Kindheitserinnerungen von Corvin-Phelan (Damals und Heute) ================================================================================ Flughäfen --------- Er hasste Flughäfen, hatte sie schon immer gehasst. Die vielen Menschen. Der Lärm, das Gedränge, all das machte ihn furchtbar nervös. Die Zollbeamten mit ihren Waffen lösten einen fast unwiderstehlichen Fluchtreflex in ihm aus. Glaudia faste seine Hand, beugte sich zu ihm herunter und flüsterte ihm ins Ohr: „Keine Angst, Killy. Mama kommt bestimmt gleich.“ Kilian schüttelte den Kopf, die Tageszeitung in seinen Händen hatte er zerknüllt. Suchend blickte er sich um, Glaudia war nirgends zu sehen. Wie auch, dachte er verbittert, schließlich ist sie seit über 20 Jahren tot. Mit der Hand wischte er sich seufzend über das Gesicht. Jedes Mal, wenn er einen Flughafen betrat, erinnerte er sich an jenen Tag, an dem sich sein Leben so verändert hatte. Langsam lief er zu den Check-In-Schaltern hinüber. Die Schlange vor ihnen war um vier Uhr morgens relativ kurz. Die Frau hinter dem Tresen lächelte ihn aufgesetzt freundlich an und kontrollierte sein Ticket. Sie hatte lange, blonde Haare und große, blaue Augen, die von langen Wimpern umgeben waren. Wirklich hübsch, bemerkte Kilian, sie erinnert mich an meine Pflegemutter. Er versuchte zurück zu lächeln, als sie ihm seine Papiere gab. Er hätte sich gerne noch etwas mit ihr unterhalten, wenn sie beide mehr Zeit gehabt hätten. Er hatte seine Pflegemutter fast vom ersten Moment an gemocht. Sie hatte eine wundervolle offene und ehrliche Art und ein strahlendes, aufrichtiges Lächeln. Der Schmerz, den er mit sich trug, hatte sie nicht abgeschreckt. Sie nahm ihn an der Hand und lächelte dieses besondere Lächeln, das ihm sagte, dass alles Gut werden würde. Kilian seufzte. Vor der Gepäckaufgabe stand eine junge Frau, an deren Hand ein kleines Mädchen ungeduldig zog. Das Kind trug einen leuchtend roten Mantel. Wie Glaudia, als wir zu unseren Großeltern fliegen wollten, dachte Kilian und versank in Gedanken. Glaudia drehte sich immer wieder vor dem Spiegel hin und her um ihren neuen Mantel zu betrachten. Auch er hatte neue Sachen für den Besuch bei seinen Großeltern bekommen. Kilian baumelte mit den Beinen und sah auf seine sauberen, hellblauen Turnschuhe hinunter. Er hatte sie fast alleine gebunden. Seine Mama saß auf dem Plastikstuhl neben ihm. Als sie Glaudia zu sich rief, bekam er es kaum mit. Erst als sie aufstand merkte er, dass sie gehen wollte. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich bin bald wieder da, Schatz. Glaudia passt so lange auf dich auf.“ An Glaudia gewandt meinte sie: „Bleibt hier, bis ich wieder da bin.“ Sie gab ihnen noch etwas zu essen und verschwand zwischen den Menschen, die alle mit sich selbst beschäftigt waren. Kilian stellte seinen Koffer auf das Band und setzte sich auf einen der unbequemen Stühle in der Wartehalle. Hunger hatte er keinen, obwohl er den ganzen Tag über nichts gegessen hatte. Die Geräusche und der Geruch des Flughafens schlugen ihm auf den Magen. Seine Nerven waren zum zerreißen gespannt. Er durfte jetzt nicht panisch werden, es bestand kein Grund dazu. Das haben wir damals auch geglaubt, flüsterte eine gehässige Stimme in seinem Kopf. Müde rieb sich Kilian die Augen und blickte auf die Uhr. Noch ein ein halb Stunden Zeit bis zum Abflug, überlegte er. Langeweile wäre mir lieber, als diese Anspannung, ich erwarte die ganze Zeit, dass etwas Schreckliches passiert. Seufzend strich er sich eine hellbraune Haarsträhne aus dem Gesicht. Die junge Frau mit dem Kind, die er vor der Gepäckaufgabe gesehen hatte, setzte sich neben ihn. „Was für ein Stress...“ murmelte sie und lächelte Kilian an. „Mit Kindern zu reisen, ist nie einfach.“, erzählte sie ihm, „vor allem nicht, wenn sie so früh aufstehen müssen.“ Kilian schaute sie nur stumm an. Er hatte keine Lust sich mit irgendjemandem zu unterhalten, aber vielleicht könnte sie ihn von seinen trüben Gedanken abbringen. Das kleine Mädchen saß auf dem Platz neben ihrer Mutter und baumelte mit den Beinen. Sie betrachtete das Treiben um sie herum aufmerksam, von Müdigkeit keine Spur. Kilian schaute wieder zur Mutter. Sie war durchschnittlich hübsch mit leuchtenden Augen und einem strahlenden Lächeln. Auch ihr sah man die kurze Nacht nicht an. Ihr Name war Jean und sie berichtete ausführlich von ihren Reiseplänen. Sein Blick wurde immer wieder unweigerlich zum roten Mantel des Kindes gezogen. Ein Mantel, der dem seiner Schwester so ähnlich war. Glaudia blickte ihrer Mutter hinterher, wie sie zwischen den Leuten verschwand, schaute dann zu ihm hinunter und lächelte ihn an. „Du brauchst keine Angst zu haben, Killy. Mama kommt gleich wieder. Außerdem bin ich ja da!“ sagte sie überzeugt. Mit ihren acht Jahren wirkte sie für den fünfjährigen Kilian so erwachsen, dass er sich beruhigt wieder in den Plastikstuhl zurücklehnte. Kilian ließ sich von ihr seine Brezel zerteilen und kaute genüsslich. „...um meinen Mann zu treffen. Mary freut sich schon ihren Vater wieder zu sehen.“, riss Jean Kilian aus seinen Gedanken. „Ist alles in Ordnung?“, fragte sie ihn. Er versuchte sich blinzelnd auf ihre Worte zu konzentrieren. „Ja, alles bestens.“, beschwichtigte er sie, „ich bin nur müde. Kurze Nacht.“ Jean lachte glockenhell auf. Ein wunderschöner Klang, der Kilian in den Ohren schmerzte. Er wollte nur noch weg. Je länger er blieb, umso deutlicher wurden die Erinnerungen an jenen Tag auf dem Flughafen. Neben ihm plauderte Jean fröhlich über Möglichkeiten sich innerhalb von 30 Minuten auszuruhen, während er mehr und mehr in einem schwarzen Loch aus Erinnerungsfetzen und Alpträumen versank. Er beobachtete Mary, die zu einem Zeitungsstand herüber lief und die Auslage betrachtete. Wie ich damals, dachte er trübsinnig. Seine Mama war schon lange weg, glaubte Kilian, auch wenn Glaudia sagte, dass erst zehn Minuten vergangen seien. Glaudia nahm ihn an der Hand und führte ihn zum Kiosk herüber. „Keine Angst, Killy. Mama kommt bestimmt gleich.“, beruhigte sie ihn. Kilian betrachtete interessiert die vielen bunten Zeitschriften und versuchte ihre Namen zu lesen. „Erster Aufruf für die Passagiere des Fluges 4815 nach New York. Bitte begeben sie sich zu Terminal 3...“, hörte er die Lautsprecherdurchsage wie von weit her. „Das ist mein Flug.“, teilte er Jean wie in Trance mit und erhob sich. „Wir fliegen auch nach New York.“ stellte Mary fest, die zu ihrer Mutter zurückkehrte. Jean stand ebenfalls auf. „Toll!“, freute sie sich, „dann fliegen wir ja zusammen.“ Kilian schritt langsam in Richtung Abflugterminal. Hinter ihnen waren plötzlich laute Stimmen zu hören. „Stehen bleiben!“, rief ein Polizist. Er rannte hinter einer Frau in einem dunklen Mantel her. Kilian drehte sich zu ihnen um. „Mama?“ Draußen ging bereits die Sonne auf und kündigte einen wunderschönen Sommertag an. Kilian bemerkte es gar nicht. Wie in Trance durchquerte er die große Halle, vorbei an erwartungsvollen Menschen. Die Frau rannte an ihnen vorbei und Kilian erkannte, dass es tatsächlich seine Mama war. „Was?“ Glaudia zog ihn aus dem Weg und hinter sich. Der Beamte zog seine Waffe. Kilian sah sie kurz aufblitzen, dann ein Knall. Die Frau, seine Mama, stürzte zu Boden. Unbewegt beobachtete er, wie sich unter ihr eine rote Pfütze bildete. Wie auf Autopilot blieb er vor den Metalldetektoren stehen und stellte seinen Rucksack auf das Band. Unwillkürlich fiel sein Blick auf die Waffe des Zollbeamten. Vor seinem inneren Auge tauchten in rot getränkte Bilder auf. Ohne wirklich wahrzunehmen, was er tat, schritt er durch den Detektor. Alles lief wie in Zeitlupe ab, wie ein Film, bei dem er nur zu schauen konnte. Plötzlich, ohne Vorwarnung, zerriss eine Explosion die Stille, die auf den Schuss folgte. Trümmer flogen durch die Luft und Splitter zerschnitten sein Gesicht. Glaudia landete schwer auf ihm. Dann genauso plötzlich war es still. Seine Schwester rührte sich nicht. Mühsam krabbelte er unter ihr hervor. „Glaudia, was ist passiert?“, fragte Kilian sie und rüttelte an ihrer Schulter. Ihr Mantel hatte sich am Rücken dunkel verfärbt und der dunkle Fleck breitete sich immer mehr aus. „Glaudia, was hat du?“, fragte er erneut, aber er bekam keine Antwort. Und ich sollte nie eine bekommen, dachte Kilian und sah immer noch ihren roten Mantel vor sich. Rot, das von Blut immer dunkler wurde. Seine Hände zitterten, als er seinen Rucksack wieder aufnahm. Er versuchte den Beamten anzulächeln, doch wirkte es mehr wie eine Grimasse. Jean, die nun wieder neben ihn trat, bemerkte er kaum. Ihre fröhlichen Worte erreichten ihn wie aus weiter Ferne. Er konnte nicht sprechen, selbst wenn er es gewollt hätte. Als seine Pflegeeltern ihn aus dem Heim abholten, erzählte die Heimleiterin ihnen, dass ihn die Rettungskräfte neben seiner toten Schwester gefunden hatten, und dass seine Mutter für den Anschlag verantwortlich war. Er hatte seit jenem Tag nicht mehr gesprochen, nur in seinen Alpträumen rief er nach seiner Mama und Glaudia. In den ersten Monaten saß Helena jede Nacht an seinem Bett und trocknete seine Tränen, wenn er wieder einmal aus seinen Träumen aufschreckte. Er wollte nicht spielen und saß den ganzen Tag in seinem Zimmer oder bei Helena in der Küche. Bei jedem lauten Knall zuckte er zusammen, sah er die Ereignisse des Tages wieder vor sich. Und immer noch konnte sie ihm kein Wort entlocken, bis er sie eines schönen Frühlingsmorgens um ein Glas Wasser bat. Als Kilian der Stewardess sein Ticket zeigte, lächelte er, das erste wirkliche Lächeln zu dem er sich hinreißen konnte. Aber es war nicht an sie gerichtet, sondern an seine Pflegemutter Helena. Sie hat sich so gefreut, als ich das erste Mal mit ihr gesprochen habe, dachte er und sah wieder ihr glückliches Gesicht vor sich. In New York würde er sie und ihren Mann Sam endlich wiedersehen, das erste Mal seit Jahren. Schade, dass ich mich nicht überwinden konnte zu ihnen zu fliegen, sinnierte er. Mit einem erleichterten Seufzen ließ er sich auf seinen Platz fallen. Der Flug dauerte über zehn Stunden, während dieser Zeit könnte er sich entspannen. Seltsam, dass ich das Fliegen so genieße, wunderte sich Kilian. Mit den Erinnerungen an jenen schönen Sommernachmittag, an dem ihn Sam das erste Mal in seinem Flugzeug mitnahm, schlief er erschöpft ein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)