EXANIMATIO - Die Angst von gluecklich (Der letzte Schritt: Teil I) ================================================================================ Prolog: Mutter -------------- Es war etwas Außergewöhnliches. Sie stand vor mir und ihre Augen waren der Inbegriff der Angst. Kein Wesen auf dieser Erde kann die Angst so fühlen wie eine Mutter. Kein Wesen schafft es, im Angesicht des Todes noch so verzweifelt um Gnade zu winseln, nie zu akzeptieren, dass alles vorbei ist. Ich hatte Zeltheringe durch ihre Hand- und Fußgelenke in die Wand gestoßen, Blut aus unzähligen Wunden überflutete den Boden ihres Wohnzimmers, sie stand nur noch am Rande ihres Bewusstseins und dennoch ließ sie nicht locker. Ich solle ihre Kinder verschonen. Dabei hatte ich der armen Frau gegenüber nicht einmal erwähnt, dass ich ihre Kinder überhaupt kannte. Natürlich war ich mir deren Existenz bewusst. Sehr bewusst sogar. Und hätte Josephine Wilcox in diesem Moment gewusst, was geraume Zeit später einem ihrer Kinder zustoßen würde, hätten ihr zweifelsohne die Worte gefehlt. Aber sie wusste es nicht und ihr fehlten keineswegs die Worte. So viele Leute wimmern und kreischen in Angst um ihr Leben. Mütter haben die Eigenheit, stets um das Leben bestimmter anderer zu wimmern und zu kreischen. Das macht es so besonders delikat sie zu töten. Das Leben eines Menschen besteht immer aus mehreren Geschichten. Mit dem Tag, an dem Josephine Wilcox’ letzte Geschichte endete, begann die wichtigste Geschichte im Leben ihrer Tochter. Wenn Sie nun umblättern, tauchen Sie in diese ein. Ich wünsche Ihnen viel Spaß – und vor allem viel Glück. Denn ich bin sicher, wir werden uns wiedersehen. Tamias. Kapitel 1: Freunde ------------------ Ein weiteres angefeuchtetes Papierkügelchen traf die Parkbank und blieb an ihr kleben. »Mir’s langweilig«, flötete Benjamin Vince. »Ich weiß, Benny, mir auch«, knurrte sein Freund Richard Jarvis, riss einen weiteren Streifen Papier aus seinem Block und hielt ihn Benny hin. »Aber ich sag es deshalb nicht ständig.« »Mir’s langweilig.« Richie knurrte etwas Unverständliches und hämmerte seine Stirn gegen den Rasen, auf dem er bäuchlings lag. »Frau Kallwass«, stöhnte er gedehnt, »mein Psychopath wiederholt sich!« »Mir’s langweilig. Guck mal, da vorne ist Lisa.« Richie sah auf. »Stimmt. Mit wem redet die?« »Keine Ahnung. Sieht aber danach aus, als würde sie das arme Ding grad ziemlich runtermachen.« »Jaah…« Richie lachte. »Das ist Lisa live! Noch eine letzte Beschimpfung, eine Drehung um hundertachtzig Grad auf dem Absatz und sie stolziert mit pompösem Arschgewackel davon!« »Und die andere steht immer noch da.« »Die sieht aus wie ’ne Mischung aus uns beiden.« »Hä?« »Meine Frisur und dein Kleidungsstil.« »Sie hat nicht deine Frisur. Sie hat rote Haare und du orange.« »Ich hab auch rote Haare. Ihre sind feuerwehrautorot und meine sind karottenrot.« »Karotten sind orange.« »Karotten sind blau, du Eimer.« Richie war aufgestanden. »Und jetzt komm mit, wir gehen zu ihr. Sie sieht ziemlich deprimiert aus.« »Natürlich sieht sie deprimiert aus, sie hat gerade ein Gespräch mit der Dorfschlampe hinter sich«, grummelte Benny, während er sich ächzend aufrichtete. »Was sollen wir denn bei ihr? Wir kennen die gar nicht. Ich will nicht in den Sommerferien noch mehr Arschlöchern über’n Weg laufen.« »Sei doch nicht so voreingestellt. Ich find, sie sieht nicht aus als wär’ sie so schlimm. Immerhin war sie Lisa offenbar schon unsympathisch. Ist doch ein Punkt für uns.« Benny zuckte bloß mit den Schultern und blieb dann mit Richie vor dem Mädchen stehen. Sie war tatsächlich ähnlich gekleidet wie er, ein schwarzes Bandshirt trotz der Sonne, diverse Nietenarmbänder, Halbfingerhandschuhe, bunte Chucks – der einzige Unterschied bestand in Bennys schwarzer Hose und ihren zerrissenen Jeans. Und ebenso wie Richie hatte sie schulterlanges Haar, mit dem Unterschied, dass Richies gekämmt war. »Hi«, grinste Richie. Etwas überrascht musterte sie die beiden. »Ähm… Ja. Tag.« »Wir hatten das Gefühl, wir sollten uns für Lisa entschuldigen«, begann Richie, wurde dann jedoch von Benny unterbrochen. »Die stinkt«, nickte er. »Dorfmatratze.« Das Mädchen lächelte. »Ja, dachte ich mir schon. Ich wollte sie eigentlich auch bloß fragen, ob sie meinen Bruder gesehen hat. Irgendwas scheint sie gestört zu haben daran.« »Lisa mag keine Leute, die ab Februar keine Miniröcke tragen«, sagte Richie. Benny sah langsam an sich herunter. »Da liegt also unser Fehler…«, murmelte er. Sie lachte. »Ihr klingt netter. Habt ihr zufällig ’nen elfjährigen Jungen gesehen, der größer ist als ich, ’n wenig rund, mit ’nem fetten Grinsen im Gesicht und einem Umzugskarton mit meinen Büchern darin unterm Arm durch die Gegend rennt?« »Wir haben uns bisher nur die Parkbank angesehen«, sagte Richie. »Warum trägt dein Bruder deinen Karton mit sich rum?« »Wir sind gerade umgezogen und die Kackbratze macht sich einen Spaß daraus, mir meine Sachen zu klauen und dann abzuhauen.« »Kleine Brüder sind doch für’n Arsch«, sagte Benny. Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Meiner ist eigentlich ganz okay. Nur manchmal etwas hyperaktiv. Und dann klaut er anderer Leute Kartons… Aber ihr habt ihn nicht gesehen?« Richie schüttelte den Kopf. »Er könnte zum Spielplatz gegangen sein. Aber den findest du bestimmt eh nicht mehr.« »Jetzt halt mal den Ball flach, Richie«, lachte Benny. »Ich weiß schon, was als nächstes kommt. Der Typ will sich unbedingt an dich ranschmeißen, weil du die traurige Ehre hattest, Lisa kennen zu lernen.« »Hey!« Richie hob verteidigend die Hände. »Sie braucht ’nen Ausgleich, oder? Und wenn sie umgezogen ist, dann braucht sie sowieso jemanden, an den sie sich halten kann.« Benny lachte lauthals. »Sie soll sich an zwei Loser halten, die keiner ausstehen kann?« »Da, wo ich davor gewohnt hab, hat mich auch keiner ausstehen können«, sagte das Mädchen, dessen Grinsen während der Diskussion merklich breiter geworden war. »Macht also nichts. Ihr seid sowieso lustig. Besser ihr als diese Lisa. Wer seid ihr denn überhaupt?« »Ich bin Richie Jarvis und das hier ist mein kleiner Schoßpsychopath.« »Ich bin nicht klein, du bist nur groß«, sagte Benny. »Und mit deinem Schoß will ich bitte niemals in Berührung kommen. Niemals nie.« Er hielt dem Mädchen eine Hand hin. »Benny Vince mein Name.« »Aber du kannst ihn auch Zwerg nennen«, grinste Richie. »Kannst du machen«, sagte Benny achselzuckend. »Aber dann bist du ziemlich schnell tot.« Das Mädchen nahm seine Hand und schüttelte sie mit gespielter Vorsicht. »Schon verstanden«, sagte sie. »Ich kenn das Problem. Ich bin Sid Wilcox und selbst das jüngste Familienmitglied ist größer als ich.« »Willkommen in unserer Selbsthilfegruppe!«, flötete Benny. »Klein, unverstanden und … von der Gesellschaft ausgeschlossen…« Richie grinste. »Schön gesagt.« Es dauerte nur wenige Minuten, bis Sid die beiden Jungen zu sich nach Hause einlud, um ihr beim Auspacken einiger Kartons zu helfen. Dort fanden sie schließlich auch ihren kleinen Bruder Shannon, mit Hilfe ihres großen Bruders Luc (»Brüder wie Sand am Meer«, hatte Richie gemurmelt.) schafften sie es, ihre Bücher wieder zurückzuerobern. Der Tag verging schnell, als es langsam dunkel wurde, verabredeten sich die drei bereits für die nächsten Mittage. So kam es, dass Sid kaum eine Woche später eine weitere unangenehme Bekanntschaft machen durfte. Es war ein brütend heißer Samstagmittag, sie, Benny und Richie kamen gerade aus der Drogerie, in einer Tüte die erstandenen roten und schwarzen Haarfärbungen. Sie wollten sich bei Sid treffen um ihr Badezimmer »einzuweihen«, wie Benny es genannt hatte, ergo um ihr und ihm die Haare nachzufärben. Sid legte den Kopf schief, als sie die Einkaufsstraße hinuntertrabten, um auf schnellstem Wege ins kühle Haus zu kommen. »Sag mal, Benny«, sagte sie langsam, »was ist eigentlich deine Naturhaarfarbe? Ich kann den Ansatz gar nicht erkennen.« »Das weiß keiner so wirklich«, antwortete Richie prompt. »Man sagt, sogar seine Mutter und Gott haben es vergessen. Ist lange her, dass man die mal gesehen hat.« »Die weiß nur der Teufel«, grinste Benny. »Ach, mein Chef«, nickte Sid und schob die Hände in die Taschen ihrer Shorts. »Dann frag ich den mal.« »Der wird dir das sicher nicht sagen«, sagte Benny. Richie nickte zustimmend. »Das wohlgehütetste Geheimnis - nach dem Aufenthaltsort von Lisas Hirn.« »Na ja.« Sid zuckte mit den Schultern. »Ihr könntet es mir auch einfach verraten.« Benny sah sich flüchtig in der Straße um, dann lehnte er sich zu ihrem Ohr. »Neongrün«, raunte er. »Wie alle auf meinem Heimatplaneten… Aber auf der Erde sage ich vorsichtshalber, sie sind dunkelblond.« »Ah.« Sid nickte. »Eine Blondine. Willkommen im Club. Auf meinem Heimatplaneten haben sie alle regenbogenfarbene Haare.« Richie stöhnte. »Ihr werdet euch ja immer ähnlicher… Ehrlich, das macht mir Angst.« Benny setzte zu einer Antwort an, da traf ihn etwas im Rücken. »Au…«, machte er langgezogen. »Ich will mich nicht umdrehen, kann mir jemand anders bestätigen, dass Wichsfresse uns hinterherläuft?« »Dreh du dich mal um, Sid«, sagte Richie und grinste. »Dich kennt er noch nicht.« Sid hob die Augenbrauen und warf einen Blick über die Schulter. Ein Junge mit einer Menge Gel in seinen blond gefärbten Haaren zeigte zwei Reihen schiefer Zähne durch sein breites Grinsen. »Habt ihr Freaks tatsächlich ’ne Freundin gefunden, ja?«, rief er. Sid drehte sich wieder nach vorne. »Ach so«, machte sie nur. »Das ist Alec«, sagte Richie. »Alec Lawrence. Der geht uns schon seit der Fünften auf’n Sack.« »Er ist der Meinung, wir sind Abschaum«, sagte Benny achselzuckend. »Hat wohl was gegen Außerirdische.« Ein weiterer Kiesel traf sein Kreuz. Benny verdrehte die Augen. »Alec«, knurrte er gedehnt. »Verpiss dich oder steck dir wenigstens deine dummen Steine in den Arsch, aber lass uns in Ruhe.« »Ihr habt meine Frage nicht beantwortet«, sagte Alec nur. Die drei blieben stehen und drehten sich um. »Was war die Frage noch schnell? Ob ihr eine Freundin gefunden habt, oder?«, sagte Sid. Benny schüttelte den Kopf. »Wie kommt der Junge bloß immer auf solche Ideen. Als ob Leute wie wir Freunde finden könnten.« »Sie ist keine Freundin, sie ist unsere Geisel«, sagte Richie. »Wir planen nämlich jetzt schon an unserem Amoklauf für nach den Ferien. Wir bringen uns danach auch selbst um, wie du’s uns empfohlen hast.« Sid legte den Kopf schief. »Und ich dachte, ihr wolltet mir helfen, mein Raumschiff wieder zu finden. Ihr habt mich hintergangen!« »Tja, so läuft das mit uns Freaks. Wir wollen immer nur Aufmerksamkeit. Und Gewalt. Und so«, sagte Benny, der mit sichtlich wachsender Belustigung die Enttäuschung in Alecs Gesicht über seinen fehlgeschlagenen Angriff beobachtete. »Jedenfalls werden wir nie Freunde finden«, sagte Richie sachlich. »Um mal deine Frage zu beantworten, Alec. Aber eigentlich weißt du das ja am besten.« Er drehte sich zu Sid. »Alec weiß bescheid über uns Dreckspunks, mhm. Er weiß alles. Im Gegensatz zu uns, wir tun nur so. Und jetzt komm mit, wir müssen dich noch fesseln, knebeln, Videobotschaften aufnehmen, ins Internet stellen, und natürlich Waffen besorgen. Da reichen die Sommerferien nur ganz knapp.« »Bevor du stirbst, zeig ich dir meine Naturhaarfarbe. Versprochen«, grinste Benny. Sie drehten sich um, hörten Alec fluchen und drohen, und begannen zu rennen. »Ab nach Hause!«, rief Richie. »Sonst geht Wichsfresse nämlich zu Wackersteinen über.« Kapitel 2: Der Richter ---------------------- Alec und Lisa standen nebeneinander an der Straßenecke, unter einer Laterne. Nachdem er ihr von seiner Begegnung mit Benny, Richie und Sid erzählt hatte, hatten sie sich Zigaretten angezündet und kollektiv die Köpfe geschüttelt. »Freaks«, sagte Alec noch einmal. Lisa nickte. »Als die mich nach ihrem komischen Bruder gefragt hat, war sie ja auch so dumm. Die ganze Zeit blöd gegrinst und versucht cool zu sein.« »Dumme Schlampe«, kommentierte Alec; Lisa nickte erneut. »Die beiden anderen Dreckspunks waren ja schon immer so. Jetzt kommt schon wieder so eine, hat uns ja gerade noch gefehlt.« »Gibt immerhin mehr Gesprächsstoff«, grinste Lisa achselzuckend. Alec setzte zu einer Zustimmung an, als hinter ihm ein lautes Bellen ertönte. Er zuckte zusammen. »Boah, fuck«, brummte er. »Ich hasse Hunde.« »Ich weiß«, sagte Lisa bloß und blickte über seine Schulter dem Bellen entgegen. Alec drehte sich um – und erstarrte. Zittrig tat er einen Schritt zurück. »Scheiße!«, fiepte er. »Der’s ja riesig!« »Hey, Kleiner«, flötete Lisa und ging in die Hocke. »Ich find den knuffig. Weiß nicht was du hast, Alec. Na komm her, Kleiner, wo ist denn dein Herrchen, hm?« »Komm her?«, wiederholte Alec fassungslos. Nur mit Mühe konnte er seine Stimme davon abhalten, sich zu überschlagen. »Der soll nicht herkommen! Der hat bestimmt Tollwut oder so!« Lisa unterdrückte ein Lachen. »Quatsch. Der hat doch keine Tollwut, sieh ihn dir an.« »Lieber nicht.« »Er ist völlig gesund. Der ist bestimmt ganz zahm.« Der übergroße Schäferhund stand nun nur noch einen Meter von Lisa entfernt. Sie streckte eine Hand nach ihm aus und versuchte weiterhin ihn näher zu ihr zu locken, doch er lief geradewegs an ihr vorbei auf Alec zu. Alec stolperte weiter rückwärts, mit einem Mal überkam ihn panische Angst, er drehte auf dem Absatz um und begann zu rennen – sofort wetzte der Hund ihm hinterher. Lisa wirbelte herum, sah ihnen nach. »Alec! Nicht weglaufen, du Trottel! Jetzt denkt er, du willst spielen.« Sie begann zu lachen. »Alec!« Kopfschüttelnd setzte sie ihm nach, doch nach wenigen Schritten wurde sie aufgehalten. Eine kalte Hand hatte sich auf ihren Mund gelegt, ein Arm um ihren Hals. Lisa zuckte zusammen, hielt sofort still. »Mach dir keine Sorgen um deinen Freund«, raunte eine fast unerträglich sanfte Stimme direkt neben ihrem Ohr. »Er wird schon ganz allein seinen Platz finden. Seine Angst wird ihn ihm zeigen.« Der Arm zog sich enger um ihren Hals, drückte ihr langsam die Luft ab. »Wir kommen gleich nach.« Alec war quer durch den Wald gerannt, über zwei Lärmschutzwalle gekraxelt und schließlich im ehemaligen Industriegebiet gelandet. Keuchend stolperte er in eine stillgelegte Fabrik, schloss die Tür hinter sich, schob hektisch den Riegel vor und lehnte sich dagegen. »Hier kommt der nicht rein«, hauchte er heiser. Er schloss die Augen. Lisa steht noch irgendwo da hinten rum… Wie peinlich… Von draußen hörte er ein Bellen. »Schnauze, Mistköter!«, rief er. »Hier drin kannst du mir gar nichts anhaben… Scheiß Viecher…« Er zuckte zusammen und sah auf, als sich einige Meter von ihm entfernt eine Tür zum Nebenraum öffnete. Alec schluckte. »Ha-hallo? Ist hier noch jemand?« »Durchaus, Alec…« Ein Mann trat in die weite Fabrikhalle, die Arme am Rücken verschränkt, ein mildes Lächeln auf den Lippen. »Durchaus.« »Ist das Ihre Fabrik?«, fragte Alec schnell. »Tut mir leid, wenn ich hier nicht rein durfte, aber ich wurde verfolgt und ich musste fliehen, das geht doch in Ordnung, oder?« Der Mann schmunzelte. »Vollkommen, Alec.« Er stockte. »Moment…«, sagte er langsam. »Woher wissen Sie meinen Namen?« »Die Erklärung würdest du vermutlich nicht verstehen.« Gemächlich schlenderte der Mann auf ihn zu, den Blick dabei scheinbar nachdenklich auf den Boden gerichtet. »Sie erschließt sich euch selten. Aber ich weiß alles über dich… Ich weiß auch, vor wem du hierher geflohen bist…« Er stand nun direkt vor Alec; langsam beugte er sich zu ihm hinab. »Und ich weiß, dass du dich wegen deiner Angst schämst… Angst vor Hunden, vor etwas so Alltäglichem… Dabei ist die Angst genauso alltäglich.« Alec verzog das Gesicht. »Was wollen Sie? Ich hab keine verdammte Angst vor den Viechern, wer sind Sie?« »Komm mit mir, dann stelle ich mich vor.« Er drehte sich um und ging voran. Seine Schritte hallten laut auf dem kahlen Fabrikboden. Alec zögerte; der Mann sah über die Schulter noch einmal zu ihm, mit einem breiten Lächeln gebar er ihm erneut zu folgen. »Komm.« Alec biss die Zähne zusammen und stolperte ihm nach. Besser als der Hund da draußen, dachte er zweifelnd. Einige Meter weiter vorn blieben sie stehen. Mitten im Raum stand ein einfacher Holzstuhl, dahinter lag ein Seil. »Setz dich«, sagte der Mann; doch Alec hörte ihn kaum, ihm war soeben klar geworden, was ihn offenbar erwartete. »Ich…«, begann er zögerlich. »Ich denke, ich sollte jetzt wieder gehen.« Der Fremde grinste. »Du hast Angst…«, sagte er leise. »Aber das ist kein Grund, jetzt abzubrechen. Setz dich, Alec.« Alec schüttelte stumm den Kopf und wich einige Schritte zurück. Plötzlich hörte er hinter sich ein lautes Knurren, er schrie auf und wirbelte herum. »Wie kommt dieser verdammte Köter hier rein?« »Du solltest besser tun, was ich dir sage«, raunte der Mann hinter ihm. »Andernfalls wird der … verdammte Köter, wie du ihn nennst … für Gehorsam sorgen.« Alec rührte sich nicht. Krampfhaft versuchte er, sich Ruhe einzureden, nach einem Ausgang zu suchen, doch er kehrte immer wieder zu einem Gedanken zurück – Hund. Das Tier machte einen Satz vorwärts, senkte die Zähne in das Fleisch von Alecs Wade, zog ihm die Füße vom Boden. Erneut schrie Alec auf, er trat nach dem Hund, zappelte und schlug um sich, Als er spürte, dass er apportierte, wurde ihm schwarz vor Augen. Seine Arme wurden nach hinten gerissen, davon kam er wieder zu sich. Er blinzelte, sah an sich herunter und fluchte leise. Ein Seil zog sich schneidend um seine Handgelenke, er wurde eindeutig professionell gefesselt. Nach einigem Husten fand er seine Stimme wieder. »Lassen Sie mich gehen«, krächzte er. »Ich hab gar nichts getan, was wollen Sie?« Vollkommen gelassen schlenderte der Mann vor den Stuhl und verschränkte die Arme. »Selbstverständlich hast du etwas getan. Aber dazu kommen wir später. Du hast eine Vorstellung meinerseits verlangt – dein gutes Recht. Du solltest ihn kennen, den Namen deines Richters.« »Richter?«, unterbrach Alec. »Sie sind Richter? Ist es wegen des Diebstahls letztens? Hören Sie, das waren zwei Packungen Kaugummi, das müssen Sie wirklich nicht so bestrafen.« Der Mann lachte. »Nein, darum geht es nicht. Ich bin eine andere Art Richter.« »Was soll das dann, verdammt?«, keifte Alec, die Anwesenheit des Hundes bereits vergessend. »Würdest du mir die Zeit geben, auszureden, wüsstest du es vielleicht längst.« »Sie dürfen das hier gar nicht, das ist Freiheitsberaubung! Moralpredigten können Sie mir auch am Telefon halten, Sie Irrer!« Der Mann seufzte und griff in eine Hosentasche. Alec setzte gerade an, sein Zetern fortzusetzen, da zog er ein Stofftuch hervor und stopfte es ihm in den Mund. »Das«, sagte er, während Alec bloß perplex blinzelte, »wurde in Benzin getränkt, wie du vielleicht schon schmecken konntest. Nimm diese Tatsache bitte zur Kenntnis; ich hoffe, sie hilft dir dabei dich zusammenzureißen.« Zunehmend eingeschüchtert und ängstlich sah Alec zu Boden. Er zuckte mit den Schultern. »Schön…« Die Mundwinkel des Mannes zogen sich langsam wieder in die Höhe. »Dann kann ich jetzt ja fortfahren. Mein Name ist Tamias, ich bin der Richter deiner Angst.« Er begann, mit wiegenden Schritten auf und ab zu gehen. »Ein Wink des Schicksals, dass du gerade eben den Diebstahl vor vierzehn Tagen erwähntest. Ein Wink meiner eigenen Hand, dass ich dich von meinem treuen Hund Inferno hierher habe bringen lassen. Wie die meisten Menschen hast du, Alec…« Er blieb wieder stehen und sah ihn mit einem Ausdruck äußerster Geduld an. »…vor den falschen Dingen Angst. Du stiehlst – öfter als nur dieses letzte Mal –, du benimmst dich absolut respektlos gegenüber anderen, einige deiner Mitschüler fürchten dich beinahe so, wie du Hunde fürchtest, andere empfinden einfach nur abgrundtiefen Hass für dich. Du tust ihnen weh, mit Vorliebe körperlich. Eigentlich solltest du ständig den Gedanken mit dir tragen, dass das alles irgendwann auf dich zurückprallen wird, dass das Leben diese Taten nicht auf sich beruhen lassen wird… Und dennoch hast du stattdessen nur vor zwei Dingen Angst.« Tamias hob einen Zeigefinger. »Vor Hunden…« Dazu hob er den Mittelfinger daneben. »…und vor dem Tod.« Er grinste. »Wie alle Menschen. Somit erkläre ich auch den Begriff des Richters. Ich bin hier, um für die letzten Minuten deines Lebens deine Angst noch zu richten. Denn was dir widerfahren wird, passiert nur mit Menschen, die vor den Konsequenzen schädlicher Taten keine Angst haben.« Alec verdrehte bloß die Augen. »Ich weiß, du nimmst mich nicht ernst.« Tamias’ Lächeln war so milde und geduldig, dass Alec spürte, wie Wut in ihm hoch kochte. »Am Anfang tun das die wenigsten. Aber glaube mir, nach kurzer Zeit wird sich das ändern. Deine Freundin Lisa zum Beispiel war anfangs noch äußerst vorlaut. Doch das hat sie nicht durchgehalten… Genauso wenig wie du.« Alecs Glieder verkrampften sich alarmiert, er zog die Brauen zusammen und sah auf. Hinter seinem Knebel bildete er einige unverständliche Laute. »Keine Sorge.« Tamias’ Grinsen verbreiterte sich. »Ich habe ihr nicht wehgetan, kein bisschen. Ich habe sie bloß an einen anderen Ort gebracht.« *** Lisa hatte ihr Toben aufgegeben. Sie wusste nicht, wie lange sie brüllend gegen die Wände getreten und geschlagen hatte, sie wusste gar nichts mehr. Hätte sie in diesem Moment jemand gefragt, hätte sie nicht einmal ihren Namen gewusst. Es gab nur eine Tatsache, deren sie sich voll und ganz bewusst war: Sie war von Dunkelheit umgeben. Schluchzend sank sie in sich zusammen. Gegenüber anderen gab sie selten zu, dass sie ihre kindliche Angst vor der Dunkelheit nie hatte von sich weisen können. Schniefend wischte sie sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und blickte sich um. Es musste einen Weg nach draußen geben. Nach draußen, ins Helle. Sie stand auf, das Zittern an ihrem gesamten Körper erschwerte ihr das Stehen bleiben. Langsam, vorsichtig, tastete sie sich voran, immer mit dem Rücken zur Wand, wo niemand hinter ihr lauern konnte. Es erschien ihr wie eine Ewigkeit, bis sie eine Türklinke unter ihrer Hand spürte. Ausweg, dachte sie aufgeregt. Eine (verschlossene) Tür, mein Weg (in den sicheren Tod) nach draußen! Mit äußerster Vorsicht drückte sie die Klinke herunter. Es ging schnell. Im ersten Moment sah sie bloß das Licht, Licht direkt neben ihrem Kopf, Licht, das sie von der Dunkelheit trennte. Doch schon im nächsten Sekundenbruchteil hörte sie das Geräusch quietschender Scharniere. Sie hob den Kopf, wie in Zeitlupe sah sie die schwere Eisenstange von der Decke schwingen. Sie traf auf Lisas Unterarm, Knochen barsten, Lisa ging zu Boden, begann aus voller Kehle zu schreien, die Dunkelheit kehrte in Form einer Ohnmacht wieder. *** Alec, bis dato damit beschäftigt, an seinen Fesseln zu zerren und gegen den Knebel zu fluchen, schreckte hoch, als aus dem Nebenzimmer ein markerschütternder Schrei drang. Die Tür zur Fabrik öffnete sich, Tamias betrat die Halle wieder, wie versprochen mit dem riesigen Schäferhund an seiner Seite. Er warf dem Raum Alec gegenüber einen kurzen Blick zu und grinste. »Sie hat die Türklinke gefunden.« Alecs Augen füllten sich mit Tränen der Wut und Verzweiflung, ohne auf Inferno zu achten kniff er sie zusammen, atmete tief durch und trat mit beiden Beinen nach Tamias, um danach mit seinem Stuhl sofort einige Zentimeter rückwärts zu rutschen. Zaghaft öffnete er seine Augen wieder. Sein Tritt war ins Leere gegangen, das hatte er spüren können. Tamias stand noch immer vor ihm, die Arme verschränkt, das Grinsen gewichen. »So etwas habe ich wirklich nicht gern, Alec«, sagte er leise. »Du bist absolut nicht in der Position, dich mir zu widersetzen. Du solltest Angst haben.« Als Alec schnaubte, hoben sich seine Mundwinkel doch wieder ein winzig kleines Stück an. »Ich korrigiere… Du hast Angst. Das einzige, was dir noch fehlt, ist das Eingeständnis. Aber keine Sorge…« Langsam hob er das linke Bein, mit angewinkeltem Knie, zu einer Ausholbewegung. »Die wird kommen… Und zwar mit voller Wucht.« Alec war nicht imstande irgendetwas zu tun, außer zuzusehen, wie sein Fuß nieder raste, mit verheerender Kraft auf den seinen traf. Hätte er die Zeit dazu gehabt, hätte er sich über Tamias’ Stärke gewundert, doch sein Schmerzempfinden beanspruchte sein gesamtes Denken. Er war voll und ganz mit Schreien beschäftigt. Seine Umwelt verlor an Farbe, der Schmerz benebelte all seine restlichen Sinne, doch er weigerte sich, ohnmächtig zu werden. Hartnäckig blinzelte er, hielt weitere Schreie zurück, bloß um Tamias diese Freude nicht zu gönnen. Schwer durch die Nase atmend ließ er den Kopf hängen. Tamias zog das Tuch aus seinem Mund – eine wahre Erlösung: Alec stieß einen weiteren, kläglichen Schmerzenslaut aus, röchelte leise. »Alec…« Er wagte nicht den Kopf zu heben, wagte nicht ihm ins Gesicht zu sehen. Tamias ging vor dem Stuhl in die Hocke, er lehnte die Unterarme auf Alecs Oberschenkel – erneut schrie Alec auf, sein Fuß fühlte sich an als sei er in einen Schraubstock gespannt, der Druck von oben war durch Tamias noch größer geworden. Tamias’ Lächeln zeigte pure Schadenfreude und Überlegenheit. »Alec«, wiederholte er, »sieh mich an.« Alec schluckte schwer, es kostete ihn eine Menge Überwindung den Blick zu ihm zu heben. Er grinste. »Sehr schön. Und nun, da du deine Redefreiheit wieder hast, bitte ich dich, noch einige Worte mit mir zu wechseln. Fühlst du dich dazu fähig?« Alec hustete trocken, er fuhr sich vorsichtig mit der Zunge über die Lippen – den beißenden Benzingeschmack versuchte er dabei zu ignorieren – und nickte. »J-ja… Ich denke… Ja.« »Gut, besser so für dich. Das zögert deinen Tod hinaus. Weißt du noch, worüber ich versucht habe mit dir zu sprechen, bevor du mich so unüberlegt angegriffen hast?« »Über… Über Angst«, sagte Alec heiser. Tamias lachte. »Wir reden schon die ganze Zeit über Angst, mein Lieber. Gerade hatten wir festgestellt, dass du dir selbst nicht eingestehen willst, dass du Angst hast.« Mit einem weiteren Anflug von Protest nickte Alec in Infernos Richtung. »Vor dem hab ich Angst.« »Oh, das weiß ich. Dessen bin ich mir durchaus bewusst. Doch Hunde bestimmen deine Furcht nicht alleine. Du hast noch mehr Angst… Du hast Angst vor mir und vor alldem, was ich dir antun könnte. Und du hast Angst zu sterben… qualvoll zu sterben… Eine berechtigte Angst, wie ich finde, gerade in diesem Moment. Du fürchtest dich… Du kannst kaum anderes wahrnehmen, überspielst es bloß mit falschem Stolz und falscher Wut. In Wirklichkeit fürchtest du dich … so sehr … vor mir«, hauchte er. Alec schwieg, schlug die Augen erneut nieder. »Nicht wahr, Alec?« Er kniff die Augen zusammen, blinzelte hastig Tränen aus den Winkeln, verkrampfte sich sichtlich. »Ja…«, sagte er, so leise wie möglich. »Ja, verdammt… Ich habe Angst…« Tamias grinste zufrieden. »Na also«, sagte er. »So ist es besser. Es ist angenehmer, in Ehrlichkeit zu sterben, glaube mir.« »Warum tust du das?«, fragte Alec leise. »Ich dachte, das hätte ich dir erklärt. Deine Angst sitzt am falschen Fleck und ich möchte versuchen, sie zu richten. Du fürchtest dich mit dem Bauch, vor nichtigen Dingen wie Hunden und schlechten Noten.« Er richtete sich wieder auf und tippte Alec gegen die Stirn. »Dabei sollte sie dort stattfinden, die Angst vor Vergeltung und Auszahlung aller Taten.« Alec zuckte mit den Schultern, sah wieder zu Boden. »Also doch eine Moralpredigt«, murmelte er. »Wenn du es so nennen willst, bitte. Du solltest versuchen, es zu verstehen«, sagte Tamias. »Dazu gebe ich dir jetzt Zeit. Inferno, pass bitte auf ihn auf.« Mit einem Mal wurde sich Alec wieder der Fleischwunde in seinem Unterschenkel bewusst, mit wachsendem Grauen starrte er das Tier an, das sich hechelnd auf dem Boden vor ihm niederließ, während Tamias langsam in den Raum gegenüber schlenderte. *** Tamias kniete sich neben die ohnmächtige Lisa auf den Boden. Sachte legte er eine Hand auf ihre Schulter. »Lisa«, raunte er. »Lisa – wach auf.« Blinzelnd öffnete Lisa die Augen. »Was… Wo…«, nuschelte sie, bei dem vergeblichen Versuch durchs Dunkel zu spähen. »Hallo?«, krächzte sie heiser. »Ist hier wer? Hi-Hilfe!« »Schhht…«, hauchte Tamias. »Ruhig, Lisa… Ja, hier ist jemand.« Lisa fiepte erschrocken, hektisch drehte sie den Kopf hin und her. »Wer? Wer ist da?« »Du kennst mich«, sagte Tamias sanft. »Ich habe dich hierher gebracht. Und ich habe dir auch meinen Namen gesagt.« Lisa erstarrte. »Der Richter«, wisperte sie. »Bitte… Bitte holen Sie mich hier raus… Bitte lassen Sie mich gehen.« »Ich bin es nicht gewohnt, gesiezt zu werden. Generell kannst du dir das alles sparen. Ich werde dich nicht aus diesem Raum hinausholen.« Lisa schluchzte auf. »Aber keine Sorge. Wenn die Zeit reif ist, wirst du ihn von selbst verlassen können. Lebend. Doch zunächst…« Er stand auf, griff ihr unter die Arme und zog sie in einer schmerzhaften Bewegung hoch. »…sieh zu.« Er zog sie zur einzigen Lichtquelle im Raum, einem kleinen viereckigen Fenster, das für das schwache Mädchen in den vergangenen Minuten so quälend unmöglich zu erreichen gewesen war. Sie wurde auf einen Stuhl gesetzt, mit dem Gesicht zum Fenster. »Siehst du gut?«, fragte Tamias leise. Lisa blinzelte, erst jetzt fiel ihr auf, dass sie von ihrem jetzigen Platz aus ein Geschehen beobachten konnte. Heiser schrie sie auf. Ihr Freund Alec war auf einen Stuhl gefesselt, der linke Fuß war unnatürlich verbeult, er brüllte aus voller Kehle. »Er hat doch Angst davor«, wimmerte Lisa, die den Blick nicht von dem riesigen Hund abwenden konnte, dessen Zähne sich tief in seinen Arm gebohrt hatten. »Ich weiß…«, sagte Tamias leise. »Er wird mit ihr fertig werden müssen… Er wird mit einigem fertig werden müssen. Genau wie du.« Langsam, mit laut hallenden Schritten, entfernte er sich. »Genieße die Dunkelheit…« *** Alec hatte sich heiser geschrien. Sein Shirt war blutgetränkt, seine Arme und Teile seines Oberkörpers, die man durch die Stofffetzen sehen konnte, waren übersät mit tiefen Wunden; am linken Ellenbogen ragte sogar ein Knochen aus dem Fleisch. Erschöpft sah Alec zu Tamias auf, während Inferno auf einem abgebissenen Finger kaute. »Bitte…«, krächzte er. »Bitte nimm ihn weg von mir.« Tamias grinste spöttisch. »Höre auf sein Flehen, Inferno«, sagte er. »Komm her zu mir.« Der Hund gab nur ein Gähnen zur Antwort, tapste einige Schritte vor und legte sich neben Tamias auf den Boden; den Finger legte er nicht aus dem Maul. Tamias nickte bedächtig. »Schön…«, sagte er langsam. »Wie fühlst du dich, hast du ein wenig nachdenken können?« »Ich… I-ich…« Alec senkte den Blick, getrocknete Tränen verklebten seine Wangen. »Es tut mir leid«, hauchte er. »Es tut mir alles leid. Ich hätte das alles nicht tun dürfen, ich … sollte das wiedergutmachen.« Einen Augenblick lang schwieg Tamias. Mit verschränkten Armen schritt er in einem Kreis um Alecs Stuhl herum. »Ich bin enttäuscht«, sagte er schließlich. »Zweifelsfrei hast du nachgedacht. Nur hast du die falschen Schlüsse gezogen – was mich ehrlich gesagt kaum überrascht.« Mit einem schnellen Kopfschütteln unterbrach Alec ihn. »Es tut mir wirklich leid!«, stieß er mit einem Anflug von Panik hervor, fast zitternd folgte er Tamias mit den Augen. »Ich hätte diesen Mist nicht tun sollen, hätte diese ganzen Leute nicht verletzen und beklauen dürfen, ich weiß es jetzt! Lass mich doch gehen, ich bereue es, ich bereue es wirk–« »Das«, zischte Tamias, der in einer erschreckend schnellen Bewegung Alecs Gesicht bedrohlich nahe gekommen war, »ist keine Reue. Das ist der Versuch, sich hier herauszumogeln ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, dem Tod zu entkommen obwohl du es nicht verdient hast.« Alec schluckte trocken, er presste sich so fest er konnte gegen die Rückenlehne, schüttelte vorsichtig den Kopf. »Wirklich…« Tamias verpasste ihm einen kräftigen Schlag mitten ins Gesicht, mit einem lauten Krachen brach Alecs Nase. »Ich dachte mir von Anfang an, dass du es nicht lernen würdest. Gewisse Dinge lassen sich dem Menschen nicht austreiben.« Während er sprach, griff er hinter seinen Stuhl und zog einen Benzinkanister hervor. »Aber du darfst dich geehrt fühlen…« Als das Benzin auf Alecs gebrochenen Fuß traf, zuckte er zusammen, unterdrückte einen Aufschrei. »Du wirst einer der wenigen sein, die ich dumm sterben lasse.« Tamias zog eine Packung Streichhölzer aus seiner Hosentasche, zündete eines an und musterte es einen Moment lang. »Immerhin habe ich deine Angst ein wenig richten können… Du fürchtest dich nun vor Vergeltung. Nur würde dich das wohl dennoch nicht davon abhalten, deine Schandtaten fortzuführen.« Er kniete sich hin, entfachte den Fuß, wich der Stichflamme geschickt aus, um Alec den benzingetränkten Knebel wieder in den Mund zu schieben. Noch einmal beugte er sich zu Alecs Ohr hinab. »Da, wo du jetzt hinkommst«, hauchte er, »werden sie dich lehren, was es wirklich bedeutet, bestraft zu werden… Und du wirst dir wünschen, wieder auf diesem Stuhl sitzen und nur von einem Hund gebissen zu werden…« Sein eigener, gedämpfter Schrei war das Letzte, was Alec hörte. *** Irgendwann war es still geworden. Lisa wusste nicht, wann die Dunkelheit verschwunden war, doch als sie es endlich geschafft hatte, den Blick von der verkohlten Leiche ihres Freundes abzuwenden, war der Raum hell. Alecs Schreie klangen noch immer in ihren Ohren nach, ihr Kopf dröhnte, ihr gebrochener Arm zitterte stark, als sich in ihr plötzlich eine hartnäckig vernünftige Stimme meldete. Mit weichen Knien stand sie vom Stuhl auf, legte die gesunde Hand auf die Türklinke und sah sich prüfend im Raum um. Die Stange lag am Boden, von der Decke hing nichts mehr. Langsam öffnete Lisa die Tür. Augenblicklich schlug ihr eine unglaubliche Hitze und der drückende Geruch verbrannten Fleisches entgegen, Lisa sah zur Tür, war fest entschlossen auf direktem Wege das nächste Krankenhaus aufzusuchen – und stolperte schließlich zu den Überresten des Holzstuhls. Lisa ging auf die Knie, das Schluchzen stieg unaufhaltsam in ihrer Kehle hoch; mit einem heiseren Aufschrei brach sie zusammen. Kapitel 3: Macht der Worte -------------------------- Sid schlug die Augen auf. Laute Musik dröhnte aus ihrem Radiowecker, die Sonne schien ihr mitten ins Gesicht. Sie gähnte herzhaft und wühlte sich aus den Laken. Augenreibend zog sie die Vorhänge vor ihr Fenster. »Wer hat dich eigentlich erfunden?«, murmelte sie zur Sonne. »Gerade Montags sollte dich jemand ausknipsen.« Nachdem sie sich angezogen und ihre Nietenarmbänder angelegt hatte, ging sie betont ignorant am Spiegel und ihrer Haarbürste vorbei. Ihre Brüder hatten beide jeden Montag die erste Schulstunde frei, ihr Vater schlief seit der Trennung in seiner eigenen Wohnung, ihre Mutter war vermutlich bereits auf der Arbeit – Frühschicht im Krankenhaus. Gähnend tapste sie die Treppen hinab. Sid blinzelte, vorsichtig stieg sie rückwärts wieder zwei Stufen hinauf. »M-Mama?«, rief sie brüchig. »Bist du noch da?« Ängstlich starrte sie auf den Flur, der überflutet war von einer roten Flüssigkeit, die Sid sich erst gar nicht traute zu identifizieren. Sie überlegte ihren großen Bruder zu wecken und zu Rate zu ziehen, doch wenn es etwas Nichtiges war, würde er sie bloß wieder auslachen. Vorsichtig zog Sid ihre Socken aus und tapste in den Flur. Die Flüssigkeit (das Blut) reichte ihr bis zu den Knöcheln, ihre Schritte hinterließen platschende Geräusche. Vielleicht träume ich noch, dachte sie. Wenn ich mich mit Mama gestritten habe, träume ich doch oft blutig. In Träumen nimmt man nie an, sich in solchen zu befinden. Sid zuckte zusammen, wirbelte herum (Blut spritzt bis an meine Knie), doch da war niemand. Woher war diese Stimme gekommen? »Hallo?«, rief sie zaghaft. Geh weiter, hörte sie. Sieh ins Wohnzimmer. Sie schluckte trocken, mit weichen Knien gehorchte sie dem fremden Befehl und taumelte in den anliegenden Raum. Der Geruch von (Blut und Tod) Fäule war nun nicht mehr zu verdrängen, auch hier stand (das Blut) die rote Flüssigkeit, rot und kalt. Rechts. Rechts neben dir, sieh hin. Sid wollte es nicht, doch sie tat wie ihr geheißen. Langsam drehte sie den Kopf nach rechts. Sids Herz setzte einen Schlag aus, mehr als erschrocken keuchte sie auf. »Mama…« Josephine Wilcox, alleinerziehende Mutter von drei Kindern, hing blutüberströmt (rot kalt) an der blassgelb tapezierten Wand, ihr Kinn war auf die Brust gesunken, die Augen waren geschlossen. In ihrem (toten) Kopf klaffte ein großes (totes) Loch, aus dem ein dünnes (totes) Rinnsal aus (totem KALTEN) Blut und (toter) Gehirnflüssigkeit trat. Ihr (toter toter toter) Körper war mit (toten) Schnittwunden bedeckt, ihre (toten) Unterarme waren der Länge nach aufgeschlitzt worden. Langsam sank Sid auf die Knie, der Saum ihrer kurzen Jeans wurde in (totem kalten) Blut getränkt. Ihre Augen wie ihr Mund waren starr geöffnet; ein leises Wimmern entfuhr ihrer Kehle. Endlich schaffte sie es den Blick abzuwenden, sie sank in sich zusammen, unbeweglich. Sidney… Sid fiepte und zuckte zusammen, als sich diese schleichende Stimme wieder meldete. Sidney, denke nach… Ist es nicht das, was du wolltest? Ist es nicht das, was du gestern nach eurem lächerlichen Streit vor dich hin geflucht hast? Tot sehen wolltest du sie, tot sehen. Dafür, dass sie deinen Lebensstil nicht anerkennen wollte, dafür, dass sie dir das Haarfärbemittel und die laute Musik verbieten wollte… Dafür, dass sie dir an den Kopf warf, nicht mehr mit dir in einer Familie weilen zu wollen. Dafür wolltest du sie tot sehen. Ist das nicht so? »Ich hab es nicht so gemeint«, hauchte Sid. »Das war nicht… Ich wollte doch nie, dass sie… Ich wollte doch nicht…« Du hast Dinge gesagt, Sidney, böse Dinge… Dinge, die Folgen haben können, wenn du nicht aufpasst. Ohne Skrupel, ohne Angst hast du deiner eigenen Mutter Schlimmes gesagt. Sid schluchzte auf. »Ich hab es ihr nicht gesagt! Ich hab es gedacht, vor mich hin gesagt, weil ich wütend war! Ich wollte doch nicht, dass sie… Ich hätte nie ernsthaft verlangt, dass sie… dass sie…« Stirbt. Plötzlich hatte die Stimme einen sanften, aber dabei beinahe höhnischen Ton angenommen. Das ist das Wort nach dem du suchst. Aber du lügst. »Nein!«, schrie Sid schrill. »Nein! Ich habe sie geliebt, sie war meine Mutter!« Hörst du das? Du sprichst bereits jetzt von ihr in der Vergangenheit. Du hast dich schon damit abgefunden. Und weißt du auch weshalb? Wimmernd presste Sid die (toten) Hände auf ihre Schläfen. »Lass mich in Ruhe«, flüsterte sie. »Lass mich… Lass mich in Ruhe…« Weil du sie umgebracht hast, Sidney… Du hast sie getötet. Du hast sie Mit einem Mal saß Sid kerzengerade in ihrem Bett. Schweiß rann von ihren Schläfen über ihre Wangen, rötliches Sonnenlicht sickerte durch ihre Vorhänge. Zittrig fuhr sie sich mit dem Handrücken über ihr Gesicht, sie atmete einige Male tief durch, bevor sie aufstand, ihr durchnässtes Nachthemd in den Wäschekorb warf und unter die angenehm heiße Dusche trat. Erst eine halbe Stunde später stellte sie das Wasser ab. In einem von Lucs alten Hemden schlich sie in das Zimmer ihres Vaters. Es war halb sechs, er schlief noch. Vorsichtig legte Sid sich neben ihm ins Bett. Nach wenigen Minuten öffnete er die Augen. »Hey…«, murmelte er verschlafen. »Morgen.« »Du lagst schon lange nicht mehr bei mir.« Sid nickte langsam. »Ich hab … wieder davon geträumt…« Ihr Vater seufzte und legte behutsam einen Arm um sie. »Es war nicht deine Schuld«, sagte er leise. »Wir… Wir haben uns so gestritten…« »Du warst dreizehn, Cookie. Dreizehnjährige Mädchen streiten sich eben mit ihren Eltern. Das gibt dir nicht die Schuld daran, dass dieser Irre es ins Haus geschafft hat.« Sid lächelte ein wenig. Ihr Vater hatte sie schon lange nicht mehr Cookie genannt. Sie wusste, er tat das nur, wenn sie wieder unnötige Gedanken verbrauchte. Statt einer Antwort vergrub sie ihr Gesicht in seiner warmen Schulter; gemeinsam schliefen sie erneut ein. Kapitel 4: Andernfalls... ------------------------- Am Nachmittag lagen Sid und Benny nebeneinander im Schatten der großen Trauerweide im Park. Schuhe und Nietenarmbänder hatten sie ausgezogen, dennoch holte die Hitze sie ein. Während Sid mit geschlossenen Augen die anzüglichsten Texte ihrer gemeinsamen Lieblingsband vor sich hin sang, maulte Benny immer wieder Hasstiraden über den Sommer. »…Eis.« »Flachleeegen – was?« »Eis! Sagte ich.« »Und kann der kleine Benny denn auch schon ganze Sätze bilden?« »Ich – will – Eis!« »Fein.« Sid öffnete die Augen und setzte sich auf. »Na, dann komm, ich geb dir eins aus.« »Huch. Du bist doch sonst so geizig, was ist passiert?« »Mein Kleiner kann jetzt richtig sprechen, das muss gefeiert werden.« »Na gut… Wenn du das Sprechen nennen willst.« Gemeinsam schlenderten sie zur nahen Eisdiele. Benny sah sich suchend um. »Arschgesicht und Dorfmatratze laufen uns gar nicht hinterher.« »Vielleicht haben sie andere Opfer gefunden.« »Noch hässlichere Freaks als wir? Meinst du, das gibt’s?« »Möglich ist alles und Konkurrenz gibt’s überall. Tag, zwei Kugeln Schokolade für ihn und Zitrone für mich.« Breit grinsend nahm Benny seine Waffel entgegen. »Danke, Mami.« »Gern doch, Kleiner.« Als sie zurück zur Weide kamen, saß Richie zwischen ihren Chucks. Sie erkannten ihn bloß am roten Haarschopf, der Rest seines Gesichtes und sein Oberkörper wurden von einer Zeitung verdeckt. »Oh, unser Pavianarsch bildet sich«, grinste Benny und ließ sich neben ihn ins Gras fallen. Richie rollte die Zeitung zusammen und schlug sie ihm gegen den Hinterkopf. »Klappe, Gartenstuhl.« Er faltete sie wieder auseinander und tippte mit dem Zeigefinger auf einen mit Filzstift markierten Artikel. »Lest das mal.« Benny und Sid überflogen den kurzen Text und sahen auf. »Lisa?«, machte Benny bloß. »Moment, Moment.« Sid zog die Stirn kraus. »Das war mir jetzt ’n Stück zu hoch. Lisa und Alec waren im Industriegebiet. Alec ist tot. Zwei Achtjährige waren ’nen Tag später da, von denen einer jetzt auch tot ist. Lisa liegt verletzt im Krankenhaus und der Kleine ist verstört. Und es gibt keine Spuren, hab ich das richtig verstanden?« »Mami kann lesen«, murmelte Benny. »Das war irgendein Vollkranker«, meinte Richie, den Kopf an den Baumstamm gelehnt und den Blick gen Himmel gerichtet. »Sie schreiben, Alecs Leiche war verstümmelt. Und Lisa ist offenbar mehr als geschockt.« Benny verzog das Gesicht. »Irgendwie komisch… Arschgesicht – tot?« »Schon ’ne merkwürdige Vorstellung«, nickte Richie. »Er war ein Arschloch… Aber so einen Tod hätt ich ihm nicht gewünscht. Das hatte er nun auch wieder nicht verdient.« »So etwas hat niemand verdient«, sagte Sid leise. Benny zuckte mit den Schultern und rollte die Zeitung wieder zusammen. »Bin dafür, dass wir uns davon jetzt nicht runterziehen lassen. Dann ist Arschgesicht halt tot, mein Gott. Da können wir jetzt auch nichts mehr dran ändern. Mein Eis schmilzt.« Sid und Richie lachten. »Schon verstanden«, grinste er. »Das ist viel wichtiger, hm?« Benny nickte und schleckte summend das verflüssigte Schokoladeneis von seinen Fingern. »Ich«, sagte Richie langsam, »wär euch aber dankbar, wenn ihr demnächst mit mir ins Krankenhaus kommen würdet. Lisas Mutter hat meiner heute Morgen die Ohren vollgeheult, jetzt will man, dass ich sie besuchen komme, sobald das wieder erlaubt ist.« Schweigen. Benny rümpfte die Nase. »Aber nur weil du’s bist, Mann.« »Jep.« Sid nickte. »Wir tun dir mal den Gefallen, wir bringen ihr ein paar Blümchen mit und dann verpissen wir uns wieder.« »Danke, Leute. Mehr will ich ja selbst nicht.« In Lisas Zimmer war es dunkel. Sie hatte die Schwester angefleht, den Rollladen oben, oder wenigstens das Licht an zu lassen, doch diese war der festen Überzeugung gewesen, sie brauche Schlaf. Schlaf. Jedes Mal, wenn Lisa dieses Wort durch den Kopf ging, zuckten ihre Mundwinkel ein wenig. Schlaf war ein vollkommen ironischer Begriff für sie geworden. Die dritte Nacht hatte sie nun in diesem Bett verbracht, lag schwitzend unter der Decke und in ihrem Gips, und wartete auf IHN. ER besuchte sie immer wieder, redete mit ihr oder beobachtete sie bloß schweigend. Und jedes mal war SEIN Hund dabei. Der Hund, der Alec so laut zum Schreien gebracht hatte. Dabei waren im Krankenhaus gar keine Tiere erlaubt. Erneut huschte ein wirres Grinsen über ihre Lippen. Was erlaubt war und was nicht, spielte längst keine Rolle mehr. Ständig hörte sie Ärzte und Polizisten von Mord und Körperverletzung reden, ER hatte das getan, doch ER störte sich einfach nicht daran. ER hatte die – »Macht.« Lisa zuckte zusammen, riss die Augen auf und fiepte, als ein leises Hauchen direkt neben ihrem Kopf ihr Ohr streifte. »Ich habe die Macht es zu tun… Und deshalb tue ich es auch.« Vorsichtig drehte Lisa den Kopf nach links. ER war neben ihrem Bett in die Hocke gegangen, hatte die Ellenbogen auf die Matratze und den Kopf in die Hände gestützt. ER lächelte. »Guten Abend, Lisa.« Lisas Atem ging schneller, sie versuchte zu antworten, doch die Stimme blieb ihr im Hals stecken und schickte stattdessen bloß ein ängstliches Krächzen hinaus. »Schhhht…« ER legte eine Hand auf ihren Gips, ihren flehenden Blick missachtend. »Du weißt doch, ich werde dir nicht mehr weh tun.« SEINE Stimme war kaum mehr als ein Raunen. »Ich werde dir kein Haar krümmen, solange du dich angemessen benimmst und weiterhin sühnst. Das hast du doch verstanden, oder?« Lisa schniefte, Tränen bildeten sich in ihren Augen, und nickte. Sühnen, das bedeutete den ganzen Tag über ihr bisheriges Leben nachdenken und ab und zu einige Schmerztabletten auslassen, um ihre gebrochenen Knochen wieder zu spüren. Es war furchtbar für sie, Lisa fühlte sich seit den letzten Tagen so sehr von Schuldgefühlen zerfressen, dass sie zwischenzeitlich oft den Eindruck hatte, zu zerreißen. »Möglicherweise wirst du heute erlöst.« Erschrocken starrte Lisa IHN an – das musste ihren Tod bedeuten. ER lachte. »Nein, keine Sorge. Höchstwahrscheinlich werde ich dich nicht töten, du machst deine Sache besser als Alec.« Sie zuckte zusammen. »Aber in wenigen Minuten wirst du Besuch bekommen, von einigen alten Bekannten. Du erinnerst dich an Benjamin, Richard und deren neue Gefährtin Sidney?« Lisa erschauderte, schwer schluckend wandte sie den Blick zur Decke. »Wir waren gemein zu ihnen…« »Ja, das wart ihr… Aber heute hast du die Chance, um Vergebung zu bitten und es wieder gut zu machen.« »Wieder gut machen? Da-das kann ich?« »Aber natürlich. Sorge dafür, dass sie deine Entschuldigung annehmen und du selbst nicht rückfällig wirst, dann wirst du mich und die mit mir verbundenen Schmerzen nie wieder zu Gesicht bekommen.« ER warf einen kurzen Blick auf den Radiowecker, neben dem – was Lisa nun erst auffiel – Inferno auf dem Boden lag. 17:48. »Du hast noch gute zwanzig Minuten Zeit, dir deine Vorgehensweise zu überlegen. Gut zu überlegen. Solltest du es schaffen, siehst du mich nie mehr… Andernfalls…« Lisa kniff die Augen zusammen, sie wünschte sich, den Rest des Satzes nicht zu hören – und dieser Wunsch ging in Erfüllung. Nach einigen Malen Blinzeln war ER fort. Lisa lag wieder im Dunkeln. Unruhig beobachtete sie den Radiowecker, auf dem die Minuten unendlich langsam dahinschlichen. Sie versuchte klar zu denken, ihre Entschuldigung gut zu formulieren, doch die Verwirrung ihrer Psyche war zu groß. Schließlich, nach schier ewigem Warten, öffnete sich die Tür. Grelles Licht von den Halogenlampen des Flurs ließ sie die Augen verengen. »Nabend«, nuschelte ihre drei Besucher einstimmig. »Ich mach mal ’n bisschen heller.« Lisa setzte sich vorsichtig auf, während Richard quer durch ihr Zimmer lief und langsam den Rollladen hoch ließ. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht – endlich war es wieder hell. Nun standen sie wieder zu dritt dort, dieses Team, das Alec und sie trotz aller Mühe nie zu Boden bekommen hatten. Nach einem Moment bedrückten Schweigens fragte Richard: »Wie geht’s dir denn?« Lisa schluckte schwer, sie holte tief Luft und öffnete den trockenen Mund. »Ich…« …möchte mich bei euch entschuldigen, sag es, los! »…habe…« …eine Bitte, verzeiht mir! »…Angst.« Zuerst muss ich sie warnen. Das bin ich ihnen auch schuldig. Langsam drehte sie den Kopf zu ihnen, ihre Augen waren leer und starr, doch sie bemühte sich, nicht allzu abschreckend zu wirken. »Ihr dürft keine Angst haben«, hauchte sie. Sie sah, wie Benjamin sich die Augen rieb und den Kopf schüttelte – er nahm sie nicht ernst. Warum auch? Sie machte offenbar einen sehr wirren Eindruck. »Wovor … hast du denn Angst?« Sidney. Seit wann war sie in der Stadt? Lisa schätzte anderthalb Wochen. Und von Anfang an hatten sie Vorurteile gehabt, bloß weil sie sich sofort zu den beiden gesellt hatte. Sie schienen alle drei gar nicht so schlimm wie Alec immer behauptet hatte (Gib nicht nur ihm die Schuld…) – wie sie beide immer behauptet hatten. »Vor der Angst«, antwortete sie heiser. »Vor… Vor … IHM.« »Vor wem?« Richard. »Vor dem, der dir das angetan hat?« Wieder Sidney. Benjamin stand bloß schweigend etwas abseits. Er schien beinahe angeekelt. Lisa kniff die Augen kurz zusammen und öffnete sie wieder. »Das ist jetzt nicht wichtig«, murmelte sie. »Hört zu, bitte hört mir zu. Ihr müsst auf euch aufpassen, ihr müsst euch vor IHM schützen! E-ER kennt keine Gnade bis… ER SEIN Ziel erreicht, bitte, ihr dürft euch nicht von ihm fangen lassen! Ihr dürft … keine Angst haben.« Benjamin schüttelte schnaubend den Kopf und drehte sich weg. »Ich geh.« »Nein!« Lisa begann zu keuchen, sie spürte wie die Panik in ihr hochstieg. »Nein! Du darfst nicht gehen, bitte hör mir zu! Du hast Angst! B-Benjamin… Ihr alle habt Angst, aber das muss aufhören… ER wird euch zwingen etwas zu tun, ER wird… ER wird euch weh tun… Bitte hört mich an, ihr müsst euch in Acht nehmen, bitte!« »Lisa…« Der Verzweiflung nahe packte sie Richards Handgelenk, Tränen rannen ihr stumm über die Wangen. »Bitte bleibt hier«, hauchte sie. »Nein, ich denke wir gehen jetzt«, sagte Sidney fest. »Wir sagen den Schwestern bescheid, dass du Hilfe brauchst.« Gerade setzte Lisa an zu protestieren, da erschien ER neben ihnen in einer Zimmerecke. Erschrocken schrie sie auf, sie ließ Richards Handgelenk los und krallte sich in ihre Bettdecke. »Nein, geh weg«, flüsterte sie. »Geh weg, ich schaff es noch. Und lass sie in Ruhe!« SEIN Blick wanderte langsam zu den drei Freunden, die sich bloß ratlos umsahen; ER grinste. »Es ist zu spät, Lisa. Du hast sie zu sehr verschreckt. Egal, was du jetzt noch sagst, sie werden es weder richtig auffassen, noch ernst nehmen. Es wird Zeit für sie zu gehen.« Tatsächlich nickte Richard in exakt diesem Moment. »Sid hat Recht. Wir gehen jetzt wieder, aber sie kümmern sich bestimmt gut um dich. Gute Besserung, Lisa.« »Nein!« Sie begann zu schreien, ignorierte die Schmerzen die von ihrem Arm durch den gesamten Körper schossen, als sie aufsprang. »Wartet, ich muss euch noch etwas sagen, sonst bin ich die Nächste!« Sie drehten sich um. »Es tut mir leid!« Benjamin öffnete die Tür. »Es tut mir leid, bitte! Ich…« Die drei verließen den Raum, direkt darauf huschte eine Schwester samt Beruhigungsspritze hinein. ER winkte ihr kurz, dann verschwand auch ER. Lisa sank in sich zusammen. »Ich bin die Nächste…« *** Benny, Sid und Richie saßen schweigend auf ihren Fahrrädern. Sie fuhren am alten Industriegebiet vorbei, wo noch immer Polizeiwägen neben rot-weißem Absperrband parkten, kopfschüttelnd begaben sie sich in den Wald, der sie zurück zum Park führen würde. Die Waldgrenze hatten sie fast erreicht, als Richie suchend über die Schulter blickte. »Warte mal«, sagte er zu Sid und bremste sein Fahrrad. Sid tat es ihm gleich. »Was denn?« »Benny war doch hinter uns, oder?« »Öhm… Ja, ich meine schon.« »Dann ist er das jetzt nicht mehr. Benny! Benny, Gartenstuhl, trödelst du? Beeil dich mal! Sid, siehst du ihn?« Langsam schüttelte Sid den Kopf. »Scheiße«, murmelte sie. »Dass auch immer alle in den gruseligsten Situationen verschwinden müssen… Benny!« Gedrückt fluchend drehten sie um und verfolgten ihren eigenen Weg zurück, beide krampfhaft damit beschäftigt den Schock, den Lisa ihnen verpasst hatte, zurückzudrängen. Sie riefen seinen Namen, brüllten, wühlten sich durch Äste und Gebüsche, doch von Benny fehlte jede Spur. Bedrückt schoben Richie und Sid ihre Fahrräder zurück in den Park, riefen und suchten noch einmal, kehrten schließlich frustriert und ängstlich zu Sid nach Hause zurück. Sie riefen bei Familie Vince an und erkundigten sich nach ihm, lösten damit jedoch nur noch mehr Sorge aus. »Das alles wird mir viel zu schnell viel zu viel«, sagte Richie niedergeschlagen. Kapitel 5: Eine Nacht im August ------------------------------- Als Benny wieder zu sich kam, fluchte er. »Oh, Scheiße«, waren seine Worte, nachdem er an sich herunter gesehen und die Fesseln registriert hatte. Er biss sich auf die Unterlippe und musterte seine Umgebung. Halbdunkel. Holz. Ein winziges, verstaubtes Fenster. Er selbst saß auf einem einfachen Stuhl, Vermutlich war er in der alten Blockhütte im Wald gelandet, dem Schmerz an seinem Hinterkopf nach zu urteilen hatte ihn jemand niedergeschlagen und hierher gebracht. Mit aller Macht versuchte Benny, die aufkommende Angst zu unterdrücken. Die konnte er jetzt überhaupt nicht gebrauchen. »Hallo?«, rief er. »Richie? Sid?« »Sie sind nicht hier.« Benny zuckte zusammen; er kannte diese Stimme, und er musste sich erst gar nicht fragen, woher. Er kannte sie nur zu gut. Er schluckte trocken. »Was hast du mit ihnen gemacht?« »Oh, nichts. Sie sind wohlauf zu Hause angekommen. Sie machen sich bloß Sorgen – etwas, was du heute auch hättest tun sollen.« »Sorgen?« Bereits jetzt war Bennys Stimme nicht mehr als ein Fiepen, doch er konnte es nicht aufhalten. »Aber ich hab doch –« »Schht.« Eine Messerklinge drückte sich an seine Kehle, Benny sog scharf die Luft ein. »Lass mich ausreden. Heute war erneut ein Tag, an dem du dich beweisen konntest. Was hast du von mir gelernt, Benjamin?« Benny kniff die Augen zu. »Dass… Dass ich darauf achten muss, dass ich keine gefälschten Gefühle, vor allem keinen falschen Hass und Neid aussprechen und erst recht nicht empfinden darf«, krächzte er, sein Kopf voller grässlicher Erinnerungen. »Weil sich meine Liebsten sonst von mir abwenden.« »Fast richtig.« Die Klinge schnitt ein, hinterließ einen winzigen, blutenden Kratzer; Benny unterdrückte einen Aufschrei. »Du sagtest, du darfst es nicht. Das ist falsch. Ich stelle dich vor die Wahl, Benjamin, ich stelle alle vor die Wahl. Natürlich darfst du fühlen wie du willst, fülle dich selbst ab mit falschem Trotz und falscher Wut – aber in diesem Fall musst du auch gewillt sein, die Konsequenzen zu tragen. Bist du gewillt, Junge, willst du das?« Vorsichtig, sehr vorsichtig schüttelte Benny den Kopf. »Nein«, hauchte er. »Ich will nicht sterben.« Das Messer löste sich von seinem Hals. »Angst vor dem Tod. Immerhin etwas. Deine Angst vor dem Tod. Immerhin etwas. Deine Angst vor dem selbstverschuldeten Alleinsein hast du in letzter Zeit ebenfalls sehr gut gepflegt, speziell nach dem Auftritt eurer neuen Freundin; ich war fast stolz auf dich. Und dann dieser Rückfall heute…« In Bennys Hals steckte ein dicker Kloß, mehr als ein Flüstern brachte er nicht zustande: »Was meinst du?« »Ich bin mir sicher, das weißt du. Ich rede von Alecs Tod und Lisas Verzweiflung. Beide haben dich zugegebenermaßen nicht immer sehr freundlich behandelt, doch mindestens Alec hat dafür bereits gebüßt. Doch gerade das war es, was diesen Ausrutscher heute und vor wenigen Tagen verursacht hat, nicht wahr?« Benny schweig. Er wollte um nichts in der Welt etwas Falsches sagen. »Kürzlich lasen deine Freunde und du den Artikel über Alecs kleine Strafarbeit in der Zeitung. Du gabst dich gleichgültig, sogar fast erfreut, diesen Jungen endlich vom Leibe zu haben. Dabei warst du tatsächlich zutiefst erschrocken über einen solchen Vorfall, du hattest sogar den Gedanken über meine Person im Hinterkopf. Welchen Fall hatten wir da also?« »Ich… Ich weiß ni–…« Benny sah zu Boden. »Falsche Schadenfreude.« »Sehr richtig, gut so.« Wie ein richtiger Lehrer, dachte Benny, der sich mittlerweile selbst wie ein Schüler bei einer mündlichen Überprüfung fühlte – allerdings bei einer äußerst gewaltbereiten Lehrkraft. »Kommen wir zum zweiten Vorfall, vor nicht mehr als einer Stunde. Du fühltest einiges in diesem Moment, als die arme Lisa zitternd und weinend vor euch lag, doch das war nicht das, was du nach außen trugst. Du hattest Mitleid mit ihr – das war wohl am schwierigsten zuzugeben. Gleichzeitig fühltest du dich machtlos, beinahe schuldig, weil du keine Möglichkeit sahst ihr zu helfen. Das stärkste Gefühl war die Angst. Du weißt, grundsätzlich habe ich nichts dagegen. Immerhin hattest du Angst vor mir, durchaus angebracht. Doch du hast sie nicht gezeigt, und du hattest auch nicht vor, sie später im Privaten deinen Freunden gegenüber zu zeigen. Die gesammelte Antipathie deinerseits gegen Lisa war in diesem Moment jedenfalls verschwunden. Andere Empfindungen beherrschten dein Inneres. Dennoch zeigtest du den anderen gegenüber bloß die erstere.« »Falscher Hass«, murmelte Benny automatisch. »Ganz genau. Was soll man nach solchen Aussagen von dir denken? Du wirktest kalt, verbittert, fast rachsüchtig und sadistisch. Noch sind deine Freunde vielleicht bloß irritiert, doch bald wenden sie sich ab, möglicherweise kommen neue, die dich dann allerdings für jemanden halten, der du nicht bist. Möchtest du das, Benjamin, solch ein Leben?« »Nein!«, sagte Benny sofort. »Nein, natürlich nicht, natürlich will ich das nicht. Es war ein Versehen, ich habe kurzzeitig nicht darauf geachtet, weil dieser … Vorfall, der … Tod … mich etwas aus der Bahn gebracht hat. Es tut mir leid, ich… Ich war etwas unaufmerksam…« Benny spürte, wie Angst in Form von Übelkeit seinen Rachen hinaufschlich, mit Mühe hielt er sein Mittagessen zurück. »Bitte… Gnade…« »Selbstverständlich… Sieh es als Verwarnung.« Ein scharfer Schmerz raste durch sein Gesicht, als das Messer einen tiefen Schnitt in seiner Wange hinterließ. Gleich darauf lösten sich die Fesseln. »Als Verwarnung und als Hinweis. Lisa hatte heute sehr recht, als sie euch darum bat, aufzupassen. Achte auf dich selbst, Benjamin.« Mit weichen Knien stand Benny auf, er fürchtete geradewegs der Länge nach umzukippen, als er zur Tür wankte. Er wagte einen flüchtigen Blick über die Schulter, zu seinem (Lehrer) Entführer, dann stolperte er hinaus in den von letzten Sonnenstrahlen durchzogenen Wald. Noch am selben Abend rief Benny bei Richie und Sid an. Zwar war seine Mutter dagegen, doch nachdem er seine Wunden hatte versorgen lassen, packte er flüchtig einige Sachen und verließ das Haus. An der Tür der Wilcoxes klingelte er Sturm. »Komm schon, Sid, mach auf«, murmelte er. »Aufmachen, du Schlafmütze, verdammt, mach schon!« Er stieß gerade einen äußert anzüglichen Fluch aus, als sich die Tür öffnete. »Sorry, wir haben nicht gleich… Benny!« Matt grinste er. »Nabend auch…« Richie tauchte hinter Sid auf, er rief »Scheiße verdammte, du Trottel!« und zog ihn am Ärmel ins Haus. »Wo in aller Welt warst du?« Schmunzelnd schloss Sid die Tür. »Lass ihn doch erst mal Luft holen. Kommt, wir gehen in mein Zimmer und dann kann die Trantüte uns alles erzählen.« Neben Sids Bett setzten sie sich im Dreieck auf den Boden. Richie deutete auf Bennys klammerverpflasterte Wange. »Was hast’n da gemacht? …Am Hals ist ja auch was.« Benny nickte langsam. »Ich bin hinter euch her gefahren, und… Na ja… Ich wurde abgefangen.« Die Gesichter seiner Freunde verdunkelten sich. »Von wem?«, fragte Sid leise. »Doch nicht von Alecs… Von diesem Wahnsinnigen, oder?« »Hm…« Benny seufzte. »Doch, ich schätze, er war es. Pass auf, Sid, ich werd’ dir jetzt wohl etwas erzählen, was vorerst nicht sonderlich glaubwürdig wirken mag.« Richie verzog das Gesicht, scheinbar sehr unzufrieden. »Benny… Bist du sicher, dass … das hierher gehört?« »Richie glaubt mir nicht«, sagte Benny bloß. »Ich versuch ja, dir zu glauben, aber Dämonen existieren eben nicht!« »Ähm… Moment.« Sid hob beschwichtigend die Hände; sie war sichtbar verwirrt. »Ich möchte nur mal gerade darauf hinweisen, dass ich nicht die leiseste Ahnung habe, wovon ihr da redet.« »Benny glaubt, dass sich vor ein paar Jahren ein Dämon in seinem Kopf eingenistet hat.« »Darauf wollte ich gar nicht hinaus, jetzt halt doch mal den Mund und lass mich erzählen!« »Jungs, wenn ihr euch jetzt streitet, werf ich euch hochkant wieder hier raus.« »Sorry«, machten die beiden einstimmig, Richie setzte hinzu: »Es klingt nur jedes Mal so hanebüchen.« »Ich glaub daran und wir werden sehen, was die davon hält«, sagte Benny. »Also, Sid, zuhören. Das, was Richie da erzählen wollte, das war vor acht Jahren. Da kam mein kleiner Bruder auf die Welt und … na ja, das hat für mich eben einiges verändert, meines Erachtens nicht zum Positiven. Ich wurde also ziemlich schnell ziemlich neidisch auf meinen Bruder. ’n paar Monate später ist mein Vater abgehauen, das weißt du ja schon. Einfach so, ohne sich zu verabschieden. Und von da an hatte ich riesige Schuldgefühle, ich hab mir ewig lange eingebildet, es sei meine Schuld gewesen, ich sei meinem Vater mit meiner Eifersucht so sehr auf’n Sack gegangen, dass er nichts mehr mit uns allen zu tun haben wollte.« »Ist doch Quatsch«, murmelte Sid. Benny nickte. »Ist mir später ja auch noch aufgefallen. Mein Vater ist offensichtlich einfach ein Arschloch. Jedenfalls hab ich in dieser Zeit ab und zu so ’ne Stimme gehört, und das ist der Punkt, an dem Richie mich für irre hält. Kann auch sein, dass es so ’ne Art mieses Gewissen war – seine Theorie –, aber für mich gehörte diese Stimme absolut nicht in meinen Kopf. Ständig hat sie mir eingeredet, ich sei schuld und all das. Und ich habe den Verdacht – ich weiß es ja selbst nicht sicher –, dass das eine Art Angstdämon ist. Von so einem hab ich mal gelesen, seitdem bin ich der Meinung, dass es Sinn ergeben könnte.« »Okay«, sagte Sid langsam; sie sah nachdenklich aus dem Fenster in die Dunkelheit. »Und… Was hat das mit heute Abend zu tun?« »Wenn meine Theorie stimmt, dann hat mich genau dieser Dämon vorhin abgefangen und verschleppt.« »Benny!«, rief Richie, der offenbar sehr mit seiner Fassung zu kämpfen hatte. »Jetzt halt aber mal den Ball flach! Das war ein ganz normaler Irrer und du solltest eigentlich die Polizei verständigen, statt uns hier was von deinem Angstdämon zu erzählen!« Benny runzelte die Stirn. »Mann, beruhig dich doch. Es bringt mir nichts, zur Polizei zu gehen, weil ich den Typen nicht gesehen hab. Und er hat die ganze Zeit mit mir geredet, über genau das, was die Stimme damals auch immer zu mir gesagt hat – woher hätte er das wissen sollen? Von Lisa hat er auch gesprochen und Lisa selbst hat uns ebenfalls irgendwas Wirres von Angst vorgefaselt. Meinst du nicht, man könnte mir wenigstens theoretisch Recht in meiner Hypothese geben?« Richie blickte schweigend zu Sid, die mittlerweile beinahe apathisch wirkte. »Hey«, machte er leise. Einen Moment lang reagierte sie nicht. Dann begann sie heiser zu sprechen: »Ich habe auch so eine Stimme gehört… Und sie hatte auch ihren Spaß an meiner Angst… das war nach dem… der… Nach der Ermordung … meiner Mutter… Ich… Ich hatte solche Schuldgefühle, weil ich mich am Abend zuvor so sehr mit ihr gestritten habe… Seitdem … hab ich Angst … etwas Falsches zu sagen… Angst, deshalb Dinge in Gang zu setzen, die ich gar nicht will.« Langsam drehte sie den Kopf zu ihren Freunden, die sie beide betroffen anstarrten. »Das… Ist das … ein Zusammenhang?« Schweigen. Richie fuhr sich mit beiden Händen erst übers Gesicht, dann durch die zerzausten Haare. Benny zuckte flüchtig mit den Schultern. Er musste an den Inhalt seiner Verwarnung denken. Seine Freunde… Würden sie ihn wirklich verlassen, wenn ihm so etwas nun wieder öfter passierte? Schließlich wurmte ihn der Gedanke zu sehr; er rieb sich die Augen und seufzte tief. »Leute…«, begann er. »Ich muss euch was fragen. Wegen Alec und Lisa. Ich … hab mich ja irgendwie nicht so benommen, wie ich mich gefühlt hab, ich klang wohl etwas abweisender und härter als ich eigentlich war. Das … ist doch nicht schlimm für euch, oder?« Die beiden sahen ihn sichtlich verwundert an. »Ähm«, machte Richie; »Mh-mh«, setzte Sid hinzu. »Ist doch kein Ding, wir alle überspielen manchmal Gefühle. Da brauchst du keine… keine Angst zu haben – ist es wegen dieses Typen?« Benny lächelte schwach. »Jaah… Ist es wohl…« »Jetzt geht’s aber langsam zu weit«, sagte Richie. »Mach dir mal keinen Kopf, einer reicht doch. Und in dem ist auch nur Mist. Ich schlage vor, als Zeichen unserer waaahnsinnig poetischen Freundschaft belagern wir heute Nacht Sids Zimmer.« »Hehe, abgemacht«, grinste Benny. Sid verschränkte die Arme hinterm Kopf und blickte an die Decke. »Achtet gar nicht auf mich«, flötete sie. Benny und Richie warfen sich einen kurzen Blick zu, nickten, grölten »Doch!« und stürzten sich zwecks Kitzelattacke auf sie. Es war ein sonniger Freitagnachmittag, Richie und Kay genossen den letzten Tag ihrer Sommerferien damit, auf der Mauer vor dem neuen Park zu sitzen und vorübergehende Gleichaltrige – gern auch Jüngere – zu schikanieren. Kay hob den Kopf und nickte in die Richtung des Waldes. »Sieh mal, da kommt Silvie.« Silvie war ihr liebstes Opfer, denn Silvie hatte keine Freunde, die sie verteidigen konnten. Ihre Mutter war körperbehindert, ein weiterer Punkt um sich über sie lustig zu machen. Außerdem standen Silvies Locken ihr in alle Richtungen vom Kopf ab, sie hatte ständig Schnupfen und Pickel und unter ihrer Nase wuchsen kleine dunkle Härchen; ihre Zähne waren schief und gelb und sie trug ständig die viel zu großen, abgetragenen Pullover ihres Bruders. Für die beiden Jungen war sie der perfekte Zeitvertreib. »Wirklich schade, dass wir nach den Ferien nicht mehr mit ihr in einer Klasse sind«, bemerkte Richie. »Jep«, nickte Kay. »Aber endlich aus dieser blöden Grundschule rauszukommen ist auch schon mal was. Gymnasium, wir kommen!« »Silvie geht dann bestimmt auf die Sonderschule«, grinste Richie. Kay lachte. »Sonderschule!«, rief er. »Hörst du, Silvie? Du kommst auf die Sonderschule, du Missgeburt!« Doch Silvie beachtete sie nicht. Sie kehrte ihnen den Rücken und verfolgte weiterhin ihren Weg. Das veranlasste die beiden Jungen, von der Mauer zu rutschen und ihr nachzusetzen, Kay packte von hinten ihre Oberarme und Richie sprintete vor sie. Feixend stemmte er die Hände in die Seiten; über ihren Kopf hinweg sah er zu Kay. »In den Wald?« Kay nickte. »In den Wald.« Gemeinsam zerrten sie das Mädchen, das sich schon gar nicht mehr wehrte, zu den anliegenden Bäumen. Richie blickte ab und zu über die Schulter, dass ihr auch ja niemand zu Hilfe kam, doch die Leute waren mal wieder zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Kay drehte Silvies Arme auf den Rücken und hielt sie schließlich triumphierend an den Handgelenken fest. »Oh, das ist so feige«, konnte Silvie noch sagen, da traf sie bereits der erste Schlag durch Richies Faust ins Gesicht. »Halt die Klappe, Missgeburt«, sagte Kay schroff und trat ihr in den Rücken. Richie holte zum nächsten Schlag aus, visierte ihren Magen an, da merkte er plötzlich, wie sich seine Umwelt veränderte. Langsam ließ Richie die Faust sinken und sah sich um. Er war noch immer im Wald, zweifelsohne. Doch der Park war nun viel weiter entfernt, Silvie war verschwunden und Kay konnte er ebenfalls nirgends mehr entdecken. »Hä?«, machte er. »Hallo? Kay, du Arsch! Wo seid ihr hin? Findest du das lustig?« Suchend drehte er sich um die eigene Achse. »Mann, das stinkt. Komm raus, Alter!« »Du bist allein.« Richie fuhr zusammen. Diese Stimme kannte er nicht, sie machte ihm Angst. Sie war kalt und (gnaden)gefühllos. »Kay?«, rief er, etwas brüchiger. »Wer ist da?« »Niemand ist da. Nur du … und dein Verbrechen.« »Mein… Was? Wer ist da, was soll das?« Ein Mann trat in sein Blickfeld, scheinbar aus dem Nichts. »Dies ist eine Demonstration, Richard.« »Woher… Ich heiße gar nicht Richard!« Der Mann lachte. »Aber natürlich tust du das. Leugnen ist nicht gut… Und noch dazu zwecklos, wie man so schön sagt.« Unschlüssig tat Richie einen Schritt zurück. »Was wollen Sie von mir?« »Nun, wie ich bereits versuchte zu erklären: Es ist eine Demonstration. Ich möchte dir hiermit etwas zeigen. Zwei Dinge, um genau zu sein. Ich möchte dir zunächst zeigen, wie es sich anfühlt, allein zu sein, und dies schließlich noch um eine Stufe erhöhen: Ich werde dir den Tod zeigen.« Richie schluckte. Auf der Suche nach vernünftigen Erwachsenen blickte er sich um, sah über beide Schultern, doch nirgends war jemand zu sehen. »Dir wird niemand helfen«, sagte der Mann, in einem furchtbar sachlichen Ton. »Hätte jemand der kleinen Silvie geholfen? Vermutlich nicht. Merke dir gut, wie sich das anfühlt.« Richie schwieg. Kay hatte ihn immer gewarnt, wenn ihn jemand darauf ansprach, sollte er es auf gar keinen Fall zugeben. Richie runzelte die Stirn; ein unangenehm flaues Gefühl begann sich in seinem Magen breit zu machen, als er vorsichtig zur Frage ansetzte: »Wissen Sie, wo mein Freund Kay ist?« Der Mann grinste, als habe er darauf gewartet. Mit einer ausladenden Handbewegung wies er auf einen Baum, der, rechts von Richie, bisher im Schatten gestanden hatte und nun in gespenstisches grünes Licht getaucht wurde. Richie fiepte, er taumelte einige Schritte rückwärts, dann vorwärts, fiel vor dem Baum auf die Knie. Kay hing vor ihm, die Arme baumelten leblos von seinen mit Messern durchbohrten und offenbar gebrochenen Schultern, sein Gesicht war übersät mit Schnitten und sein gesamter Körper blutüberströmt. »Kay! Was… Wer… Oh Gott…«, wimmerte Richie. Der Mann war neben ihn getreten. »Möchtest du wissen, was mit ihm passiert ist?«, fragte er leise. Richie sprang auf, hektisch stolperte er zurück, bis er mit dem Rücken gegen einen Baum stieß. »Du hast ihn umgebracht«, hauchte er. »Lass… Lass mich in Ruhe! Lass mich in Ruhe, geh weg, ich – Hilfe!« Erneut lachte der Mann, so kalt und grausam, dass Richie ein unangenehmer Schauer über den Rücken lief. Langsam ging er auf ihn zu. »Dir wird niemand zu Hilfe kommen, Richard, im Gegenteil.« Nun stand der Mann unmittelbar vor ihm und beugte sich einige Zentimeter hinunter zu seinem Gesicht. »Du wirst dich mit Sicherheit nicht sträuben, mir einen kleinen Gefallen zu tun, oder?« Richie zögerte einen Moment, schüttelte dann jedoch ängstlich den Kopf. »Gut. Dann schließe nun bitte deine Augen.« »W-Was?« »Deine Augen. Du musst sie schließen, damit ich dir etwas zeigen kann.« Noch einmal sah Richie ihm in das blasse Gesicht, dann atmete er tief ein und kniff beide Augen fest zu. Einige Sekunden lang verharrte er in dieser Position, die Arme angewinkelt und fest gegen seinen Brustkorb gepresst, sämtliche Muskeln seines Körpers bis aufs Äußerste angespannt, den Biss auf der Unterlippe bis Blut über sein Kinn lief – bis: »In Ordnung. Du kannst die Augen wieder öffnen, Richard.« Richie tat wie ihm geheißen – und stockte. Keuchend wagte er, wieder auszuatmen. Der fremde Mann war verschwunden, ebenso der Wald. Richie befand sich auf dem Hof seiner Grundschule. In einem weiten Kreis standen Schüler aus seiner und der Parallelklasse um ihn herum – abgesehen von Silvie sein eigentlicher Freundeskreis. Doch was taten sie? Manche zeigten mit dem Finger auf ihn, andere schnitten böswillige Grimassen, sie alle lachten. »Was…«, setzte Richie an, doch die Stimme des Mannes, die diesmal eindeutig in seinem Kopf sprach, unterbrach ihn: So fühlt sich das an, Richard. Präge es dir gut ein. »Was passiert denn hier?«, fragte Richie flüsternd, der sich verzweifelt um die eigene Achse drehte, nur um in immer mehr feixende Gesichter zu sehen. Sie lachen über dich. Warum? Du weißt es nicht und sie werden sich irgendwelche merkwürdigen Erklärungen ausgedacht haben. Deine Eltern. Deine Haarfarbe. Deine Sommersprossen. Deine Vier im letzten Mathetest. Irgendetwas wird sich schon finden, um dich zu schikanieren. Denn du hast niemanden, der dir helfen wird. Und nun gib gut acht. Kay trat aus den Schülern hervor, in Richie bildete sich ein Funken Erleichterung, bis er das Grinsen auf seinem Gesicht sah, das er sonst bloß von ihren gemeinsamen Aktionen kannte. »Kay…«, murmelte er – und schon erfolgte der erste Schlag mitten in seine Magengrube. Richie keuchte auf, Überraschung und Schmerz ließen seinen Atem stocken, er taumelte zwei Schritte rückwärts. Fassungslos sah er sich um. Die Menge johlte und jubelte, forderte Kay sogar zu weiteren Schlägen auf. Als Kay den nächsten Treffer geradewegs gegen seine Nase landete, war es Silvie, die am lautesten brüllte. Richie schrie, schützend hob er die Arme vor sein Gesicht, wollte zurückschlagen, doch der ohrenbetäubende Applaus seiner Mitschüler lähmte seine Glieder. Er kassierte weitere Schläge, spürte Erbrechen in seinem Hals und Blut in seinem Gesicht, sackte auf die Knie. Hast du genug? Richie hob die zitternden Hände und presste sie gegen seine pochenden Schläfen. Tränen rollten über seine Wangen, was Kay dazu brachte, ihm nochmals ins Gesicht zu treten. Richie heulte auf, Asphalt brannte in seinen Augen. »Bitte…«, wimmerte er. »Mach, dass es aufhört, bitte…« Erst musst du verstanden haben, was es bedeutet, gedemütigt zu werden. Sie alle erfreuen sich deines Leidens, Richard. Merke dir gut, wie sich das anfühlt. Hatten all deine Opfer eine solche Behandlung verdient? Ein Tritt traf Richies Rücken. »Nein!«, fiepte er. »Das tut mir leid, das war nicht richtig! Bitte… Hol mich hier raus…« In diesem Moment wurde es still um ihn. Auch der Schmerz in Bauch und Gesicht verflog. Vorsichtig hob Richie den Kopf. Wohltuend kühle Luft schlug ihm entgegen – er war wieder im Wald. Der Fremde, dessen schneidende Stimme ihn bis eben noch auf dem Schulhof begleitet hatte, stand nun wieder vor ihm. Auch Kay hing noch am Baum einige Meter entfernt. Der Mann folgte seinem Blick dorthin. »Das führt uns bereits zur nächsten Demonstration«, sagte er leise. »Ich vermute, du bist zu jung, um das schon komplett verstehen zu können, doch Menschen, die lange Zeit das mitmachen müssen, was du gerade erfahren hast, neigen später zu außerordentlichen Taten. Sie lechzen nach Rache. Kommt es hart auf hart, gehen manche von ihnen so weit, ihre früheren Peiniger zu töten, sind danach oft so niedergeschlagen, dass sie sich selbst gleich mit in den Tod stürzen. Die Erwachsenen nennen das gern Amok. Oft aber … nehme auch ich mir das Recht heraus, Menschen wie dich und deinen Freund zu bestrafen. Natürlich möchtest du nicht, dass es soweit kommt, nicht wahr?« Richie gab sich Mühe, all das zu verstehen, obgleich in seinem Kopf momentan ein heilloses Durcheinander herrschte. Er schüttelte den Kopf. »Das dachte ich mir. Nun, du hast die Chance, es zu verhindern. Ich werde dir übers Wochenende Zeit geben, über all das gründlich nachzudenken. Wie du weißt, wirst du ab Montag eine neue Klasse besuchen. Dort wirst du dich entscheiden müssen zwischen einem Fortfahren wie bisher oder einer Veränderung deines Lebens. Tust du das Richtige, so werde ich dich verschonen. Und nun werde ich dir das Gefühl zeigen, dem du nicht entgehen wirst, sollte ich dich doch bei einer falschen Tat erwischen.« Als es dunkel wurde, schrie Richie. Schweißgebadet saß er aufrecht auf der Matratze, die sie vor wenigen Stunden in Sids Zimmer geschleppt hatten. Trotz seines Schreis waren sie und Benny nicht aufgewacht. Besser so…, dachte er seufzend. Ich will ihnen nicht erklären müssen, dass auch mir diese Angstdämon-Theorie nicht ganz fern liegt. Benny wird sicher gekränkt sein, wenn er davon erfährt. Immerhin hast du ihm diese Zweifel nur vorgespielt. Und wird Sid dir noch vertrauen, wenn sie von deiner Schlägervergangenheit erfährt? »Ruhe«, murmelte Richie. »Sie sind meine Freunde, natürlich vertrauen sie mir.« Die Frage ist, ob das so bleibt… Leise fluchend richtete er sich auf und tappte durch das dunkle Treppenhaus. »Hör auf mit den Selbstgesprächen«, befahl er dem Spiegel im Flur. »Der Psycho ist Bennys Rolle.« In der Küche war es stockfinster, vom Kühlschrank her ertönte ein dumpfes, regelmäßiges Ächzen, manche Bodenplatten wackelten und knacken, wenn Richie auf sie trat. Vorsichtig sah er über die Schulter. Nichts. Er war (nicht) allein in der Küche. Mach dich doch nicht lächerlich, dachte Richie mahnend. Deine Angst im Dunkeln ist doch Jahre her. Wer (ER) sollte schon hier sein? Er atmete tief durch, ignorierte das hektische Klopfen seines Herzens und griff in den Küchenschrank. Im gleichen Moment erklang hinter ihm ein langgezogenes Stöhnen, mit einem Glas in der Hand wirbelte Richie herum, tastete mit den Augen Küche und Diele ab, beruhigte mühsam seinen Atem. Unser Peter Poltergeist, würde Sid jetzt grinsen. »Ganz ruhig, Pete«, murmelte Richie. »Ich will nur etwas trinken, ja?« Seine müden Beine trugen ihn zur Spüle, dank seines Traumes und der nächtlichen Atmosphäre stand sein Magen kopf. Als er den Hahn aufdrehte, stockte er. Das Wasser sah anders aus als sonst. »Ist ja dunkel«, murmelte er dumpf. »Keine Sorge, alter Paranoia-Krüppel.« Mit vollem Glas trat er ans Fenster und versuche, im kaum existenten Mondlicht etwas zu erkennen. Noch immer schien das Wasser dunkel und dickflüssig, Richie hob es zu seinem Gesicht und roch vorsichtig daran. Den Geruch kannte er, nur woher? Er trank einen Schluck – und spie ihn augenblicklich zurück ins Becken. Mit unbeachteter Wucht knallte er das Glas auf die Spüle; hastig durchquerte er die Küche und betätigte den Lichtschalter – seine Vermutung bestätigte sich. »Hab doch gewusst, dass du nicht ganz sauber bist, Sid«, nuschelte er sarkastisch. Er drehte um und stürmte die Treppe hinauf. Bis er seine Freunde geweckt, ihnen etwas widerstrebend von seinem Traum erzählt, Benny in seinem triumphalen Maulen unterbrochen und mit Sid in die Küche geführt hatte, dämmerte es bereits. Schweigend standen die drei vor der blutbefleckten Spüle, bereits seit Minuten musterten sie das Glas mit der bekannten roten Flüssigkeit. Irgendwann streckte Sid einen Arm aus, stellte den Wasserhahn an. Klares, kühles Wasser floss ins Becken und wusch die roten Spritzer davon. »Das«, sagte sie leise, »ist gruselig.« Benny lachte leise. »Jaah… Schon. Richie, irgendwelche Interpretationsansätze? Was will uns wer mitteilen?« Seufzend rieb Richie seine Augen. »Ich wisst ja, ich bin nach dieser Wald-Sache nach Hause gerannt und durfte feststellen, dass Kay noch lebte. Aber immer, wenn ich ihn gesehen hab, klebte überall Blut an ihm – hab ich mir jedenfalls eingebildet. Dem folgte, dass ich eine ganze Weile lang ’ne richtige Angst vor Blut hatte. Aber wenn man sich mit Benny anfreundet, muss sich so was zwangsläufig legen. Ich schätze mal, dieser Irre will die Vergangenheit nicht ruhen lassen.« Einen Moment lang war es still, Benny wiegte den Kopf erst auf die eine, dann auf die andere Seite; stirnrunzelnd blickte er in das noch immer rot gefüllte Glas. »Ich war deine Chance, richtig?«, fragte er dann leise. »Wir kamen zeitgleich in die fünfte Klasse und am Anfang wollte niemand etwas mit mir zu tun haben. Alec und Lisa haben gleich am ersten Tag angefangen, sich über mich lustig zu machen. Und dann kamst du.« Richie nickte. »Ja, das … ist wohl so. Und, um ehrlich zu sein, ich hatte anfangs ja überlegt, da schon wieder mitzumachen – aber mit Kays Leiche im Hinterkopf war das mehr als unmöglich. Also hab ich’s gelassen und mir ist aufgefallen, dass du echt in Ordnung bist und diese komischen Trottel gar keinen Grund haben, dich so fertig zu machen.« Als niemand etwas sagte, setzte er mit fast panischem Unterton hinzu: »G-Glaub bitte nicht, dass ich mich bloß mit dir angefreundet habe, um nicht zu verrecken! Ich hab dich von Anfang an gemocht, ehrlich. Ich musste mich nur überw–« »Schon gut, Mann. Ich glaub dir ja. Ist nett zu wissen, dass ich dich vor dem Tod bewahrt habe, hehe. Jetzt, wo du Blut gesoffen hast, bist du mir doch sogar noch sympathischer.« Grinsend schüttelte Sid den Kopf. »Ihr zwei seid ja süß«, sagte sie. »Wirklich knuffige Geschichte, wie ihr zusammengefunden habt, wenn man diesen obskuren Dämon oder was auch immer mal außer Acht lässt. Fast wie Aschenputtel, nur dass der Prinz sich diesmal ins Fußvolk begibt, statt Aschi zu ihm.« Schweigen. Richie brach in Gelächter aus, Benny deutete langsam mit dem Zeigefinger auf seine eigene Brust. »Ich … bin Aschenputtel?« »Jaah«, lachte Sid, »und um Mitternacht hast du deinen gläsernen Chuck verloren.« »Mhm.« Benny nickte. »Geschwärztes Glas dann.« »Natürlich.« Richie, der sich nur wenig von seinem Lachen erholt hatte, hob das Glas hoch und räusperte sich. »Wollen wir darüber jetzt noch groß nachdenken, oder lassen wir das lieber?« »Ich würd’ vorschlagen, wir lassen uns davon jetzt nicht runterziehen oder einschüchtern oder so – scheiß drauf«, sagte Sid. »Aber vielleicht sollten wir noch mal bei Lisa vorbeischauen.« »Nicht heute«, sagte Benny prompt. »Ich will gammeln.« »Mit Vergnügen.« Richie entleerte das Glas ins Waschbecken und ließ etwas Wasser nachlaufen. »Machen wir ’nen Gammeltag, begonnen mit Blut, beendet mit Trägheit!« »Yeah.« Wenige Stunden zuvor, Richie war gerade kopfüber in den Alptraum seiner Vergangenheit gestürzt, erhielt James Wilcox einen Anruf. Der Wärter des städtischen Zoos, der sich wieder einmal frühestens aus dem Bett gequält hatte, um sich um seine Tiere zu kümmern, haspelte panisch durch die Leitung: »Kommen Sie schnell her, bitte – tut mir leid, Sie zu wecken, Doktor Wilcox, aber Sie müssen herkommen! Es ist… Bitte, kommen Sie.« »Was ist denn passiert?«, fragte James, seit Jahren der Lieblingstierarzt des Zoos, ruhig. »Ich hab keine Ahnung! Kommen Sie her! …Ich wollte sie nicht anschreien, tut mir –« »Schon gut. Ich bin unterwegs.« James legte auf, schrieb seinen Kindern einen Zettel und legte ihnen Geld für den Bäcker auf den Tisch, griff seinen Koffer und fuhr los. Im Zoo war es noch dunkel. Vor dem Dschungelhaus traf James auf Lou, den Wärter. »Also, was ist los?« »Sieh es dir an«, murmelte Lou und wies auf den Gang zu den Wildkatzen. Seine Stimme war brüchig, seine Augen blutunterlaufen, sein Arm zitterte. »Es ist… Ich weiß nicht… Wie kann so was denn passieren?« James nickte. Er verstärkte den Griff um seinen Koffer etwas und schritt voran. Das Dschungelhaus hatte für ihn schon immer etwas Sonderbares gehabt. Nicht so wie das Nachthaus, das Nachthaus sollte eine gruselige Aura für Besucher haben, aber nicht für den Tierarzt. Denn der wusste über die dort hausenden Geschöpfe ja bescheid. Beim Dschungelhaus war das für James immer etwas Anderes gewesen. Die Raubkatzen saßen vor den großen Fenstern und beobachteten ihn. Sie liefen auf und ab, je später es wurde, desto mehr glühten ihre Augen durchs Halbdunkel – hatten sie Junge, so war es am schlimmsten. Natürlich kannte James dieses Verhalten, es war nichts anderes als natürlich. Doch er wusste, sie waren mächtig. Lagen sie auf seinem Behandlungstisch, änderte sich das vollkommen, doch in diesem Gehege, inmitten von Pflanzen und Lianen, wo sie nur eine Glasscheibe von dem düsteren Gang trennte, in dem er sich befand – dort empfand er ihre Anwesenheit als nahezu beklemmend. Die Morgensonne hatte diesen Gang noch nicht erreicht, das einzige Licht spendeten ein paar schwache Lampen an der Decke. Ein seltsames Gefühl lag über den Gehegen… Fäule, Angst – Tod? James warf einen Blick zu den Löwen hinein – und stockte. Er trat näher an die Scheibe heran, um sich zu vergewissern, dass er nicht irrte. Doch sein erster Eindruck bestätigte sich: Die Löwenfamilie lag eindeutig tot am Boden. Die Haltung der drei Jungen war noch immer verkrampft, ihre Augen weit aufgerissen. Beide Eltern waren offenbar in Kampfhaltung zu Boden gegangen, ihre Felle waren gesträubt, ihre Gesichter verzerrt. Mit den Fingerspitzen seine Schläfen massierend ging James weiter. Doch das Bild änderte sich nicht: Sämtliche Wildkatzen schienen über Nacht verstorben. Vor dem Tigergehege trat Lou an ihn heran. »Skye ist die einzige, die’s überlebt hat«, sagte er leise. James nickte. Skye, eine junge Tigerdame, streifte unruhig vor der Scheibe auf und ab. Ihre Ohren waren angelegt, der aufgebauschte Schwanz peitschte aufgeregt hin und her, in unregelmäßigen Abständen stieß sie ein leises Fauchen aus. Als sie James und Lou erblickte, stolperte sie erst einige Schritte zurück – um dann mit einem großen Satz geradewegs gegen die Scheibe zu springen. Lou schrie erschrocken auf und machte einen hastigen Schritt rückwärts; James schob bloß seine freie Hand in die Hosentasche. »Komm mit«, sagte er nach einem Moment des Nachdenkens. »Wir betäuben sie, und dann holen wir die anderen da raus. Wir brauchen Autopsien.« Nachdem James seinem Assistenten und einem Transporter bescheid gegeben und sich in die anliegende Praxis verzogen hatte, setzte Lou seinen Rundgang fort. Bis er James angerufen hatte, war er bloß bei den Dickhäutern und im Dschungelhaus gewesen, doch im restlichen Gebiet des Zoos erfüllte sich seine Befürchtung. Sie hatten in dieser Nacht über einhundert Tiere verloren. Nicht einmal die Spinnen und Ameisen waren noch am Leben. Von Zeit zu Zeit kehrten die Transporter wieder und nahmen weitere Leichen mit sich. Wenn Lou sie fragte, hatten sie keine Antwort. Die Todesursache war noch immer unklar. Seufzend ließ er sich auf einen Stein vor dem Ottergehege nieder. Seine Lieblingstiere trieben leblos an der Wasseroberfläche. »Was ist nur mit euch passiert?«, murmelte er. »Wer oder was in aller Welt war das?« Einer der Otter trieb gegen die Scheibe. Starrte ihn mit leeren Augen an. Alles um ihn herum war vollkommen still, nichts regte sich. Nur der seichte Geruch von Tod trieb langsam in seine Nase. Trüb sah Lou zurück in diese leblosen Knopfaugen. Abgesehen von Skye war der Zoo nun vollkommen leer. Was sollte er tun, was sollte er den Besuchern sagen? Er würde neue Tiere organisieren müssen – dieser Gedanke schmerzte. »Macht’s gut, Jungs«, flüsterte er und stand schwerfällig auf. Ein letztes Mal legte er die Hand an die Scheibe – da durchzuckte sie ihn. Es war etwas Unbeschreibliches, etwas, was bei jedem Wesen unterschiedlich wirkt. Lou Greens hatte in diesem Moment etwas in der Fensterscheibe gesehen, was außer ihm nie jemand gesehen hatte und nie jemand sehen würde. Es war so grausam, dass sich augenblicklich eine Gänsehaut über seinen gesamten Körper zog und so erschreckend, dass Lou direkt darauf von einem Herzstillstand heimgesucht wurde. Er hatte in das Gesicht seiner eigenen Todesangst geblickt. Nur wenige Augenblicke bevor die Angst auch für Lou tödlich gewirkt hätte, fand James ihn. Während sein Assistent sich an einer Herzmassage versuchte, rief er einen Notarzt. Erschöpft sank er auf eine Bank, Lou war im letzten Moment noch gerettet worden und nun auf dem Weg ins Krankenhaus. Seufzend ließ sich sein Assistent neben ihm nieder. »Was für ein Morgen«, murmelte er. »Jah…«, nickte James augenreibend. Mittlerweile war es fast halb sieben geworden. »Verdammt merkwürdig.« »Möchte wissen, woran die alle gestorben sind. Wenn das ein Virus ist, haben die hier ein ganz schönes Problem.« James schüttelte den Kopf. »Das ist kein Virus. Da hätten wir Anzeichen gesehen. Und das haben wir nicht.« »Wir haben überhaupt keine Anzeichen gesehen.« »Ich weiß… Mir… Mir kam es beinahe so vor, als seien sie vor Angst gestorben. Als sei ihnen allen vom einen auf den anderen Moment das Herz stehen geblieben, weil sie Angst hatten. Allein wegen diesen Gesichtsausdrücken. Ich hab das noch nie so heftig gesehen.« Sein Assistent musterte nachdenklich seine Hände. »An der Theorie ist natürlich was dran… Aber es ist … unheimlich. Ich wüsste zu gern, was hier los war.« »Ja… Ich auch«, sagte James leise. »Ich auch.« Kapitel 6: Schwarze Gedanken ---------------------------- Ein breiter Sturzbach rann an Sids Fensterscheibe hinab. Sie, Benny, Richie und ihr älterer Bruder saßen schweigend davor. Sie musterten ihre Fahrräder im Vorgarten. »Ich wette, mein Fahrrad rostet am schnellsten«, sagte Benny. Richie strecket eine Hand in seine Richtung aus. »Zwei Nutellabrote auf meins.« »Abgemacht.« Ohne den Blick vom Fenster abzuwenden, schlug Benny ein. »Was wolltest du noch mal hier, Luc?«, fragte Sid, sichtlich geistesabwesend. »Hab ich vergessen«, murmelte er. »Wahrscheinlich wollte ich fragen, ob ich Pizza bestellen soll. Ich hab Hunger.« »Ja!«, rief Benny prompt. »Pizzaaa!« »Alles klar«, grinste Luc und stand auf. »Dann kommt schnell mit runter, wir rufen an.« Er hatte gerade die Nummer gewählt, als sich die Haustür öffnete und der triefende James im Flur erschien. Luc legte auf. »Na, Papa, auch schon da?« »Hey, Jungs; hallo, Sidney«, sagte James zerstreut, während er vergeblich versuchte, seinen Mantel zehn Zentimeter neben dem Haken an die Wand zu hängen. »Wie spät ist es?« Sid eilte vorwärts, nahm ihrem Vater den klitschnassen Mantel ab und hing ihn auf. »Gleich viertel nach zwei.« »Oh je, schon? Danke, Cookie.« Alarmiert sah Sid zu ihm auf. »Ist alles okay?« »Ja, ja.« Matt lächelnd ließ James sich auf einen Stuhl am Esstisch fallen. »Du hast mich durchschaut, ich hatte ’nen schweren Morgen. Habt ihr schon gegessen?« »Wir wollten uns gerade Pizza bestellen. Willst du auch eine?« »Ja, bitte. Peperoni, ich bezahl dann. Für alle.« »Cool, danke«, flöteten Benny und Richie einstimmig und ließen sich mit Sid am Tisch nieder. »Was war denn los?«, fragte Sid. »Auf dem Zettel stand nur Die Ärsche vom Zoo haben angerufen.« James nickte langsam. »Ich weiß nicht wirklich, was los war. Der Zoo ist ausgestorben und Lou hatte einen Herzinfarkt.« Er blickte in verständnislose Gesichter. »Ehrlich, ich weiß es nicht. Außer einem Tiger sind sie alle über Nacht gestorben. Mehrere hundert Tiere. Und bei allen das selbe: Ihre Herzen waren einfach stehen geblieben, einfach so. Sogar die Insekten, alle tot. Und als wir nach der Hälfte der Autopsien noch mal in den Zoo kamen, lag Lou ohne Herzfunktion am Boden. Haben ihn aber noch retten können, er liegt im Krankenhaus. Das Glück hatten all die Tiere leider nicht.« »Scheiße«, murmelte Richie. »Wie kann so was denn passieren?«, fragte Sid leise. »Wie gesagt, ich weiß es nicht«, antwortete James. »Aber irgendwas muss wohl passiert sein, etwas sehr Gravierendes. Es war schon fast unheimlich, diese Tiere hatten einen furchtbar erschreckten Gesichtsausdruck, damit und mit ihrem kollektiven Herzversagen sahen sie fast so aus, als seien sie aus Angst gestorben. Als hätten sie etwas oder jemanden gesehen und so dermaßen Panik bekommen, dass sie einfach … umgekippt sind.« Er nahm seine Brille ab und rieb sich seufzend die Augen. »Und mit Lou das gleiche. Mann, der arme Kerl tut mir wirklich leid.« Die drei Freunde starrten sich an, in drei Köpfen bildete sich zeitgleich die selbe Idee. Drei Münder standen offen, drei paar Hände zitterten, drei Gehirne arbeiteten hektisch daran, den gerade entwickelten Gedanken logisch zu erklären. Luc schlenderte zurück ins Wohnzimmer. »Die Pizza kommt in fünfzehn Minuten, Shannon isst auch mit.« »Ja…«, murmelte Sid brüchig. »Mir auch… Mir tut er auch leid… J-Jungs… Gehen wir noch kurz in mein Zimmer, bevor die Pizza kommt?« »Ihr könnt auch oben essen«, sagte James, der die Betroffenheit der Kinder hinter seinen zur Entspannung geschlossenen Augen gar nicht bemerkt hatte. Sid nickte flüchtig. »Machen wir«, sagte sie heiser, während sie mit ihren Freunden langsam die Treppe hochstieg. Einige Momente lang saßen sie schweigend auf Bennys Matratze. Richie öffnete den Mund, setzte einige Mal an etwas zu sagen, und schloss ihn wieder. Schließlich erhob Benny das Wort: »Und… Was wollen wir jetzt machen?« »Machen?«, wiederholte Richie dumpf. »Was stellst du dir darunter denn vor? Die kleinen Helden spielen und das große böse Monster aufhalten?« Benny zuckte mit den Schultern. »Wir sind die einzigen, die ungefähr wissen, wer oder was das sein könnte, oder?«, sagte er kleinlaut. »Irgendwas müssen wir doch…« »Wir sind nicht sicher«, sagte Sid. »Kann doch genauso gut sein, dass es auch andere wissen. Und Richie hat Recht, was sollen wir schon machen?« »Aber er hat doch diese ganzen Tiere getötet… Und… Und Alec… Was ist mit Lisa, wir haben doch gesagt wir wollen sie noch mal besuchen, wäre das nicht angebracht?« Richie legte den Kopf leicht schief. »Du willst freiwillig zu Lisa? Benny, was ist denn los?«, fragte er leise. Benny sah zu Boden. »Ich hab doch bloß Angst«, nuschelte er. »Was ist denn, wenn noch mehr passiert? U-Und uns drei kennt er doch offenbar auch, glaubt ihr nicht wir sind in Gefahr? Glaubt ihr nicht wir sollten etwas unternehmen? In der Zeitung stand doch, Alec sei verstümmelt gewesen…« Behutsam legte Sid eine Hand auf seine Schulter. »Das ist mir heute Morgen auch gekommen«, sagte sie leise. »Aber ich glaube nicht, dass er es schon wieder auf uns abgesehen hat, wie damals. Lisa hat es doch auch angedeutet, der Kerl ist auf Alec losgegangen, weil mit dessen Angst irgendwas nicht in Ordnung war, der gleiche Grund, aus dem er früher auch bei uns war. Aber das ist doch der Punkt, er war bei uns. Wir sind aus dem Schneider, er war schon vor Jahren fertig mit uns und wir sind mit einem blauen Auge davongekommen. Wer immer es ist, er will bestimmt nichts mehr von uns.« »Und was ist mit den Tieren?« Benny versuchte hörbar, Tränen zurückzuhalten. »Warum hat er die Tiere getötet? Meinst du vielleicht, die hätten Probleme mit ihrer Angst gehabt? Meinst du, die hätte er verschont, wenn sie etwas eingesehen hätten? Meinst du, er braucht einen Grund zu töten?« Sid antwortete nicht. »Pizza!«, flötete ihr kleiner Bruder von unten. Richie lachte schnaubend. »Verrückte Welt«, murmelte er. »Hat von euch noch irgendwer Hunger?« »Nicht wirklich«, nuschelte Benny. Sid stand auf. »Ich geh sie holen, dann sehen wir weiter…« Die Folge war, dass sie weitere Minuten schweigend auf der Matratze saßen, diesmal mit geöffneten Pizzakartons vor sich. Die Ungewissheit ihrer Situation war zu quälend, als dass sie einen vernünftigen Satz hätten bilden können. In jedem von ihm hatte der Keim der Angst, den Tamias vor Jahren gepflanzt hatte, den letzten Tropfen Wasser bekommen um weiter zu wachsen, doch keiner von ihnen wusste, ob das berechtigt war. Sollten sie etwas gegen diesem Dämon, den niemand so recht einordnen konnte, unternehmen? Die Polizei würde wohl kaum auf die Idee kommen, nach einem solchen Täter zu suchen, das bedeutete, er würde weiterhin Menschen bedrohen und töten können, doch sollten sie das Risiko ihn davon abzuhalten wirklich eingehen, obwohl sie selbst wahrscheinlich gar nicht betroffen waren? Diese Frage zu verneinen klang feige. Aber hatten sie denn eine Wahl? Selbst wenn sie sich entscheiden würden ihn aufzuhalten, wie sollten sie das schaffen? War das möglich für drei Jugendliche, die allesamt nicht einmal ihr achtzehntes Lebensjahr erreicht hatten? »Fuck off«, murmelte Benny und biss herzhaft in seine Pizza. Und damit war das Gesprächsthema beendet gewesen. Es dauerte nur wenige Minuten, bis die drei wieder breit grinsend über ihren Pizzakartons saßen und zweideutige Konversationen führten. Doch die Überlegung blieb in ihren Hinterköpfen haften. Niemand von ihnen wollte diese Nacht alleine verbringen, doch als diverse Mütter anriefen, blieb ihnen keine andere Wahl mehr. Benny sollte zur Polizei, um eine in seinen Augen vollkommen sinnlose Aussage zu machen; Richies Eltern hatten mit ihm laut ihren Angaben etwas Wichtiges zu besprechen. Also saß Sid an diesem Abend einmal mehr alleine in ihrem Zimmer. Neben ihr eine Flasche Wasser, daneben eine Packung Eistee, zu ihrer anderen Seite eine brennende Kerze, über ihr das Fenster in der Dachschräge, vor ihr der Computer. Auf dem Monitor flackerte eine weiße Seite; Sid kam mit ihrer angefangenen Geschichte seit (Alecs Tod) ihrem Besuch bei Lisa nicht mehr voran. Sie hatte viele Abende so verbracht, vor ihrem Umzug und der darauf folgenden Freundschaft mit Benny und Richie waren ihre Geschichten der einzige Ausweg aus ihrer immer verkorkster werdenden Welt gewesen. Sie hatte sich verändert, das Verhalten ihrer Mitschüler hatte sich verändert, ihre Beziehung zu ihrer Mutter hatte sich verändert, das alles zeitgleich zur Trennung ihrer Eltern. Und dann die Ermordung ihrer… Sid schüttelte den Kopf. Nicht jetzt. Es zwar Zeit für Kreativität, nicht für Depressionen. Ein Gesprächsfenster blinkte auf, Sid unterhielt sich wieder einmal via Internet mit einem Mädchen, das ihr wenige Tage vor dem Umzug in einem Chat über den Weg »gelaufen« war. Sie rieb sich die Augen, trank einen Schluck Wasser und antwortete. Ja, sie hatte bereits Freunde gefunden, sehr gute sogar, und ja, sie war auch schon in einer Schule angemeldet. Es lief alles soweit ganz gut. Ja, besser als zuvor. Ja, ihr großer Bruder hatte es auf die Uni geschafft. »Ja, die Stadt wird von einem wahnsinnigen Angstfetischisten bedroht«, murmelte Sid. »Das war in unserem alten Wohnort auch nicht so, was hältst du davon?« Wenige Sekunden spielte sie mit dem Gedanken, dies in das Gesprächsfenster zu tippen. Man würde ihr doch sowieso nicht glauben, man würde es für einen Scherz des etwas skurrilen Horrorfans halten. Doch Sid verschwieg es. Sie lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück und musterte ihr Zimmer. Es war dunkel. Schon seit Kindertagen hegte sie eine gewisse Angst vor der Dunkelheit und allem, was sie darin nicht sehen konnte, doch in Situationen wie dieser hielt sie sich in Grenzen. Eine Kerze und ihre Geschichte reichten ihr, um die Angst zu verdrängen bis zu dem Moment, in dem sie wie gelähmt im Bett liegen würde. Sie gähnte herzhaft und nahm einige tiefe Züge vom Eistee. Sie wollte noch nicht müde werden, bevor sie nicht wenigstens ein paar Sätze auf Papier hatte bringen können. Etwas kratzte an ihrer Zimmertür. Sid schüttelte den Kopf und legte die Finger auf die Tastatur. Etwas kratzte an ihrer Zimmertür. Sid ignorierte das quälende Gefühl in ihrem Rücken und die aufkommende Übelkeit. Langsam tippte sie ein Wort. Etwas kratzte an ihrer Zimmertür. Sid kniff die Augen kurz zu, schrieb hastig »wart mal kurz« ins Gesprächfenster und stand auf. Vorsichtig durchquerte sie ihr Zimmer. Legte die Hand auf die Türklinke. Erneutes Kratzen. Sie atmete tief durch, öffnete die Tür einen Spalt weit und spähte in den Flur, mit der Gewissheit, dass ihr im nächsten Moment kalte Hände oder gar eine Messerklinge entgegen kommen würden. Etwas Felliges stupste ihr Schienbein an, Sid verdrehte die Augen und zog die Tür weiter auf. »Katze, es ist halb zwei nachts«, murmelte sie. »Und wenn du rein willst, brauchst du hier nicht das Psychopathenvieh zu spielen.« Das Tier gab ein lautes Miauen von sich, strich einige Male um Sids Beine und tapste dann zurück in den Flur, in die Richtung des Badezimmers. Sid legte den Kopf schief. Oft wurde ihr so verdeutlicht, der Katze zu folgen, also betätigte sie den Lichtschalter und lief leise hinterher. Auch im Bad war es dunkel, Sid verfluchte sich für ihre kindliche Furcht und knipste das Licht an. Just in dem Moment, in dem ihre Katze sich verflüchtigte, entdeckte sie das Wasser in der Badewanne. Naserümpfend trat sie näher an sie heran, setzte sich schließlich auf den Rand. Das Wasser war schwarz… Es sah dickflüssig aus, fast wie ein Moor. Sid zögerte einige Momente, bevor sie die Hand ausstreckte und hineinlangte. Mit einem Mal verschwand der Boden unter ihren Füßen, das Bad um sie herum, sie wurde in ihre eigene Badewanne gezogen, erwartete mit dem Kopf aufzuschlagen, doch da war kein Boden mehr. Sie kniff die Augen zu, hielt die Luft an, fiel durch Wasser und wurde dennoch nicht nass. Ihre Knie kamen sanft auf weichem Boden auf, vorsichtig öffnete Sid die Augen. Ein kalter Schauer jagte über ihren Rücken; sie kannte diesen Ort. Benny, Richie und ihr Vater hatten ihr von ihm erzählt, ein- oder zweimal hatten sie bereits vor dem Zaun gestanden. Es war der abgesperrte Teil des Waldes, der verbotene, in dem vor Jahren am laufenden Band Kinder verschwunden und nie wieder aufgetaucht waren. Er war es, dachte Sid schluckend. Und jetzt will er mich haben. Ein leises, sarkastisches Lachen entfuhr ihrer Kehle. Von wegen, er will nichts mehr von uns. Sie drehte sich einmal um die eigene Achse, blickte gen Himmel. Es war Nacht und sie hatte nicht die leiseste Vermutung, wo genau sie sich befinden könnte. Sie musste auf schnellstem Wege aus diesem Waldstück heraus, wie auch immer (er sie hierher gebracht hatte) sie hierher gekommen war. »Hallo?«, rief sie vorsichtig. »Ist jemand hier? Hilfe!« Doch niemand antwortete ihr. Der Wald lag schweigend vor ihr, hinter ihr, um sie herum. Sid rieb sich die Schläfen, sie versuchte trotz der wachsenden Angst ruhig zu bleiben. In welche Richtung sollte sie laufen? Er wird dich nicht gehen lassen, murmelte ihr Verstand. Egal, in welche Richtung du (fliehst) läufst… Du wirst nicht entkommen. Sid kniff die Augen zu und schüttelte den Kopf. »Halt den Mund«, murmelte sie. »Wenn ich gerade eben noch in meinem Bad war, kann ich jetzt auch wieder hier raus.« Nein, entgegnete sie sich selbst, das bedeutet bloß, dass ER deinen Aufenthaltsort bestimmt und du darüber keine Macht mehr hast. Erneut schüttelte sie den Kopf, meinte einige Meter vor sich zwei Eichen wiederzuerkennen, und lief los. Sie lief zwischen den Bäumen hindurch, weiter, immer weiter, und stieß schließlich triumphierend auf einen Weg. Da hinten ist die Abgrenzung, dachte sie fieberhaft. Da muss sie sein! Doch die Absperrung erschien nicht. Nur widerwillig verlangsamte Sid ihre Schritte, nur widerwillig gestand sie ihrem Verstand ein, dass er Recht behalten hatte. ER wollte, dass sie in diesem Wald blieb und deshalb war ihr zumindest vorerst jeder Fluchtweg verwehrt. Einige Meter vor sich sah sie eine Gestalt am Boden sitzen, die Beine ausgestreckt, den Rücken an einen Baum gelehnt, das Kinn auf die Brust gesunken. Nach einem kurzen Blick auf die schwarze Kleidung mitsamt dem Bandlogo fiel Sid die Identifizierung nicht mehr schwer: »Benny?« Er rührte sich nicht, doch nach einigen Momenten schienen unter seinem Hemd Bewegungen stattzufinden, Sid hatte bereits einen Arm ausgestreckt um nachzusehen, als die erste Spinne aus seinem Kragen krabbelte. Erschrocken zog sie ihre Hand wieder zurück. »Scheiße«, flüsterte sie. »Benny! Benny, bist du in Ordnung – sag doch was!« Immer mehr Spinnen tauchten aus seiner Kleidung auf, verbreiteten sich langsam wie eine schwarze Decke auf seinen Armen, seinen Beinen; eines der Tiere – pechschwarz, haarig und gute drei Zentimeter im Durchmesser – focht allein den Weg zu seinem Hals an. Sid atmete tief durch und schnipste sie weg. Augenblicklich blieb ein Gemisch aus roter und gelber Flüssigkeit an ihren Fingern kleben; die Spinne war geplatzt. Sid schüttelte sich. »Lasst ihn in Ruhe«, murmelte sie und beugte sich herunter um noch mehr von ihnen zu vernichten. »Lasst ihn gefälligst in Ruhe, ihr Scheißviecher!« Ein langes, behaartes Bein klemmte unter ihrem Fingernagel, Sid erschauderte und richtete sich wieder auf. »Werd doch einfach wach«, murmelte sie. »Benny, komm doch zu dir.« Langsam hob er den Kopf. Sid entspannte sich kurz, setzte an ihm etwas zu sagen, stoppte jedoch mitten im Atemzug. Aus Bennys schwarzen Augenhöhlen krabbelten weitere Spinnen, sein Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet, getrocknete Rinnsale aus Blut führten von seinen Winkeln bis zum Kinn. »Oh nein«, hauchte Sid. »Oh nein… Nein, nein…« In einem unglaublich schnellen Fluss rasten die Spinnen in sein Gesicht, bildeten auf seiner Stirn einen unruhigen, schwarzen Schriftzug: GIFT Sid keuchte, ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden richtete sie sich auf und sprintete. Mit einem Satz war sie über Bennys Beine gesprungen, doch ab dem Moment, in dem sie wieder landete, waren ihre Schritte schrecklich langsam. Ihre Fußballen sanken im weichen Waldboden ein, ihre Glieder schienen beinahe gelähmt und sie konnte sich nicht erklären, weshalb. Sie kniff die Augen zu und stemmte sich gegen nicht existenten Wind, versuchte zu beschleunigen und scheiterte kläglich. Die nun fast schneidende Stimme ihres Verstandes meldete sich wieder. Siehst du, höhnte sie. Siehst du, die Macht liegt bei IHM. So schnell sollst du aus diesem Wald nicht heraus, also sorgt er dafür, dass deine Beine aussetzen. Streng dich doch nicht unnötig an und geh einfach weiter. Doch Sid hörte nicht, sie wollte nicht aufhören zu rennen, sie wollte es nicht versuchen. Bloß die Augen öffnete sie nach einigen Schritten wieder. Sie war kaum zwanzig Meter gelaufen, als sie die nächste Person am Boden sitzen sah. Resigniert seufzend ging sie vor ihr auf die Knie. Die langen roten Haare waren nicht zu verwechseln. »Richie«, murmelte Sid. »Richie, bitte. Bitte, bitte, sei am Leben.« Doch ihre Hoffnung schwand mit jedem Wort mehr; Richies sonst fast immer weißer Hemdkragen hatte eine dunkelrote Farbe angenommen, seine Arme hingen schlaff zu Boden. »Richie… Was ist denn nur passiert? Was hat er mit euch gemacht?« Vorsichtig streckte Sid eine Hand nach ihm aus. »Bitte, sag es mir doch… Was will er noch von uns, was soll das?« Doch Richie antwortete nicht. Sid griff ihm behutsam in die Haare, sie wollte sein Gesicht sehen. Sie hob seinen Kopf ein Stück an – und blickte in zwei perlweiße Wattepads, die mit Klebeband an der Haut befestigt waren. Blind, schoss es ihr durch den Kopf. Er hat ihn blind gemacht. »Richie, bist du wach? L-… Lebst du?« Richies Kopf löste sich aus ihren Händen, kippte nach hinten, Sid konnte gerade noch die klaffende, waagrechte Wunde sehen, die sich ihr wie ein dunkelroter Mund darbot, bevor eine gewaltige Blutfontäne ihr daraus entgegenschoss. Japsend stolperte sie zurück, hielt die Hände schützend vor sich. »Richie!«, schrie sie. »Richie, nein! Lass mich nicht allein! Richie…« Langsam fiel die Fontäne ab, Tränen stiegen in Sids Augen, keine weitere Sekunde ertrug sie den Anblick ihres ermordeten Freundes. Sie drehte sich um neunzig Grad, schloss die Augen und begann zu rennen. Sie spürte Richies Blut an ihren Händen, es klebte ihr das Hemd an den Körper, wurde mit jedem Schritt kälter, mit jedem Schritt toter. Kind, mach die Augen auf, du rennst gleich gegen einen Baum. Widerwillig öffnete Sid die Augen – und kam schlitternd zum Stehen. Vor ihr lag ein See. Er war nicht groß, vielleicht war es auch nur ein Teich, doch Sid faszinierte bloß das Wasser. Schwarz. Schwärzer als alles, was sie je gesehen hatte, schwärzer als ihre T-Shirts, schwärzer als das Universum, schwärzer als jede Pupille. Keuchend sah Sid hinab, war so eingenommen von dieser unbeschreiblichen Schwärze, dass ihr erst Momente später ihr eigenes Spiegelbild auffiel. In ihrem Gesicht klebte verwischtes Blut, ihre Augen tränten; sie sah blass aus. Auch ihre Haare, die wirr vom Kopf abstanden, waren verklebt und feucht, Schweiß rann ihr Kinn hinab. Langsam verlagerte sich ihr Fokus wieder auf die Wasseroberfläche. Es sieht genau aus wie das in der Badewanne, dachte sie. Dadurch bin ich hierher gekommen. Die logische Schlussfolgerung wäre also… Moment. Eine weitere Spiegelung war ihr ins Auge gefallen, am anderen Ende des Sees. Was war das? Es musste ihr direkt gegenüber stehen. Sie hob den Kopf – und zuckte zurück. Vor ihr stand eine gewaltige Blockhütte, die sie vorher nicht gesehen hatte. Sid seufzte. »Scheißegal«, murmelte sie. »Ich will nach Hause.« Sie hatte bereits einen Fuß gehoben, als ihr der Türknauf auffiel. Es war gar kein Türknauf – es war ein Zelthering. Sids Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen, ihr Verstand schwankte zwischen Angst und Wut. Einerseits wollte sie nicht mehr mit dem Tod ihrer Mutter konfrontiert werden, andererseits – konnte sie vielleicht endlich etwas über den Mörder erfahren? Die Polizei war nie über die Feststellung des eindeutigen Mordes hinausgekommen. Nachdem das Wort Psychopath gefallen war, hatte sie sich dem Täter nicht einen Schritt genähert. Doch der Hering hier sah exakt so aus wie die, welche die Leiche Josephine Wilcox’ an der Wand gehalten hatten. Sid schluckte trocken, mit weichen Knien taumelte sie um den See herum auf die andere Seite. Zögernd hob sie eine Hand, sie bezweifelte stark, dass sie diesen Zelthering würde anfassen können. Wie sich herausstellte, musste sie das gar nicht. Die Tür schwang von allein auf. Im Innern war es dunkel, Sid konnte nichts erkennen. Sie trat dennoch ein. Als die Tür krachend hinter ihr zufiel, zuckte sie zusammen. Sie setzte an sich umzudrehen, hielt dann jedoch in der Bewegung inne. Die Tür würde sich bestimmt wieder öffnen, das hier war wichtiger. »Hallo?«, rief sie, leise und dünn. »Ist jemand hier drin? Hallo?« Langsam trat sie einen Schritt vorwärts, ihr wurde immer mulmiger. Das Ziehen in ihrem Bauch wurde von Sekunde zu Sekunde heftiger, ein unangenehmes Kribbeln in ihrem Rücken versuchte ihr mitzuteilen, dass jederzeit jemand hinter ihr (lauern) stehen könnte, ihr Herz hämmerte mit einer Geschwindigkeit gegen ihren Brustkorb, die schmerzte, Blut pochte zwischen ihren Schläfen und erschwerte ihre ohnehin schon nachteilhafte Sicht. Zwar hatten sich ihre Augen einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt, erkennen konnte sie jedoch bloß drei Wände und den Ansatz einer Decke. Sid bemühte sich, ruhiger zu werden. Unbeweglich stand sie dort in der Dunkelheit, um sie herum wurde es kühler, doch sie unterdrückte das Frösteln. Sie lauschte. Irgendetwas musste doch zu hören sein, wenigstens ein leises Rauschen der Blätter von draußen. Doch da war nichts. Nachdem das Pochen ihres Herzens sich wieder normalisiert hatte, hatte sich die Geräuschkulisse auf ein Nichts minimalisiert. Stille drückte wie ein Kopfhörer auf ihre Ohren, Dunkelheit jagte die Angst zurück in ihren Kopf. Sie holte tief Luft, wollte eigentlich erneut rufen, doch aus ihrem Mund drang bloß ein heiseres Flüstern: »Hallo? Ist niemand hier?« Es war ein beinahe ohrenbetäubender, tiefer dunkler Schlag, eingerahmt von einer Art Rauschen, mit dem der Lichtkegel erschien. Er musste aus dem Nichts kommen, nirgends hing ein Scheinwerfer oder ähnliches, aber dennoch war die Mitte des Raumes nun von einem sanften Licht beleuchtet. Ein Stuhl stand in diesem Kegel, Sid konnte erkennen, dass etwas sowohl auf der Sitzfläche lag als auch von der Rückenlehne hing, sie wusste aber nicht, was. Ein stetiges Tropfen erfüllte jetzt die Hütte, etwas fiel regelmäßig vom Stuhl auf den Boden. Sid ging einen Schritt vor – und stolperte sofort wieder einige zurück. Es sah aus wie Organe. Auf diesem Stuhl lagen Organe und eines von ihnen entleerte sich auf den Fußboden. Plötzlich hallten Schritte an den Wänden wider, doch woher kamen sie? Sie schienen überall zu sein, den Raum komplett auszufüllen und doch näher zu kommen. Sid sah sich hektisch um, wich weiter zurück und drückte sich mit dem Rücken gegen die kalte Tür, verkrampfte sich vollends. »Wer ist da?«, wollte sie fragen, doch sie wagte nicht einmal den Mund zu öffnen. Jemand trat in den Lichtkegel. Viel war auf dem blassen Gesicht nicht zu erkennen, es lag zur Hälfte im Schatten eines schwarzen Zylinders, doch das milde Lächeln allein bescherte Sid eine Gänsehaut, die durch die folgenden Worte noch verschlimmert wurde: »Guten Abend, Sidney. Wie schön, dass du hierher gefunden hast.« Sids Fingernägel bohrten sich in das Holz hinter ihr, sie war nicht fähig einen einzigen klaren Gedanken zu fassen außer jenen: Sie kannte diese Stimme. »Der Richter«, hauchte sie, während sich sein Grinsen unübersehbar verbreiterte. »Ich sehe, du erinnerst dich«, sagte er. »Nun, ich denke, es ist Zeit dir meinen vollständigen Namen zu verraten.« Er deutete eine kleine, spöttische Verbeugung an, ließ sie dabei nicht aus den Augen. »Gestatten – Tamias… Tamias, Richter der Angst.« »Mörder!«, platzte Sid heraus, war noch im selben Moment überrascht von sich selbst. »Mörder, gib mir meine Freunde wieder! Sie haben nichts getan, sie haben sich an alles gehalten, gib sie mir zurück!« Tamias gab ein leises Lachen von sich, er legte die weiß behandschuhten Finger auf die Stuhllehne und hob den Kopf ein wenig, sodass Sid in eiskalte Augen blicken konnte. »Du hast sie also gefunden. Sehr gut. Ja, deine Freunde haben sich Mühe gegeben sich an unsere Abmachungen zu halten. Deshalb habe ich sie nicht getötet. Es war die Angst, die sie letztendlich zum Tode gebracht hat. Die Angst, Fehler zu begehen, die Angst, bei den eigenen schwarzen Gedanken erwischt zu werden.« Sid beschloss sich zusammenzureißen, sie nahm einen tiefen Atemzug der kühlen Waldluft und löste sich von der Tür. »Was soll das heißen?«, fragte sie, so fest sie nur konnte. »Schwarze Gedanken?« Einen Moment lang schwieg Tamias, musterte bloß mit diesem süffisanten Grinsen das gelbliche, verschrumpelte Organ auf der Sitzfläche des Stuhls. Schließlich hob er den Blick erneut zu Sid; in seinen Augen stand pure, boshafte Freude. »Wem«, begann er, langsam und leise, »wünschst du den Tod?« Sids Gesichtszüge versuchten kurz zu entgleisen, für einen Augenblick wog sie unbewusst ab wie die Chancen standen, dass die Antwort auf diese Frage sie umbringen könnte. Sie beschloss, es darauf ankommen zu lassen: »Niemandem«, antwortete sie und versuchte möglichst empört zu klingen. Tamias lachte. »Niemandem«, wiederholte er. »Das dachte ich mir. Das nehmt ihr alle an, ihr Menschen haltet euch stets zu aufrichtig um irgendjemandem den Tod zu wünschen. Dabei existiert dieses Verlangen in jedem von euch – ihr wisst es bloß selten. Nun, Sidney, denke noch einmal darüber nach: Weißt du, wem du den Tod wünschst?« Etwas verunsichert schüttelte Sid den Kopf. »Ich weiß es«, sagte Tamias. Und mit einem erneuten Schlag warf ein unsichtbarer Scheinwerfer warmes, gelbes Licht auf einen Teil der Wand hinter Tamias. Sid keuchte auf, streckte einen Arm aus und ließ ihn wieder sinken, wimmerte kurz und knurrte direkt darauf, wusste nicht, was sie fühlen, was sie denken sollte. Es bot sich ihr das gleiche Bild wie an diesem mühevoll verdrängten Morgen, ihre Mutter hing leblos an der Wand, ihr Kinn war auf die Brust gesunken, wodurch die riesige, klaffende Wunde an ihrem Hinterkopf zu sehen war, Blut und Gehirnflüssigkeit tropfte in ihren Kragen, ihre Kleider und die Haut darunter schienen nahezu zerfetzt. Sids Blick blieb an dem Zelthering haften, der ihr linkes Handgelenk mit dem Holz zusammenhielt. Nur unterbewusst nahm sie aus dem Augenwinkel wahr, wie Tamias sich erst aus dem Licht entfernte und dann hinter sie trat. »Sieh nur gut hin«, raunte er in ihr Ohr; Sid zeigte keine Reaktion des Erschreckens, krampfte sich bloß noch mehr zusammen. »Sieh es dir gut an… Dieses Bild … ist der Inbegriff deines jahrelangen Verlangens. Jemand hat sie leiden lassen, jemand hat sie getötet, jemand hat dich dafür verantwortlich gemacht und jemand hat dich glauben lassen du seist dafür verantwortlich. Jemand hat dir und deiner Familie so viel Kummer bereitet… Und diesem Jemand wünschst du nur eins… Du empfindest so eine ausgeprägte Abscheu, so abgrundtiefen Hass für ihn, dass du ihm das Entgültige wünschst – das Schlimmste, was ein Mensch je einem anderen wünschen kann.« Sid spürte, wie er sich bewegte, näher zu ihrer Seite ging, zu ihrem anderen Ohr. »Du wünschst ihm Qualen, du wünschst ihm alle erdenkliche Folter, du wünschst ihm, dass er leidet wie niemand vor ihm gelitten hat und schlussendlich … wünschst du ihm den Tod.« Nun schlenderte er zurück in den Lichtkegel, ein breites Grinsen lag auf seinen Lippen. »Der Zorn ist eine Todsünde, Sidney. Und von diesem Tag damals weißt du es selbst mit Sicherheit noch sehr gut: Er kann fatale Folgen haben… Du empfindest Zorn, wünschst jemandem den Tod, nämlich dem Mörder deiner Mutter.« Langsam hob er eine Hand, legte sie an die Krempe seines Zylinders und zog ihn, wie zum Gruß, ein Stück hinab, bevor er dieses eine Worte leicht und simpel wie eine Selbstverständlichkeit aussprach: »Mir.« Sid war sich dessen eigentlich vollends bewusst gewesen, schon als das Licht auf die Leiche ihrer Mutter gefallen war, schon als sie Tamias’ Stimme vernommen hatte, schon als sie den Zelthering statt des Türknaufs gesehen hatte, schon als sie ihre toten Freunde entdeckt hatte – sie hatte von Anfang an gewusst, mit wem sie es hier zu tun bekommen würde. Trotzdem traf es sie wie ein Schlag mit dem Vorschlaghammer in den Magen. Sie keuchte, rang nach Luft und Worten, ihre Augenbrauen, ihre Lippen, ihre Hände zitterten, in ihrem Kopf herrschte heilloses Durcheinander. Nun hatte sie ihn endlich vor sich, nun konnte sie ihn zur Rede stellen, ihn beschimpfen, ihn angreifen – oder er brachte auch sie um. Es dauerte einige Momente, bis Sid ihre Fassung wiedererlangt hatte. Trotz der Kühle, die sie mühsam entwickelt hatte, hatte Wut in ihr die Oberhand ergriffen. Dieser Mann hatte nicht nur ihre Mutter getötet und ihre Familie in einen unendlich tiefen Abgrund gestürzt, er hatte gleichzeitig auch ihre Freunde bedroht. Benny und Richie hatten davon erzählt, er hatte sie für völlig menschliches Verhalten mit grenzenloser Angst in schlaflosen Nächten bestraft. Sid ballte die Fäuste und biss die Zähne zusammen. »Mieser … kleiner Bastard«, knurrte sie. Tamias lachte, ein Lachen, dass Sid gleichzeitig erschaudern und knurren ließ. Es war so kalt, so gnaden- und humorlos, dass ein teil in ihr ängstlich nach einem Ausweg suchte, doch gleichzeitig so verachtend und schadenfroh, dass ihr anderer Teil am liebsten einige Sätze nach vorn gemacht und ihn langsam erwürgt hätte. »So reagieren sie alle«, gluckste er. »Du würdest kaum glauben, wie oft ich schon so genannt wurde. Eine Strichliste würde die dicksten Bücher füllen.« »Dann mach dir doch mal Gedanken, ob wir nicht alle Recht haben«, fauchte Sid. Er soll aufhören hier so zu tun als sei er Mutter Theresa, dachte sie mit bebenden Fäusten. Ich schlag ihm alle Zähne aus, wenn er weiter so grinst! Erneut lachte Tamias, diesmal etwas leiser. »Sehr schlagfertig«, sagte er spöttisch. »Ich werde es in Erwägung ziehen. Aber eigentlich wollte ich dich auf etwas ganz Anderes hinweisen. Genau wie du für deinen unbändigen Jähzorn zur Rechenschaft gezogen werden wirst, muss Lisa die Tage für etwas büßen.« Sids Wut verpuffte. »Lisa?« Sie erinnerte sich an die großen, verschreckten Augen, die trockenen Lippen, die Tränen der Angst. Tamias nickte langsam. »Sie hätte Buße tun sollen, indem sie sich bei euch entschuldigt. Sie hat es nicht geschafft, euch um Vergebung zu bitten. Erinnerst du dich an euren Besuch?« Sid dachte fieberhaft zurück, versuchte den Ansatz einer Entschuldigung zu finden – und trat erschrocken einen Schritt zurück. »Wir sind gegangen«, sagte sie heiser. »Wir sind zu früh gegangen, wir haben ihr keine Zeit mehr gelassen.« Tamias’ Grinsen verbreiterte sich. »Ganz genau«, sagte er leise. »Schon in der ersten Minute habt ihr sie für irre abgestempelt, wolltet ihr nur noch weg… Schon in der ersten Minute habt ihr Lisa keine Chance geben, auszusprechen… Ihr habt sie kopfschüttelnd und verachtend mit voller Geschwindigkeit in den sicheren Tod rasen lassen… Nun richte dein Augenmerk bitte auf diesen Stuhl hier, der dir mit Sicherheit bereits aufgefallen ist. Weißt du, was sich auf ihm befindet?« In Sids Hals herrschte Dürre. Einige Male setzte sie an, etwas zu sagen, sie musste sich mehrmals räuspern, bis ihr das Wort schließlich über die Lippen kam: »O-Organe?« »Sehr richtig. Und während du nun aufwachst … überlege dir, wessen Organe das sein könnten… Ich bin sicher, es fällt dir nicht schwer.« In diesem Moment fiel Sid Wilcox mit dem Gesicht voran aus ihrem Bett. Kapitel 7: Der Stuhl und das tropfende Organ -------------------------------------------- Leise stöhnend setzte sie sich auf. Mit der rechten Hand griff sie sich an den schmerzenden Kopf, mit der linken zog sie sich vorsichtig an ihrem Bett hoch. »Gott, Sid…«, nuschelte sie müde. »Deine Gesundheit wär in ’ner Gummizelle echt besser aufgehoben…« Vorsichtig ließ sie sich auf ihr Bett sinken, blickte sich um. Nur langsam kehrte die Erinnerung an ihren Traum zurück. Sid rümpfte die Nase. »Scheiße«, murmelte sie und blickte sich im Zimmer um. Sie konnte sich gar nicht erinnern, ins Bett gegangen zu sein. Wann war sie eingeschlafen? Sie war doch abends wirklich noch am Computer gewesen, wann hatte der Traum begonnen? Ratlos ließ sie den Blick in ihrem Zimmer schweifen. »Vielleicht hab ich mir ja auch das Gedächtnis weggesoffen«, schlug sie sich selbst vor. »Mit … Eistee.« Ihr Blick blieb an dem knappen Meter Teppich hängen, der ihr Bett vom Computerschreibtisch trennte. Stirnrunzelnd rutschte sie zu Boden, kniete sich hin und beugte sich etwas hinab. Da war ein Fußabdruck. Vor ihr auf dem orangen Stoff war der Abdruck eines Schuhs; es war ein rechter, die Sohle musste flach sein und groß. Ein unangenehmes Ziehen machte sich in Sids Magengegend breit; jemand musste in ihrem Zimmer gewesen sein. Jemand hatte einen deutlichen Schuhabdruck hinterlassen, jemand war hier gewesen, während sie geschlafen hatte. Vorsichtig streckte sie einen Arm aus. Das war kein normaler Abdruck. Er bestand nicht aus Dreck oder sonstigen Ablagen, er war auch keineswegs bloß in den Teppich eingedrückt. Er war eingedrückt, ja, aber diese winzige Kuhle, die dadurch entstanden war, war gefüllt mit… Die Berührung ihrer Finger mit dem schwarzen Wasser jagte Sid einen kalten Schauer über den Rücken. Mit wachsendem Grauen und ihrem Traum im Hinterkopf musterte sie ihr eigenes Spiegelbild, während ihr Atem sich beschleunigte, beobachtete sie, wie es sich langsam veränderte, verschwamm und sich auflöste. Nur für einen kurzen Augenblick war die Pfütze im Abdruck komplett schwarz, dann entstand ein neues Bild. Es war nicht groß, doch Sid erkannte einen Teil ihres Zimmers – genau der Teil, in dem sie nun am Boden saß. Auf der einen Seite ihr Schreibtisch mit dem PC, auf der anderen Seite ihr Bett. Am Tisch saß eine zusammengekrümmte Gestalt, der Kopf war auf die Tastatur gesunken, die Haare verdeckten das Gesicht, aber Sid konnte mühelos sich selbst sehen. Sie war vor dem Computer eingeschlafen. Nun trat jemand ins Bild, es war gerade groß genug um zwei Beine zu zeigen, bis ihr Besitzer sich hinabbeugte, Sid unter Schultern und Kniekehlen nahm und hochhob. Auf ihrem Teppichboden schüttelte es Sid beim Anblick ihrer selbst, unwillkürlich griff sie sich an die Schultern und zog die Beine an; was war in dieser Nacht nur passiert? Mit beunruhigt klopfendem Herzen beobachtete sie, wie sie in der Spiegelung in ihr Bett getragen und zugedeckt wurde. Wie in einem Film schwenkte dann die Kamera um, Sid sah den Teil des Bodens, auf dem sie jetzt in diesem Moment saß, sah einen pechschwarzen Fußabdruck mitten auf dem Teppich. Für den Bruchteil einer Sekunde spürte sie in ihrem Kopf völlige Leere; dann keuchte sie auf, viel nach hinten und stützte sich mit den Händen ab, krabbelte schlitternd und rutschend einige Zentimeter rückwärts, setzte an zu rufen – nach ihrem Vater, ihrem Bruder, irgendwem – als sich das Bild erneut veränderte. Ein Mund. Zwei Lippen, die sich langsam verzogen zu einer grinsenden Fratze der Boshaftigkeit, und bereits im nächsten Moment teilweise verdeckt wurden von einem weiß behandschuhten Zeigefinger. In diesem Augenblick schoss es Sid in den Kopf: Das wird dir niemand glauben. Sie schloss den Mund und atmete den Schrei, den sie geplant hatte, zittrig wieder aus. Langsam, den Blick nicht vom Boden abwendend, stand sie auf und griff nach dem Telefon. »Hmm-lo…?« »Benny?« »Sid… Ich wusste, dass du einen an der Klatsche hast… Aber so sehr? Es ist verdammt früh.« »Benny, beweg deinen Arsch! Ruf Richie an, wir müssen uns treffen.« »Wann, jetzt? Wo?« »Ja, jetzt! Wo…« Vorsichtig sah Sid sich in ihrem Zimmer um. »Keine Ahnung. Nicht hier. Im Park am besten. Bitte.« Benny gähnte ausgiebig. »Sorry… Beruhig dich… Wir sehen uns gleich, wird schon wieder.« Hastig zog Sid sich an und hinterließ ihrem Vater einen Zettel; sie wollte so schnell wie möglich weit weg von diesem Zimmer. Als sie ihr Rad ins noch feuchte Gras fallen ließ, saßen Benny und Richie bereits dort. Sie sahen beide müde und gehetzt aus, blickten verschlafen auf, als Sid sich neben ihnen niederließ. »Mein Arsch ist kalt und nass«, brummte Richie. »Ich hoffe, du hast ihm was zu erzählen.« Seufzend rieb sich Sid die Augen. »Tut mir leid, dass ich euch aus dem Bett geklingelt hab. Aber… Es… Hm, toll, wie erklär ich euch das?« »Fang von vorne an«, sagte Benny, der heute tatsächlich noch blasser als sonst war. »Was ist wann wo mit wem passiert?« »Ich bin eingeschlafen. Am Computer. Und im Bett wieder aufgewacht«, murmelte Sid. »Da hat dich bestimmt dein Vater reingetragen«, sagte Richie. »Deswegen hast du doch aber nicht angerufen, oder?« Langsam schüttelte Sid den Kopf. »Nein… Nicht deshalb… Na ja, auch deshalb. Aber eigentlich habe ich angerufen wegen dem, was dazwischen passiert ist. Ich… Ich hab geträumt… Und zwar…« Mit einem Schaudern begann sie ihre Erzählung. »Und dann bin ich aus dem Bett gefallen.« Einige Augenblicke lang sagte niemand ein Wort. Irgendwo bellte ein Hund, aus einem Gebüsch zirpten Grillen, von den Bäumen fielen die letzten Regentropfen. Schließlich erhob Benny das Wort: »Das ist scheiße.« Richie nickte. »Ziemlich sogar. Du weißt nichts von unsern… unsern Phobien, oder? Wir haben dir nie davon erzählt.« »Phobien? Nein, das … Thema hatten wir nie, nein…« »Womit wir wieder bei der Scheiße wären«, sagte Benny düster. »Du kannst es gar nicht wissen. Ich hab Angst vor Spinnen, verdammte Angst, ich piss mir in die Hosen, wenn mir so’n winziges Krabbelvieh über’n Weg läuft. Und Richie –« »Richie will nicht blind werden«, murmelte Richie. »Ist ein paar Jahre her, da bin ich mit meinem Vater von einem Baseballspiel nach Hause gefahren, irgendwann spät. Von rechts kam ein Lastwagen und wir haben uns gegenseitig übersehen, gab ’nen Riesenunfall. Hab mir den Kopf gestoßen und war erst mal weg. Als ich wieder aufgewacht bin, konnte ich nichts sehen. Einige Tage lang, dann hat sich das wieder behoben. Irgendein Schock oder so, ich hab den Arzt nicht verstanden. Jedenfalls war das … schlimm für mich, da zu liegen und nichts sehen zu können. Bin da seitdem ein bisschen empfindlich. Kennst du das, wenn diese dummen Gören angerannt kommen, dir von hinten die Augen zuhalten und kreischen ›Wer bin ich?‹? Als ich noch beliebter war, haben die das mit mir auch gemacht. Bin jedes Mal fast verrückt geworden, war mir scheißegal, wer das war, aber er sollte seine verfickten Hände von meinen Augen nehmen. Na ja, das war’s jedenfalls. Augen weg, Phobie da.« »Das Dumme daran ist«, sagte Benny, »dass du das nicht wusstest und trotzdem davon geträumt hast.« Ein paar Momente brauchte Sid, um das gerade Gehörte und ihre Gedankengänge zu ordnen, sie rieb sich die schmerzenden Schläfen, bevor sie vorsichtig antwortete: »Wenn man daraus den Umkehrschluss zieht … würde das bedeuten, dass Lisa gewaltig Dreck am Stecken hat, oder?« »Und, dass irgendwo Organe auf einem Stuhl rumliegen«, sagte Benny leise. »Traut sich irgendjemand, da eine Verbindung zu knüpfen?« »Gehen wir … einfach mal nach ihr gucken, oder?«, schlug Richie zaghaft vor. »Dann wird sich ja wohl oder übel rausstellen, ob wir Recht haben … mit dem Unausgesprochenen…« »Schön gesagt…« Sid stand auf und hob ihr Fahrrad aus dem Gras. »Bin ich mit einverstanden.« Seufzend tat Benny es ihr gleich. »Das ist alles so… so… wäh…« Mit einem etwas hilflosen Grinsen schwang sich Richie nach ihm auf den Gepäckträger. »Du sagst es, Partner, du sagst es.« Vor dem Krankenhaus standen Polizeiwagen mit blinkendem Blaulicht. Kommentarlos traten die drei ein, sie konnten das Gefühl in ihren Bäuchen nicht in Worte fassen, es schnürte ihnen die Kehlen zu. Je näher sie dem dritten Stockwerk kamen, desto lauter wurde das Stimmengewirr, desto mehr Menschen kamen ihnen blass und offenbar verschreckt entgegen, desto deutlicher sahen sie Blitze wie von Kameras an den Wänden. Der Blick auf Zimmer 311 blieb ihnen zunächst verwehrt; eine Menschenmenge erstreckte sich von dessen Tür bis zum anderen Rand des Flurs, größtenteils bestehend aus Polizisten und Ärzten; geflissentlich gegen die Wand gedrückt befanden sich die heillos durcheinanderfotografierenden Journalisten. »Scheiße«, murmelte Benny sofort. Sid schluckte. »Gehen wir… Wollen wir trotzdem näher ran?« »Ja«, hauchte Richie mit einem steifen Nicken. »Ich will wissen, was passiert ist.« Schweigend drängten sich die drei durch die Schar von Menschen, etwa einen Meter vor der Zimmertür verwehrte ihnen ein rot-weißes Absperrband weiteres Vordringen. Benny gab ein leises Murren von sich, als der Rücken eines Polizisten ihm die Sicht nahm. Er trat auf die andere Seite seiner Freunde und folgte ihren Blicken. Das Bild sollte sich in ihr Gedächtnis brennen wie kein anderes. Der blutige Stuhl mit dem Darm, der von der Sitzfläche tropfte, traf Sid wie ein Schlag ins Gesicht. Augenblicklich trat der Anblick ihrer aufgehängten Mutter in ihr Gedächtnis, in ihrem Kopf standen die Bilder nebeneinander wie aus einer Ausstellung von Horror und Schuld, sie hatten Lisa nicht aussprechen lassen, sie hatten ihr nicht die Chance gegeben sich zu entschuldigen, Buße zu tun, ihren eigenen Tod zu verhindern, sie hatten ihr die Gelegenheit genommen ihr Leben zu retten. Sie hatten über ihr Leben entschieden und sie hatten es ihr genommen. Josephine Wilcox hob den Kopf und starrte Sid (ihre Tochter meine Mutter) aus leeren Augen an, »Sieh nur was passiert ist!«, kreischte sie, mit einer schrillen Stimme, die zu Lebzeiten unmöglich ihre hätte sein können. Weitere Bilder rauschten an Sids innerem Auge vorbei, sie sah die noch lebende Lisa, wie sie sich erhobenen Hauptes von ihr abwandte, sah die Gesichter ihrer neu gewonnenen Freunde, die sich bald darauf in Masken des Schreckens verwandelten, bei verstörenden Zeitungsausschnitten und der Aufdeckung ihrer eigenen Ängste, Sid sah die verkohlten Überreste Alecs, obwohl sie nie Bilder seiner Leiche zu Gesicht bekommen hatte, sie sah ihren Vater, den Tierarzt aus dem toten Zoo, ihre Brüder, den Park, Umzugskartons, unendlich viele zusammenhanglose Erinnerungsstücke, die doch alle wieder zu dem einen Bild zurückführten: Durch den Türrahmen konnte man nicht mehr als den Stuhl und ein Stück zweier Wände erkennen, doch überall schien die Farbe rot vorzuherrschen. Blut klebte überall, Blut klebte an den Wänden, Blut klebte am Boden, Blut klebte an der Innenseite der geöffneten Tür, der Klinke, der Fensterscheibe, den Vorhängen – dem Stuhl. Ein Arzt hatte genauer bezeichnen können, was das Schauspiel darlegte, doch Sid reichten ihre eigenen Worte: Gedärme, deren Flüssigkeit mit einem stetigen Tropfen auf den Boden fiel. Und mit einem Mal überkam Sid ein weiteres Bild, eines, das nicht aus ihrer Erinnerung stammte, stammen konnte – schwarz. Schwarzes Wasser, tiefschwarz, undurchsichtig, unheilverheißend starrte seine Oberfläche Sid an, schien sie allein mit ihrer Anwesenheit zu bedrohen, sie in sich ziehen zu wollen und gleichwohl zu warnen, ihm bloß nicht zu nahe zu kommen. Ein Grauen erfüllte Sids Magengegend, so tiefgehend, so dunkel, dass sie kaum noch auf ihren eigenen Beinen stehen konnte, das Krankenhaus hatte sie längst aus dem Fokus verloren, auch das Bild des Wassers verschwamm nun vor ihr, sie keuchte auf, gepackt von plötzlicher Angst, eine undefinierbare Vorahnung besetzte ihr Denken, nahm sie vollkommen ein mit dem Wissen, dass ihr, ihrer Familie und ihren Freunden neben alldem immer und immer mehr passieren wird, sie wusste nicht was, doch da war etwas. Etwas Schlimmes, etwas so Grauenhaftes, dass es Sid für einige Augenblicke den Atem nahm. Entfernt nahm sie wahr, dass man ihre Arme gepackt hatte und die Tür zu Zimmer 311 nun immer kleiner wurde, ihre Füße berührten Treppenstufen, Benny sagte »Sid, mach keinen Scheiß, wir können dich keine drei Stockwerke runtertragen.« - die Realität schlug über ihr ein wie eine kalte Welle. Sie kniff die Augen zu und blinzelte eine Male, stellte die Füße auf den Boden. »Sorry, Jungs«, nuschelte sie, als die beiden ihre Arme losließen. Mit wackeligen Knien stieg sie zwischen ihnen die restlichen Stufen hinab. »Was ist denn passiert?« Richies Blick ruhte mit sichtlicher Sorge auf Sids tränenden Augen. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es ja selbst nicht wirklich. Was hab ich denn gemacht?« »Du hast ständig nach Luft geschnappt und gekeucht und deine Augen aufgerissen«, sagte Benny leise, »und dann haben deine Beine nachgegeben. Und die Ärzte haben sich alle nicht für dich interessiert, die mussten mit den ganzen Journalisten kämpfen. Also haben wir dich lieber rausgeschafft.« Sid nickte langsam. »Danke«, sagte sie. »Ich hab keine Ahnung, was das war, ich … hab irgendwie Bilder gesehen, von meiner Mutter damals, von euch, von Lisa – irgendwas… Irgendwas wird passieren. Irgendwas Schlimmes.« Benny zuckte düster die Achseln. »Natürlich wird etwas Schlimmes passieren. Wir kennen doch unseren Fatzke hier. Und ich bin wieder dafür, dass wir ihn aufhalten müssen, keiner sonst scheint was gegen ihn unternehmen zu wollen.« Sid schwieg. Bennys »Natürlich« war mit ihren Vorahnungen nicht gleichauf. Sie fühlte etwas Größeres, etwas Brutaleres als alles, was sie bis jetzt dank Tamias hatten erleben müssen. Sie spürte ein Unheil auf sie zurollen, das alles bisherige übertraf, womöglich sogar den Tod ihrer Mutter. Etwas, was selbst für ihre Zeit mit Tamias nicht »natürlich« war. Schweigend verließen die gezeichneten Freunde das Krankenhaus, schweigend schwangen sie sich auf ihre Fahrräder, schweigend traten sie den Rückweg an. Im Park hielten sie. Seufzend blickten sie sich um, musterten die Gesichter ihrer Freunde und lasen in jedem die selben Gedanken: Keiner von ihnen wollte nun noch allein zu Hause sein. Ihre Ferien waren nunmehr beendet, zwar begann die Schule erst in wenigen Wochen, doch eine Zeit zum Ausspannen und Spaßhaben stand zweifelsfrei nicht vor ihnen. Durch ihr Wissen über Tamias hatte er ihnen die vorgesehene Freude genommen, die Zeit, in der sie sich wie alle anderen hatten anfreunden wollen, die Zeit, in der sie stundenlang hatten im Gras liegen und unverständliche Witze erzählen wollen – ja, vielleicht hatte er ihnen sogar einen Teil ihrer Jugend genommen. Sie fühlten sich nicht mehr wie drei Teenager, ihre Schultern ächzten nun unter der Last von Wissen, Verantwortung und, mit dem Tod Lisas, auch Schuld. Es hatte sie alle schwer getroffen. Benny wusste, hätte er diesen falschen und unangebrachten Hass, beinahe diese Überheblichkeit damals im Krankenzimmer unterdrückt, so wäre er noch bei ihr geblieben. So hätte sie ihm ihre Worte sagen können. Richie wusste, hätte er in diesem Moment die Angst und gleichzeitig den Stolz gegenüber eines solchen Peinigers wie er es einer gewesen war, unterdrückt, so wäre er geblieben. So hätte sie ihm ihre Worte sagen können. Und Sid wusste, sie hatte es wieder getan. Erneut hatte sie sämtliche Sympathie unterdrückt, erneut hatte sie Dinge gesagt und gedacht, die sie nicht gemeint hatte. Erneut war deshalb ein Mensch gestorben. Hätte sie sich an ihre Mutter erinnert, hätte sie sich zurückgehalten, so wäre sie geblieben. So hätte Lisa ihr ihre Worte sagen können… Benny seufzte tief. »Bei mir ist sturmfrei«, nuschelte er. »Können dahin.« Sid nickte, beide sahen sie zu Richie, der bloß stumm zu Boden sah. »Leute«, sagte er dann leise, »jetzt, wo die Stimmung schon am Boden ist, kann ich ja gleich noch einen draufsetzen.« Benny und Sid sahen alarmiert auf. Sie ließen die Räder und sich selbst ins Gras fallen und klopften neben sich. Richie Verstand. Er ließ sich nieder und schloss für einen kurzen Moment die Augen. »Meine Eltern haben ja schon seit Alecs Tod rumgemosert, dass ich viel zu oft draußen bin, obwohl es doch offenbar immer gefährlicher wird. Wenn sie das mit Lisa hören, wird sich das wohl kaum ändern. Jedenfalls… Na ja, ich hab euch doch von meinem Onkel erzählt, der hier einige – viel zu viele – Ecken weiter wohnt.« Richie seufzte und rupfte resigniert ein Büschel Gras aus dem Boden. »Sie wollen, dass ich meine restlichen Ferien bei ihm verbring. Mum kommt vielleicht mit, aber ansonsten sieht’s schlecht aus. Tut mir leid.« Benny blickte ihn entgeistert an. »Ihr wollt abhauen?« »Na ja, nein – ich nicht«, sagte Richie hastig. Er sah fast beschämt aus. »Ich hab wirklich versucht, sie zu überzeugen, ich hab ihr sogar angeboten das Haus überhaupt nicht mehr zu verlassen, aber sie will nicht hören. Ich… Ich ruf euch einfach so oft ich kann an…« Benny erwiderte nichts darauf; Sid ließ sich rücklings ins Gras fallen. Sie zog ihre Kapuze bis an die Nase. »So eine Scheiße.« Kapitel 8: Blut ist dicker als Wasser. -------------------------------------- Seit der Geburt seines kleinen Bruders hatte Benny immer mehr den Draht zu seiner Mutter verloren. Mit der Trauer über seinen Vaterverlust hatte er sich zurückgezogen, hatte stumm zugesehen, wie sein Bruder immer weiter bevorzugt worden war. Über die Jahre hatte er neben Richie Trost bei seiner Tante und deren Kindern gefunden. Die Schwester seiner Mutter hatte oft versucht zwischen ihnen zu kommunizieren, doch nichts hatte geholfen; beide Seiten standen auf Durchzug. In diesem Sommer war Bennys älterer Cousin abgereist um zu studieren; als sich nun auch Richie verabschiedet hatte, rief Benny in einer Woge von Verzweiflung seine jüngere Cousine an. Kaum eine Viertelstunde später hatte sie vor der Tür gestanden, mit Schlafanzug und Zahnbürste unter dem Arm und der Verkündung, dass sie ihm über die Nacht beistehen würde. Er und Christina blieben lange auf, lenkten einander von den jeweiligen Verlusten ab, redeten viel über alles. Benny erwähnte Lisa nur kurz, über Tamias verlor er kein Wort. Niemand sollte mit reingezogen werden, es lag jetzt nur noch an Sid und ihm, ihn irgendwie aufzuhalten. Benny träumte oft wirr, seit Alecs Tod waren Alpträume nichts Überraschendes, so tat er auch die schemenhafte Gestalt am Boden neben Christinas Matratze als eine dieser nervigen Erscheinungen ab und beschloss bloß, bald wieder aufzuwachen. Es war nichts neues, dass in seinem Kopf mitten in der Nacht zerfleischende Geräusche ertönten, jemand auf dem Parkett kniete und jemand anderem den Mund zuhielt – Erst Christinas Schrei ließ ihn in die Augen wieder öffnen. Ruckartig setzte er sich auf, taumelte aus dem Bett, stolperte über die Ecke der am Boden liegenden Matratze und stützte sich am Lichtschalter ab – er stockte. Die Welt blieb stehen. Sein Atem setzte aus, sein Herz hörte auf zu schlagen, sein Körper stellte auf Stand-by; nichts regte sich, außer den breiten roten Flüssen auf der dunklen Matratze – »Benny…« »Oh, Scheiße!« Und mit einem Mal kam das Leben zurück in seinen Körper, versetzte ihm einen Schlag mitten ins Gesicht, ließ ihn umdrehen und aus dem Zimmer stürmen. »MAMA!«, brüllte er. »Aufwachen, aufwachen! Aufwachen, Christina verblutet! AUFWACHEN!« Sie hat nie geholfen, sie wollte dir nie helfen, sie hat sich nie für deine Probleme interessiert, warum sollte sie sich jetzt für deine Cousine interessieren? Benny hatte gelernt, aus der schneidenden Stimme seiner unterdrückten Wut die Informationen zu hören, die er brauchte: Er musste handeln. Er rannte, er flog die Stufen hinunter, überschlug sich auf der Kellertreppe, richtete sich mit geschundenen Schienbeinen wieder auf, fegte Christbaumkugeln und Basketbälle aus den Regalen, stieß eine scheppernde Gitarre um, durchwühlte den gesamten Keller. »Wo ist der verfluchte…?« Der Erste-Hilfe-Kasten stand direkt neben ihm in einer Ecke. Benny stöhnte leise, richtete sich auf und packte ihn, ignorierte die Schwindelgefühle während er die Treppen mit wenigen Sätzen hinauf sprang, begann er wieder nach seiner Mutter zu brüllen; als er sein Zimmer wieder betrat, kniete sie bereits neben Christina, hielt ihre Hand, sah wie gelähmt zu ihrem keuchenden Sohn. Benny warf ihr den Kasten hin. »Mach was«, sagte er heiser. Fast konnte man sehen, wie die Synapsen in ihrem Hirn nach Anschluss suchten, wie das gesamte Gebilde langsam anfing zu arbeiten. Sie klappte den Erste-Hilfe-Kasten auf, in Sekundenschnelle hatte sie einen Verband ausgewickelt und entzwei gerissen, während Benny nach Worten suchte um seine Cousine zu beruhigen, band sie mit den beiden Hälften ihre Beine ab. Mit Augen, die nichts anderes als Hektik ausdrückten, starrte sie zu Benny hoch. »Ruf den Notarzt«, stieß sie hervor. »Los!« Noch einen Moment lang blickte er Christina an, ließ zu, dass sich das Bild wie ein Parasit in sein Gedächtnis festsetzte – die verschwitzten Haare, die weit aufgerissenen Augen im leichenblassen Gesicht, die schmalen, farblosen Hände, verschränkt über der flachen Brust, die sich viel zu schnell hob und senkte, der schreckhaft eingezogene Bauch, und schließlich die Beine, die sonst so agilen Beine, nun bewegungslos auf der blutdurchtränkten Matratze, oberhalb der Wunde fest abgebunden, damit nicht noch mehr Blut aus den Wunden entweichen konnte, die sich von jedem Oberschenkel fürchterlich gerade bis zu den Fußknöcheln zog – dann sprintete er in den Flur, zu dem kleinen Tisch, auf dem das Telefon stand. Er wählte die Nummer, hielt jedoch in der nächsten Bewegung inne, als er den Zettel sah. Er lag neben der Station, weiß, unscheinbar, mit rotem Filzstift (oder Blut) beschrieben – Ruf an, Richie - darunter eine Nummer, die Benny nicht zuordnen konnte – Wenn du dich traust. Die Frau in der Leitung wurde ungeduldig. Rasch hob Benny den Hörer an sein Ohr und schilderte das Geschehen. Seine Mutter eilte aus dem Zimmer, offenbar um sich um seinen Bruder zu kümmern. Benny überkam eine Welle von Missgunst und Abneigung, er feuerte das Telefon zurück auf die Station und lief zurück zu Christina. Nachdem er den Zettel auf dem Tischchen fotografiert hatte, versuchte er, mit ihr zu reden, doch sie brachte nicht mehr als einige erstickte Laute über die Lippen. Ihr flehender Blick ließ Bennys Inneres verkrampfen, es fühlte sich an wie Säure an seinem Herzen; das war Tamias’ Werk, er hatte das angerichtet, er hatte die letzte Sympathieträgerin seiner Familie bestraft für etwas, wovon sie nicht einmal gewusst hatte, er hatte erneut etwas unternommen, um Bennys Ängste zu wecken und auf einen schuldzerfressenen Höhepunkt zu treiben. Gute elf Stunden später war Benny nur noch ein Schatten seiner selbst. Er war blass, blasser als sonst, seine Augen waren von tiefen, dunklen Schatten umrandet, seine Lippen waren trocken und aufeinander gepresst; sein Hemd hing teilweise noch in der Hose, er trug viel zu lange Socken für diesen Sommer, seine Schuhe waren offen, seine Haare standen ab. »Benny…« Sid versuchte sanft zu klingen. »Du musst dich selbst nicht so abringen, du musst uns nichts erzählen, wir sind auch so für dich da.« Sie und Richie hatten vor einigen Stunden jeweils einen Anruf bekommen, in dem Benny sie vom Polizeipräsidium aus mit den Worten »Sid hatte Recht, es ist etwas passiert.« in den Park gebeten hatte. Seitdem hatten sie dort im Gras gesessen und sich Sorgen gemacht, nun redeten sie seit Minuten auf Benny ein, der immer wieder verbissen Sätze anfing und wieder abbrach. »Ich will aber«, wiederholte er heiser. Er saß zusammengesunken zwischen seinen Freunden im Gras, sein Blick war fest, starrte jedoch bloß zu Boden. »Ich hab euch jetzt extra hierher getrommelt, ich will es euch erzählen.« »Du meintest, du hättest bei der Polizei schon alles gesagt, wir verstehen, wenn –« »Die Bullen haben aber nur Halbwahrheiten. Ich konnte ihnen ja schlecht alles erzählen. Sie denken, ich wäre erst später aufgewacht, aber ich hab ihn gesehen.« Richie und Sid warfen erst sich, dann Benny einen erschrockenen Blick zu. So weit war er seit er bei ihnen war noch nicht gekommen. »Ich hab ihn gesehen, er war direkt neben meinem Bett, aber ich Depp hab natürlich gedacht, ich träume. Er hat… Christina hat bei mir übernachtet, meine Cousine, kennt ihr ja. Und er… Der Typ hat sie angegriffen.« Die nachmittäglichen Geräusche im Park störten die Szene. Zwischen Richie, Benny und Sid herrschte andächtiges, besorgtes Schweigen, doch um sie herum tollten Hunde und Kinder, fast spöttisch sangen Vögel über ihnen in den Bäumen, ein Elternpaar rief in grotesker Verbindung zu den vergangenen Todesfällen »Engelchen flieg!«; mit einem düsteren Blick zu einem vorbeilaufenden Kind, der es erschrocken aufkeuchen und zurück zu seinem Vater laufen ließ, beantwortete Benny schlussendlich die Frage, die seine Freunde nicht zu stellen wagten: »Sie hat’s überlebt. Ganz knapp. Weil wir schnell genug gehandelt haben, Mama und ich.« »Was hat er mit ihr gemacht?«, hauchte Sid, stimm- und atemloser als beabsichtigt. Bennys Gesichtsfarbe wandelte sich langsam von aschfahl in blassrot. In seinem Schoß waren die Hände geballt, das Weiß der Knöchel trat aus der unreinen, gestressten Haut hervor, seine Stimme glich einem Knurren, als er antwortete: »Er hat sie aufgeschlitzt. Von hier bis hier.« Er streckte ein Bein aus und gestikulierte mit den Handkanten den Abschnitt, aus dem vor Stunden Christinas Blut gequollen war. »An beiden Beinen. Mama hat sie abgebunden, bis der Notarzt gekommen ist. Der hat sie mitgenommen, wir durften noch mit ihm sprechen, bis die Bullen uns ausgequetscht haben. Jedenfalls war… Also, sie hat zu viel Blut verloren und alles. Die Venen sind nicht nur großflächig verletzt, sondern sogar abgestorben. Die Beine. Tot.« In Bennys Augen sammelten sich Tränen, verzweifelte Wut stand ihm ins Gesicht geschrieben – für ihn war Tamias nun endgültig zu weit gegangen. »Sie werden sie amputieren. Ihre Beine, sie wird nie wieder laufen. Sie wird den Rest ihres Lebens im Rollstuhl verbringen, nur weil dieser Bastard der Meinung war, an ihr seine Komplexe auszulassen! Sie ist erst vierzehn, verdammt! Und unschuldig! Sie ist noch nie mit ihm in Berührung gekommen, sie hat nichts mit diesem Angst-Mist zu tun, warum hat er sich an ihr vergriffen und nicht an –?« »Benny!«, unterbrach Sid ihn rasch. »Sag’s nicht. Es wäre genauso beschissen gewesen, hätte er sich an dir vergriffen. Keiner von uns wäre dann glücklicher.« »Das mit deiner Cousine ist ’ne schlimme Sache«, sagte Richie leise. »Aber, so brutal das jetzt auch ist, du darfst nicht vergessen, mit wem wir es hier zu tun haben. Er macht das alles aus einem bestimmten Grund, er hat es jetzt eindeutig auf uns abgesehen – er provoziert: Sids Mutter, deine Cousine –« Er brach ab, als er Bennys Blick bemerkte. Sie starrten einander an, die Augen weit geöffnet, als auch Sid schaltete. »Meine Mutter, seine Cousine«, wiederholte sie langsam. »Was ist mit deiner Familie?« Wie in Trance griff Benny in die Gesäßtasche seiner Jeans, zog das Polaroid hervor, das er vom Zettel im Flur gemacht hatte, hielt es Richie wortlos unter die Nase. Seine Finger zitterten, als er es entgegennahm, seine Lippen bildeten stumm die gelesenen Worte, mehrmals, er sah nicht auf, streckte bloß eine verkrampfte Hand aus. »Hat jemand ein Handy?«, krächzte er. Sid kramte ihr Mobiltelefon aus einer Hosentasche; »Wessen Nummer ist das?«, fragte Benny angespannt. »Onkel Charly«, nuschelte Richie und klappte Sids Handy auf. »Der, zu dem wir nächste Woche abhauen wollten.« Er brauchte drei Anläufe, um die Nummer zu wählen, doch schließlich ertönte leise ein Freizeichen. »Stell mal auf Lautsprecher.« Sid hörte ihre eigene Stimme nur dumpf, sie konnte nicht begreifen über solch eine Nebensächlichkeit zu sprechen, während Leben auf dem Spiel standen – oder vielleicht schon längst verloren waren. Ein Klicken aus der Leitung riss sie aus ihren Gedanken, am anderen Ende hatte offenbar jemand abgenommen, doch niemand meldete sich. »Ha-Hallo?« Richies Stimme war dünn und Sid kam der Gedanke, dass es gar nicht er war, der da sprach, sondern ein viel kleinerer Richard Jarvis, der sich bisher zitternd und fürchtend in einer Ecke seiner Seele zusammengerollt hatte und nun am Telefon auf die Bestätigung seiner Ängste wartete. »Charles? Bist du da? Hier ist Richie –« »Hallo, Richie.« Durch die drei ging ein synchrones Schaudern. Jeder von ihnen kannte diese Stimme, jeder von ihnen fühlte sich angesprochen, jeder von ihnen fühlte sich in diesem Augenblick unmittelbar bedroht. Sein Tonfall war sanft, so unheilvoll sanft, gefüllt mit geheucheltem Verständnis. »Tut mir leid, dir das mitteilen zu müssen, aber hier spricht nicht Charles.« »Was hast du mit ihm gemacht?«, keifte Richie sofort. »Schhht«, flüsterte Sid. »Gib acht.« »Oh«, kam es langgezogen aus dem Hörer; allein in diesem Laut war ein Grinsen zu hören, »guten Abend, Sidney. Dann gehe ich davon aus, dass auch Benjamin schon von der Polizei entlassen wurde. Wie ist das werte Befinden?« Benny bebte. »Wie soll’s uns schon gehen?«, knurrte er. »Ich will wissen, was mit meinem Onkel ist«, warf Richie ein, bevor jemand anderes etwas erwidern konnte. »Du sollst ihn in Ruhe lassen!« »Natürlich werde ich ihn in Ruhe lassen, Richard, natürlich. Dafür habe ich noch genügend Anstand.« Sid schnaubte. »Als ob du –«, setzte Benny an, doch Tamias brachte sie mit einem Satz zum Schweigen: »Alles Andere wäre Störung der Totenruhe.« Erneut zerstörte ein Kinderlachen die erschrockene Stille. »Ich will mit ihm reden«, sagte Richie, mehr zu sich selbst, dumpf, niedergeschlagen, nostalgisch. »Dazu fehlen ihm die nötigen Organe, fürchte ich.« »Wir müssen die Polizei rufen«, murmelte Sid. Es war das einzige, was ihr gelähmtes Hirn als Einfall ausspucken konnte; sie fühlte sich müde, ausgelaugt, fast sogar zu benutzt für Trauer. »Die weiß schon bescheid«, sagte Tamias leichthin. »Immerhin hat sie ebenfalls von meiner kleinen Nachricht erfahren. Die örtliche Streife dürfte gleich hier sein.« »Hast du diesen Zettel nur da gelassen, um uns das zu erzählen?«, fragte Benny leise. Sein Ton triefte vor Verachtung. »Das gilt es jetzt herauszufinden, Benjamin.« Seine Stimme war ebenso leise, doch in ihr lagen Tücke, Schaden-, vielleicht sogar milde Vorfreude. »Ich wünsche euch dreien viel Glück dabei. Nehmt euch nur Zeit – und beobachtet ihre Opfer. Auf bald.« Mit diesem Worten legte er auf. Noch lange starrten sie das Handy an, bis Sid es schließlich behutsam aus Richies Hand zog und wieder wegsteckte. »Was sollte das heißen?«, fragte Benny heiser. Sid zuckte mit den Schultern - »Mein Onkel ist tot«, sagte Richie plötzlich, laut, deutlich, fest, in einem Tonfall, der so gar nicht zum Geschehenen passen wollte. Das Trio hatte es nicht mehr lange zusammen im Park ausgehalten. Richie war mit tränenden Augen nach Hause gelaufen, um sich, wie er gesagt hatte, um seine Eltern zu kümmern, Benny hatte es ins Krankenhaus gezogen um nach seiner Cousine zu sehen; Sid radelte stumm heim, ihre Gedanken hingen all dem Vergangenen nach, doch sie konnte nicht erneut trauern, sie fühlte sich schrecklich leer und alleine. Wie sich herausstellte, sollte sich das bald ändern. Sie hatte gerade das erdrückende Gespräch mit ihrem Vater über die Neuigkeiten beendet, als es an der Tür klingelte. Beide sahen auf, die Angst stand deutlich in ihren Gesichtern, rührten sich nicht. Sid schielte zur Küchenuhr. Die neue Ausgangssperre würde in zehn Minuten in Kraft treten. »Macht auf, bitte«, kam es von draußen – Sid erkannte sofort Bennys Stimme. »Ich kann nicht nach Hause, bitte macht auf.« Sid warf ihrem Vater einen flüchtigen Blick zu, wartete erst gar nicht auf eine Erlaubnis, erhob sich rasch und stürzte zur Tür. Bennys Erscheinung trieb ihr Tränen in die Augen. Er sah nicht aus wie ein Sechzehnjähriger, er wirkte auf der Schwelle viel eher wie ein kleiner Junge, mit seinen unordentlichen Haaren, den verheulten Augen, den schmutzigen Klamotten und den aufgeschürften Händen – offenbar war er auf dem Weg hingefallen. Sid ließ ein zitterndes Kind ein, das mit schweren, vor Verzweiflung ächzenden Schritten den Flur betrat; er wirkte, als könne er jede Sekunde zusammenbrechen. Behutsam legte Sid einen Arm um seine Schultern. »Was ist passiert?«, fragte sie leise. »Was ist los, warum kannst du nicht heim?« Benny wischte sich langsam mit dem Handrücken über Augen und Nase, bevor er antwortete. »Ich wollte eigentlich bei Christina bleiben.« Er sprach trocken, heiser, klang furchtbar müde. »Aber sie kam gerade von der OP, ich durfte sie nicht sehen, sie meinten sie bräuchte Ruhe. Also bin ich nach Hause und… und… Sie fängt schon wieder damit an!« Sid schluckte, sie ahnte, was passiert war, nickte ihrem Vater entschuldigend zu und führte Benny in ihr Zimmer. Auf ihrem Bett rieb er erneut Tränen aus seinen Augen. »Sie hat einfach so getan, als wäre ich nicht da. Immer nur er, er, er. Ich hab die ganze Zeit versucht mit ihr über Christina zu reden, ich hab so verfluchte Angst, aber sie saß ständig nur bei meinem Bruder, immer bei ihm, hat so getan als würde sie ihn trösten, dabei kann ihn das gar nicht so mitgenommen haben – aber ich bin ja nicht wichtig, ich bin ja nicht wichtig, ich bin ihr Sohn!« Mit einem tiefen Seufzen umarmte Sid ihren Freund. Sie spürte wie er zitterte vor erneuter Wut und Verzweiflung, drückte ihn an sich, strich ihm vorsichtig mit einer Hand über den Rücken. »Er nimmt mir alles weg, was ich je gebraucht habe«, nuschelte Benny gegen ihre Schulter. Sid runzelte die Stirn. »Dein Bruder?« »Nein. Tamias. Es ist immer möglich, mit meiner Mutter und meinem Bruder in einem Haus zu leben, solange nichts passiert. Aber… V-Verstehst du… Er hat jetzt nicht nur Christina verletzt, sondern mir schon wieder ein Stück Hoffnung genommen. Ich weiß immer weniger, wie ich’s noch jahrelang zu Hause aushalten soll.« Sid schwieg. Sie wusste absolut nicht, was in einer solchen Situation zu sagen war. Sie schüttelte bloß leicht den Kopf, drückte Benny immer wieder an sich, stierte stumm über seine Schulter hinweg. Einige Male setzte sie an etwas zu sagen, doch jegliche Wortwahl schien ihr inadäquat für das alles. Tamias hatte ihnen so viel angetan, so viel Schaden zugefügt – wie konnte sie da noch tröstende Worte finden, ohne töricht zu klingen? Irgendwann hob Benny den Kopf, sah sie an. »Weißt du vielleicht, wie’s Richie geht?« »Mh-mh. Aber er sah aus, als bräuchte er erst mal Zeit alleine. Muss ja auch mit seinen Eltern alles klären. Hoffentlich dreht seine Mutter nicht allzu sehr ab.« Benny verengte die Augen. »Hat er ja richtig geschickt gemacht«, sagte er leise. »Ohne Charlie kann Richie nicht hier weg. Der Kerl kann sich also in Ruhe an uns dreien vergreifen.« Sid nickte langsam, nahm Bennys Sinneswandel von der Trauer weg dankbar an. »Sag ich ja«, murmelte sie. »Er plant das alles, jede Menge. Da ergibt irgendwann alles Sinn.« »Und wir sollten hoffen, dass wir das noch miterleben. Wir müssen unbedingt… Irgendwie…« Er seufzte schwer. »Ich weiß, das klingt echt kindisch und unrealistisch, aber irgendwie müssen wir diesen Typen doch aufhalten können.« »Es klingt schon ein wenig nach Harry Potter«, sagte Sid leise. »Aber du hast ja Recht. Die Polizei hat schlechte Karten bei ihm… Ich wette, das war auch alles geplant, dass nur wir von ihm wissen, drei idiotische kleine –« Sid unterbrach sich selbst, als es an ihrer Zimmertür klopfte. »Ja?«, rief sie, etwas zittrig; die Angst Tamias persönlich oder gar ein weiteres totes Familienmitglied auf der Schwelle vorzufinden, war bei jeder Meldung präsent. James Wilcox schob seinen Kopf durch den Türspalt. »Ich wollte nur gucken, ob ihr hier klar kommt«, sagte er rasch. »Nicht, dass hier irgendwelche mittelschweren Dramen entstehen. Alles klar, Benny? Übernachtest du hier?« »Ich komm schon klar.« Benny zuckte mit den Schultern. »Wenn ich darf… Wär’ ganz nett, wenn ich hier bleiben könnte.« James nickte. »Für mich kein Problem. Sagt bescheid, wenn wir etwas braucht, ja?« »Machen wir«, sagte Sid leise. »Danke, Papa.« Sie sahen ihm nach, blickten stumm zur Tür, aus dem Konzept gebracht. Benny fuhr sich leise seufzend mit einer Hand über das blasse Gesicht, stand auf. »Ich geh mal kacken«, murmelte er. Sid gluckste kurz. »Tu das. Viel Spaß.« Mit einem genuschelten Dank verließ er das Zimmer. Er kannte den Weg lang genug, war ihn im vergehenden Sommer so oft gegangen, doch irgendetwas schien verändert im dunklen Flur. Er war länger als sonst, die weiße Tür zum Badezimmer wartete viel weiter weg… Mit einem kalten Schauer überkam Benny die Vorstellung des Tunnels mit dem Licht am anderen Ende, statt des Flurs mit der Klotür am Ende. Er versuchte darüber zu lachen, doch seine Mundwinkel brachten nicht mehr als ein gequältes Zucken zustande. »Benny hat Schiss vorm Klo«, sang er leise. »Dabei sollte man Schiss doch im Klo haben…« Er betrat das Bad, knipste das Licht an, warf der Glühbirne einen dankenden Blick zu. Trotz der Gewissheit, dass Sids Badewanne sie nur im Traum angegriffen hatte, kam Benny nicht umhin, sich beobachtet zu fühlen. Nach Verrichten seiner Notdurft hatte er es eilig wieder zu Sid zu kommen, doch zu seiner tatsächlich nur milden Überraschung wurde er aufgehalten. Er wusch sich die Hände, blickte auf in den Spiegel – und stockte. Hinter sich in der Spiegelung war die Wanne. Pechschwarzes Wasser ruhte still in ihr, spiegelte die Zimmerdecke, starrte ihn nahezu an. Mit einem schwerfälligen Schlucken sah Benny über die Schulter. Die Wanne hinter ihm war leer. Kopfschüttelnd wandte er seinen Blick wieder dem Spiegel zu, doch da war es, da war das Wasser, es stand direkt hinter ihm ruhig in der Wanne – warum konnte er es ohne die Spiegelung nicht sehen? Er holte gerade Luft, um nach Sid zu rufen, als er beobachten konnte, wie etwas an die Oberfläche dümpelte. Benny lehnte sich unwillkürlich etwas weiter vor, verengte die Augen, stierte gegen das Glas – es waren zwei Beine. Nun stieg der Schrei unweigerlich in Bennys Kehle hoch, er riss den Mund weit auf, konnte die Augen nicht abwenden von Christinas Beinen, die ihr so brutal genommen worden waren, wollte nur noch schreien, rufen nach Sid, nach der letzten, die ihm jetzt noch blieb – doch es wurde ein Schrei, den nie jemand hören würde. Bevor sich seine Stimmbänder bewegten, zog eine ungreifbare Kraft Bennys Füße vom Badezimmerboden, er hätte sich das Gesicht am Waschbecken aufschlagen müssen, doch er landete an einem völlig anderen Ort. Unmittelbar nach dem Aufprall spürte Benny pochenden Schmerz in seinem Kiefer, er musste einige Zähne verloren haben, doch er schmeckte kein Blut. Ächzend richtete er sich auf, tastete mit den Fingerspitzen über seine Zahnreihen, doch vollkommen wider seinem Gefühl war dort alles intakt. Scheu hob er den Blick. Vor ihm erstreckte sich ein Gang, jedenfalls glaubte Benny, dass es einer war. Er erkannte weder Wände noch Decke, alles um ihn herum war undurchsichtig, fast zweidimensional, tiefschwarz – alles, außer dem Boden. Auch er musste irgendwo den Grundton Schwarz haben, doch er war vollgekritzelt, scheinbar von Hand, mit grell leuchtend roter Farbe. ANGST stand dort immer wieder, in Großbuchstaben, verwischt und verwackelt, in Handschrift, die die wahre Bedeutung dieses Wortes kannte. Doch da waren noch andere, »Angst« war das größte, doch es war umgeben von Worten, die Benny nicht entziffern konnte. Mitte einem zweifelnden Zittern drehte er sich um hundertachtzig Grad. Es bot sich ihm das gleiche Bild, keine Veränderung, noch immer ein unendlicher Gang mit diesem irrsinnigen Gekritzel. Und vielleicht war es das, dachte Benny plötzlich, vielleicht war es die Schreibe eines Verrückten, der hier gelandet war, vor Angst seinen Verstand verloren hatte und in Folge dessen seine letzten und einzigen Gedankengänge in wahnsinniger Verzweiflung niedergeschrieben hatte. Benny schüttelte den Kopf. »Muss ein Traum sein«, murmelte er. Seine Stimme klang leise und gedämpft, hatte nicht einmal den Ansatz eines Echos. In Träumen nimmt man nie an, dass man träumt, antwortete eine schneidende Stimme in seinem Kopf. Er beschloss, darüber nicht weiter nachzudenken. Sich Gedanken über Rationalität zu machen, schien in letzter Zeit sowieso immer sinnloser. Benny drehte sich wieder zurück – keinerlei Veränderung seiner Sicht – und streckte unwillkürlich die Arme aus. Er zuckte zusammen, seine Handflächen berührten Wände, doch sie fühlten sich an wie in eiskaltes Wasser getaucht, drohten nach wenigen Momenten taub zu werden. Mechanisch zog er sie wieder zurück. »Los, geh voran«, flüsterte er zu sich selbst. »Mehr als Sterben kannst du ja nicht…« Und so gehorchte er seiner so seltsam verfremdeten Stimme, tat langsame, vorsichtige Schritte vorwärts. Sie wiederum hallten. Laut wie Paukenschläge echoten sie um ihn herum, erfüllten den Raum allmählich mit einem penetranten Dröhnen. Benny hielt den Blick zunächst gerade nach vorn, doch nachdem er dort nichts weiter als massive Schwärze erkannte, senkte er ihn gen Boden. Dunkles, pulsierendes Grauen wuchs in seiner Magengegend, als er mit jedem Schritt ein weiteres Wort erkannte. fear stand leuchtend unter seinen Füßen, zierte in kleineren Buchstaben dieses riesige Anfangswort, mit φοβος las er griechische Lettern, fragte sich erst gar nicht nach deren Bedeutung, auch ansiedad konnte er erahnen. Mit jeder Berührung seiner Sohlen mit dem Boden flammte ein neues Wort auf, der Gang war nun voll von Sprachen, Schriftzeichen, fluoreszierendem Rot. Er hatte grade peur zwischen seinen Füßen gelesen, als sich an seiner linken Seite sichtlich etwas bewegte. Benny hob den Kopf, in den Bruchteilen der Sekunde dieser Bewegung schossen ihm die erschreckendsten Bilder durch den Verstand, er erwartete das Schlimmste. Umso mehr überraschte ihn, was er tatsächlich sah: Er schien durch eine Tür zu blicken, hinter ihr lag ein Hof; er wirkte alt, sein Boden war sandig und verdreckt, von Stein oder gar Asphalt war nirgends etwas zu sehen. Einige Meter weiter hinten lag ein großer Haufen Pferdeäpfel. In Bennys Fokus jedoch saß ein kleiner Junge auf diesem schmutzigen Boden, er konnte nicht älter als fünf oder sechs Jahre sein, dickes braunes Haar fiel ihm in die Augen, fettig und ungepflegt, ein mildes Lächeln spielte um seine blassen Lippen – es erinnerte Benny dunkel an das eines bestimmten Erwachsenen, doch der Gedanke drang kaum in sein Bewusstsein vor. Der Blick des Jungen war auf das Tier, das vor ihm hockte, gerichtet – ein Schäferhundwelpe… Die beiden schienen allein durch ihre Augen zu kommunizieren, es herrschte ein fast greifbares Verständnis zwischen ihnen. Der Hund musste nur den Kopf schief legen, um den Jungen zum Lachen zu bringen, jener strubbelte ihm mit seinen kleinen, gebräunten Händen durchs Fell, die Szene war so harmonisch, dass sie für Benny in diesem dunklen, von einem bedeutungsschweren Wort gezeichneten Gang mehr als unreal wirkte. Was war das nur, welchem Geschehen wurde er da Zeuge? Was hatte all die Furcht zu seinen Füßen mit diesem Frieden zu tun –? »Tamias!«, bellte eine schrille Stimme quer über den Hof, sie triefte so sehr vor Wut und Verachtung, dass Benny zusammenzuckte. Der kleine Junge am Boden tat es ihm gleich, er hob erschrocken den Kopf, die noch so warmen, haselnussbraunen Augen weit aufgerissen, ein Zittern ging durch seinen Körper; er stieß ein Fluchwort aus, das Benny gänzlich unbekannt war. »Du sollst den verdammten Köter waschen!« Der junge Tamias runzelte die Stirn, schob die Unterlippe ein Stück vor, wandte sich wieder dem Welpen zu. »Du bist gar kein Köter«, sagte er leise. »Du bist Inferno, mein eigener Höllenhund.« Inferno fiepte zur Antwort, wiegte den Kopf auf die andere Seite. Tamias schmunzelte. »Aber waschen könnte man dich wirklich mal.« Erneut fiepte der Hund, langgezogener, bettelnd, und Tamias lachte. Er schlang die Arme um seinen Hals und schloss grinsend die Augen. »Ist schon gut, dann nicht jetzt. Wir müssen sowieso nicht auf meine blöde Schwester hören.« Irgendwo außerhalb von Bennys Blickfeld öffnete sich eine Tür, er hörte Scharniere quietschen und wenige Schritte. Erneut hob Tamias den Kopf, erneut weiteten sich seine Augen. Jemand kam mit schnellen Schritten auf ihn zu, vor der Frau selbst erschien ein Knüppel im Bild, gehalten von kräftigen, doch weiblichen Armen. Mit einem Satz war Tamias auf den Beinen. »Lauf weg, Inferno«, flüsterte er hastig, »und versteck dich bei den Bäumen, wir treffen uns da wieder, versprochen!« Offenbar hatte der Hund einwandfrei verstanden, mit wenigen Sätzen war er aus Bennys Sicht verschwunden, Tamias begann einen Sprint in die andere Richtung. Benny konnte von hinten beobachten, wie die Frau ihm nachsetzte, brüllend und mit dem Knüppel wedelnd, sie schrie ihm weitere Anweisungen nach, eine Menge Tätigkeiten, die Benny kaum möglich für einen Sechsjährigen hielt, doch Tamias legte eine gepflegte Geschwindigkeit an den Tag, er war seiner scheinbaren Schwester weit voraus. In diesem Moment blieb jene stehen. Sie zog eine verwittert aussehende Buchse aus ihrem Gürtel, spannte sie und zielte sorgfältig. Benny zog langsam die Augenbrauen zusammen – wenn er richtig verstanden hatte, war Tamias ihr Bruder… Wollte sie wirklich auf ihn schießen (würdest du das nicht auch tun)? Er schüttelte den Kopf, beugte sich etwas weiter vor um besser zu sehen, was passieren würde. Tatsächlich drückte sie ab. Meter weiter vorne stolperte Tamias, schrie erstickt auf, fiel zu Boden und überschlug sich. Das Wimmern und Schluchzen seiner kindlichen Stimme drang deutlich bis an Bennys Ohren, »Mein Bein!«, schrie er noch, bevor das Bild begann zu flackern, »Mein Bein, Sinistra, mein Bein!« Mit einem kurzweiligen Summen wie das eines ausgeschalteten Fernsehers wurde die Wand vor Bennys Nase wieder schwarz. Stirnrunzelnd wandte er sich ab. Unverändert erstreckte sich vor ihm der Gang… Was war das eben gewesen? Wer hatte ihm weshalb einen Einblick in Tamias’ Kindheit geschenkt? »Das macht dich nicht sympathischer, Mann«, murmelte er und beschloss, die Überlegung zurückzustellen, bis er zurück in Sids Zimmer war – die Frage, ob es je wieder dazu kommen würde, verdrängte er komplett. Er setzte seinen Weg fort, und mit jedem Schritt machte die eben gesehene Vorstellung mehr und mehr dem altbekannten Horror Platz. Es war die simple Tatsache, dort zu sein. Er wusste nicht, wo dort überhaupt war, er wusste nicht, wo dort ihn hinführen würde, er wusste nicht, weshalb er dort war, und – vor allem: Er wusste nicht, ob er dort alleine war. Es schien ihm, als sei er bereits seit Stunden dort unterwegs, er begann zu frösteln, spürte sogar einen Anflug von Platzangst. Was würde mit ihm passieren, wenn er keinen Ausgang finden würde? Er wusste ja nicht, wie er hier gelandet war, wie sollte er je wieder zurückfinden? Während seine Schritte immer ohrenbetäubender an den Wänden dicht neben ihm widerhallten, beschlich ihn das quälende Gefühl der Verlorenheit, er war sich mittlerweile sicher beobachtet zu werden, ständig sah er über die Schulter, blickte in gähnende Schwärze, die so dick schien, dass er der starken Annahme war, selbst direkt hinter sich niemanden erkennen zu können. Benny erschauderte. In ihm stieg das starke Verlangen hoch, zu schreien, nicht einmal unbedingt um Hilfe, seine Kehle schien ihm bloß zu befehlen, seiner wachsenden Angst Ausdruck zu verleihen – doch er hielt sich zurück. Wer auch immer ihn an diesen irrsinnigen Ort gebracht hatte, er würde ihm diese Freude nicht gönnen. Er würde hier nicht den Verstand verlieren. (Benjamin) Als er jedoch die Stimmen hörte, bröckelte dieser Entschluss. (Benjamin) Er nahm sie mit einem Mal lauter als das Pochen seiner Fußsohlen wahr, (Ben) sie schienen überall (Benjamin) um ihn herum, Benny kniff kurz die Augen zu, versuchte nicht die Orientierung zu verlieren, doch der Gang schien sich (BENJAMIN) immer mehr um ihn zu drehen, während die Stimmen lauter wurden (Benjamin ver). Er kannte sie nicht (verdräng uns nicht Benjamin verdräng), jeglicher Versuch sie einzuordnen (uns nicht) schlug fehl. Bennys Sicht (Hör uns zu!) verschwamm, er gab das immer mehr wankende (bitte) Laufen auf (bitte Benjamin) und sank auf die Knie. Er hob zitternde Hände zu seinem schmerzenden Kopf (hör uns zu verdräng uns nicht) und erhob stöhnend seine eigene Stimme: »Was wollt ihr? Was wollt ihr denn?« Und aus dem Lautgewirr wurde ein Chor, ein Chor, der ihm nun endlich deutlich und unisono antwortete: Wir wollen, dass du uns zuhörst, denn wir sind dein einziger Weg aus dieser Welt. Du darfst nicht verdrängen, Benjamin. Wir haben diesen Fehler gemacht und wir wollen nicht, dass du ihn wiederholst. Wir sind hier gefangen, das darf dir nicht passieren. Benjamin – hast du Angst? Benny schniefte leise, zog die Stirn kraus zwischen seinen Händen. »Ja, klar, hab ich Angst«, flüsterte er. Das ist es. Du darfst nicht verdrängen. Das hier ist ein Test. Wir alle wollten ihm keine Angst zeigen und so hat er uns gefangen. Du hast die Chance, hier zu entkommen. Du musst ihr Ausdruck verleihen, lass sie raus, dann lässt er dich raus. Bitte, vertrau uns. Es dürfen nicht noch mehr Opfer gebracht werden. Zeig ihm, dass du Angst hast. Dann lässt er dich gehen. Als Benny nichts erwiderte, verstummten sie. Er hatte den Kopf gehoben, starrte den dunklen Gang entlang. Was sollte er tun? Wie verlieh man seiner Angst Ausdruck – auf Kommando? Einige Augenblicke lang saß er ratlos dort auf dem Boden, stierte ins Schwarz. Dann war der Moment gekommen. All dies kam wieder, all diese ängstigenden Gedanken – jemand war hinter ihm, vielleicht sogar vor ihm, um ihn herum, jemand beobachtete hin, jemand hatte ihn hierher gebracht und gefangen, Stimmen aus dem Nichts hatten mit ihm gesprochen, bei einem Fehler konnte er hier sterben – was war überhaupt mit Sid, war sie nicht auch in Gefahr, gerade an diesem Tag, an dem so viele schon in Gefahr gewesen waren, wenn sie jetzt allein in diesem Zimmer war? Wenn er nicht schleunigst etwas tat, würde ihm alles genommen… Und zu allererst sein eigenes Leben. Sie beschlich Benny nur langsam, sie kroch durch all seine Gliedmaßen bis zu seinem Bauch, wo sie sich in einem schmerzhaften Knäuel bemerkbar machte, sein Inneres zog sich zusammen, sie ließ ihn mehrfach erschaudern und leise fiepen, schien ihm ihre Allgegenwärtigkeit nun endgültig zu beweisen, als sie schließ bis in seinen Kopf stieg – Benny verkrampfte sich vollends und stieß einen langgezogenen Angstschrei aus. Er kauerte sich am so grausam beschrieben Boden zusammen zu einer zitternden Kugel, schrie und fiepte, grub Fingernägel tief in sein Fleisch, befreite sich nun endlich von diesem Wulst an Gefühlen, der seit Tamias’ erneutem Erscheinen in ihm geschmort hatte. Er wusste nicht, wie lange er so verharrt war, doch als er den Kopf schließlich heiser und keuchend wieder hob, fühlte er sich wie nach einem tagelangem Fußmarsch. Seine Kehle war wie ausgedörrt und er fühlte sich trotz dieses Gefühlsausstoß alles andere als erleichtert. Er hatte Angst, und die hatte er Tamias nun auf dem Silbertablett präsentiert… Und er saß noch immer in diesem verfluchten Gang. Doch etwas hatte sich verändert. Benny verengte die Augen und stand langsam auf. Da war eine Tür. Nicht weit von ihm war eine Tür und sie bedeutete das Ende dieses Flurs! Hastig stolperte er vorwärts, stellte aufatmend fest, dass die Tür tatsächlich näher kam, er legte eine Hand auf die Klinke und senkte unwillkürlich den Blick. Unter seinen Füßen stand erneut ein Wort, doch es war eines, was er auf all den Metern Boden zuvor nicht gesehen hatte. Es leuchtete heller als alle anderen und war als einziges in fester und sauberer Schrift zu lesen: Exanimatio Benny überkam ein Schaudern, dieses Wort hob sich ab von alldem, es musste etwas ganz Anderes sein… Er schüttelte den Kopf. Das konnte er alles noch mit Richie und Sid besprechen, er musste jetzt endlich zurück. Leise gluckste er. »Eigentlich wollt ich doch nur kacken gehen…« Er nahm einen tiefen Atemzug dieser anormal neutralen Luft und drückte die Klinke runter. Die Tür ließ sich mit Leichtigkeit öffnen, Benny war überrascht keine Schwierigkeiten damit zu haben… Er stand auf der Schwelle eines Raumes, der in unwirklichem Kontrast komplett in Weiß gehalten war – und in dessen Mitte stand Luc, Sids älterer Bruder. Benny starrte ihn an, wollte etwas sagen, doch da begann jener buchstäblich im Boden zu versinken. Mit wachsender Verwirrung sah Benny zu, hilflos, folgte ihm bloß wie angewurzelt mit den Augen. Luc versank reglos in einer schulterbreiten Pfütze schwarzen Wassers, den leeren Blick stumm geradeaus gerichtet, emotionslos – sein Haarschopf verschwand… Benny scheiterte am Versuch klar zu denken, er tat bloß einen großen Schritt nach vorn, hinein in den Raum, in diesen weichen, weißen Raum, der ihn gleichzeitig an eine Wolke und an eine Gummizelle denken ließ; scheu beugte er sich vor, warf einen vorsichtigen Blick in die unscheinbare dunkle Pfütze. Und in diesem Moment öffnete Benjamin im Badezimmer der Wilcoxes die Augen. Kapitel 9: Kriegsplanung ------------------------ Gedankenverloren strich Sid der Katze vor ihr auf dem Teppich über den Kopf. Ihr Blick ruhte starr auf der verschlossenen Zimmertür ihres Bruders, ihre Hand bewegte sich wie von allein über das Fell des schnurrenden Tieres. Immer stärker wurde das Verlangen, in Lucs Zimmer zu stürmen, seine Freundin einfach hinauszuschubsen und ihm alles zu erklären, ihn in Sicherheit zu bringen, irgendwie zu beschützen, ihm diese ganze Geschichte mit Tamias und Angst und schwarzem Wasser um die Ohren zu hauen und ihn dann irgendwo zu verschanzen, nur um alles in der Welt nicht enden zu lassen wie ihre Mutter, um alles in der Welt nicht – »Sid?« Nur widerwillig löste sie den Blick von der Türklinke, sah hinauf zu Benny und Richie, die blass und müde auf der obersten Treppenstufe standen. Es war der Morgen nach Charles Jarvis’ Tod, Richie hatte soeben an der Tür geklingelt und da Sid kaum zum Laufen fähig war, hatte Benny geöffnet. »’tschuldigung«, nuschelte sie. »Kommt… Kommt rein… Hi, Richie.« »Tag«, murmelte Richie. Er und Benny ließen sich Sid gegenüber auf dem Boden ihres Zimmers nieder, schweigend. Einmal setzte Sid an etwas zu sagen, holte Luft, schloss den Mund jedoch im selben Moment wieder. Es war Benny, der schließlich das Wort erhob. »Hast du das in der Zeitung gelesen, Rich?« »Von der Angsttherapeutin, die angegriffen wurde?« »Sicher.« »Ja, hab ich gelesen. Du meinst, das war Tamias?« Benny zuckte düster mit den Mundwinkeln. »Wer denn sonst?« »Aber er hat die Frau nicht getötet«, sagte Sid leise. »Er spielt immer mehr…« Mit einem Blick zu Sid beschlossen die Jungen, das Thema Angriff auf Lena N., Therapeutin zu beenden. »Du machst dir Sorgen um deinen Bruder, hm?«, fragte Benny vorsichtig. Sid seufzte. »Er… Er hat mir schon meine Mutter genommen… Ich hätte nicht … gedacht, dass er so weit geht… Ich war irgendwie der Überzeugung, er … lässt es bei einem Familienmitglied und… Ich weiß nicht… Und bringt dann uns um…« Noch immer etwas geistesabwesend blickte sie zu Richie. »Hast du uns eigentlich verstanden am Telefon?« »Ja, hab ich. Benny hat gesehen, wie Luc in einer schwarzen Pfütze versunken ist, nachdem ein kleiner Tamias von seiner großen Schwester angeschossen wurde, auf dem Boden standen Wörter und Stimmen haben gesagt, dass er Angst haben soll.« Richie musterte sie stirnrunzelnd, versuchte ihren Blick zu streifen, doch sie wich offenbar jeder Berührung aus, kraulte stumm ihre Katze. »Er wird uns nicht umbringen, Sid. Verstehst du? Der Typ kriegt uns nicht.« »Wäre ja noch schöner«, fügte Benny hinzu. »Wir sollten uns jetzt schleunigst etwas ausdenken, wie wir ihn aufhalten können. Und dann lässt er auch deinen Bruder in Frieden.« »Ich weiß nicht…«, murmelte Sid dünn. »Er spaziert ständig einfach so in irgendwelche Häuser, ohne dass… Das psychologische Institut ist doch auch immer perfekt bewacht und trotzdem ist er an diese Ärztin rangekommen.« »Das ist es doch gerade«, sagte Benny sofort. »Wir wissen, dass er so was kann. Also können wir uns dementsprechend vorbereiten. Ich denke mal, die wichtigsten seiner Fähigkeiten kennen wir. Nämlich metzeln, quatschen und zu den unpassendsten Augenblicken irgendwo auftauchen. Das können wir uns doch mit Sicherheit zunutze machen. Also markier hier bloß nicht die Pessimistin, Sid. Darin warst du noch nie gut.« Sids Mundwinkel zuckten in einem winzigen Anflug von Lächeln. »Aber es ist riskant. Egal was wir unternehmen, wir können dabei draufgehen.« »Und wenn wir nichts unternehmen, werden wir draufgehen.« Benny blieb energisch. »Also bitte, was ist dir lieber?« »Wisst ihr, ich hab davon geträumt«, sagte Richie auf einmal. Er hob den Kopf, erwiderte die perplexen Blicke seiner Freunde. »Ist schon ein paar Tage her, aber ich hab’s irgendwie total verpeilt durch das alles… Aber ich hab in einer Nacht davon geträumt, wie wir ihn loswerden.« »Und?«, machte Benny ungeduldig. »Sag schon, wie haben wir’s angestellt? Auf Träume müssen wir doch in letzter Zeit immer zählen.« »Ich weiß, nur… Wie gesagt… Es ging unter, zwischen all diesen … Vorfällen.« Sichtlich unzufrieden mit seiner momentanen Lage rieb sich Richie mit der Handfläche über den Nacken. »Also, na ja. Wir haben ihn umgebracht.« Sid nickte leicht. »Scheint mir die einzig vernünftige Lösung«, murmelte sie. »Du hast ihn abgelenkt«, fuhr Richie fort. »Dann hab ich ihn niedergeschlagen und wir alle drei haben ihn zusammen … geköpft. Haben ihm den Kopf abgeschlagen. Im Traum wussten wir irgendwie, dass das die einzige Möglichkeit war, ihn tot zu kriegen… Fast… Na ja, fast wie bei einem Vampir.« »Lass mich raten«, sagte Benny leise, »es war die Axt meines Vaters.« Richie sah auf. »Ich weiß es nicht. Kann aber gut sein. Wüsste jetzt auch nicht, wo wir sonst eine herbekommen würden. Schon … merkwürdiges Zusammentreffen von Tatsachen. Tamias’ Kopf und die Axt deines Vaters.« »Ja, schon. Aber das ist bei dem Kerl ja immer so. Wo haben wir ihn gefunden?« Mit einem tiefen Seufzen schloss Richie die Augen. »Im Wald… In der alten Blockhütte… Im Sperrgebiet, wisst ihr.« »Womit wir bei meinem Traum wären«, nuschelte Sid. »Unheimlich, wie das zusammenhängt.« Stirnrunzelnd wiegte Benny den Kopf hin und her. »Dein Traum war aber ja wohl ziemlich klar von ihm gelenkt, Sid. Oder? Tamias muss ja irgendwie dafür gesorgt haben, dass du das träumst. Was, wenn das mit Richies Traum auch so war? Wenn er will, dass wir das machen?« Richie zog die Schultern hoch. »Die eigentliche Frage ist doch, ob wir einen anderen Ausweg haben. Das oder uns von ihm umbringen lassen. Oder fällt irgendjemandem noch etwas Anderes ein, wie wir ihn zur Strecke bringen könnten? Kann sein, dass mein Traum manipuliert war, aber es ist irgendwie tatsächlich das einzige, was wir tun können.« »Wir… Wir müssen es versuchen…« Sid sprach leiser denn je, ihr Verstand klebte zäh an ihrer ermordeten Mutter, an ihrem gefährdeten Bruder. Es fiel ihr schwer, zu denken. »Wir haben praktisch eine Anleitung… Und wenn er sie uns wirklich selbst gegeben hat, dann … wird er wohl erwarten, dass wir das Ganze verbauen… Aber das muss ja nicht sein, vielleicht schaffen wir es ja…« Benny rang sich ein Lächeln ab. »So gefällt mir das besser, endlich bist du optimistisch.« »Ich halte eigentlich nicht viel von Rache«, entgegnete Sid im Flüsterton. »Aber das hier muss sein…« »Auge um Auge«, sagte Richie fest. »Für deine Mutter, für deinen Bruder, für Christina und für meinen Onkel.« »Für uns, nicht zu vergessen.« Benny hatte die Brauen leicht gehoben, musterte seine Freunde. »Wir würden damit nicht nur rächen. Wir würden unsere eigenen Leben retten. Und ich wette, von Notwehr halten wir alle mehr als von Rache.« »Balsam fürs Gewissen«, lächelte Richie. »Recht hast du.« »Dann planen wir jetzt also einen Mord…« Unerwartet füllten sich Sids Augen mit Tränen, als sie es aussprach. Ihr Vater rief zum späten Frühstück. Es war ein bizarres Gefühl, an diesem Tisch zu sitzen, mit James, Shannon, Luc und dessen Freundin, und still an einem Anschlag zu feilen. Die Vorstellung, einen solchen selbst zu überleben, schien unrealistisch… töricht. Doch als Sid den Blick hob, ihren geliebten Bruder musterte, mit dem sie sich immer so außerordentlich gut vertragen hatte, in die Gesichter ihrer Freunde blickte, die nun auch so viel verloren hatten, die tiefen Furchen im Antlitz ihres Vaters betrachtete, die sich dort seinem Tod seiner Frau eingeschlichen hatten, da wurde ihr wieder klar gemacht, dass es nur diese eine Möglichkeit gab, wenn sie nicht alles aufgeben wollte. Das Essen verlief still, niemand wollte etwas Falsches sagen, in Angst Benny oder Richie in ihren Verlusten zu verletzen, unwissend, dass jene längst mit anderen Gedanken beschäftigt waren. Nachdem sie ihre Teller in die Spülmaschine geschoben hatten, standen sie unschlüssig in der Küche. Es regnete. »Meine Mutter will nicht mehr, dass ich so oft draußen bin«, murmelte Richie. »Zu unsicher.« Benny nickte leicht. »Meine auch. Ich werd den Park vermissen.« »Wir werden ihn ja nicht vermissen müssen, wenn wir den Kerl so schnell wie möglich köpfen«, sagte Sid dumpf. Sie blickte über die Schulter, ihr Vater unterhielt sich leise mit Luc und seiner Freundin, Shannon war bereits zurück in seinem Zimmer. »Kommt, gehen wir wieder hoch. Wir brauchen Planung.« Mit einem Nicken folgten die Jungen Sid in ihr Zimmer, Benny blickte einige Momente lang aus dem Fenster, bevor er sich wieder ihnen zuwandte. »Wenn wir ins Sperrgebiet wollen, müssen wir nachts los.« Richie überkam ein Schaudern, als er sich setzte. »Warum denn unbedingt?«, murrte er. »Weil es nachts nicht bewacht wird.« Seufzend ließ Benny sich zwischen ihm und Sid nieder. »Dazu sind die zu feige. Bis zur Ausgangssperre stehen da noch Aufseher rum, aber sobald’s dunkel wird, verziehen die sich zum Waldrand. Da stehen aber auch nicht überall welche, an denen kommen wir vorbei.« Sid runzelte die Stirn, legte den Kopf schief. »Woher weißt du denn so was?« »Das stand letztens in der Zeitung, glaube ich«, sagte Richie langsam. »Da hat sich jemand über die Unsicherheit im Waldstück aufgeregt.« Benny nickte. »Und dieser Jemand ist ein Freund meiner Mutter. Wird wegen der Polizei hier immer pampig, will aber selbst nichts unternehmen. Wenn wir uns also nach der Ausgangssperre rausschleichen und es geschickt anstellen, kommen wir da locker rein.« Richie zog eine Augenbraue hoch. »Mit einer Axt«, sagte er skeptisch. »Na ja.« Benny zuckte mit den Schultern. »Sid und ich sind keine eins sechzig groß. Und es wird dunkel sein. Das fällt nicht auf, wenn diese Typen jemanden auf der Straße hören, denken die doch eh, dass die sich das einbilden, das sind alles Weicheier, die bloß irgendwie Geld verdienen wollen. An denen kommen wir vorbei.« »Denk ich auch«, sagte Sid nachdenklich. »Das ist mit Sicherheit zu schaffen. Geht sowieso nicht anders. Wir sollten eher versuchen, uns was für die wahre Handlung auszudenken. Was war das mit der Axt deines Vaters, Benny?« Etwas düster drehte Benny den Kopf erneut zum verregneten Fenster. »Die Axt auf unserem Dachboden ist das einzige, was mein Vater zurückgelassen hat, als er abgehauen ist. Wir wussten nie, warum. Vielleicht hat er’s ja gewusst… Vielleicht hat der Wichser gewusst, dass ich die mal brauchen würde.« Bennys Mundwinkel zuckten zu einem furchtbar sarkastischen Schmunzeln. »Um einen Dämon zu köpfen.« »Bist du dir denn eigentlich sicher, dass du das schaffst? Ihn umbringen?« Mit weit gehobenen Brauen sah Benny Richie an, als sei diese Frage das Anmaßendste, das er in den letzten Tagen gehört hatte. »Richie… Das ist der Kerl, der sich an Christina vergriffen hat. Und an Charles. Und an Sids Mutter. Und an Luc, wenn wir nichts machen. Und bald auch an uns, verdammt noch mal – natürlich schaff ich das. Der Typ ist nicht mal ein normaler Mensch. Du hast es vorhin selbst gesagt –« »Auge um Auge«, wiederholte Richie und nickte. »Alles klar.« »Dann auf ihn«, murmelte Sid. Benny grinste. »Lauter.« Sid hob den Blick, sah in sein blasses Gesicht, durch das sich dieses unwahrscheinliche Grinsen zog, musterte die wenigen Pickel, die durch die Fransen schwarz gefärbten Haares zu erkennen waren, sah zu seinem schwarzen Hemd, den schwarzen Halbfingerhandschuhen, der schwarzen Hose – und begann zu lachen. Es war so unreal, dass sie nach dem Tod ihrer Mutter, nach der furchtbaren Zeit in der Schule, nach dem stressigen Umzug solche Freunde gefunden hatte, auf solches Verständnis gestoßen war, so viele Gemeinsamkeiten hatte entdecken können; es war so unreal, wieder mit Tamias zu tun zu haben, fast täglich mit Übernatürlichem konfrontiert zu werden, sich selbst und diese unfassbar guten Freunde in unmittelbarer Gefahr zu sehen; es war so unreal, dass sie lachte. Doch sie konnte nicht aufhören. Es war als Kichern in ihrer Kehle aufgestiegen, als Benny sie zu einem lauteren Schlachtruf aufgefordert hatte, nun wollte es unweigerlich als Lachen hinaus. »Auf ihn!«, johlte sie, reckte eine Faust gen Zimmerdecke und ließ sich auf den Rücken fallen. Da stimmten Richie und Benny mit ein, der eigentliche Ernst dieser Lage war so bizarr, ja so abartig, dass keiner von ihnen an sich halten konnte. Sids Lachen flaute als erstes ab. Sie hatte Tränen in den Augen, hatte die Arme um ihren schmerzenden Bauch geschlungen, in ihren Wangen machte sich ein stechendes Ziehen bemerkbar, doch sie konnte nicht aufhören zu grinsen. Auch Richie und Benny kamen langsam zu unterdrücktem Kichern und Glucksen. Richie schniefte, stemmte die Unterarme auf den Boden und richtete sich ein Stück auf. Mit offenbar verwirrter Belustigung musterte er seine rötlich angelaufenen Freunde, die sich noch immer schüttelten vor lachen. Er räusperte sich. »Was war das denn jetzt?« Auch er konnte seine Mundwinkel nicht auf ihrem Weg in die Höhe aufhalten. Erneut begann Sid zu kichern. »Ich hab keine Ahnung«, verkündete sie zwischen zwei erstickten Atemzügen, wollte noch etwas hinzufügen, doch Benny fiel ihr ins Wort. »Was auch immer dein Vater uns da ins Essen gemischt hat…« Hustend und schwerfällig setzte Benny sich auf, lehnte sich rücklings an eine Wand, versuchte ernst zu blicken und scheiterte kläglich. »…Ich will mehr davon.« Sid machte keine Anstalten ihre Position zu ändern, sie grinste über beide Ohren und sah zur Zimmerdecke. »Dann musst du aber auch Zaster ranbringen. Das war jetzt mal eine kostenlose Geschmacksprobe, aber mehr rückt mein Vater der Dealer mit Sicherheit nicht raus, wenn du nicht bezahlst.« Richie gab ein langgezogenes »Ah« von sich. »Das sind also diese lustigen bunten Pillen, die du im Park immer dabei hast! Und ich dachte, das seien Smarties.« »Sind’s auch«, nickte Sid und schluckte eine erneute Lachsalve herunter. »Aber mit anderer Füllung.« »Ich glaube, ich sollte deinen Dealerpapa mal bei der Polizei verpetzten.« Bennys Stimme klang ruhig, doch sein Gesicht strahlte noch immer vor Amüsement. »Wehe dir!«, rief Sid sofort. »Dann, dann, dann, dann… Dann hetz ich dir Tamias auf den Hals!« Nur wenige Sekundenbruchteile lang war es still in ihrem Zimmer, man wog ab, ob man über einen solchen Satz lachen konnte – und entschied sich schließlich für ja: In diesem Moment war alles lustig. Wieder also brachen sie in haltloses Gelächter aus, und diesmal konnte Sid nicht mehr aufhören. Sie drehte sich auf die Seite, strampelte mit den Beinen, japste nach Luft. Sie wusste nicht mehr, was so lustig war, doch der Drang zu lachen war stärker als der Gedanke an Logik. Sie gab ein Seufzen von sich, verschluckte sich, hustete – und brachte sich damit erneut zum Kichern. Richie und Benny musterten sie grinsend. »Wenn das so weiter geht, müssen wir sie gleich reanimieren«, murmelte Richie. Benny verschränkte die Arme. »Also, ich kann so was ja nicht. Aber warst das nicht du, der Mund-zu-Mund-Beatmung gelernt hat?« »Sicherlich.« »Na, dann haben wir ja ihren Retter. Hast du dir die Zähne geputzt, Richie?« »Nö…« Aus einem tränengefüllten Augenwinkel nahm Sid wahr, wie Richie sich zu ihr beugte - »Bloß nicht!«, rief sie unter Kichern. »Ist ja schon gut… Ich werd mich wieder einkriegen.« Schniefend und ihre Lachtränen wegwischend setzte sie sich auf, gluckste. »Kein Grund, mich gleich vergewaltigen zu wollen.« Bennys Grinsen verbreiterte sich. »Wie wär’s mal mit einer Herzmassage?« Kapitel 10: Das letzte Bild --------------------------- Freitag. 21:30 an der Absperrung. auf Wachen aufpassen! Fragen überlegen! Sid zerknüllte den Zettel und entfaltete ihn erneut. Sie lag rücklings auf dem Boden im Wohnzimmer, hatte die Waden auf einen Sessel gelegt und stierte an die Decke. Shannon war bereits weg, bei der Mutter ihres Vaters. Luc und seine Freundin standen draußen am Wagen und machten sich für die Fahrt nach England bereit – ihr erster gemeinsamer Urlaub… Ihr Vater hetzte nun auch seit Minuten durch sein Schlafzimmer und suchte seine sieben Sachen zusammen; bald würde er aufbrechen zur Fortbildung. Sid schielte zur Wanduhr. Richies Eltern mussten bereits außer Haus sein, um Charles’ Beerdigung in die Wege zu leiten. Richie hatten sie mit Sicherheit bei Benny abgesetzt, ohne das Wissen, dass auch seine Familie an diesem Wochenende abwesend sein würde. Seine Mutter hatte seinen kleinen Bruder mitgenommen zu Christinas speziellem Kurs für den Rollstuhl. An Zufall hatten sie von Anfang an nicht gedacht. Es war ihnen nun mehr als klar, Tamias wollte, dass sie zu ihm kamen. »Aber das ist uns jetzt scheißegal«, hatte Benny verkündet. »Der denkt er kriegt uns damit und kann uns verarschen. Aber wir werden besser sein als er glaubt, wir kriegen das hin.« Sid schloss die Augen. Noch einmal ging sie ihre Fragen im Kopf durch. Sie hatten die Stadt verlassen, weil sie die Anspielungen auf Josephines grausamen Tod nicht mehr ausgehalten hatten – war das Tamias’ Absicht gewesen? Hatte er ihre Mutter getötet, um sie zum Umzug zu bringen? Ab wann waren seine Handlungen geplant gewesen? War es Absicht gewesen, dass Christina überlebt hatte? Warum vergriff er sich größtenteils an jugendlichen? Und mit welchem Recht wollte er eigentlichen Menschen bestrafen für an sich oft so natürliche Handlungen? Was war er überhaupt, lagen sie mit der Bezeichnung Dämon richtig? »Kann ich dich denn wirklich allein lassen?« Sid öffnete erst ein Auge, musterte ihren Vater, öffnete dann auch das andere. »Ich bin doch nicht allein. Ich geh gleich los zu Benny, mach dir keine Sorgen. Klein Sid ist doch schon groß… geistig. Und meine Windeln wird man mir schon noch rechtzeitig wechseln können.« Sie schwang die Beine vom Sessel und setzte sich auf. »Außerdem – die Wissenschaft braucht dich. Also hau ab.« James grinste. »Schon gut, ich geh ja schon. Schönen Gruß an Benny und Richie. Wir sehen uns dann.« Hoffentlich, dachte Sid, als die Tür ins Schloss fiel. Hoffentlich sehen wir uns. Sie seufzte. Ihr Kopf dröhnte buchstäblich, irgendwo oberhalb ihres Nackens hatte ein tiefes, penetrantes Brummen eingesetzt. Sie hievte sich aufs Sofa und verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf. Draußen hörte sie noch kurze Gesprächsfetzen, ihr Bruder rief vom Gartentor aus »Wir fahren jetzt!«, Sid rief »Viel Vergnügen!« zurück; sie hörte zwei Motoren anspringen, Räder auf Kies, sich entfernende Geräusche – sie war allein. Mit einem Kopfschütteln schloss sie die Augen. Kaum zu glauben, doch sie war müde, furchtbar müde. Hat eh keinen Sinn, wieder und wieder alles durchzugehen, sagte sie sich. Damit machst du dich bloß kaputt. Als sie wieder aufwachte, zeigte die Uhr ihr gegenüber bereits 21:13. Sid fluchte leise, sprang auf die Beine, wankte kurz; sie sah sich um. »Kommt raus, Schuhe, ich find euch sowieso«, murmelte sie, tapste durch die Diele, nahm nebenbei ihre Jacke vom Haken… Nachdem sie ihre Schuhe gefunden und angezogen hatte, brachte ein weiterer Blick auf die Uhr sie zu wüsterem Fluchen. Vorsichtig öffnete sie die Haustür, lugte auf die Straße. Der Himmel hatte sich bereits in dunkles Rosa verfärbt, niemand war noch draußen. Die Luft war noch warm, es herrschte erdrückende Stille. Mit aller Mühe zur Lautlosigkeit zog Sid die Tür wieder zu. Links von ihr patrouillierte ein Aufseher der Ausgangssperre mit dem Rücken zu ihr. Die perfekte Gelegenheit. Sid drehte sich nach rechts, huschte rasch und so leise sie konnte die Straße hinab, hielt sich im Schatten von Büschen und Bäumen. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals, sie fühlte sich nicht wie auf dem Weg zu einem geplanten Mord, sondern bereits wie auf der Flucht vor der Verurteilung. Erneut schielte sie auf ihre Uhr; sie musste sich beeilen, wenn sie Benny und Richie nicht allzu lang alleine vorm Waldrand stehen lassen wollte. Sie schlich auf den Feldweg, durchquerte den Park, schlug gezielt die Route ein, die sie und die Jungen bereits Tags zuvor festgelegt hatten, sprang gehetzt und aufgeregt hinter Bäume um gähnende Polizisten und Aufpasser an sich vorbeiziehen zu lassen. Schließlich erblickte sie Richies roten Haarschopf, sah sich noch einmal um und war dann mit einem letzten Satz bei ihren Freunden im Schatten des Waldrandes. Unruhig blickte sie über die Schulter, bevor sie sich ihnen zuwandte. »Schönen guten Abend«, murmelte sie gedämpft. »Bin ich zu spät?« »Ein paar Minuten.« Benny musterte sie prüfend. »Was hat dich aufgehalten?« »Schlaf«, sagte Sid bloß. »Hätte ich auch mal gebrauchen können…«, nuschelte Richie. Erst jetzt bemerkte Sid das Paddel, auf das er sich lehnte. Sie registrierte es mit einem Nicken, hielt wieder Ausschau nach möglichen Aufsichten. »Scheiße, ich war noch nie in meinem Leben so nervös«, murmelte sie. »Geht mir genauso«, sagte Benny dumpf. »Ich piss mir gleich in die Hosen.« Richies Mundwinkel zuckten zu einem Ausdruck gequälter Belustigung. »Dann sollten wir losgehen… Im Wald sind genügend Bäume, an die du urinieren kannst.« Benny nickte bloß, wandte sich ab. In seiner rechten Hand ruhte die Axt seines Vaters, dunkel und groß, ihr letzter Ausweg. Als er seufzte, hoben sich seine Schultern sichtlich. »Dann auf…«, flüsterte er. Sie betraten nebeneinander den Wald, fanden schon nach kurzer Zeit einen Pfad, von dem sie wussten, dass er sie zumindest in die Richtung des Sperrgebietes leiten würde. Je mehr sie sich vom Waldrand entfernten, desto sicherer waren sie vor möglichen Blicken, desto beklemmender wurde aber auch das Gefühl, sich an den Ort zu schleichen, an dem so viele ihrer Altersgenossen umgekommen waren. Sid warf einen Blick gen Himmel. Er hatte sich verdunkelt, etwas zu schnell, für ihren Geschmack. Ein tiefes Donnergrollen ließ sie zusammenfahren, erst mit dem Blitz konnte sie sehen, dass riesige, schwarze Gewitterwolken über ihnen hingen. Alarmiert hob Richie den Kopf. »Was war das?« »Bloß ’n Gewitter«, antwortete Sid leiser als beabsichtigt. »Wie ekelhaft klassisch«, nuschelte Benny. »Drei Kleinkinder sind abends unterwegs, in einem Wald, es gewittert und irgendwo hockt ein Dämon rum…« »Jungs, wir sollten uns trennen«, verkündete Sid sarkastisch. »Klar.« In Bennys Gesicht fand etwas statt, was unter anderen Umständen sehr interessant hätte sein können. Seine Miene schwankte binnen Sekunden zwischen unfreiwilliger Belustigung und Ernst, seine Mundwinkel zuckten hilflos. »Du als das Mädchen der Gruppe müsstest dann aber eigentlich ständig ganz laut kreischen.« »Mach ich dann später…« »Tut mir echt leid, Kinder, aber ich find das nicht sonderlich witzig.« Richies Gesicht hatte einen grünlichen Farbton angenommen, entsprechend klang seine Stimme; er kämpfte mit sich. Sid musterte ihn, verzog besorgt die Brauen. »Richie, wenn du… Wenn du kotzen musst«, sagte sie leise, »ist kein Problem, ja? Kann dich gut verstehen, hab nur zu wenig gegessen um mich zu dir gesellen zu können…« »Nee, ist schon okay«, sagte er leise. »Hab jetzt Besseres zu tun…« Sid und Benny nickten stumm, setzten ihren Weg fort. Immer tiefer drangen sie ins Sperrgebiet vor und immer quälender wurde für sie die Gewissheit, absolut nicht zu wissen, was sie taten. Was war das nur für ein törichtes Unternehmen? Wie um alles in der Welt nahmen sie sich die Frechheit heraus mitten in der Nacht bloß mit Paddel und Axt bewaffnet auf Tamias losgehen zu wollen? Nicht nur hatten sie keine Garantie, dass es klappen würde, nein, sie hatten sogar viel eher eine Garantie, dass es eben nicht klappen würde. Christina und diese Therapeutin hatten ihn einmal überlebt, aber wahrscheinlich hatte er das doch sogar beabsichtigt. Tamias beabsichtigte alles, er beabsichtigte auch sie jetzt zu sich zu holen, er beabsichtigte sie anzulocken, um sie endlich qualvoll und brutal einer nach dem anderen in den Untergang zu – Sid wurde aus ihren Gedankengängen gerissen, als ein scharfer Luftzug sie alle zusammenzucken ließ, etwas hatte Richie am Bein gestreift und wetzte nun mit unglaublicher Geschwindigkeit vor ihnen her, der Schock dezimierte sich bereits binnen Sekundenbruchteilen wieder, doch der Moment schien unnatürlich lang. Erst mit mehreren Metern Abstand realisierten sie, dass es ein Tier war, das so schnell rannte, ein Hund… Ein Schäferhund. »Inferno«, murmelte Benny. Richie und Sid erkannten den Namen aus seinen Erzählungen, sahen verblüfft dem Tier nach, das noch immer über den Weg galoppierte, sich nur langsam im Dunkel verlor. »Inferno?«, wiederholte Richie; er klang noch immer kränklich. »Dieser… Dieser Hund? Tamias’ Hund? Von früher?« Benny nickte überzeugt. »Das ist das Vieh. Der Welpe, den ich gesehen hab. Kein Zweifel, das ist er.« »Dann geht er ihn jetzt wahrscheinlich warnen«, meinte Sid stirnrunzelnd. »Er warnt ihn vor… Verdammt schnell, das Tier. Und groß.« »Und alt…«, fügte Benny leise hinzu. »Aber egal – dann warnt er ihn eben vor. Wir machen trotzdem weiter. Ähm, Richie, bist du wirklich in Ordnung?« Richie nickte noch, doch bereits im nächsten Augenblick stolperte er seitlich vom Weg, stützte sich gerade noch rechtzeitig an einem Baum ab, ließ das Paddel fallen, beugte sich vor und übergab sich geräuschvoll auf den Waldboden. Benny und Sid blickten einander an, und wieder stieg stilles Lachen in ihnen hoch, das in dieser Situation furchtbar gemein schien. Nach einem kurzen Austausch von Glucksen kletterten sie über einen Busch zu ihrem Freund. »Geht’s wieder, Junge?«, fragte Benny den auf der Erde knienden Richie, legte vorsichtig eine Hand auf seine Schulter. »Brauchst du ’n Taschentuch?« Richie wischte sich zittrig mit dem Handrücken über die Lippen, schniefte und nickte. »Wär ganz nett«, sagte er leise. »Sorry, Leute.« »Hab doch gesagt, es ist kein Problem«, murmelte Sid und fischte eine Packung Taschentücher aus der Gesäßtasche ihrer Jeans. Richie griff das Paddel wieder, stemmte es in den Boden und drückte sich daran auf die Beine. Gerade streckte er die freie Hand nach einem Taschentuch aus, als seine Knie wieder nachgaben. Er klappte zusammen, schlug mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden auf, offenbar bewusstlos – »Richie!«, schrien Benny und Sid gleichzeitig, sie ließ die Packung fallen, er die Axt, sie gingen auf die Knie, streckten die Hände nach ihm aus, doch Richies lebloser Körper machte einen grotesken Satz von ihnen weg, eine seiner Hände hatte sich noch krampfhaft um das Paddel geklammert, sodass die Knöchel hervortraten, die restlichen Gliedmaßen waren völlig schlaff, der Kopf auf die Brust gesunken. Ohne einen einzigen Gedanken zu verschwenden strampelten sich Sid und Benny auf die Füße, setzten Richie erneut nach, doch diesmal rutschte er schneller von ihnen weg, zurück auf den Weg – und stoppte nicht. Sid warf Benny einen gehetzten Blick zu. »Nimm die Axt mit«, befahl sie unpassend ruhig. Er nickte, war mit zwei Sätzen zurück an der gelblichen Pfütze, die Richie hinterlassen hatte, hob die Axt vom trockenen Boden auf und sprintete zurück zu Sid, deutete bloß an zu verlangsamen, rannte schließlich ohne Pause neben ihr weiter. Sie konnten Richie noch sehen, er wurde wie eine Puppe an unsichtbaren Fäden, die man offenbar an seine Schultern geheftet hatte, über den Boden geschleift, ohne aufzuwachen, ohne sich zu rühren, als sei er – Benny und Sid schüttelten synchron die Köpfe. Wieder einmal hatten sie den gleichen Gedanken gehabt und wieder einmal hatten sie ihn verworfen. »Der Bastard würde ihn langsamer umbringen.« Bennys Stimme war rau und bitter, doch sie bestätigte auch Sids trockenen Trost: Richie konnte jetzt noch nicht tot sein, weil das nicht Tamias’ Kaliber war, so einfach war das. Seitenstechen machte sich bei Sid bemerkbar, doch sie störte sich nicht daran. Das hier ging weit über einen misslungenen Schulsprint hinaus, das hier war nicht das, was sie im Sportunterricht immer verpatzt hatte, das hier war nicht die Fünf auf ihrem Zeugnis, weil sie zu langsam gelaufen war – sie gestand sich selbst ein, dass sie eigentlich nicht wusste, was das hier war; sie wusste nur, dass es nun aufs Laufen ankam und dass es irrelevant war, ob sie je gut darin gewesen war, dass sie jetzt schnell sein musste. Mit diesem Gedanken beschleunigte sie, merkte wie auch Benny wieder aufholte, doch es hatte nur zur Folge, dass Richie ebenfalls schneller über den Boden flog. Die Blockhütte kam in Sicht, wie ein weit aufgerissener Schlund tauchte sie am Ende des Pfades auf – und plötzlich sah es aus, als käme nicht Richie ihr näher, sondern umgekehrt, als schliche sich diese Hütte immer näher an ihren Freund heran, um ihn endgültig zu verschlingen; Benny und Sid begannen wieder zu rufen, sie schrien seinen Namen, streckten die Arme nach ihm aus, stolperten und strauchelten, brüllten um sein Leben; doch nichts hielt ihn auf seinem bewusstlosen Flug auf die hölzerne Tür zu auf. Sie schwang zur Seite, im Inneren war bloß undurchdringliche Schwärze zu erkennen, Richie wurde hineingesogen, die Tür fiel mit einem ohrenbetäubenden Knall zu – Stille. Die einzigen Geräusche waren das sanfte Rascheln der Blätter im seichten Wind, in der Ferne der Gesang weniger Vögel, und das Keuchen der beiden Kinder. Stumm und mit weit aufgerissenen Mündern standen sie vor der Hütte, die schweigend und breit vor ihnen saß, starrten die verschlossene Tür an. Die Zeit schien nicht zu vergehen. Zwei weit geöffnete Augenpaare hingen unbeweglich am erbarmungslosen Holz, vier Wangen verloren immer mehr Farbe, zwei Münder zogen flach die Luft ein, automatisch, ohne zu denken, zwei Paar Lippen und zwei Kehlen trockneten mit jeder Sekunde, in der nichts geschah, mehr aus, zwei Paar Hände zitterten, zwei Mägen hatten sich in schmerzhafte Knäuel zusammengekrampft, zwei Paar Füße ruhten auf dem sandigen Boden des Weges, hielten zwei Körper völlig unbewusst aufrecht, spielten die Standbeine für zwei Menschen, die geistig längst nicht mehr stehen konnten. Durch Benny ging ein Ruck. Er nahm die Axt in beide Hände, hob sie hoch über seinen Kopf, nahm ein winziges Stück Anlauf und rammte sie mit einem wutentbrannten Schrei in das Holz. Sie hinterließ nicht die kleinste Kerbe. Benny entfuhr ein tiergleiches Knurren, er holte wieder aus und schlug wieder zu, drosch auf die Tür ein, stieß immer wieder unvollständige Wörter und Sätze aus, rief nach Richie, rief nach Tamias, fluchte und senkte die Klinge immer wieder tief ein, ohne einen einzigen Kratzer zu hinterlassen. Sid hatte es sich derweil zur Aufgabe gemacht, die Wände nach anderen Eingängen zu durchsuchen, bereits an der ersten Ecke hatte sie Inferno entdeckt, wie er hechelnd auf dem Boden gesessen und Benny beobachtet hatte; sie hatte dem Verlangen widerstanden ihm einen kräftigen Tritt zu verpassen und war stattdessen auf die Knie gesunken, rutschte nun auf dem Boden umher und wühlte in der Erde nach Lücken oder gar Gängen im Holz. Ohne es zu bemerken, hatte sie zu weinen angefangen, als sie zum dritten Mal wieder neben Benny angekommen war, ohne Erfolg. Sie bückte sich kurz zu Boden und hob einen Stein auf. Einige Sekunden lang musterte sie ihn, ohne wirklich aufzunehmen, was sie überhaupt tat, ohne zu denken, nur um zu handeln, und warf ihn dann mit aller ihr möglichen Kraft gegen das Fenster neben der Tür. Der Stein prallte ohne das leiseste Geräusch von der unversehrten Scheibe ab. Richie versuchte verzweifelt die Augen zu öffnen. Es ging nicht. Irgendetwas hinderte seine Lider daran, sich zu bewegen, doch er zog weiterhin fast krampfhaft an ihnen. Lange konnte und wollte er diese Situation nicht mehr aushalten. Er saß auf einem Stuhl, seine Handgelenke waren so fest zusammengebunden, dass er deutlich spürte, wie die Seile in sein Fleisch schnitten, wie ihm die Kanten der Rückenlehne das Blut an den Armbeugen abdrückte und wie sich in seinen Oberarmmuskeln ein immer schmerzhafteres Ziehen breit machte. Wir haben es nicht geschafft, dachte er erschrocken. Wir haben es nicht geschafft, ich bin (blind) geschnappt worden, ich bin (blind) gefangen, ich sitz in (völliger Dunkelheit für immer) der Falle… Verdammt, warum hat es nicht funktioniert? Warum… Woran (ER hat dich) sind wir gescheitert (ER hat dich ER hat dich du bist blind ER hat dich gefangen)? ER hat mich… Mit einem Schaudern öffnete Richie den Mund und schrie. »Richard«, raunte eine Stimme direkt neben seinem Ohr. »Ich fürchte, Benjamin und Sidney platzen so schon vor Sorge. Tu ihnen doch nicht noch mehr Verzweiflung an und dämpfe deine Schreie.« Richie verstummte. Er spürte, wie sich etwas von seinem Hinterkopf löste, und im nächsten Moment fiel das Tuch, das seine Augen verbunden hatte, zu Boden. Er blinzelte dankbar, bis seine Sicht sich wieder klärte, blickte sich um – und schluckte schwer. Er war offenbar im Innern der Blockhütte, saß auf einem einfachen Holzstuhl; zu seiner Linken an einer Wand lehnten eine Axt, zwei Beile und mehrere lange Fleischmesser, einige davon waren noch benetzt von Blut. Neben ihm am Boden lag sein Paddel, zwischen seinen Füßen stand ein Glasbehälter mit einer klaren Flüssigkeit. Und rechts vor ihm am Fenster neben der Tür stand der Mann, den er zuletzt vor fünf Jahren gesehen hatte, mit hinter dem Rücken verschränkten Armen und blickte hinaus auf den dunklen Weg… »Du hast sehr treue Freunde«, sagte er leise, ohne den Blick abzuwenden. »Sie haben erst nach einer halben Stunde aufgehört zu randalieren. Wirklich schade, dass du das nicht miterleben konntest.« Mit einem Grinsen drehte er sich zu ihm. »Die beiden weinen sogar um dich. Sie sitzen noch immer da draußen und warten…« Angsterfüllt starrte Richie ihn an, er versuchte erst gar nicht klar oder rational zu denken, suchte bloß in diesen eiskalten Augen nach irgendeinem leisen Funken Gnade. »Nur schade, dass du sie nie wiedersehen wirst«, fuhr Tamias trocken fort. »Wirklich bedauerlich.« »Du wirst mich umbringen«, hauchte Richie. Es war weder Frage noch Feststellung, es war lediglich die Bestätigung seiner Gedanken, der Versuch sich selbst damit vertraut zu machen. Tamias lachte. »Oh, na, na, nicht ganz so pessimistisch, Richard. Ich habe lediglich angekündigt, dass du sie nie wieder siehst… Das führt nicht automatisch zu deinem Tod.« Er ging vor dem Stuhl in die Hocke und blickte zu ihm hoch; Richie verspürte das dringende Bedürfnis, ihn zu treten. »Was ist so schlimm für dich an der Vorstellung, zu erblinden… nichts mehr sehen zu können? Woraus besteht diese Angst?« In Richies Kopf überschlugen sich die Gedankengänge. Unfähig sie zu ordnen, suchte er nach Tamias’ Vorhaben und dem Sinn seiner Befragung, wog gleichzeitig seine Chancen zur Flucht ab, überdachte fieberhaft den gescheiterten Plan – doch er kam nirgends zu einem Ergebnis. Seine Chancen zur Flucht? So eine lächerliche Überlegung. Sie waren gleich null, das wusste er doch. Er sollte sich nicht einmal wehren, immerhin wusste er ja, was mit all den anderen geschehen war. Auf der anderen Seite hatten sie ihm Krieg geschworen… »Richard«, wiederholte Tamias unerträglich ruhig und sachlich, verlockend friedlich und damit so gefährlich. »Ich mag es nicht, wenn man meine Fragen unbeantwortet lässt. Noch einmal: Was macht diese Angst aus?« Richie versuchte ihm ins Gesicht zu sehen, doch der Blick gelang ihm nur wenige Sekunden lang, schließlich hielt er das Stechen dieser Augen nicht mehr aus, das milde Lächeln dieser Lippen, die gesamte auf bizarr ruhige Weise brutale Ausstrahlung dieses Gesichtes. Er wandte den Kopf ab, zur Seite, musterte das lange Paddel, das entkräftigt neben ihm lag. »Ich weiß es nicht«, antwortete er schließlich wahrheitsgemäß. Die Frage war nichts Neues für ihn, er hatte sie sich viele Male selbst gestellt, wenn er abends im Bett gelegen und an die Decke gestarrt hatte, zu verschreckt von Erinnerungen um die Augen zu schließen. Er war irgendwann zu einer Antwort gekommen, die er nicht in Worte fassen konnte. Er hatte das Gefühl, zu wissen, worin seine Furcht bestand, doch er hätte es niemandem erklären können. »Du weißt es also nicht«, wiederholte Tamias etwas leiser; und Richie überkam plötzlich wie ein Schlag in den Magen das schreckliche Gefühl, etwas gravierend Falsches gesagt zu haben. »Dann will ich dir etwas auf die Sprünge helfen.« Tamias richtete sich wieder auf, hob das Paddel vom Boden und begann es langsam in den Händen zu drehen, während er in dem kleinen Raum auf und ab ging. »Es ist eigentlich ganz simpel, fast logisch… Du hattest diesen Autounfall mit deinem Vater, soweit wissen wir beide noch bescheid, nicht wahr? Was sich daraus jedoch entwickelt hat, Richard, ist viel mehr als nur die Angst vor der großen Dunkelheit, viel mehr als nur die Angst vor dem Erblinden oder dem Verlust deiner Augen. Es ist etwas viel Subtileres, etwas viel Tieferes… Rufe dir noch einmal die Situation ins Gedächtnis, mein Junge. Rufe dir noch einmal diese Zeitlupe ins Gedächtnis, diese wenigen Sekunden vor der einschneidenden Schwärze… Der Moment, in dem ihr beide verstanden habt, dass ihr dem Lastwagen nicht mehr entkommen werdet… Und was hast du gesehen, Richard, was hast du in diesem allerletzten, entscheidenden Augenblick gesehen?« Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er fort, sein Grinsen verbreiterte sich. »Richtig: Das Gesicht deines Vaters, das entsetzte Gesicht deines Vaters, der geöffnete Mund, die weit aufgerissenen Augen mit diesem verheerenden Ausdruck – Todesangst. Das hast du gesehen, das hast du als letztes gesehen –« Wieder blieb er vor Richie stehen, er beugte sich ein wenig hinab; sowohl in seinen Augen als auch in seiner Stimme lag pure Faszination, pure Begeisterung für sein eigenes Fach. »Und das ist es, Richard! Das ist deine Angst, das ist der wahre Hintergrund dieser Phobie. Zwar hast du Angst dein Augenlicht zu verlieren, kein Zweifel, jedoch nicht wegen der darauf folgenden Dunkelheit, nein. Viel mehr fürchtest du dich vor einem erneuten letzten Bild. Du warst erblindet und alles was du in den folgenden drei Tagen hattest sehen können, war dieses durch und durch schockierte Gesicht deines Vaters. Davor hast du Angst: Für den Rest deines Lebens hinter geschlossenen Lidern immer nur ein einziges, schreckliches Bild erblicken zu müssen.« Sein Grinsen war nun so breit, dass es fast unnatürlich bestialisch schien. »Hab ich Recht?« Richie schwieg. Fassungslos starrte er in Tamias’ freudiges Gesicht, versuchte zu begreifen. Gerade eben war all das, was er nie verstanden hatte an sich selbst, das, was ihm immer wieder schlaflose Nächte beschert hatte, das, was die Frage war, die er nie zu beantworten vermocht hatte – das war soeben in ein paar dahergegrinsten Sätzen zusammengefasst worden. »Ich deute dein Schweigen als Zustimmung«, sagte Tamias leise. »Erfreulich.« Er lehnte das Paddel an die Tür und hob den Behälter zu Richies Füßen auf. Mit einem Mal war sein Blick bedächtig und ernst, er schwenkte das Glas etwas hin und her, sodass die Flüssigkeit gegen die Wände schwappte, bis Richie es schließlich schaffte den kleinen weißen Aufkleber an der Seite zu lesen: ACETON Erneut fuhren Richies Gedanken Achterbahn, seit Tamias’ Ansprache hatte sich immer weiter diese eine quälende Gewissheit eingeschlichen: Er würde erblinden. Gleichzeitig aber durchwühlte er sein Gedächtnis nach Aceton, denn er kannte diesen Begriff, er musste doch wissen was das ist – er musste wissen was das ist? Er musste fliehen! Er musste hier raus, er musste entkommen, nur wie? Wie? Ein scharfer, beißender Geruch stieg ihm in die Nase, ließ seine Augen tränen, als Tamias ihm den Behälter näher ans Gesicht hielt. Richies Kopf raste, der Geruch war ihm bekannt, so bekannt – Aceton (Säure) was ist das (Säure)? Was ist Aceton (Säure)? Ich weiß es doch, Aceton (Säure), Aceton (Säure), Aceton (Säure), das ist das Zeug, was im Nagellackentferner so (ätzt) stinkt, Aceton (Säure), das ist – »Säure.« Tamias’ Stimme, langsam, geistesabwesend, ruhig, schnitt brutal in Richies Gedanken ein. Sie bewirkte ein Echo, Säure, wiederholte sein Verstand, Silbe für Silbe, Buchstabe für Buchstabe… Säure… Er fischte mit der freien Hand ein Stofftuch aus seiner Hosentasche und wieder hoben sich seine Mundwinkel ein wenig. »Wir wollen deine Freunde nicht allzu sehr erschrecken. Es ist besser, wenn sie dich nicht schreien hören.« Richie sah ihm bloß hilflos zu. Ihm war längst klar geworden, was mit ihm geschehen würde, und er wollte sich nicht wehren. Welchen Sinn hätte noch ein einziger Gedanke an Flucht gemacht? Er würde vermutlich bloß enden wie all die anderen… Wie sein Onkel. Widerstandslos ließ er sich knebeln. »Das könnte sich als etwas schmerzhaft erweisen«, sagte Tamias langsam. »Aber… Keine Angst… Ich bin sicher, du hältst das aus…« Richie drehte den Kopf weg, kniff die Augen zusammen, doch beides wurde direkt darauf wieder rückgängig gemacht, eine Hand zog ihn grob am Kinn wieder zurück und gleich darauf seine Augenlider hoch. Und das letzte, was Richie sah, war das blasse, gnadenlos grinsende Gesicht Tamias’ über einem großen klaren Tropfen, der unaufhörlich auf ihn zukam. Als seine Schreie abgeklungen waren, hatte Tamias eins der Fleischmesser von der Wand genommen. Er blickte davon zu Richie auf, musterte ihn abschätzend. »In letzter Zeit ist viel nicht so gelaufen, wie ich es gern gehabt hätte«, sagte er leise. »Sehr ärgerlich, unschön…« Hätte Richie sein Augenlicht noch besessen, hätte er deutlich Wut und Frustration in Tamias aufsteigen sehen, sein Griff um das Messer verfestigte sich, seine gesamte Haltung wurde plötzlich verkrampft, sein Blick ruhte starr auf Richies Hals. Er trat hinter den Stuhl, zog seinen Kopf barsch an den Haaren nach hinten, setzte die Klinge an seiner Kehle an. Richies verätzte Augen zuckten unruhig hin und her, sein Atem ging flach und röchelnd, er wagte nicht sich zu bewegen, sein schwindender Verstand gab ihm in letztem Kämpfen noch zu verstehen, bloß vorsichtig zu sein. Tamias drückte das kalte Metall fester in Richies Haut, er würgte. »Ich sollte –« Doch er hielt inne. Wie ein Hund reckte er den Kopf leicht in die Höhe, verengte die Augen und zog die Brauen zusammen. Er horchte auf etwas, was Richie nicht wahrnehmen konnte, gab schließlich ein missgelauntes Schnauben von sich und ließ murrend von seinen Haaren hab. Er senkte das Messer und schnitt damit die Fesseln durch. »Schätze dich glücklich«, brummte er und zerrte sein Opfer auf die Beine, zur Tür. Richie und das Paddel schlugen gleichzeitig auf dem Boden auf. Kapitel 11: Sterblichkeit ------------------------- Lena Neveu hatte sich laut ihrem Psychologen gut erholt. Sie sah IHN nicht mehr an jeder Straßenecke, sie konnte an manchen Nächten schon ohne Schlaftabletten die Augen schließen und, was das Wichtigste war, sie wusste nun, dass ER nicht einfach im Boden hatte versinken können, als sie die Polizei gerufen hatte. Die Einbildung, SEIN Gesicht und Erscheinung habe dämonische, fast vampirische Merkmale aufgewiesen, war nun auch endlich verschwunden. Und schlussendlich war Lena über den Verlust ihres rechten Auges hinweggekommen. Der Psychologe wusste, dass noch immer die Angst bestand, ER könne sie eines Tages wieder heimsuchen und ihr auch den Rest ihres Körpers, beziehungsweise ihres Lebens nehmen, aber durch lange Gespräche über Selbstverteidigung und Personenschutz war wenigstens die anfängliche Paranoia gewichen. An diesem Tag war Lena nach ihrer Sitzung außerordentlich gut gelaunt, selbst den Abstecher zum Arzt um ihre neue Augenklappe sichern zu lassen erledigte sie mit Glückseligkeit, sie schlenderte pfeifend ihren Heimweg entlang, warf dem psychologischen Institut nur einen flüchtigen Blick zu; noch einige Tage lang war sie beurlaubt, um alles gut genug verarbeiten zu können und danach wieder dazu überzugehen, andere Leute zu therapieren und nicht mehr sich selbst. Vor einer Einfahrt blieb sie stehen. Andy McKenzie wollte sie noch einen Besuch abstatten, wie fast jeden Abend. Er war seit Jahren ihr bester Freund und der einzige Mensch, zu dem sie in den letzten Wochen noch Vertrauen hatte fassen können. Sie klingelte am großen schwarzen Tor, es dauerte einen Moment, bis sich aus der Gegensprechanlage eine Kinderstimme meldete. Jazlin, Andys elfjährige Cousine lebte seit dem Tod ihrer Eltern bei ihm und seiner Mutter. »Ich bin’s, Lena«, antwortete sie. »Oh, hi. Andy ist nicht da.« Für einen kurzen Augenblick setzte Lenas Herzschlag aus, doch sie hatte gelernt, sich schnell wieder zu fangen. Gut, dann war Andy eben mal nicht zu Hause. Das hatte ja nichts zu bedeuten. »Und weißt du vielleicht auch, wo er ist?« »Hmmm«, machte Jazlin langgezogen. »Ich glaube, er wollte nur schnell einkaufen gehen. Wir haben keinen O-Saft mehr. Er ist bestimmt gleich fertig, willst du reinkommen? Ich hab Kekse gebacken!« Schmunzelnd zuckte Lena mit den Schultern. »Dann lass ich mir das doch nicht entgehen…« Der Toröffner brummte und am Ende der Einfahrt erschien ein Mädchen auf der Türschwelle, hellblonde Haare fielen ihr auf die Schultern, sie trug ein rosa Hemd, einen Jeansrock und gestreifte Strumpfhosen – Lena musste immer wieder an ihre eigene Kitschzeit denken, wenn sie Jazlin sah. Lena verließ das Haus der McKenzies gegen Nachmittag wieder, voll mit Keksen, Sahne und dem unaufhörlichen Geplapper einer Elfjährigen. Sie schob die Hände in die Hosentaschen und schlug langsam ihren endgültigen Weg nach Hause ein. Es war schnell Herbst geworden dieses Jahr, der September neigte sich gerade dem Ende zu und schon hatten viele Bäume all ihre Blätter verloren, die Temperatur sank jeden Tag deutlich, und Andy war nicht zu Hause. Der Himmel verfärbte sich orange, spielende Kinder verließen die Straßen und Andy war nicht aufgetaucht. Es sah ihm ganz und gar nicht ähnlich, unter irgendeinem Vorbehalt einfach stundenlang zu verschwinden und nicht einmal ihr oder seiner Cousine bescheid zu geben. Was war denn nur passiert? Heute Morgen war er doch noch bei ihr gewesen, er hatte ihr Frühstück gebracht und sie hatten zusammen Brötchen gegessen und gelacht. Sie hatte ihn später sogar noch auf dem Handy angerufen, aus lauter Stolz, dass sie es allein zum Psychologen geschafft hatte. Die Welt war für ein paar Stunden in Ordnung gewesen. Jetzt war gar nichts mehr in Ordnung. Andy war nicht da, er war einfach so spurlos verschwunden, Lena war auf sich allein gestellt. Nicht ohne sich noch einmal umzusehen durchquerte sie ihren Vorgarten und durchwühlte ihre Handtasche nach dem Hausschlüssel. Kühler Wind wehte ihr die Locken ins Gesicht, während sie mit dem Schlüsselbund kämpfte, sie fröstelte. Plötzlich legte sich eine eiskalte Hand auf ihren Mund, gleichzeitig umschloss ein Arm fest ihren Hals. »Guten Abend, Doktor«, raunte eine Stimme dicht neben ihrem Ohr. In diesem Moment wäre Lena Neveu um ein Haar an einem Herzstillstand gestorben. Ihre Beine gaben nach, ihre Lider flatterten, ihre Umwelt verlor an Schärfe und Farbe – das war es, das war es, was sie in den letzten Wochen Minute für Minute gefürchtet hatte: ER war zurück, ER hatte sie wieder gefunden, ER war zurückgekehrt zu ihr und nun würde ER ihr mehr nehmen als nur ein Auge. ER war gekommen um sie ein für alle Mal zu holen. Langsam gab sie sich der Ohnmacht hin… Als Lena wieder zu sich kam, hätte sie sich am liebsten dafür geohrfeigt. Wäre sie doch bloß nicht aufgewacht, würde sie doch bloß nie wieder aufwachen, dann bliebe ihr so vieles erspart, so viele Schmerzen, die jetzt zweifellos auf sie zukamen. Sie stellte fest, dass sie auf dem Rücken lag. Ihre Arme waren über ihrem Kopf an den Handgelenken gefesselt und völlig unbeweglich, das gleiche galt für ihre Beine. Scheu sah sie sich um, sie musste auf einer Art (Folter)Bank liegen, der Raum um sie herum war klein und im Halbdunkel kaum zu erkennen, doch außer ihr selbst und einigen undefinierbaren Gegenständen rechts von ihr an der Wand schien er gänzlich uneingerichtet. »Ha-hallo?«, rief sie zaghaft. »Wo sind Sie? Sind Sie hier?« »Ich denke, wir können uns getrost duzen.« Lena zuckte zusammen. Die Stimme war ihr nah gewesen, viel zu nah. Sie legte den Kopf in den Nacken und verdrehte die Augen nach oben, um in SEINE Richtung sehen zu können, doch die Dunkelheit erlaubte ihr nicht einmal einen Umriss. Sie schluckte schwer und versuchte zu denken. Ich muss mit ihm reden. Ihn irgendwie hinhalten (was soll dir das bringen?), Zeit schinden – ich muss Zeit schinden! Vielleicht hat er ja irgendwann die Schnauze voll davon (dann bringt er dich um) und lässt mich gehen (das glaubst du doch nicht ernsthaft). Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder, unternahm einen weiteren Anlauf, bis sie schließlich ein heiseres Stottern zustande brachte: »W-Was… W-Wa-Was haben Sie… h-hast du…« »Was ich vorhabe? Nun, dein Therapeut würde es vermutlich Aggressionsbewältigung nennen.« Lena hörte Schritte, dann erschien er in ihrem Blickfeld, rechts neben der Bank, und blickte auf sie hinab. Ein Schluchzen entfuhr ihrer Kehle. »Was hab ich dir getan?«, flüsteret sie – eine rhetorische Frage an sich selbst. Er stemmte die Hände rechts und links von ihrem Oberkörper auf dem dunklen Holz ab, beugte sich näher zu ihr, sah sie eindringlich an; ein winziges, diabolisches Lächeln spielte um seine Lippen. »Du hast Angst«, hauchte er. Lena schloss für einen kurzen Moment ihr verbliebenes Auge und versuchte sich zu sammeln. Ist schon gut, wisperte ihr Verstand. Keine Panik. Lass ihn nur reden. Er hat ja immerhin Recht, du hast Angst. Lass dich davon nur nicht aus dem Konzept bringen. Du brauchst Zeit, also mach weiter. »Hast du all die Menschen getötet?«, fragte sie leise. Tamias zog scheinbar aus dem Nichts einen Stuhl hervor und ließ sich so darauf nieder, dass die Rückenlehne vor ihm war. Er legte die Unterarme darauf, suchte sich offenbar bedächtig eine Antwort zusammen. »Nein…«, sagte er langsam, während er nachdenklich ihre Augenklappe musterte. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe sie nicht umgebracht. Keinen von ihnen. Und ich werde auch dich nicht umbringen.« Lena drehte den Kopf und starrte ihn an. Bloß ein Blick, doch er sprach Bände. »Ich habe sie nicht umgebracht«, wiederholte Tamias. »Ich habe ihnen lediglich Furcht bereitet, eine Menge Furcht. Und diese Furcht ist es, die sie letzten Endes ums Leben gebracht hat, verstehst du?« Lena verstand nicht. Er gab ein Lachen von sich, leise und spöttisch. »Ihr pflegt zu sagen, dass es die Angst ist, die euch menschlich macht. Das ist soweit ganz richtig, Tiere lassen sich zwar ebenfalls vorzüglich ängstigen, jedoch verfügt der Mensch über eine Art von Furcht, die einmalig und durchaus spezifisch ist, ihn letztendlich zu dem macht, was er ist. Und im Fall der Leichen, die in den letzten Wochen und Monaten in deiner Heimatstadt gefunden wurden, war es diese Angst, die sie getötet hat.« Lena runzelte die Stirn. »Sie sind … vor Angst gestorben?« »Nein, nein.« Tamias schüttelte den Kopf. »Nicht vor Angst. Du musst versuchen, das abstrakter zu sehen, weißt du. Die Angst war nicht die Mordwaffe, das musst du erblicken können. Die Angst war die Mörderin.« Noch immer ruhte dieser verständnislose Blick auf ihm; er lächelte. »Es wundert mich nicht, dass sich dir das nicht erschließt. Gerade dir, die du dich tagtäglich mit Angst auseinandersetzt und sie anderen ausreden willst, wird es schwer fallen zu begreifen, dass es sie alle gibt. Wovor haben die Leute Angst, Doktor Neveu? Wovon fühlen sie sich verfolgt, beobachtet? Der Hakenmann im engen Treppenhaus? Monster im Schrank, unterm Bett? Der schwarze Mann in der dunklen Seitengasse? Der knurrende, riesige Dobermann mitten im finsteren Zimmer, wenn man schläft? Und was hast du ihnen erzählt, Doktor? Dass es sie nicht gibt? Ausgeburten ihrer Phantasie, nicht wahr? Vielleicht gehen diese Einbildungen aus einem frühen Kindheitstrauma hervor. Aber auf jeden Fall sind sie nicht echt und sie sollten aus der menschlichen Vorstellung verbannt werden. Aber jetzt, Lena, wo du hier liegst, ist es an der Zeit etwas einzusehen…« Wieder beugte er sich weiter hinab, Lena war heilfroh, dass die Rückenlehne ihn etwas bremste, und drückte sich dennoch krampfhaft an die Bank. »Es gibt sie wirklich«, fuhr Tamias mit deutlich gesenkter Stimme fort. »Es gibt sie alle wirklich, keiner von ihnen ist ein Hirngespinst, sie alle sind hier in dieser Welt… Und sie alle ernähren sich von Angst… Und sie töten, egal wie vielen Menschen du das schon ausgeredet hast, sie töten für Angst. Genau wie sie.« »Wie … sie?« »Wie sie. Wie Exanimatio. Wie die Angst.« »Aber das kann –« »Schhht…« Er legte einen Zeigefinger auf seine Lippen, erst jetzt fiel Lena auf, dass er weiße Handschuhe trug; es kam ihr furchtbar abartig vor. »Ich hab dir genug erklärt. Du musst nicht dumm sterben. Das reicht.« Lena setzte an, noch etwas zu sagen, doch Tamias war schneller. Er zog ein Messer und drückte die breite Seite der Klinge auf ihre Lippen. »Genug«, flüsterte er. Er hob die Klinge wieder, wartete einen Moment ab. Als Lena schwieg, nickte er grinsend. »Besser so… Lass mich nur machen.« Das kalte Metall berührte die Haut ihrer Wange, durchtrennte sie, sank tief ein und zog einen langen Schnitt quer über ihre rechte Gesichtshälfte. Direkt darauf zog Tamias die Wunde nochmals nach, setzte eine weitere darunter und darüber – Lena öffnete den Mund zu einem langgezogenen Schrei, setzte ein schwaches Fiepen um Hilfe hinterher. Tamias lachte. »Hier hört dich niemand. Wir sind ganz allein«, raunte er. »Niemand wird dir zur Hilfe kommen… Also schrei du dir nur die Seele aus dem Leib – ich werde solang mit Vergnügen die Tatsache auskosten, dass du mir voll und ganz ausgeliefert bist.« Abermals fuhr die Klinge nieder, Blut spritzte aus den Wunden, befleckte die Bank, Lenas Kragen, Tamias’ weiße Hand. Lena warf den Kopf hin und her, versuchte den Angriff zu entkommen, doch Tamias packte sie mit links am Unterkiefer, hielt sie unbeweglich fest. Lena zitterte, Blut floss in ihr Auge, sie musste blinzeln um ihn ansehen zu können. Tamias musterte sie prüfend, schüttelte dann tadelnd den Kopf. »Schade, dass du nicht stillgehalten hast. Jetzt ist alles krumm und schief geworden.« Lenas Gesicht war fast vollkommen von Blut getränkt, ihre Augenklappe war durchnässt und längst nicht mehr weiß, Haare klebten an ihrer zerschnittenen Stirn. Mit all dem Rot mischte sich eine Träne. Erneut verspürte sie den starken Wunsch, einfach wegtreten zu können, nichts mehr miterleben zu müssen… Dieser Tamias könnte (mich schneller umbringen) sich wenigstens beeilen (und mich endlich umbringen)… »Jeder Mensch wünscht jemandem den Tod«, sagte Tamias leise. Sein Grinsen war verblasst. »Doch nur wenige wünschen ihn sich selbst.« Er streifte die blutige Klinge langsam an ihrer Kehle ab, drückte sie schließlich dagegen. »Du willst schneller sterben, nicht wahr?« Mit äußerster Vorsicht nickte Lena; er schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.« »Warum nicht?« Ihre Stimme war zu einem heiseren Flüstern zusammengesunken. Tamias seufzte und legte das Kinn auf die Rückenlehne des Stuhls. Für einen winzigen Moment schien ein kleiner Funken Mitleid in seinen Augen aufzuleuchten. »Weißt du, Lena, ich glaube, ich muss dich jetzt enttäuschen… Du kannst nach dem Warum fragen so oft wie du willst, du wirst keine Antwort darauf bekommen. Es gibt ganz einfach keinen Grund, weshalb ich das hier mit dir mache. Es gibt keinen. Du dienst hiermit ganz stumpf meiner persönlichen Unterhaltung. Nun ist es so, dass ich bereits ein … langes, langes Leben hinter mir habe. Und wenn ich in dieser Zeit etwas gelernt habe, dann dass ich die Chance zur Unterhaltung nutzen muss, wenn sie sich mir bietet. Und deshalb werde ich dich nicht früher töten.« Langsam schlich das Grinsen zurück auf sein Gesicht. »Ich brauche dich, Lena…« »Zur Unterhaltung«, hauchte sie. Für einige Sekunden schloss er die Augen; dann stand er auf. »Ich sollte dich nicht so wertlos behandeln«, sagte er, plötzlich wieder ganz sachlich. »Aber ich sehe mich wirklich gezwungen, mal ein wenig Dampf abzulassen. Und nun trifft es dich als Opfer. Schicksalsgebung, Lena.« Mit einem Fuß schob er den Stuhl zurück in die Dunkelheit, wo er spurlos verschwand. »Damit wirst du dich abfinden müssen.« Lena öffnete erneut den Mund und augenblicklich landete ein Stoffknebel darin. Mit einem Schaudern stellte sie fest, dass es derselbe war, mit dem sie sich vor Wochen bereits von ihrem Auge – und einem Leben ohne Paranoia – hatte verabschieden müssen. »Du hast jetzt genug geredet«, sagte Tamias ruhig. »Eigentlich sogar schon viel zu viel.« Er bückte sich und zog eine brennende Kerze unter der Bank hervor. Nachdem er dann ihr Hemd so weit zurückgeschlagen hatte, dass ihre gesamte Bauchdecke sichtbar war, begann er mit langsamen Schritten um die Bank herumzugehen. Er schlenderte einfach im Kreis, hielt dabei die Klinge seines Messers über die Flamme. Bedächtig drehte er sie hin und her, schweigend, während Lena immer weiter an den Punkt heranrückte, an dem sie an ihrem eigenen Erbrochenen ersticken würde. Als ihre Würgelaute nicht mehr zu überhören werden, stellte Tamias die Kerze auf den Boden. »Musst du dich übergeben?«, fragte er. Lenas Antwort war ein ersticktes Husten mit aufgeblähten Wangen. Tamias seufzte. »Ekelhaftes Volk, ihr.« Er langte quer über die Bank und zog ihr den Knebel aus dem Mund. »Dann tu dir keinen Zwang an.« Doch bereits im nächsten Moment hatte Lena keine Zeit mehr dafür, Jazlins Kekse wieder hinauszukatapultieren; sie war gänzlich mit Schreien beschäftigt. Tamias zog die Klinge seines Messers langsam über ihren Bauch; er drückte nicht fest genug zu, um Schnitte zu erzeugen, doch das erhitzte Metall allein verursachte schon brennenden Schmerz. Lena zuckte in unregelmäßigen Abständen zusammen, reflexartig schluckte sie ihren Mageninhalt wieder herunter, verlor dadurch Atem, sie röchelte und hustete, stieß dazwischen abgehackte, verzweifelte Schreie aus. »So hatten wir das aber nicht ausgemacht«, sagte Tamias. »Du solltest doch eigentlich still sein; muss ich dir denn erst den Kiefer brechen, bevor du auf mich hörst?« Das Messer hinterließ tiefe rote Spuren auf Lenas Haut; er nutzte die Gelegenheit, in der sie Luft holen musste, um ihren Hals zu packen und zuzudrücken. Seine andere Hand führte noch immer das Messer, zeichnete Formen und Muster ohne System, bloß um schmerzhafte Wunden einzubrennen. Lenas zerfurchte Lippen zitterten, sie wand sich in den fest sitzenden Fesseln, schloss ihr Auge und rang nach Luft – vergeblich. »Viel besser…«, sagte er leise. Ein letztes Mal zog er die bereits kälter gewordene Klinge quer über ihre Bauchdecke, dann rammte er sie wortlos in ihr Bein. Sie zuckte nicht einmal. Auch, als er den Griff von ihrer Kehle löste, zeigte sie keine Reaktion. »Atmen, Doktor.« Lena schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie hielt die Luft an – ein Selbstmordversuch. Tamias schmunzelte, seiner Kehle entwich sogar etwas, was fast wie ein Kichern klang. »Oh, Lena…« Er schwang sich auf den freien Teil der Bank neben ihrem Becken und musterte sie mit einem belustigten Glucksen. »Das ist ja niedlich… Ich dachte, für deinen Titel muss man Medizin studieren – hast du nie etwas von den menschlichen Selbsterhaltungsreflexen gehört? Du kannst dich selbst nicht umbringen, indem du die Luft anhältst… Da kannst du so verzweifelt sein, wie du willst.« Lenas Blick hatte sich bereits getrübt, da zog sie tief Luft durch den Mund ein. Tamias grinste triumphierend. »Das mit deinem Tod überlässt du am besten mir. Ich werde mich darum schon noch rechtzeitig kümmern, keine Sorge.« Er rutschte von der Bank und verschwand für einen kurzen Moment im Schatten des Raumes, rechts von Lena. Bevor sie rätseln konnte, was er vorhatte, kam er mit einem großen Vorschlaghammer in den Händen zurück in ihr Blickfeld. »Was…?«, setzte sie an, traute sich jedoch nicht die Frage zu beenden. Tamias hob den Kopf und sah sie an, sein Grinsen glich dem eines kleinen Jungen, der sein lang ersehntes Matchboxauto soeben zu Weihnachten bekommen hatte, seine Augen leuchteten mit gefährlicher Begeisterung, während er den Hammer in den Händen drehte. »In letzter Zeit ging so viel daneben…« Er holte aus. »Ist ein schönes Gefühl, endlich mal wieder zu treffen.« Mit voller Wucht sauste der Vorschlaghammer nieder – Das Geräusch, das Lenas berstende Schulterknochen von sich gaben, hatte Ähnlichkeit mit dem, wenn man den Fuß auf gebröckeltem Asphalt hin und her bewegt. Ein Knacken, ein Kratzen, ein Splittern, was zurückblieb war kaum mehr als Pulver. Der Schmerz durchzuckte Lenas gesamten Körper, einige Momente lang rang sie nach Luft, starrte Tamias entsetzt an, bis es ihre Stimme schaffte aus ihrer Kehle zu steigen. Der schmerzerfüllte, gellende Schrei hielt an, bis sie heiser war. Diesmal ließ Tamias sie brüllen. Er lehnte auf dem Hammer und sah ihr zu, wie sie sich auf seiner Bank in Schmerzen wand, nach mehreren Minuten nur noch röchelnde Laute von sich gab, schließlich benommen zwischen Wachsein und Ohnmacht schwamm. »Sieht furchtbar aus«, sagte er grinsend. Lena schreckte hoch, blinzelte einige Male, sah ihn bloß geistesabwesend und verständnislos an. Er nickte ihr zu. »Deine Schulter. Gar nicht hübsch. Ich denke, ich sollte dir zumindest die Ehre erweisen und dich von dieser grässlichen Verstümmelung befreien. Einen Moment.« Erneut verschwand er im Dunkeln, diesmal kehrte er mit einer Axt zurück. »Das könnte etwas zwicken«, flötete er, sichtlich gut gelaunt. »Aber so hat sich das mit plastischer Chirurgie, danach wirst du immerhin diesen unappetitlichen Bruch los sein.« Lena hatte alles an Kraft und Mut, was noch in ihr gewesen war, zusammengekratzt und öffnete gerade den Mund zu einer giftigen Bemerkung, da fuhr die Klinge kurzerhand durch ihre gebrochenen Knochen und trennte sie von ihrem Arm. Erneut wünschte sie sich (den eigenen Tod) wenigstens das Bewusstsein verlieren zu können, doch der Schmerz hielt sie wach. Ein heiserer Aufschrei entfuhr ihr, mehr brachten ihre verbrauchten Stimmbänder nicht mehr zustande. Der Arm fiel von der Bank, erreichte jedoch nicht den Boden – immerhin war er am Handgelenk noch immer gefesselt. So baumelte er in gut anderthalb Metern Höhe über dem Boden und hinterließ dort eine blutige Spur. Tamias sah der Fontäne, die in hohem Bogen aus dem geschundenen Stumpf sprudelte, einige Sekunden lang zu, dann begab er sich wieder ins Undurchsichtige zu Lenas Seite. Ihr kam es wie eine Ewigkeit vor. Sie lag bewegungsunfähig auf dem massiven Holz, spurte deutlich, wie immer mehr Blut aus ihr entwich, ihre Sicht verschwamm ständig und klärte sich kurz darauf wieder, sie konnte weder wachen noch schlafen, die Welt verlor an Realität, wollte aber nie gänzlich verschwinden. Tamias nahm sie nur als schemenhafte Gestalt wahr, die an ihr vorbeihuschte, doch im nächsten Moment gaben ein stechender Schmerz und der Geruch verbrannten Fleisches ihrer Umgebung unangenehm scharfe Umrisse. Deutlich hörte sie Tamias’ Stimme: »Nicht, dass du mir zu früh verblutest…« Feuer hemmt die Blutung, dachte der Rest ihres Verstandes erschöpft. Er hält dich absichtlich am Leben. »Selbst die heutige moderne Welt«, sagte Tamias langsam, »wird noch von Angst beherrscht… Es ist sehr interessant zu sehen, wie gerade ein Mensch wie Sie, Doktor Neveu, der sein Geld damit verdient anderen ihre Ängste zu erklären und schlussendlich auszutreiben, doch im stetigen Kampf mit seinen eigenen lebt.« Geduldig entknotete er die Fesseln. »Wir machen jetzt einen kleinen Ausflug, Lena.« Im nächsten Augenblick wurde sie unsanft von der Bank gezogen und über den Boden geschleift; sie schloss ihr Auge und wartete ab. Als sie es wieder öffnete, sah sie schlammiges, braunes Wasser. Ein kalter Schauer überkam sie, zog Gänsehaut über ihren gesamten Körper, das einzige Wort, das ihr Verstand mit Müh und Not bilden konnte, war: Hafenbecken. Sie versuchte sich aufzurichten, doch der Schmerz in den Überresten ihres Armes nahm ihr jegliche Bewegungsmöglichkeit – hinzu kam die langsam schleichende Panik. Seit ihrer frühen Kindheit existierte eine für die Therapeutin selbst unerklärliche Angst vor den städtischen Hafenbecken, ein Blick aufs Wasser rief ihr furchtbare Bilder vor das innere Auge von dreckgefüllten Blasen, untergehenden Leichen, verdreckten Schädeln – oft hatte man ihr ans Herz gelegt, deshalb umzuziehen in eine Stadt ohne Hafen, doch der Ehrgeiz sich selbst zu behandeln war stets zu groß gewesen. Nun lag sie bäuchlings auf dem kalten Steinboden, beobachtete gezwungenermaßen die seichten Wellen unter ihr und musste feststellen, dass sie in allen Punkten gescheitert war. Sie drehte den Kopf nach links und sah Tamias neben ihr knien, drehte ihn nach rechts und sah Menschen – Menschen! Lena öffnete den Mund und schrie so laut sie noch konnte. Warum schreist du?, fragte eine kalte Stimme in ihrem Hinterkopf, während sie mit aller Macht und Verzweiflung um Hilfe brüllte. Du willst doch sowieso sterben. Doch erneut war die einzige Antwort, die ihr strapazierter Geist noch aufbringen konnte: Hafenbecken. Tamias versenkte seine Hand in ihren Locken und donnerte ihren Schädel gegen den Stein. Kurz brach ihr Schrei ab, dann begann sie erneut. Er zog ihren Kopf in die Höhe und presste sein kaltes Jagdmesser an ihre Kehle. »Sie hören dich nicht«, raunte er, als ihr Brüllen zu einem zweifelnden Röcheln abgeflaut war. »Sieh dich nur um, sie laufen vorbei und beachten dich nicht.« Lena tat wie ihr geheißen, sie bewegte den Kopf so gut es möglich war und erblickte zwei Mädchen, die laut lachend und mit Einkaufstüten bepackt geradewegs an ihnen vorbeistolzierten. Tamias grinste breit. »Ich habe dafür gesorgt. Niemand sieht uns, niemand hört uns. Wir können uns in aller Ruhe mit deinem allerletzten Ausblick beschäftigen…« Noch immer die Hand in ihren Haaren, wandte er ihren Kopf erneut dem dreckigbraunen Wasser zu. Lena wimmerte, Ich werde ertrinken, dachte sie, ertrinken, ich werde fallen, ich werde dort hineinfallen und ertrinken, in diesem (Hafenbecken) widerlichen (Hafenbecken) Wasser, ich werde – Dann hast du das alles endlich hinter dir, freu dich doch. Aber ich möchte nicht so sterben, nicht darin, doch nicht in diesem (Hafenbecken) ekelhaften (Hafenbecken)… Ich kann nicht! Es ist furchtbar, ich kann doch nicht… Nicht dort… Nein, bitte… »Angst ist es, was euch menschlich macht«, sagte Tamias leise. »Und Angst ist es, was euch sterblich macht.« Die Klinge des Messers durchtrennte mit einem einzigen präzisen Schnitt Lenas Kehle; kopfüber warf er sie vom Rand, das braune Wasser mischte sich mit rotem Blut, verfärbte sich augenblicklich dunkel. Kapitel 12: Ein Urteil für den Richter -------------------------------------- Lautlos betrat Tamias die Residenz der Angst. Er hoffte, Exanimatio persönlich noch beschäftigt anzutreffen und sich so an ihr vorbeischleichen zu können. Schwanzwedelnd und hechelnd kam ihm der Schäferhund Inferno entgegen, Tamias langte hinab und tätschelte ihm gedankenverloren den Kopf, behielt den dunklen Gang vor ihnen im Auge. Er wollte sich bloß so schnell wie möglich in seinen eigenen Bereich verziehen können, doch bereits im nächsten Moment wurde diese Hoffnung zunichte gemacht. »Hattest du Spaß, Tamias?« Er seufzte. »Ja«, antwortete er knapp. »Es wäre nicht nötig gewesen. Du sollst dich um diese Kinder kümmern, nicht ziellos Unwichtige umbringen.« Tamias vergrub die blutbefleckten Hände in seinen Hosentaschen und sah zu Boden. »Ich war etwas frustriert«, murmelte er. Dann erklangen Schritte im Dunkel. »Du handelst in letzter Zeit oft unüberlegt.« Ganz vorsichtig tat Tamias einen Schritt zurück. Seine Befürchtungen waren wahr geworden. Nach und nach löste sich ein Umriss aus den Schatten; Exanimatio hatte eine für ihn fast unerträgliche Gestalt angenommen: die seiner Schwester. Inferno brauchte ihr nur einen kurzen Blick zuzuwerfen, um sich gleich darauf winselnd und mit eingezogenem Schwanz in ein Nebenzimmer zurückzuziehen. »Benjamin wüsste nun bereits, wen ich äußerlich darstelle… Du hast sie an deiner Kindheit teilhaben lassen…« »Das war keine Absicht«, sagte Tamias hastig. »Das war ja auch Schwachsinn, aber ich war noch mitten in Vorbereitungen für ihren Empfang –« »Das weiß ich«, fuhr (seine Schwester) Exanimatio fort. »Dennoch war es ein Fehler. Christina Vince lebt noch. Lena Neveu hast du zum gegebenen Zeitpunkt nur überleben lassen, weil sie die Polizei hatte rufen können.« »Ich wollte bloß das Blutbad verhindern«, nuschelte Tamias. »Ich hatte doch gerade Charles Jarvis hinter mir und dann noch zehn dieser Polizisten umzubringen, das wäre doch nicht nötig gewesen…« »Neveu jetzt noch umzubringen, wäre auch nicht nötig gewesen. Du hast dich selbst nicht mehr unter Kontrolle, Richard Jarvis hättest du fast getötet. Überhaupt ist bei diesen Kindern die Wut viel größer als die Angst, du konntest nicht einmal die richtigen Emotionen bei ihnen auslösen. Du vernachlässigst deine Pflichten, Tamias, du lässt dich gehen.« Tamias schwieg. Bitter stellte er fest, dass er Angst hatte. Er wusste selbst, dass in den letzten Wochen nicht alles nach Plan gelaufen war. Und er wusste auch, was der Grund dafür war. (seine Schwester) Sie hatte es ja bereits erwähnt, diese Kinder … verhielten sich nicht normal, oder zumindest nicht so wie es ihm gepasst hätte. Natürlich hatte er eine gewisse Wut beabsichtigt, als er all ihr Familienleben durcheinander gebracht hatte, aber doch niemals so viel, dass Aggressionen die Angst übersteigen würden, die sie eigentlich vor ihm haben sollten. Sidney hatte er über Benjamin den Hinweis zukommen lassen mit seinem Wasser und Luc, ihrem Bruder, damit jedoch hatte er nicht erzielt, dass sie sich vor Wasser oder wenigstens vor schwarzem Wasser fürchtete, sondern langfristig viel eher, dass sie immer mehr Groll gegen ihn als Person entwickelt hatte. Hier saß sein grundliegender Fehler. »Dein ganzes Leben lang musstest du fortlaufen…« (seine Schwester) Sie stand nun unmittelbar vor ihm – und er unmittelbar vor einer Wand; grausame Erinnerungen sausten durch seinen Kopf. »Und nun fürchtest du dich … davor, dies nicht mehr zu können.« Tamias keuchte auf; tiefe, blutende Wunden waren an seinen Fußknöcheln erschienen. Seine Beine gaben nach, er kippte auf die Knie. »Nein«, flüsterte er. Die Hand seiner Schwester packte ihn mit eisernem Griff am Hals und zog ihn in die Höhe, zeitgleich breitete sich ein brennender Schmerz in seinen Oberschenkeln aus. Tamias schrie, er wand sich in den Fingern seiner Schwester und versuchte krampfhaft sich die Angst auszureden – Sie wird mich nicht zerstören, dachte er fieberhaft. Sie braucht mich (meine Schwester?), sie wird mir (meine Schwester braucht mich nicht) meine Beine lassen (sie hat mir nie irgendetwas gelassen), sie ist nicht meine Schwester! Er sah dunkle Lippen vor sich grinsen, braune Zähne und fauliger Mundgeruch belegten seine Wahrnehmung, lodernde Krämpfe in seinen Beinen vernebelten sein Denken, panisch stellte er fest, dass er sie nicht mehr bewegen konnte, dass er seine Beine nicht mehr bewegen konnte, seine Hände umklammerten krampfhaft das Handgelenk seiner Schwester, ein geröcheltes »Bitte« war das Letzte, was über seine Lippen kam. Sie ließ von ihm ab, seine Handflächen rutschten kraftlos von ihrem Arm, zuckend fiel er zu Boden. Er biss die Zähne zusammen um nicht zu schreien, verzweifelt versuchte er klar zu denken und die Panik endgültig aus seinem Kopf zu verbannen, sich einzureden, dass es noch nicht vorbei war, doch die quälende Gewissheit holte ihn immer wieder ein: Er würde nie wieder gehen (fliehen) können. »Du bekommst noch eine Möglichkeit dich zu beweisen, Richter«, sagte seine Schwester (Exanimatio). »Die berühmte letzte Chance. Es ist an der Zeit, die Kinder zu holen. Du wirst Benjamin und Richard töten und Sidney zu mir schicken, damit sie auf ihren Bruder warten kann. Gib dir Mühe, dann werde ich nachsichtig sein.« Sie verschwand. Tamias lag allein im dunklen Flur, die Augen starr gen Boden gerichtet, und wartete darauf, dass die Schmerzen abklangen. Zwei Pfoten erschienen in seinem Blickfeld, Inferno legte sich vor ihm auf den Bauch. In seinem Maul war ein Kinderschädel, der Hund blickte ihn erwartungsvoll an. »Ich kann jetzt nicht spielen, Kleiner«, sagte Tamias. »Später. Nicht jetzt. Sei so gut und bring mir bitte meine Verbandsrollen… Und dann hoff mit mir, dass ich überhaupt je wieder mit dir spielen kann.« Inferno blickte ihn einen Moment lang mit schiefgelegtem Kopf an, dann verstand er, ließ den Schädel fallen und rannte mit großen Sätzen in ein Nebenzimmer. Etwas später saß Tamias mit ihm und frisch bandagierten Knöcheln am Boden, den Rücken zur Wand. Eine Hand strich fast mechanisch über Infernos Kopf. »Ich werde bald versuchen, diese Kinder loszuwerden«, sagte er. »Du bleibst besser hier und wartest auf mich. Ich will nicht, dass die mögliche Strafe auch dich trifft, in Ordnung?« In seinen Beinen saß noch immer ein penetrantes Zwicken und Ziehen, doch es war auszuhalten – und, das Wichtigste, er konnte sie wieder bewegen. Wenn diese dummen Gören sich von ihm umbringen ließen, würde alles wieder zur Ruhe kommen. Kapitel 13: Angst ----------------- »Sagt mal, ist euch eigentlich auch die Sache mit unseren Träumen aufgefallen?« Sid runzelte die Stirn. »Was meinst du?« »Unsere Träume«, wiederholte Benny, »über unsere erste Begegnung mit dem Wichser. Ihr wisst schon…« »Ja, klar«, sagte Richie. »Schon kapiert. Was soll uns daran aufgefallen sein?« »Na ja. Sid hatte ihren in der Nacht nach Alecs Tod. Und du hattest deinen nach Lisas Tod. Und meiner war nach Doktor Neveus Tod. Was meint ihr, Zufall?« Richie zuckte mit den Schultern. »Als mein Onkel gestorben ist, hat keiner von uns geträumt, oder?« »Auch wieder wahr…« »Eigentlich ist das doch auch egal«, gähnte Sid. »Es tat im Endeffekt doch nichts zur Sache.« »Na ja, stimmt«, sagte Benny achselzuckend. »Ist mir nur letztens wieder eingefallen.« »Mir wär’s recht, wenn’s mir nie wieder einfallen würde«, murmelte Richie. Es hatte einige Zeit in Anspruch genommen, bis Sid und Benny weit genug verhandelt hatten, um ihn wieder besuchen zu dürfen. Die beiden hatten im Krankenhaus einen heftigen Zusammenstoß mit seiner Mutter erlebt, die sie unter Tränen angebrüllt hatte, ihr Sohn sei pausenlos in Schwierigkeiten, seit er mit ihnen herumzog. Dennoch hatten sie es sich nicht nehmen lassen, ihm kurze, nervöse Besuche abzustatten – und es waren diese Besuche, die ihn endlich zum Sprechen gebracht hatten. Polizisten, Ärzte und Eltern hatten sich die Zähne daran ausgebissen etwas über Täter und Geschehen in Erfahrung zu bringen, doch der junge Richie Jarvis wollte und wollte den Mund nicht aufmachen. Als jedoch den Schwestern aufgefallen war, dass zu den Besucherzeiten leise Gesprächsfetzen aus seinem Zimmer drangen, die nicht von Elternteilen stammen konnten, war Benny und Sid von allen Seiten verziehen worden. Zwar verschwiegen auch sie sämtliche Informationen über die Tat, doch zur Erleichterung aller hatten sie bewiesen, dass Richie weder an Stimm- noch an Gedächtnisverlust litt. Nun war es bereits Monate her, dass man ihn aus dem Krankenhaus entlassen hatte. Als die Schule wieder begonnen hatte, hatte man eilig Sonderunterricht für ihn organisiert und Sid zu Benny in eine Klasse gequetscht. Schon bevor man Lena Neveus Leiche im Hafen gefunden hatte, hatten die Morde aufgehört. In der Stadt war nach und nach wieder Ruhe eingekehrt, nur die Ausgangssperre wollte die Polizei noch aufrecht erhalten, bis sie den Täter gefasst hatte, was die drei Freunde bloß mit einem müden Lächeln in Kenntnis genommen hatten. Sobald Benny und Sid die Erlaubnis bekommen hatten, sich um ihn zu kümmern, hatte Richie sich erstaunlich schnell erholt. Sie verbrachten viel Zeit zu dritt in seinem Zimmer und lasen sich gegenseitig aus Büchern vor, da der Fernseher laut Richies Befehl aus dem Raum verbannt worden war. Es war Samstagvormittag, Benny und Sid lagen nebeneinander auf der Doppelmatratze neben Richies Bett, auf der sie übernachtet hatten; Benny las aus seiner eigenen Geschichte, da unterbrach ihn Richie: »Wart mal gerade.« Er gestikulierte in die Richtung seines Fensters. »Regnet es?« Sid, noch im Halbschlaf, weigerte sich seit Minuten die Augen zu öffnen. »Glaub nicht«, nuschelte sie. »Moooment…« Über Bennys Gesicht zog sich langsam ein breites Grinsen, mit vor Begeisterung glänzenden Augen setzte er sich auf und begann Sid zu rütteln. »Es schneit!« Richie lachte. »Echt?« Nun hob auch Sid den Blick zum Fenster, mit einem Jauchzen riss sie die Arme in die Höhe. »Echt!«, rief sie und sprang gleichzeitig mit Benny auf die Beine. »Das muss gefeiert werden, los, raus mit dir in den Garten!« Sie hatten keine Zeit sich umzuziehen; kaum eine Minute später standen sie jeweils in Schlafshirt und Boxershorts auf der Terrasse hinter dem Haus, breit grinsend. »Leute?«, machte Benny, nachdem er einige Sekunden lang prüfend mit einem ungebundenen Chuck im dünnen Schnee gescharrt hatte. »Welchen Monat haben wir eigentlich?« Richie und Sid prusteten, verpassten ihm synchron einen Klaps auf den Hinterkopf. »Juli!«, antwortete Sid sarkastisch. »Oktember«, grinste Richie. »Ich mein’s ernst.« Benny schob gespielt schmollend die Unterlippe vor. »Ich hab keine Ahnung.« »Das war uns auch davor schon klar«, sagte Richie feixend. Benny verdrehte die Augen. »Schon gut, ich hab jetzt verstanden, dass ich doof bin. Könnt ihr mir trotzdem sagen…?« »Ich glaube, ab nächstem Mittwoch haben wir Dezember«, sagte Sid, »oder so.« »Du klingst, als hättest du auch nicht viel mehr Schimmer als ich«, grummelte er. »Jaah, aber ich kann das besser verstecken.« In einem gespielten Anflug von Tränen verzog Benny das Gesicht. »Niemand hat mich lieb…« »Ach, Benny, jetzt halt doch mal die Klappe«, lachte Richie. »Sag mir lieber, wie hoch der Schnee steht.« »Blödhammel«, antwortete Benny mit hochgezogenen Brauen. »Klappe halten und reden is’ ganz schlecht, weißt du. Wo hast du nur dein Gehirn?« »Weiß nicht. Kann’s nicht sehen.« Ohne Zögern brachen die drei in erneutes Gelächter aus. Witze über Richies Blindheit waren schon längst kein Problem mehr und selbst wenn er sie eigens machte, war keine Spur von Bitterkeit mehr darin zu entdecken. Bereits im Krankenhaus hatte er verkündet, dass es gar nicht so schlimm war wie erwartet, wenn man versuchte sich daran zu gewöhnen; als Benny und Sid ihm eine dunkle Sonnenbrille mit flammenden Verzierungen an den Bügeln geschenkt hatten, um die Verätzungen zu verdecken, hatte er behauptet, sogar erste »riesige« Vorzüge daran zu entdecken. Mit einem Blick gen Boden zog Sid die Schultern hoch. »Also, hoch liegt er noch nicht, der Schnee. Aaaber … hoch genug, um eine Schneeballschlacht zu beginnen!« Nur wenig später erbot sich Passanten am Gartenzaun der Jarvis’ ein amüsierendes Spektakel. Richie hatte mit seinem Blindenstock einen großen Haufen Schnee zusammengescharrt, den Benny freudig nutzte, um Sid zu bombardieren. Es dauerte nicht lang, bis sie alle drei zitterten und die lachenden Münder von blauen Lippen umrandet waren, standen sie ja alle bloß mit Schlafanzügen und ungebundenen Turnschuhen bekleidet im Garten, doch das störte sie nicht. Sid entwich ein lautes Fiepen, als ein dicker weißer Ball sie im Genick traf, »Benny!«, rief sie strafend und drehte sich um. Doch Benny hob kopfschüttelnd die Hände. »Ich war das nicht. Glaub mir, der Sonnenbrille-im-November-Mann hat dich erwischt.« »Auch ein blindes Huhn trifft mal eine Sid«, grinste Richie, der sich eindeutig selbstgefällig auf seinen Stock gelehnt hatte. »Nein, ehrlich? Also, das interessiert mich jetzt.« Sid sprang zu den Jungen und drückte Richie einen weiteren Schneeball in die Hand. »Der Baum hinter der Gartenmauer, weißt du, wo der steht?« »Sicher.« Richie holte aus. »Hey, klasse, du zielst auf dein Zimmerfenster«, witzelte Sid. »Stimmt doch gar nicht.« Benny tat empört. »Das ist das Nachbarhaus.« »Ihr Möchtegernfieslinge…«, sagte Richie leise. »Ich hab euch etwas meilenweit voraus. Ich hör nämlich den Schnee hinter uns auf die Dächer fallen.« Er holte noch etwas weiter aus und schleuderte den Schneeball dann geradewegs gegen besagten Baumstamm. Benny hob eine Augenbraue. »Nicht schlecht. Ich hör nix.« »Weniger laute Musik, Gartenstuhl«, sagte Richie, hob zwei Hände voll Schnee auf und schob sie unter Bennys Hemd, »und mehr Säure.« Lachend schüttelte Sid den Kopf. »Wir sind krank.« Eine Viertelstunde später war sie tatsächlich krank. Schniefend und heiser war sie ins Haus zurückgekehrt, Richies Mutter hatte sich ein fast zufriedenes »Tja« nicht verkneifen können, als sie ihnen warmen Kakao und Decken gebracht hatte. Nun saßen sie im Dreieck auf dem Boden und hörten Musik, Richie trommelte nach eigenen Aussagen zum Takt der Kuhglocke gegen seine Tasse (die anderen beiden konnten nirgends etwas wie eine Kuhglocke heraushören) und Benny rutschte immer weiter an Sid heran. »Huste mich mal an«, forderte er. »Ich muss krank werden, damit ich am Dienstag die Englischarbeit verpassen kann.« »Nichts da«, näselte Sid. »Du gehst da schön hin.« »Ach, und du darfst dann die Streberin spielen und mitschreiben, obwohl du klingst wie ein Elefant mit Asthma?« »Du darfst dann auch von mir abschreiben…« Benny schnaubte. »Das bringt mir doch auch nix.« Während die beiden sich zankten, lehnte Richie sich grinsend in die Kissen zurück. Die guten, alten Zeiten kamen wieder… Tamias hatte alles vorbereitet. Er hatte den Innenraum der Hütte vergrößert und mit schwarzen Kunststoffwänden in drei Teile gespalten. Am entscheidenden Montagnachmittag war längst alles an seinem Platz; die Säure war da, das Wasser war da, die Spinnen waren da. Inferno war nicht da, Exanimatio wartete persönlich unter der Wasseroberfläche. Die Wunden an seinen Beinen waren so gut wie verheilt, nur an seinen Fußknöcheln war noch etwas Schorf übriggeblieben. Zwischen ihm und (seiner Schwester) Exanimatio war Stille eingekehrt, doch die Erinnerung an Lähmung und Schmerz verfolgten ihn noch immer. »Keine Fehler heute«, murmelte er und begab sich auf den direkten Weg zu Benjamin und Sidney. »Kommt her in meine Arme…« Wie geplant fand er sie noch auf dem Nachhauseweg von der Schule, und nahm die gleiche Isolation vor wie bei Lena Neveu. Nach kurzem Prüfen seines Gelingens nickte er. Es konnte beginnen. Er legte ihnen jeweils eine Hand auf die Schulter; synchron drehten sie sich um. Für einige Momente lang herrschte völlige Stille, große Augen starrten zu ihm hoch, Körper begannen langsam zu zittern. »Tamias«, hauchten sie unisono, und direkt darauf: »Scheiße.« »Ihr seid herzlich eingeladen«, grinste Tamias, während er in vollsten Zügen die Angst in ihnen genoss. Zurück im Wald legte er die Bewusstlosen in die für sie vorgesehenen Räume. Er fuhr sich durch die Haare und ließ den Blick kurz schweifen, im Versuch das quälende Gefühl der Selbsthetze abzuschütteln. »Tu einfach, was du am besten kannst«, nuschelte er bitter. »Hol den Blinden ab und mach die Nervensägen fertig.« Richie konzentrierte sich auf die Geräusche. Bis eben war er ohnmächtig gewesen, doch seit seinem Erwachen war es furchtbar laut. Am penetrantesten war das Wummern seines eigenen Herzens, deckungsgleich mit pulsierendem Blut zwischen seinen Schläfen. Er hörte seinen mechanischen Atem, rasselnd, schwer, jeden einzelnen Schritt, den er auf unbekanntem Boden machte. Was war noch da? Rechts von ihm, rechts waren Geräusche. Ein Schaben, ein Trappeln wie von tausend kleinen Beinen, Klicken und Klappern, Klappern und Klicken… Was war das? Wo war das? Mit einem Mal ertönte ein markerschütterndes Brüllen, das Richie sofort zu identifizieren wusste: »Benny!« Augenblicklich spürte er, wie Panik in ihm hochstieg, Benny war hier, Benny hatte Angst und Benny litt, wo war er? Richie streckte die Hände aus, er musste mehr herausfinden, er musste einen Ausweg suchen, er musste helfen! Eine glatte Fläche. Eine glatte Fläche. Seine Finger berührten eine glatte Fläche. Vier Wände, eine aus Holz. Eng an ihm. Er hatte keinen Platz und er wusste nicht, wo er war. Er konnte nichts sehen. Seine Finger berührten eine glatte Fläche, eine glatte Fläche, glatte Fläche… Er musste doch wissen wo er war, er musste es erfühlen können, er musste wissen wo er war! Er konnte nicht herauskriegen wo er sich befand, doch er hatte kaum Platz, er konnte sich nicht bewegen… Richie schrie. Hey!, bellte eine laute, dröhnende Stimme in seinem Kopf, die selbst seine eigene übertönte. Richie verstummte sofort. Halt dich mal zurück, du Weichei. Du kannst Benny nicht helfen, indem du dir die Stimmbänder ruinierst, da sind wir uns doch einig, oder? Du musst handeln, Volltrottel, handeln! »Wie denn?«, flüsterte Richie heiser. »Wie soll ich handeln, was soll ich tun?« Na, das einzige, was du kannst eben. Fein, wir wissen jetzt, dass hier Wände sind, und dass sie verdammt nah sind, wissen wir auch, aber das wird jetzt geflissentlich ignoriert, kapiert? Auch die Geräusche von nebenan. Ich weiß, du hörst ihn immer noch, aber du musst was tun. Du bist doch eben mit dem Fuß irgendwo gegen gestoßen, was war das? Taste doch die Einrichtung ab, wenn du schon an den Wänden nichts findest. Richie bezweifelte, dass dieser Raum überhaupt Einrichtung besaß, doch diese merkwürdige Stimme hatte Recht, irgendetwas musste er versuchen. Erneut streckte er die Hände aus. Und tatsächlich war da etwas, es war ebenfalls glatt, aber anders als die Wände, ein anderes Material… Er tippte auf Glas. Da stand also eine Kommode aus Glas… Warum in aller Welt sollte in einem sonst völlig leeren Raum mittendrin ein hüftgroßer Quader aus Glas stehen? Zerschlag es, wisperte die Stimme. Es ist nicht massiv, es ist fragil, zerschlag es! Vielleicht ist etwas darin. Richie beschloss, nicht weiter nachzufragen. Entweder war es eine Falle, oder sein einziger Ausweg. Wie hatte Benny noch gesagt? Mehr als Sterben kannst du ja nicht. Er zog einen Ärmel über seine Hand und hielt den anderen Arm schützend vor sein Gesicht. Langsam holte er aus, amtete tief durch, schlug zu. Augenblicklich stieg ihm ein beißender, furchtbar vertrauter Geruch in die Nase – Aceton. Richies gesamter Körper verkrampfte sich, er bemühte sich mit aller Macht klar zu denken, Vernunft und Panik lieferten sich ein hektisches Gefecht in seinem Denken, brachten alles andere zum Stillstand. Okay (Säure), dann ist hier also Aceton (Säure) in diesem Raum (mit mir)… In diesem Glaskasten drin (ich hätte mir beim Zerschlagen die ganze Hand zersetzen können), das bedeutet aber nur, dass (er mich weiter verätzen will) ich jetzt seinen Vorteil zum Nachteil machen kann. Ich hab jetzt die Säure, nicht er. Während er vorsichtig Scherben aus seiner Hand zog, überlegte er angestrengt, inwiefern ihn das weiterbringen könnte. Aceton (Säure) konnte (mich blind alles dunkel machen) kein Holz zerstören (aber meine Augen), das wusste er. Aber woraus die anderen Wände bestanden, hatte er nicht ertasten können. War es wirklich möglich, dass das funktionieren konnte, war es intelligent, den Versuch zu wagen? Hast du noch viel Zeit, hast du eine Wahl? Verneinend schüttelte Richie den Kopf. Ein letztes Mal orientierte er sich an der unbekannten, glatten Oberfläche, dann griff er den Glasbehälter von den Überresten der zertrümmerten Anrichte vor ihm und schleuderte dessen Inhalt in die Richtung der Wand. Sid öffnete die Augen. Schloss sie, öffnete sie wieder. Schloss sie. Öffnete sie. Nichts änderte sich. Alles blieb unverändert. Dunkel. Sie tastete mit den Händen den Boden um sie herum ab, bevor sie sich mit aller Vorsicht aufrichtete. Er war glatt und völlig eben, nicht das kleinste Staubkorn war darauf zu spüren. Sid drehte sich einmal um die eigene Achse, jedenfalls hoffte sie, dass es wenigstens halbwegs dreihundertsechzig Grad gewesen waren und sie noch am selben Fleck stand. Sie wartete, dass ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen und Umrisse erkennen würden – vergebens. Zitternd streckte sie die Arme aus, taumelte vorwärts und von rechts nach links, versuchte Wände auszumachen, sich irgendwie zu orientieren… Schwärze. Undurchdringliche, dunkle, finstere, unheilvolle, bedrohliche Schwärze. Was war vor ihr? Was war neben ihr? Was (wer) war hinter ihr? Wer war hinter ihr? Wer beobachtete sie? Wer streckte kalte, tote, unbarmherzige Hände nach ihr aus? Wer war hinter ihr? Sid schrie. Es war nur ein einzelner Schrei, doch er zog sich in die Länge, bis ihre Stimmbänder nachgaben, zwang sie in die Knie, ließ sie zusammensinken, zu einem winzigen Häufchen Angst in diesem riesigen, grenzenlosen, schwarzen Raum. Wie lang hatte sie es nun geschafft, diesen zur Paranoia mutierten Kinderalptraum zu verdrängen? Es mussten Monate gewesen sein, fast Jahre… Und dennoch hatte sie es immer gewusst, dennoch hatte sie es ewig im Hinterkopf behalten, dennoch hatte sie diese eine festgebrannte Gewissheit nie verbannen können: Jemand lauerte in der Dunkelheit. Sobald das Licht gelöscht wurde, verfolgte sie jemand, auf Schritt und Tritt, überallhin. Sie hatte nie gewusst, ob sie sein einziges Ziel war, doch das war ihr auch egal gewesen. Jemand verfolgte sie im Dunkel. Und jemand war nun wieder bei ihr. Sie war umgeben von dichtem Nichts, es gab kein Licht, keinen Schatten, nicht einmal Geräusche. Es gab nur sie, ihre Furcht vor dem unbekannten Jemand und das quälende, schwer definierbare Gefühl der seltsamen Leere in ihrem Rücken… Das Gefühl, dass dort etwas fehlte, was dort eigentlich hingehörte, oder aber dass dort etwas war, was eben nicht dorthin gehörte – Sid hatte nie vermocht es zu beschreiben. Es war bloß das Gefühl im Rücken. Und es signalisierte ihr, dass die Schwärze sie bedrohte. Dass sie nicht alleine war. Ein Geräusch zerriss die Stille wie Papier. Platschen, ohrenbetäubendes Platschen, wie von Tausenden flachen Entenfüßen, die auf Wasser trafen, es hallte an Wänden, Decke und Boden wider, erfüllte den gesamten Raum. Verschreckt hob Sid den Kopf, in ihren Schläfen machte sich ein regelmäßiges, stechendes Pochen bemerkbar, ihre Eingeweide zogen sich schmerzlich zusammen. Wasser… Hier irgendwo war Wasser und hier irgendwo waren Tiere, war Leben. Nur wo? Verzweifelt versuchte Sid die Quelle der Laute auszumachen, doch sie echoten so dröhnend und verteilt um sie herum, dass es unmöglich schien, sie zu finden. Ohne nachzudenken, vom letzten Funken Hoffnung erfüllt, schob sich Sid auf die Beine, tastete vergebens nach einer Möglichkeit sich abzustützen, und taumelte vorwärts. Tatsächlich kam sie dem stetigen Platschen näher, doch es fiel ihr schwer, sich darauf zu konzentrieren. Viel mehr spürte sie, wie sie nach ihr griffen, wie die Schatten ihre langen, dünnen Arme nach ihr ausstreckten, ihr folgten, sie von allen Seiten bedrängten, sie stolperte wimmernd über ihre eigenen Füße im Versuch ihnen zu entkommen, doch die panische Angst vor den Geheimnissen der Dunkelheit verbot ihr jegliche Flucht. Der Schritt ging ins Leere. Der Boden verschwand unter ihren Füßen. Der Augenblick verging in Zeitlupe. Die Welt hörte auf sich zu drehen. Sids Herz hörte auf zu schlagen. Und im nächsten Moment fiel sie. Wasser schlug über ihrem Kopf zusammen, Luft wurde aus ihrer Lunge gepresst und konnte nicht mehr eingeatmet werden – Sids Augen erblickten Licht. Salziges Wasser brachte ihnen Tränen und Schmerzen, doch sie wollten nicht geschlossen werden. Zu bizarr war das Bild, was sich ihnen bot. Über ihr schwappte die Oberfläche in reger Bewegung, die Dunkelheit war seit Sids Sturz komplett gewichen. Sie sah deutlich eine Zimmerdecke weit weg, Blumen und Seerosen schwammen auf dem Wasser, ein Kormoran tauchte an ihr vorbei (Hilfe) und (lässt mich ertrinken) sah sie bloß stumm aus schwarzen Augen an (Hilfe), verschwand dann (Hilfe) im dunkelbläulichen Nichts. Dort, wo eigentlich (Hilfe) der Grund hätte sein müssen, schien das Wasser (Hilfe) einfach aufzuhören, einen unsichtbaren Rand zu (Hilfe) finden, auf den Sid unweigerlich (hilflos) zusank. Und unter diesem Rand (Hilfe!) stand eine Person (Hilfe HILFE!), sie war vollends (HILFE!) vermummt von einer schwarzen Kutte – mit Entsetzen (Hilfe irgendwer) stellte Sid fest, dass er das sein musste, dass (mir niemand hilft) das dieser Jemand sein musste (irgendwer muss), der sie seit Jahren in der Dunkelheit (mir helfen) verfolgte; nun hatte er sie endlich in seiner Hand (Hil), nun war sie ihm restlos ausgeliefert (fe), er wartete nur noch auf sie (HILFE!) – Sid strampelte und schlug um sich, wollte mit aller Macht zurück an die rettende Wasseroberfläche, sie versuchte vergebens den Atemreflex zurückzuhalten, Wasser strömte in ihre Lunge, farbige Kreise und Formen ploppten vor ihren Augen auf, bevor sie sie schloss. Salz brannte in jeder Pore ihres Körpers, sie erschlaffte mehr und mehr, spürte mit einem letzten Rest dumpfer Panik wie sie herabgezogen wurde, in seine Arme. Ihr rechtes Augenlid flatterte ein letztes Mal hoch, erneut schwammen Kormorane direkt an ihr vorbei; Sid verfluchte sie innigst für ihre Boshaftigkeit, mit der sie sie untergehen ließen, bevor sie das Bewusstsein verlor. Benny war als Erster wieder zu sich gekommen. Eine Stimme hatte ihn geweckt. Mittlerweile saß er zitternd auf dem Boden, den Rücken an eine Wand gedrückt, und starrte hoch zu Tamias, der grinsend über ihm stand. »Du darfst dich geehrt fühlen«, hatte er soeben verkündet. »Du bist der Erste auf meiner Liste.« Bennys Augen weiteten sich in Todesangst, er schluckte schwer. »W-Was… Was hast du… Was wirst du…« Tamias lachte leise. »Beruhige dich«, sagte er. »Ich werde dir erzählen was ich vorhabe, keine Sorge. Ich werde dich töten. Doch zuerst…« Er ging vor Benny in die Hocke, eiskalte Augen bohrten sich in die seinen, das diabolische Züge annehmende Grinsen, das blasse Gesicht kam ihm gefährlich nahe. »Zuerst werde ich dir zeigen was Angst bedeutet, was deine eigene, innere, tiefe Angst bedeutet. Schließe deine Augen, Benjamin.« Einen Moment lang zögerte Benny, doch die immer bedrohlichere Wirkung dieses Blickes ließ ihn jeglichen Widerstand vergessen. Ein Schaudern durchlief seinen gesamten Körper, widerwillig sanken seine Lider. Einige Sekunden lang geschah nichts. Es trat langsam in sein Bewusstsein, das Kribbeln und das Jucken, es schlich sich nur nach und nach in seine Wahrnehmung. Dann jedoch spürte er es deutlich, sie waren an seinen Beinen, seinen Armen, seinem Rücken – er schüttelte sich, kniff die Augen fest zu, lange an seinen Knöchel, sich zu kratzen und hielt im nächsten Moment etwas Kleines, spärlich Behaartes in der Hand. Nun erlaubte er sich selbst wieder Sicht, und zunächst konnte er nichts erkennen – bis sich sein Hosenbein eindeutig bewegte. Und langsam, ganz langsam begriff er. Sein gelähmter Verstand konnte das Wort erst nach mehreren Anläufen bilden, wollte es erst nicht wahrhaben, was das war, was da dieses Kribbeln verursachte, was das war, was sich da unter seiner Kleidung so hastig bewegte, was das war, was sogar hinter ihm an der Wand ohrenbetäubende Geräusche von sich gab: Spinnen. Durch ein Loch im Knie seiner Hose kletterte ein großes, dunkelbraunes Exemplar auf Bennys Oberschenkel. Für Sekundenbruchteile hatte er nur ein entsetztes Starren dafür übrig, dann hob er mit aller Vorsicht seinen spinnenbesetzten Arm, um es zu greifen und so weit wie möglich von sich zu schleudern – Er hielt in der Bewegung inne. Beine. Acht Beine. Acht Beine auf seinem Nacken. Zähne, Beißwerkzeuge. Zähne in seiner Haut, Beißwerkzeuge schabten darum. Gift… Gift … in seinen Adern. Benny schrie. Er kippte auf die Seite und wälzte sich hin und her, versuchte die Tiere einfach zu plätten, trieb sich dadurch noch mehr winzige Zähne in die Haut, er strampelte und schlug blind um sich, ersparte sich dadurch in seiner Panik das Bild, das sich nun in der Blockhütte entfachte. Hunderte, Tausende von Spinnen überschwemmten den Holzboden, eine einzige schwarze Masse bewegte sich in konstanten Wellen auf Benny zu, kesselte ihn von allen Seiten ein, Spinnen kamen von den Wänden, Spinnen kamen aus den Schlitzen des Bretterbodens, Spinnen seilten sich von der Decke ab, Spinnen kletterten über Spinnen, nur mit einem Ziel: Benjamin Vince. Sein Schrei brach abrupt ab, als seine Mundhöhle gefüllt war mit kleinen felligen Körpern. Er gab ein röchelndes Würgen von sich, spuckte so viele er konnte wieder aus, krümmte sich, zitterte, brach kraftlos in sich zusammen. Tamias hatte sich während des Schauspiels in den Schatten der Hütte zurückgezogen; nun trat er wieder vor. Unschlüssig musterte er den Jungen am Boden. Er hatte aus Richard Jarvis’ Raum deutlich ein Klirren hören können; war es möglich, dass der Junge absichtlich die Säure freigesetzt hatte? Mit einem Seufzen rieb sich Tamias die Schläfen. Er wusste, er sollte der Sache eigentlich nachgehen, doch zunächst wollte er das mit Vince beenden. Durch einen Wink seiner Hand verschwanden die Spinnen. Ihr Gift war nicht tödlich gewesen, bloß ein leichtes Nervengift, damit Benjamin es in seiner Blutzirkulation hatte spüren können. Sterben würde er viel schneller, durch ein eigens präpariertes Gemisch. Ein paar Schmerzen, Atemstillstand, und es würde vorbei sein. Tamias senkte gerade die Hand in seine Hosentasche, um die entsprechende Spritze zu ziehen, als hinter ihm die Kunststoffwand zersprang. Er wirbelte herum, reflexartig holte er sein Messer aus dem Gürtel hervor. Tatsächlich stieg der blinde Richard Jarvis aus dem Loch in der Wand, eine Hand in ein blutiges Taschentuch gewickelt, das Gesicht ein einziges Gemisch aus Angst und Entschlossenheit. In seiner Linken hielt er den leeren Acetonbehälter. »Richard«, sagte Tamias, so ruhig wie er nur konnte, »Richard, Richard… Ich nehme an du bist hier, um den Retter zu spielen?« »Lass meine Freunde in Ruhe«, sagte Richie leise. Nun senkte auch Tamias die Stimme. »Hältst du das wirklich für klug? Du kannst nichts sehen… Und ich verfüge über Mächte, die du dir kaum ausmalen kannst.« Darauf wusste der Junge offenbar keine Antwort, er schwieg; die gesamte Hütte schien zu vereisen. Er und Tamias standen sich gegenüber wie zwei alte Erzfeinde, beide Köpfe gesenkt, beide Haltungen voller Erwartung bis aufs Äußerste angespannt, beide Atmungen tief und betont ruhig, in beiden Händen drehend die Waffen, die ihnen blieben. Jarvis schien nun endgültig zu zögern, Tamias sah dies als seine Chance. Ein gezielter Schlag und er wäre wieder außer Gefecht; die Säure war weg, sei’s drum – die Kehle würde er ihm trotzdem noch durchschneiden können. Überraschend fest schloss sich Bennys Hand um seinen Fußknöchel. »Hey, Arschloch… Hast du dir wehgetan?« Tamias hatte noch Zeit zu verstehen, dass Vince von dort unten seine Wunden sehen konnte, dann wurde er mit einem Ruck von den Füßen gezogen. Er drehte sich im Fall, landete hart rücklings auf dem Boden. Seine Finger schlossen sich fest um den Messergriff, er machte Anstalten wieder aufzustehen, doch Vince war tatsächlich schneller. Jeweils einen Fuß auf Tamias’ Unterarmen, blickte er auf ihn hinab, eine durch Bisse und Verletzungen verzerrte Maske der Wut. Er atmete schwer, seine teils geschwollenen Lippen verzogen sich zu einem zitternden, humorlosen Grinsen, seine Stimme war rau und verachtend - »Ich könnte dir jetzt ins Gesicht scheißen, Wichser.« Tamias schenkte ihm ein kurzes, sarkastisches Lächeln, holte aus ihn von sich zu treten, da splitterte der Glasbehälter an seinen Schienbeinen. Mit aller Macht unterdrückte er einen Schmerzensschrei, erblickte Richie Jarvis – den Jungen, der durch seine Hand erblindet war – schief grinsend auf ihn zuschlendern. Erneut ertönte Bennys erschöpfte Stimme über ihm, ein minimales Lachen war darin zu hören. »Wir haben mit ihm Werfen geübt, weißt du, Wichser… Er ist der beste blinde Schneeballwerfer des gesamten Universums. Deine blöde Säure hat nichts bewegt, Wichser. Nichts.« Sein Kopf schaltete quälend langsam, er war noch auf der Suche nach einer bissigen Antwort, als wiederholt ein brennender Schmerz durch seine Beine raste. Der blinde Junge war auf seine Knie gesprungen. »Ups«, machte Richard leise, bewegte seine Füße dabei malmend hin und her. »Das wollte ich nicht, hab ich dich etwa getroffen? Tut mir furchtbar leid, aber ich kann mich ohne Augen so schlecht koordinieren.« Benjamin Vince lachte heiser. »Sowas Dummes. Aber warum liegst du auch so im Weg, Wichser?« Tamias’ Atem ging schwerer, er zwang sich selbst, klar zu denken. Er brauchte (Beine) eine Bestandsaufnahme. Die beiden (Beine) Jungen waren (zerstört) frei, aber beide verwundet (meine Beine)… So sehr er sich bemühte, über mehr kam er nicht heraus, während dieser Junge unaufhörlich auf seine wohlgehütetsten Heiligtümer einprügelte, drehte sich sein resignierender Verstand bloß stumpf und panisch im Kreis: Meine Beine schmerzen – meine Beine sind verletzt – sie haben meine Beine verletzt – sie schmerzen – meine Beine schmerzen – ich kann sie nicht bewegen – ich kann mich nicht bewegen (warum nicht?) – ich schaff es nicht (warum wehrst du dich nicht?) – Exanimatio – Angst (Tamias warum) – ich habe Angst – ich kann nicht mehr arbeiten – Angst – aufgeben – Strafe – sie wird mir Inferno nehmen (also wehr dich) – sie wird mir alles nehmen – ich habe verloren – nicht mehr Herr der Sache – Ich gebe auf. Tamias schloss die Augen. Es war vorbei, er hatte die Kontrolle verloren. Er wusste es und Exanimatio wusste es auch. Jeglicher Kampf hatte keinen Sinn mehr. Zum ersten und letzten Mal öffnete der den Mund und stieß aus voller Kehle einen markerschütternden Schmerzensschrei aus. Richies Tritt ging ins Leere. Bennys Füße kamen auf dem Boden auf. Aus dem Nebenzimmer ertönte ein dumpfer Schlag. Ratlos hob Richie den Kopf, setzte an zu fragen, doch Benny kam ihm zuvor. Er las laut, was mit SEINEM Verschwinden auf dem Boden unter seinen Sohlen erschienen war: »Von Angst zerfressen.« *** Krachend fielen die Wände innerhalb der Hütte nieder. Sid lag bäuchlings auf dem Boden, ihr Atem ging flach. Als sie ihr Bewusstsein wiedererlangte, setzten in Benny Zuckungen und Krämpfe ein, durch das Gift der Spinnen. Schwach wankte sie zu den Jungen, schaffte es schließlich Richie zu beruhigen, der krampfhaft versucht hatte zu verstehen, was geschah, und hielt dann minutenlang mit ihm Benny in den Armen, gemeinsam schützten sie ihn vor Aufprallen auf dem Holz, sprachen so gut es ging mit ihm, bis die Wirkung abflaute. Er schwamm bloß zwischen Wachsein und Ohnmacht, als sie ihn zusammen aus der Blockhütte und dem Sperrgebiet trugen, am Waldrand gaben schlussendlich alle Beine nach. Ein Aufseher fand sie kurz darauf im Halbschlaf im Gras liegen, weckte sie erst mürrisch, bis er auf ihre Verfassung aufmerksam wurde. Er rief einen Krankenwagen und ließ sie abtransportieren. Es war ähnlich wie Monate vorher, die ganze Welt schien wissen zu wollen, was ihnen passiert war, doch das Trio schwieg beharrlich. Untereinander hatten sie längst von ihren Erlebnissen berichtet – und danach kein Wort mehr darüber verloren. Wann immer sie an die Geschehnisse erinnert wurden, taten sie den Gedanken einstimmig mit einem Lächeln ab. Sie hatten es geschafft. Epilog: EHARC ------------- Schwärze beherrscht den Raum, den Sie beobachten. Sie, werter Leser, hätten hier nun eigentlich empfangen werden sollen, um vom Richter über das Ende der Geschichte Sid Wilcox’ und ihrer Freunde unterrichtet zu werden; aber nichts lief wie geplant. Als Ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, erblicken Sie in einer Ecke der winzigen Kammer ein kleines dunkles Bündel; es hat etwas Menschliches an sich, jedoch ist weder von einem Kopf noch von Füßen etwas zu erkennen. Man könnte es einfach für einen Haufen zusammengeworfener Kleidung halten, würde es sich nicht minimal bewegen. Wenn Sie nun sehr still sind und ganz genau hinhören, werden Sie sogar Laute wahrnehmen können. Und langsam begreifen Sie, was dort am Boden vor sich geht: Jemand kauert in diesem zitternden Knäuel von Stoffen und Haaren, wippt immer wieder vor und zurück – und was sagt dieser Jemand? Hören Sie angestrengt hin, konzentrieren Sie sich. Können Sie es verstehen? »Nein… Nein… Nein… Nein…« Nur eine Silbe und doch so viel Aussagekraft. Nun, wir haben mit Sidney Wilcox, Richard Jarvis und Benjamin Vince gelernt, wie viel Worte entscheiden können, nicht wahr? Und dieses armselige Häufchen hier hat mit seinen verzweifelten, resignierten Worten soeben entschieden, dass sich Mitleid in Ihnen zeigt, lieber Leser, vielleicht sogar Sorge. Doch noch während Sie überlegen, ob Sie der armen Kreatur helfen sollten oder nicht, verschwimmt Ihre Sicht. Der Raum entfernt sich wieder, er verliert an Schärfe, nur das Wesen an seinem Boden ist trotzdem noch deutlich zu sehen. Denn jetzt tut sich etwas vor Ihren Augen: Während dieses Bild mehr und mehr schwindet, erscheinen langsam – ganz langsam – Buchstaben an der Wand über dem Bündel, leuchtend rote, schmierige Lettern beflecken die dunkle Wand, während die Stimme des Wippers immer lauter wird; »Nein, nein, nein, NEIN, NEIN!«, brüllt er, und über ihm bildet sich, schließlich und schlussendlich, ein Wort: EHARC Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)