen wir nie lebend raus! Doch erneut musste sie an Reues Worte denken: Diese Stadt ist gefangen von Alessas erzürntem Unterbewusstsein, aber Sherrys Kräfte kämpfen dagegen an. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und breitete die Arme aus. „Alessa! Wenn du mich haben willst, dann musst du selbst kommen, um mich zu holen! Ich will dir nichts tun! Ich will nur ein paar Fragen von dir beantwortet haben!“ Sie ließ ihre Arme wieder sinken und fügte murmelnd „Bitte“ hinzu. Die Monster blieben stehen. Alles stand still, auch die Fahrgeschäfte und die Musik. Aber die Lichter waren noch an. Andrew sah Sherry fragend an. „Wer ist Alessa?“ „Ich weiß es selber nicht so genau.“ Schritte erklangen, die Monster bildeten eine Gasse. Sherry schluckte, ihre Kehle war trocken, das Herz schlug ihr bis zum Hals, ihr Kopf schien platzen zu wollen. Andrew schien zu spüren, dass nun etwas vor sich ging, bei dem er eher stören würde. Er trat einige Schritte zurück, lockerte seinen Griff um das Stahlrohr nicht um eine Winzigkeit. Es war eine junge Frau, die da auf Sherry zulief, sie konnte nicht älter sein als 20. Sie trug braune Stiefel, einen grünen Minirock und eine ehemals weiße Weste, welche inzwischen verschmutzt war. An ihren Armgelenken trug sie orange-farbene Schweißbänder, die Uhr am linken Handgelenk war zersplittert. Ihre gefärbten Haare waren zerzaust, sie wirkte erschöpft, ganz anders als die Aura von Macht, die sie umgab. Je näher sie kam, desto schlimmer wurden Sherrys Kopfschmerzen, ihre Sicht verschwamm ein wenig. War das Alessa, die versuchte, ihre Gedanken zu übernehmen? Direkt vor ihr blieb die Frau stehen. Die Monster schlossen die Gasse wieder. Sherry blinzelte, um wieder etwas besser sehen zu können. „Bist du... Alessa?“ „Ja... das bin ich. Zumindest gab man mir diesen Namen vor langer Zeit. Was willst du in dieser Stadt? Sie gehört mir.“ „Ich sollte eher dich fragen, was du hier tust! Was soll das mit diesen Monstern und den Illusionen und allem? Das ist doch alles dein Werk, oder?“ Alessa lächelte kühl. „Ja, das ist mein Werk. Ich will, dass die Menschheit leidet, so wie ich gelitten habe. Sie haben nie aufgehört, mich zu quälen, egal, wie inständig ich darum gebeten habe.“ Sherry warf erneut einen Blick um sich. „Du möchtest alle leiden lassen, weil einige bestimmte Menschen dir wehgetan haben? Das ist falsch. Was ist zum Beispiel mit Kindern?“ „Auch diese haben mitgeholfen mich zu quälen!“ „Verdammt, Alessa! Du kannst Gleiches nicht mit Gleichem vergelten!“ „Warum nicht? Denkst du wirklich, du bist so viel besser als ich? Denkst du wirklich, ich weiß nicht, was du getan hast? Du hast deine Adoptiveltern umgebracht und bist dann weggerannt.“ Sherry schrak zurück. Alessa lachte. „Das ist der Grund, warum du hier bist. Das ist der Grund, warum du leidest. Auch eine heilige Mutter kann nicht einfach Menschen töten.“ Die Schwarzhaarige schüttelte heftig ihren Kopf und krümmte sich zusammen. „Nein, das habe ich nicht, das war ich nicht!“ Sie versuchte sich an die Nacht zu erinnern, in der sie ausgerissen war. Fieberhaft suchte sie in ihrer Erinnerung nach den Ereignissen bevor sie die Straße entlangrannte. Da war etwas gewesen. Eine Frau – wer war das? Sie hatte geschrien und dann... Plötzlich war überall Blut gewesen. Sherry sah sich selbst neben ihren toten Adoptiveltern sitzen und weinen. Dann eine Stimme: „Du solltest nicht weinen. Die Götter haben so entschieden, nun lauf und komm wieder in die Stadt zurück, wenn deine Zeit gekommen ist.“ Und sie war gerannt, ohne zu wissen wohin. So lange, bis ein Autofahrer sie unterwegs mitgenommen hatte. Ein Autofahrer namens - „Andrew!“ Er sah sie fragend an, als sie ihm den Kopf zuwandte, immer noch in dieser gekrümmten Haltung. Sie hatte alles genau vor sich, die Erinnerung kam wieder. Andrew hatte sie zurück nach Silent Hill bringen wollen, deswegen hatte sie ihm ins Lenkrad gegriffen und einen Unfall verursacht. Danach waren sie ins Krankenhaus gekommen, wer hatte den Notruf gewählt? Und im Krankenhaus hatte Sherry erfahren, dass Andrew nicht überlebt hatte. Aber er stand doch direkt hinter ihr. Vielleicht war das alles auch nur eine Komafantasie? Oder vielleicht war sie auch bei diesem Unfall gestorben und dies war wirklich die Hölle? Alessa lachte durch die Nase. „Ganz schön unangenehm, wenn die Wahrheit rauskommt, nicht wahr? Tja, ich denke, dann wirst du nun glücklich sein, wenn ich dich auch töte. Du wirst ein Teil meines Paradieses werden.“ Sie griff in ihre Tasche und zog ein breites Messer heraus. Sherry sank auf die Knie und schloss die Augen. Das war es nun endgültig, dies war das Ende, sie fühlte es. Alessa holte aus. Ein plötzlicher Lufthauch entstand vor ihr, dann klirrte Metall auf Metall. Sie öffnete ihre Augen wieder. Valtiel stand vor ihr – und daneben Wally. „Valtiel? Aber warum...?“ Wally drehte sich zu ihr um. „Er hat dir doch versprochen, dass er dich beschützen wird.“ „Was zum...!?“ Andrew riss Sherry hoch. „Komm schon, lass uns abhauen!“ Er zog sie hinter sich her, während er auf die starren Monster zusteuerte. Als sie näher kamen, begangen die Wesen, sich wieder zu bewegen. Andrew wich zurück. Sherry wandte den Kopf und sah zu Alessa, Valtiel und Wally zurück. Der Gottesdiener setzte Alessa ganz schön zu, Sherrys Kopfschmerzen ließen nach. Gleichzeitig schien auch etwas mit der Umgebung zu passieren. Einige der Monster verschwanden und Valtiel nahm die Form an von - „Walter!“ Sie wollte sich losreißen, um ihm zu helfen, aber Andrew hielt ihren Unterarm umklammert. „Komm jetzt, wir müssen hier lang!“ „Nein, lass mich los!“ Alessa stürzte zu Boden, Walter nutzte die Gelegenheit, um sich Sherry zuzuwenden: „Lauf jetzt! Wir treffen uns später! Du musst weitermachen!“ „Aber was ist mit dir!?“ „Mach dir keine Sorgen um mich, ich komme mit ihr schon klar!“ Sie wollte erneut widersprechen, aber sein Blick zeigte ihr, dass Widerspruch zwecklos war, also fuhr sie herum und folgte Andrew weiter. Walter wandte sich wieder Alessa zu, welche sich langsam aufrichtete. „So, du denkst also, du kannst uns alle vernichten, hmm? Dann zeig mir doch mal, was du einem Untoten antun kannst.“ Sie wischte sich etwas Blut vom Mundwinkel und lächelte wieder zynisch. „Du weißt es also?“ „Natürlich. Ich bin nicht blöd. Ich lebe nur noch, weil sie es so will. Sie mochte mich schon immer.“ Er sah zu Wally hinunter, welcher seinen Blick ein wenig fragend erwiderte. Alessa lachte leise. „Gut, dann bringen wir es hinter uns.“ *** Es kam Sherry wie eine Ewigkeit vor, bis Andrew endlich wieder stehenblieb. Er drehte sich zu ihr um. „Was ist da gerade geschehen? Was geht hier vor?“ Sie sah ihn an und wusste erst nicht, was sie antworten sollte. Aber schließlich fühlte sie sich dennoch dazu verpflichtet: „Diese Stadt steht unter der Kontrolle Alessas. Alessa sollte die nächste Mutter Gottes werden, aber ihr Zorn hat nur dafür gesorgt, dass die Stadt in Dunkelheit getaucht wurde und sich in einen lebenden Albtraum verwandelt hat.“ „Und was mache ich hier? Sag es mir!“ „Hast du nicht selbst gesagt, dass du hierher geschickt worden bist?“ Andrew senkte seinen Kopf und seufzte laut. „Das ist auch richtig... Aber ich habe so seltsame Erinnerungen. Als ich dich im Untergrund getroffen habe, war ich sicher, dich schon einmal gesehen zu haben. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich bei einem Autounfall gestorben bin – aber ich lebe noch, irgendwie. Nur hört diese Dunkelheit nicht auf und ich kann die Stadt nicht verlassen. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie lange ich schon hier bin.“ Sherry überlegte, ihm von dem Autounfall zu erzählen, aber sie entschied sich dagegen. Sie hatte das Gefühl, ihn noch zu brauchen und eine innere Stimme sagte ihr, dass er verschwinden würde, sobald er die Wahrheit weiß. Inzwischen konnte sie sich einiges zusammenreimen. Wenn Alessas Kraft nachließ, dann war der Ort auf der Nebel-Ebene und wenn ihre Kräfte zunahmen, dann rutschte die Stadt auf die Andere Seite. Und manchmal überschnitten sich ihre Kräfte scheinbar mit denen von Sherry. Aber warum befand sich Cecilia auf keiner dieser Seiten? Hatte Alessa sie wirklich ausgenommen? Oder steckte noch etwas anderes dahinter? Und dann diese Kopfschmerzen... Der Vergnügungspark als unmittelbares Zentrum von Alessa war von daher verstärkt unter ihrem Einfluss. Wenn Sherry es schaffte, Alessa woanders hinzulocken, konnte sie möglicherweise zumindest das mentale Duell für sich entscheiden. Aber um einen anderen Ort zu finden, mussten erst einmal die Kopfschmerzen verschwinden und dafür musste sie hier weg. Andrew lief still neben ihr her und sah sie ein wenig besorgt an. Sie sagte nichts, sondern lief einfach weiter geradeaus. Irgendwo musste der Park einen Ausgang haben – und wenn sie ihn selbst schaffen musste. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)