Es von gluecklich (Sie lauern in der Dunkelheit) ================================================================================ Kapitel 1: Jan und Matthew Remy ------------------------------- »Warum hast du das Licht nicht einfach angemacht?« »Mama, ich hatte Angst.« »Aber du hättest mich doch rufen können, ich hätte dir geholfen! « »Ich hab mich doch nicht getraut. Ich kann mich nicht bewegen in solchen Situationen.« Judith seufzte. »Das ist schrecklich, Camille. Wirklich schrecklich. Du hattest doch gesagt, es sei besser geworden.« »Ist es ja auch. Das war vielleicht ein Rückfall. Keine Ahnung.« »Wenn das so weitergeht –« »Mama, es wird nicht -« »Bitte, Camille. Wenn das so weitergeht, machst du doch eine Therapie. Es war schon mal im Gespräch, aber da ist es besser geworden.« »Ich weiß«, sagte Camille leise. »Wenn es jetzt wieder losgeht, lässt du dich therapieren. Du bist fünfzehn, Camille, das ist nicht mehr normal. Deine Fantasie sollte dir solche Streiche längst nicht mehr spielen. « »Ich weiß«, wiederholte Camille noch leiser. Judith wandte sich wieder ihrem Frühstück zu. »Sag bescheid, wenn es wieder passiert«, befahl sie ihrer Müslischale. »Ja«, sagte Camille bloß. Sie schlüpfte in ihre Jacke und schulterte ihren blauen Eastpack. »Ich bin weg«, sagte sie. Für immer, zischte die gemeine Stimme. Denn draußen ist es noch dunkel. Camille biss die Zähne zusammen. »Tschüss.« »Tschüss, Schatz«, flötete ihre Mutter. »Viel Spaß in der Schule!« Camille gingen einige sarkastische Antworten durch den Kopf, doch sie verließ das Haus schweigend. An der Straßenbahnhaltestelle blieb sie ohne Worte neben ihrem besten – und einzigen – Freund stehen. Aus Jans Ohrhörern tönte Rock aus voller Lautstärke. Erst nach einigen Minuten senkte der um gute zwanzig Zentimeter größere Junge den Blick und entdeckte Camille. Er blinzelte, grinste und nahm einen Hörer aus seinem Ohr. »Sag doch was.« »Morgen.« Camille grinste zurück. »Tag auch.« Jan hielt ihr den Hörer hin. »Magst du?« Camille nahm ihn dankend entgegen und sah zu ihm hoch. »Alles klar?« »Joah«, sagte Jan. »Bei dir auch? Siehst müde aus.« Camille zuckte mit den Schultern. Die Bahn hielt und die beiden stiegen ein. »Konnte nicht so wirklich schlafen. Schreiben wir Sozi?« »Grundsätzlich nicht.« Sie setzten sich nebeneinander auf eine der dreckiggelben Bänke. »Konntest du deshalb nicht schlafen?« Camille schüttelte den Kopf. »Lygophobie«, murmelte sie. »Was für’n Teil?« »Lygophobie. Manchmal hab ich Angst im Dunkeln.« »Achso.« Jan nickte. »Ich glaub, das hattest du schon mal erzählt. Früher saß dieser blutrünstige Vampir an deinem Fenster, oder?« »Jaah…« Camille unterdrückte ein Schaudern. »Das Problem ist aber, dass er…« Eine Frau stieg ein und setzte sich ihnen gegenüber. Beschämt senkte Camille die Stimme. »Dass er wieder da ist.« Jan sah sie überrascht an. »Der Vampir?« Camille nickte. Nicht nur der, murmelte jemand. Alle anderen auch. »Es gibt doch gar keine Vampire.« Camille verdrehte die Augen. »Ich weiß. Aber so was kannst du mir nachts nicht erzählen, da bin ich…« schizophren »…irgendwie…« paranoid »Na ja, mein rationales Denken ist ausgeschaltet. « »Sobald das Licht ausgeht.« »Jap.« Jan hob den Kopf und musterte die Decke. »Arbeitet deine Mutter heute?« »Glaub schon, warum?« »Ich glaub, ich muss dich endlich mal meinem kleinen Bruder vorstellen. Der hat das selbe Problem.« »Dein Bruder ist bestimmt noch nicht fünfzehn«, murmelte Camille. »Nein, das nicht. Aber er hat ’ne rege Phantasie.« Wie immer versetzte dieser Satz Camille einen kleinen Stich. Er entmachtete ihren Verstand, hatte immer einen kleinen Hauch von Du bist doch verrückt. Außerdem glaubte – auch, wenn sie es sich nicht mehr eingestehen wollte – ein Teil von ihr noch immer an die wahrhaftige Existenz der Ungeheuer der Dunkelheit. Sie zuckte mit den Schultern. »Kann nach der Schule gern mit zu dir kommen.« »Nee«, sagte Jan kopfschüttelnd. »Nicht nach Hause. Ich hol ihn nachher aus der Stadt ab. Therapiestunde.« Camille hob überrascht die Augenbrauen. »Therapie? Doch nicht wegen der Dunkelheit, oder?« »Na ja. Irgendwie schon. Er bildet sich ein, irgend so ein Schatten hätte ihn umgebracht.« Es war, als hätte jemand Camille mit voller Wucht in die Magengrube geschlagen. Der Schatten… In ihrem Kopf entstand ein Flüstern, was sich langsam zu tosendem Lärm entwickelte. Ihre Stimmen riefen panisch durcheinander, zwischen ihre Schläfen setzte sich ein dröhnender Schmerz. Sie schluckte trocken. »Achso. Dann… Ja, ich… Ich denke, ich komme mit.« Jan musterte sie kurz und lehnte sich dann lächelnd zurück. »Alles klar.« Und während Camille noch verzweifelnd versuchte ihre Stimmen zur Ruhe zu bringen, schlenderte Jan fröhlich pfeifend neben ihr her ins Schulgebäude. Die beiden bildeten ein merkwürdiges Paar. Camille war klein, mit glatten blonden Haaren, einem blassen, zarten Gesicht und unscheinbarem Auftreten. In ihrer Klasse wurde sie großzügig ignoriert, was sie in den seltensten Fällen störte. Jan wiederum war äußerst beliebt. Groß, dunkelhaarig, charmant – unter einigen Mädchen trug er sogar den Spitznamen Surferboy. Jan hasste es. Er hatte Camille am ersten Tag ihres Umzugs kennen gelernt und teilte seitdem mit ihr eine herzhafte Freundschaft. Mit all den Mädchen, die versuchten ihn von ihr wegzulocken, konnte er beim besten Willen nichts anfangen. Camille stand somit wieder einmal teilnahmslos daneben, während Jan zur Begrüßung von sämtlichen Klassenkameraden umarmt wurde. Danach betraten sie zu zweit das Schulgebäude. »Bäh.« Jan rieb sich mit dem Handrücken über die Wange. »Ist das ekelhaft. Küsschen hier, Küsschen da – jetzt klebt mir wieder überall Lipgloss.« Camille grinste. »Tja.« Matthew saß auf der Treppe und tat, als spielte er mit seinen Autos. Er musste normal erscheinen, so normal wie möglich. Er durfte Es nicht verraten. Jetzt, im Moment, war er sicher, doch sobald er wieder in einem Raum sein würde, in dem plötzlich die Rollläden herunterfallen würden, in dem das Licht flackern und erlischen würde, in dem er wieder im Dunkeln sein würde, wäre diese Sicherheit gemeinsam mit dem Licht verschwunden. Und wenn er Es nun verraten würde, dann wüsste Es das. Es würde ihn bestrafen. Zwei schwarze Chucks erschienen in seinem Blickfeld. »Hey, Matt.« Er sah auf. »Hallo, Jan«, sagte er nüchtern. Sein Blick wanderte langsam zu dem Mädchen neben seinem Bruder. »Wer ist das?«, fragte Matthew. Sie lächelte. »Ich bin Camille Spencer. ’Ne Freundin von Jan.« Matt nickte. »Ah. Hallo, Camille. Ich bin Matt.« »Hi, Matt.« Jan reichte ihm eine Hand, Matthew zog sich an ihr hoch, stopfte die Plastikautos in seine Jackentaschen und drückte Jans Hand kurz. Auf dem Weg nach Hause erzählte Jan von ihrem Gespräch in der Straßenbahn. »Ein Vampir?« Matt lächelte flüchtig. »Ja. Den kenn ich auch. Weißt du, was ich glaube, Camille? Ich glaube, der Vampir ist der Chef.« Camille hob die Augenbrauen. »Kann sein. Aber, Matthew – eigentlich existieren Vampire gar nicht.« Matthew lachte. »Ja!«, rief er. »Ja, das sagt Doc auch immer, Doc sagt das auch immer, dass die meisten das glauben. Jaha, ja, ich weiß! Vampire gibt es nicht.« Jan warf Camille einen traurig-amüsierten Blick zu. »Siehst du«, murmelte er. Dann hob er die Stimme wieder und sah zu seinem Bruder hinab. »Was habt ihr heute besprochen, der Doc und du?« »Wir haben über Reee… Rekarna– nein, Halt. Reinkarnation. Über Reinkarnationen und Wiedergeburt haben wir geredet. Weil ich ja gestorben bin, aber ich musste ihm das lange erklären.« Matthew verfiel in einen sachlichen Ton. »Ich war ja gar nicht tot, nachdem ich gestorben bin, deswegen war keine Wiedergeburt nötig. Die haben mich zwar umgebracht, aber tot war ich danach ja gar nicht. Ist ein bisschen schwer zu verstehen. Aber genau das passiert mit dir, wenn der Schatten dich holt.« Camille spürte, wie es ihr eiskalt den Rücken hinablief. Dieser Junge war knappe sechs Jahre alt und redete ganz nüchtern von seinem eigenen Tod in der Dunkelheit. Jan legte den Kopf schief. »Matt«, sagte er langsam. »Hattest du nicht… Ich mein, davor warst du doch der Meinung, du darfst das so genau niemandem erzählen… oder?« Matthew zuckte mit den Schultern. »Bei Camille ist das in Ordnung. Sie weiß es ja schon. Und du ja auch, wenn sie es dir erzählt hat. Ich darf es nur keinem sagen, der noch nichts davon weiß. Das darf ich nicht. Das gibt… Das gibt Ärger, verstehst du?« »Verstehe«, sagte Jan, äußerst unglaubwürdig. Vor seiner Haustür blieben sie stehen. »Geh schon mal rein«, sagte Jan zu Matthew. »Sag Mama, ich komm gleich nach.« Matt nickte und hüpfte summend ins Haus. Jan drehte sich zu Camille. »Cam, ich mach mir Sorgen. Ich weiß, in dem Alter baut man sich Phantasiewelten auf, aber so stark? Das ist doch bei dir nicht auch so mit dieser Lagophobie, oder?« »Lygophobie«, verbesserte Camille nachdenklich. »Ich weiß es nicht. Wie alt ist er, sieben?« »Sechs.« »Hm. Da war’s bei mir noch nicht so weit, ich hatte… mein Schlüsselerlebnis könnte man sagen, das hatte ich erst mit acht. Aber Phantasiewelt… Na ja, du hast schon recht, Matt hat da mehr als andere, mehr als normal, aber…« Los, Camille, sag es. Nein! Sag es ihm nicht! Noch glaubt er euch nicht, noch ist Es nicht verraten! Es gibt es nicht, dachte Camille barsch. Dass der Kleine auch den Schatten und den Vampir kennt und die Theorie des gestorbenen Todes auswendig weiß… Das heißt ja nichts, vermutlich denkt jeder Lygophobiker so. Jan hob die Augenbrauen. »Aber?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nichts. Ich weiß nur noch von mir selbst, dass ich wirklich auch sehr überzeugt davon war, bis es damals aufgehört hat. Deinem Bruder einfach zu sagen, dass Vampire nicht existieren wird vermutlich wenig bringen. Dieser Therapeut kriegt das schon hin. Mach dir keinen Kopf, Jan, ich bin das ja auch losgeworden.« Ein paar ihrer Stimmen kicherten sarkastisch, die gemeine lachte sogar lauthals auf. Camille verkrampfte sich etwas. Sie hoffte, dass Jan nichts auffiel. Er zuckte mit den Schultern. »Kann sein«, seufzte er. »Wir werden ja sehen. Magst du noch mit reinkommen?« »Würd’ gern. Aber meine Mutter kommt wahrscheinlich bald, da sollt ich vielleicht besser zu hause sein.« »Alles klar.« Jan klopfte ihr kurz auf die Schulter. »Dann bis morgen früh.« Camille nickte. »Vielleicht ruf ich noch mal an.« »Ich bestimmt auch.« Jan grinste leicht und sah verstohlen gen Himmel. »Falls ich Hilfe bei Französisch brauch.« »Gut«, lachte sie. »Dann bis dann.« Sie winkten sich kurz zu und Camille machte sich auf den Rückweg. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)