Verbrannte Erde von Hrafna (Aus dem Leben eines Soldaten) ================================================================================ Kapitel 5: Akt.II *** Schwarze Wolken: Der Fuchs und der einsame Wolf --------------------------------------------------------------------- Glossar: "kafteinn" bedeutet "Hauptmann" "herstjóri" bedeutet "General" "leiðtogi" bedeutet "Anführer" "ofursti" bedeutet "Oberst" Projekt X 2008: Verbrannte Erde Aus dem Leben eines Soldaten Akt.II *** Schwarze Wolken: Der Fuchs und der einsame Wolf Die langwierige Reise in den Süden zog wie der Schattenriss eines vagen Tagtraumes an ihm vorüber. Er döste, verschlief die hellen Stunden, in denen eine Orientierung anhand der Umgebung möglich gewesen wäre – den exakten Bestimmungsort hatte man ihm nicht verraten, und da es ihm persönlich unwichtig erschien, sparte er sich die Frage. Es dauerte. Das war alles, was er wusste. Träge blinzelte er in die allumfassende Dunkelheit, und auch ohne den Himmel zu sehen, konnte er mit Gewissheit behaupten, dass dies eine Neumondnacht war. Derart finster wurde es nicht, wenn Wolken den Mond verschleierten. Neben ihm, etwas zu nahe für seinen Geschmack, schnarchte einer seiner Weggefährten, von draußen drang das Geräusch von klappernden Pferdehufen an seine Ohren, das Knirschen der Wagenräder auf dem Straßengrund. Was hatte ihn aufgeweckt…? Hatte er sich erneut den Hinterkopf an der hölzernen Seitenstrebe angeschlagen? Unvermittelt beschwerte sich sein Magen, lautstark, in seinen Innereien rumorte es beständig. Dennoch verspürte er keinen ernsthaften Hunger, und der Proviantbeutel mit Dörrfleisch und Fladenbrot blieb unangetastet. Er würde es ohnehin nicht hinunter bekommen. Kompromisse pure Utopie. Beiläufig fuhr er sich über die spröden Lippen und bediente sich am Wasserkrug ehe er sich wieder niederlegte und die Augen schloss. *** Eine vollständige Gardeeinheit begleitete ihn über die ausgedehnte Anlage des buddhistischen Tempels. Grazile Cathaya-Bäume säumten die Ränder der Kiespfade, wechselten sich dort mit den steinernen Abbildern des meditierenden Buddha ab, und in der Ferne ragte eine prachtvolle Pagode gen Himmel, die roten Ziegel glühten förmlich im Schein der Sonne. In den gepflegten Kräutergärtchen arbeiteten Mönche in purpurnen Roben. Doch dem kafteinn fehlten der Sinn und das Verständnis für Religion und er empfand, während er die Eindrücke der heiligen Stätte in sich aufnahm, keine Offenbarung. Von wegen Erleuchtung. Alles in allem ein netter Anblick, hübsch, aber nicht mehr. Der Einklang der Tempelidylle litt zudem ein wenig unter den etlichen Wachsoldaten, die an allen erdenklichen Ecken und Enden postiert worden waren. Zum Zeremoniell gehörte das mitnichten. Und ebenso wie die zwölf Gardisten trugen sie Rüstungen und schwere Waffen. Bereiteten sie sich auf einen Angriff vor? Wer überfiel einen Tempel…? Vor drei Wochen hätte er sich auch noch gefragt, wer aus freien Stücken einen einsamen Grenzposten in der Mongolei überfallen würde… Wahrscheinlich ging es um die Person, die sich hier verschanzte. Beunruhigt ließ er seinen Blick schweifen, diskret und penibel darauf achtend, überdies mit seinen Begleitern ordentlich Schritt zu halten, denn was der übertriebene Aufwand um ihn bedeutete, das konnte er nur erahnen. Er wollte sein Glück nicht herausfordern – lynchen würden sie ihn nicht, und auf eine Tracht Prügel verzichtete er gut und gerne. Schweigsam geleitete ihn die Garde zur Dhamma-Halle, wo sich die Ordensbrüder gerade zur Andacht versammelten, Körbe gefüllt mit süßen Früchten und Blumen unter den Armen. Einige entzündeten Räucherwerk in Tonschalen, und der Geruch von Holz und seltenen Harzen strömte durch das offene Gebäude. Man begegnete sich in stillem Einverständnis, jedoch ohne Worte, und nickte knapp zum Gruß; die Enge schränkte beide Fraktionen ein, arrangieren hieß die Devise. Also ein improvisierter Stützpunkt. Nicht verwunderlich. Eingehend prägte er sich den Verlauf des langen Säulengangs ein, den sie nun betraten, merkte sich die Anzahl der Abzweige und Mündungen, studierte die innere Architektur der religiösen Baute. Andernfalls hätte ihn spätestens in der schlichten Vorhalle die Nervosität überkommen, empfangen von unzähligen misstrauischen Augenpaaren, die jedwede seiner Bewegungen registrierten. Als Neuankömmling, dem fristlos Audienz gewährt wurde, begegneten ihm die wartenden Feuerdrachen nicht unbedingt wohlgesonnen, verständlicherweise. Erfüllt von Unsicherheit und Beklemmung, immerhin trug er weder Harnisch noch Schwert, und in seiner derzeitigen kläglichen Verfassung, folgte er der Aufforderung, sich in die Haupthalle zu begeben. Diverse Äbte aus allen Himmelsrichtungen und andere hochrangige Geistliche knieten dort, auf dem mit farbenfrohen Mandalas verzierten Steinboden, die Häupter demütig geneigt, und schworen dem vor ihnen stehenden Feuerdrachen einheitlich ihre Treue. Der monotone Sprechchor hallte unangenehm laut zwischen den hohen Wänden wider, eine schier endlose Reihe Kerzen beleuchtete das heilige Gemäuer. Die Gerüchte um einen neuen leiðtogi bewahrheiteten sich hiermit. In den Nationalfarben Schwarz und Rot hatten die Hohepriester der vier Reiche die Attribute eines guten Herrschers auf den Leib des Feuerdrachen geschrieben, somit seine Macht, seine unangefochtene Dominanz anerkannt und geweiht. Auf seiner Brust, im Zentrum unmittelbar über seinem Herzen, prangte das Schriftzeichen für Ewigkeit. Allerdings, erwog er nach einer Weile des stillen Beobachtens kritisch, war der neue leiðtogi außergewöhnlich jung und füllte noch nicht einmal seine Statur vollends aus. Sogar er selbst besaß ein breiteres Kreuz als dieser Jungspund, der auf ihn so knabenhaft und unausgereift wirkte. Neben ihm stellte herstjóri Hörvir, der dem Szenario distanziert, beinahe gelangweilt beiwohnte, einen wahrhaften Hünen dar, grobschlächtig und erstaunlich wuchtig. Religiosität tangierte die meisten Krieger nicht. Dementsprechend fühlte er sich fehl am Platz, unerwünscht. Und eine Bestätigung dessen erhielt er durch die furchtsamen Blicke, die die Mehrheit der Mönche ihm zuwarf, als sie auf Hörvirs Befehl den Raum verließen, gezwungen, ihn und die Gardisten zu passieren. Tuschelnd, mit aschfahlen Mienen mieden sie den Augenkontakt, wichen angstvoll vor seiner Präsenz zurück. Dass seine momentane Erscheinung nicht als Augenweide zu bezeichnen war, gestand er sich ein, aber dies…? „Welch ein desaströses Karma…“ löste sich aus dem allgemeinen Gemurmel, nebst abfälligen und radikalen Anmerkungen. „Die Seelen der Toten umschwärmen ihn wie die Fliegen“, hörte er eine weitere anonyme Stimme flüstern. „So einer lockt unweigerlich den Tod an.“ Einer der Gardesoldaten stieß dem kafteinn unwirsch den stumpfen Stangenabschluss seiner Hellebarde in die Kniekehle, sodass er ungraziös auf die Knie fiel. Das schmerzhafte Ziepen in seinem Abdomen brachte ihn zum Aufkeuchen. „Geht“, befahl der herstjóri daraufhin trocken, und die unterschwellige Geste zu seinem stellvertretenden General deutete an, dass aus dieser unangebrachten Aktion ein Nachspiel resultieren würde. Für gewöhnlich hätte er ein solches Problem eigenhändig beseitigt und ohne viel darüber nachzudenken zugeschlagen, um seine Autorität zu demonstrieren – augenblicklich jedoch marterten nagende Schuldgefühle und der Schmerz des Verlustes seinen Geist, und was letztendlich mit ihm geschah, interessierte ihn nicht. Wozu das alles… „Dein Name, Soldat. Herkunft, Rang, letzte Stationierung.“ Er sah nicht auf, die Augen auf den Boden gerichtet. „Logi, herstjóri“, äußerte der Angesprochene dann heiser, „Ich stamme aus einem unbedeutenden kleinen Dorf in den Ostprovinzen. Ofursti Múspell ernannte mich im vorletzten Winter zum kafteinn.“ Nach kurzem Besinnen fügte er entkräftet hinzu: „Mein letzter Posten war an der mongolischen Ostgrenze.“ Resignation zeichnete sich auf den nunmehr kantigen Gesichtszügen des kafteinn ab, die Todesnähe hatte ihren Tribut gefordert, zehrte ihn aus, und präsentierte der Außenwelt das Antlitz eines Gefallenen, eines Verdammten, hervortretende Wangenknochen und einen ungesund blassen Teint. „Kannst du deine Identität belegen?“ verlangte Hörvir zu wissen, ihn unablässig musternd. Er mochte es nicht, wenn man ihn wie ein Kunstobjekt betrachtete. „Nein“, antwortete er unverzüglich, und wahrheitsgemäß, wahrte trotz seines gedeihenden Unbehagens die Ruhe, „meine Plakette ist abhanden gekommen.“ Über das Wie rätselte er selber. „Schlecht für dich. Der Verdacht der Täterschaft geht an dir freilich nicht vorüber, im schlimmsten Fall bist du ein Hochstapler und ein Kollaborateur.“ Seiner Verneinung würde niemand Glauben schenken. „Ofursti Múspell wird sich an mich erinnern. Oder an das hier“, und mit einem fahrigen Handgriff schob er seinen rechten Ärmel bis zur Schulter hoch, entblößte das schwarze Rangsymbol auf seinem Oberarm. „Mit einem Zeugen oder einer fassbaren Garantie kann ich nicht dienen. Ihr habt mein Wort.“ Hörvir grollte frustriert, wechselte rasch einen Seitenblick mit dem jungen Herrscher. Der lächelte bloß reserviert und trat direkt vor den kafteinn, welcher sich jählings reichlich bedrängt vorkam. „Sieh mich an.“ Er ging vor ihm in die Hocke, die Unterarme auf die Oberschenkel gestützt. „Schwörst du mir, dem neuen leiðtogi, Hraunar aus dem Süden, persönlich deine uneingeschränkte Treue?“ Diese mächtige Aura, diese enorme Feuerenergie, die in Hraunar ruhte, erlaubte keine Einwände, und eine Provokation dessen, was dort schlummerte… ausgeschlossen. Und er vermeinte ihre gewaltige Intensität bereits gespürt zu haben. Deshalb gehorchte er, widerstrebend, die schwere Atmosphäre lastete auf seinem Gemüt. „Solltest du lügen…“ warnte er, sein Ton rigoros, und die eigenwillig gefärbten Iriden blitzten unheilvoll auf; die Drohung hätte nicht deutlicher ausfallen können. Der kafteinn schluckte, schauderte, als Hraunars heißer Atem seine Haut streifte. „Meine Loyalität als Krieger, mein Leben als Kind des Feuers… gilt einzig Eurem Zweck, leiðtogi der Feuerdrachen“, gelobte er in soldatischer Manier, überzeugt, emotionslos. Leere Floskeln, die ihren Zweck erfüllten, die zur Gewohnheit wurden, irgendwann den Anspruch erhoben, wahr zu sein, obgleich die Vorstellung abwegiger nicht sein könnte. Doch Hraunar nickte befriedigt, verschränkte die Arme vor der baren Brust. „Also, Logi, Tacheles“, verkündete er anschließend bestimmend, und seine Mimik verfinsterte sich, kippte ins Unnachgiebige: „Wer hat die östlichen Grenzposten überfallen?“ Logi biss sich auf die Unterlippe, bemüht, sich seine Zerrüttung nicht anmerken zu lassen. Er zitterte. Gelähmt von der Erinnerung, überfordert, jenseits jedweder Rationalität – seine Kameraden waren ihm in den Rücken gefallen, des versprochenen Geldes und Prestiges wegen, wobei es wahrscheinlicher war, dass sie nach dem Verrichten der Drecksarbeit von ihren vermeintlichen Auftraggebern in die Hölle geschickt wurden, und in ihrem Wahn hatten sie seine Untergebenen, ihre Kampfgefährten, massakriert – gelang es ihm schlussendlich nur, ein „Ich weiß es nicht.“ hervorzuwürgen. Seine Narben schmerzten. „Weißt du wenigstens, wer dich angegriffen hat?“ setzte der jugendliche Herrscher prompt nach. Die Unwissenheit des Soldaten verdross ihn, und seine Laune bekundete bereits sinkende Tendenzen. Mit solch unkooperativen Zeitgenossen verschwendete er höchst ungern seine Zeit. „Nein“, entgegnete der kafteinn tonlos. Wieso beendete sein Gegenüber es nicht hier und jetzt? Es war so offensichtlich, ein miserabler Lügner… Hraunar schalt sich derweil mental, sein Temperament zu zügeln. „Mir wurde zugetragen, dass du vor etwa zwei Monaten im Gespräch mit deinem ofursti mehrere Verdächtige entlastet hast, die angeblich Verbindungen zu dubiosen Untergrundgruppierungen hatten“, führte er dezent an, er räusperte sich. „Stimmt das?“ Woher…? Nein, natürlich hatte er seine Quellen, die Frage lautete, wie viel wusste der leiðtogi tatsächlich? „Ja.“ Das selbstgefällige Grinsen kehrte auf Hraunars Züge zurück, er kostete seine Überlegenheit aus. „Inwiefern hat das etwas mit Vorfall an der Grenze zu tun? Haben die, für die du dich verbürgt hast, etwas damit zu schaffen?“ „Ich weiß es nicht“, erwiderte Logi kaum vernehmlich. „Nutzlos“, benannte Hörvir wenig später seine Enttäuschung über die untauglichen Antworten des kafteinn, als dieser aus seiner Sichtweite verschwand. Was für eine Blamage für die Krieger des Ostens! Um seinen Kopf würde er wohl noch einige Zeit bangen müssen. „Sollen wir ihn beseitigen, leiðtogi?“ Hraunar hob abwehrend die Hand, ein manischer Schatten geisterte über seinen Ausdruck: „Nein. Noch nicht.“ *** Verloren. Eiskalt. Schon wieder. Gegen ein Kind, das nachts heimlich zu seinen Geschwistern unter die Decke schlüpfte, weil es die Dunkelheit fürchtete… Deprimiert belegte Hraunar das schlechte Blatt auf seiner Hand mit unseligen Flüchen, die Karten wollten ihm heute kein Glück bringen. Ein Themenwechsel war daher unumgänglich. „Du hast gelauscht, oder? Lügt er?“ wandte er sich an den Jungen, der eifrig damit beschäftigt war, die eigenen Spielkarten zu sortieren. „Hm…“ machte der desinteressiert, und Hraunar bemerkte, dass ihm dieser Gesprächsanlass nicht behagte. Von Hrafntinna hatte er erfahren, dass der Kleine eine sonderbare Sympathie für den ausgemergelten kafteinn hegte. Er verstand es nicht. Wohnte dem Soldaten etwas Besonderes inne? Hatte er eine außergewöhnliche Kleinigkeit übersehen? Gleichgültig. Der Kerl war ein Häufchen Elend, ein Wrack, der Tod eines Drachen mit gebrochenem Willen war besiegelt, und die nächste Mission würde ihm den Gnadenstoß versetzen. Er seufzte: „Neisti. Sag die Wahrheit.“ Ertappt senkte das Kleinkind den Kopf, genierte sich, bevor es ein bedrücktes „Ja…“ nuschelte. Für einen Augenblick schwante ihm Übles. Wenn Neisti zu weinen begann, drängte er ihn unaufhaltsam ins Matt, und das wollte er geflissentlich vermeiden. „Das dachte ich mir“, erwiderte er nachdenklich, als ihm allmählich dämmerte, welche Konsequenzen das nach sich zog. Nach sich ziehen musste, wollte er seine Glaubwürdigkeit erhalten. Dieser respektlose Bastard hatte ihn belogen, wissentlich… „Aber nicht aus böser Absicht heraus, Hraunar!“ entfuhr es Neisti abrupt und ungehalten. Er errötete, und selbst erschrocken über sein unangebrachtes Betragen presste er die Hände auf den Mund. Sein älterer Bruder bedachte ihn mit einem undefinierbaren Blick, hob fragend die Augenbrauen. „Ah.“ Verlegen zupfte Neisti an seinem Ärmelsaum. „Los doch, erleuchte mich“, erteilte Hraunar die brüske Aufforderung. „Er hat Angst“, sagte der Junge dann kleinlaut, „Es quält ihn, wenn du ihm diese Fragen stellst.“ Der Drachensouverän lachte belustigt auf, ohne einen Funken Humor oder Einfühlungsvermögen. „Soso…“ Indes versank Neisti in seiner Scham. „Hm… wenn er nicht reden will oder kann, was auch immer, dann…“ murmelte Hraunar nach einer Weile, brach das unerträgliche Schweigen, „ich habe da eine Idee…“ Wenn der Vogel im Käfig nicht sang… Mit einem selbstzufriedenen Lächeln richtete er sich auf, warf seine Karten offen auf den Stapel am Boden zurück. Das Kind neigte verwirrt den Kopf zur Seite, und seine Augen verengten sich, ehe er eine einzelne Spielkarte auswählte und auf den unordentlichen Haufen legte. Ein schwarzes Ass auf roten Zahlen. „Sei bitte nicht gemein zu ihm“, bat er schüchtern. Schulterzuckend tat der Ältere seine Niederlage als nichtig ab, ebenso Neistis Bitte. „Wieso?“ Wer Wind säte, sollte darauf gefasst sein, entsprechenden Sturm zu ernten, zumal er ihn ausdrücklich davor gewarnt hatte, sich auf jene Weise mit ihm anzulegen. Schlechter Zug, Logi. „Er verdient es nicht“, beharrte der junge Feuerdrache, den Anklang von Betroffenheit in der Stimme. Hraunar schnaubte unwirsch: „Er hat seine Kameraden im Stich gelassen.“ „Nein“, widersprach er gelassen, und gleichermaßen leise, „Seine Kameraden haben ihn im Stich gelassen.“ Von einem Kleinkind ins Aus diskutiert… *** „Eldur.“ Ein samtenes Wispern in den frühen Morgenstunden, zu leise, um einen Schlafenden zu wecken, zu präsent in der Stille, um von einem Wachenden beständig ignoriert zu werden. Und keine Antwort. Unschlüssig trat der Bote auf dem oberen Hausflur der Pension von einem Fuß auf den anderen, eingehüllt von den ausklingenden Halbschatten der Nacht, und er zögerte für den Bruchteil eines Augenblicks. „Hey, Eldur.“ Ungeduld, und ein Hauch Reue beseelten die prägnante Stimme, als er etwas fester als beabsichtigt gegen den Türrahmen klopfte. Wie ungerecht, jemanden, der sich zusätzlich zu seinem Soldatendasein als freiwilliger Feldheiler engagierte, aus dem wohlverdienten Schlummer zu reißen, nicht einmal drei Stunden nach dessen Dienstende. „Eldur!“ Durch das verwobene Fenstergeflecht hindurch spähend, erkannte er eine vage Regung auf dem Lager im hinteren Bereich des Quartiers, unter der wahllosen Ansammlung von Wolldecken und Kleidung wälzte sich Eldurs diffuse Silhouette auf die Seite. „Nnh…“ Danach vernahm er ein gedämpftes Murmeln, sowie eine schlaftrunkene Beschwerde über das gottverdammte Personal, das in aller Frühe solch einen verfluchten Lärm veranstaltete. „Schwing deinen Hintern aus den Federn, du faule Socke“, zischte der Wachsoldat mit etwas mehr Nachdruck, der vibrante Bariton, der über sämtliche Flure dröhnte, unverkennbar. Eldur zog sich demonstrativ die Decke über den Kopf. „Was…?“ jammerte er kläglich, „Ich hab heut frei…“ Der Soldat grunzte humorig, und stieß nun gereizt die Tür auf. Seine Toleranzschwelle war erreicht. So ein weibischer Geselle… „Steh auf und zieh dich an, hopp!“ bellte er im üblichen Befehlston, die perfekte Imitation seines eigenen Vorgesetzten. Bei Eldur biss er damit allerdings auf Granit. Blindes Parieren konnte er von einem Frontsoldaten erwarten, aber nicht von einem Heiler – hoffnungslose Exzentriker, von denen einige spezielle Exemplare dazu tendierten, sich allerorts, sogar mitten auf dem Schlachtfeld, zwecks Reduktion des Geräuschpegels, Wachs in die Ohren zu stecken, um sich besser konzentrieren zu können. Nerven aus Stahl. „Keinesfalls…“ Die Finger des Wachsoldaten zuckten, ebenso sein rechtes Augenlid. „Mach hinne oder ich helf dir!“ brüllte er aufgebracht. „Ganz ruhig“, beschwichtigte sein Gegenüber um ein herzhaftes Gähnen herum, ehe er sich wieder zusammenrollte, „Kein Grund zum Schreien.“ Der zum Boten abkommandierte Soldat trat an die zerwühlte Bettstatt heran, seine Miene mit einem Mal finster und undurchdringlich. Die Angelegenheit war ernst. Todernst, wenigstens für ihn. „Glaub das lieber mal nicht. Der stellvertretende herstjóri will dich sehen. Jetzt.“ „Oh.“ *** Glücklicherweise ging es nicht um das kleine Malheur, das ihm in der vorletzten Woche unterlaufen war. Das hätte ihn wahrhaft in die Bredouille geritten. Seine Begeisterung über den vertraulichen Auftrag, den er anstatt dessen zugewiesen bekommen hatte, hielt sich jedoch in Grenzen, und die Bilanz aus dem Gespräch mit dem zweiten Heeresgeneral mäßigte die Erleichterung, die ihn zunächst ergriffen hatte. Irgendetwas an der Mission härmte ihn… Zu müde, um sich darüber seinen teuren Verstand zu zermartern, trottete er durch die stillen Seitengassen gen Stadtzentrum, die Erschöpfung saß ihm noch immer in den steifen Gliedern. Eine Schar Seidenhühner pickte auf dem Pflaster. „Frühstück“, nuschelte er gelegentlich, sich selbst daran erinnernd, warum er sich nicht einfach ein abgeschiedenes, sonniges Plätzchen am Marktbrunnen suchte und dort etwas Schlaf nachholte. Vor Alltagskriminalität musste man sich in einer neuerdings von Soldaten besetzten Stadt nicht fürchten – insofern man es sich nicht mit den Kameraden verdorben hatte. Nebenbei beäugte er vorwurfsvoll das unbeschriebene Kuvert in seiner Hand, das, wie er es drehen und wenden mochte, keinen Aufschluss über den Adressaten geben wollte. Kafteinn Logi. Mehr war ihm nicht mitgeteilt worden. Ein Titel, ein leerer Name ohne assoziativen Wert. Er kannte ihn nicht einmal. Und bis er jemanden fand, der ihm sagen konnte, wer sich hinter dahinter verbarg, würden die angenehmen Mittagsstunden längst verstrichen sein. Frechheit, schmollte er in Gedanken, ihn in die Pampa zu entsenden, zusammen mit einem vollkommen Fremden. Als ob er hier keine gute Arbeit geleistet hätte. In der Kantine der Kaserne langte Eldur ordentlich, und vor allem ungeniert, zu, verleibte sich mehrere Schüsseln Reissuppe ein, Sojakäse und gedämpftes Brot. Die anwesenden Soldaten beobachteten ihn dabei argwöhnisch. Dass sie sein Verhalten als provokativ auffassten, war ihm bewusst, und ferner, aus Erfahrung heraus, wie schnell solche Situationen eskalieren und letztlich in drastischen Schlägereien enden konnten. Konflikte aufgrund zu klein bemessener Rationen standen auf der Tagesordnung, und er verstand den Unmut der Krieger durchaus, dennoch bestach der Aufschlag im Punkte Verpflegung für die Heiler durch Legitimität. Die Anwendung heilerischer Fähigkeiten verschlang Unmengen an Energie und stellte eine hohe Belastung für den Körper dar. Wer fahrlässig agierte, setzte sein Leben aufs Spiel. Das Fazit daraus führte zwangsläufig zu einer Sonderberechtigung bezüglich der Essenszuteilung. Neid und Ignoranz. Vorwürfe über Maßlosigkeit. Der Heilkunstorden erfuhr oftmals Geringschätzung und Missbilligung, als Mitglied musste man sich wohl oder übel daran gewöhnen. Ihm verging der Appetit. Seufzend fuhr er sich mit dem Handrücken über den Mund, sprach der Küche sein ausdrückliches Lob aus. „Ist euch ein kafteinn namens Logi bekannt?“ erkundigte er sich beiläufig, den Unterarm auf den Tresen gestützt. Die Küchenmädchen zuckten die Schultern oder verneinten knapp, zu beschäftigt mit kochen und spülen, oder sich manch lüsternem Blick aus dem Speisesaal zu entziehen. Eldur nickte einsichtig, und während er seine Strategie überdachte und zu dem Schluss kam, dass er die blödsinnige Durchfragerei hasste, fasste ihn jemand am Ellbogen. „Ah, Eldur“, vernahm er analog eine melodiöse Frauenstimme nahe an seinem Ohr, die leise Kosenamen säuselte. „Wann hast du wieder Zeit für mich, eh?“ Kurzerhand hakte sie sich bei ihm ein, schmiegte die rechte Wange an seinen Oberarm. „Otra erzählte mir letztens, du hättest mehr als ihren verstauchten Knöchel versorgt“, plauschte sie sogleich weiter, ihre Eifersucht, die darin mitschwang, nahezu bedrohlich. „Tut mir leid“, erwiderte er, eingeschüchtert von so viel Aufdringlichkeit, und wich beiseite, „die nächsten Tage bin ich auswärts, aber-“ „Diese hochrangigen Militärs können sich auch nicht entscheiden, einen Tag hü, den nächsten hott. Dich derart plötzlich wegzuschicken, ein Unding…“ Et cetera, perge, perge… Als sie endlich schwieg und ihn erwartungsvoll anblickte, gar Anstalten machte, ihn zu küssen, schob er sie sanft, jedoch entschlossen von sich, woraufhin sie nur lachte und ihn stürmisch umarmte. „Sonst sind Sie nicht so scheu, werter Herr Schwerenöter“, neckte sie spielerisch, unbeeindruckt von seiner Abweisung. „Üben wir uns neuerdings in Abstinenz?“ „Ich… ich habe zu tun“, bemerkte er plump. Zugegeben, gegen eine vergnügliche Ablenkung hätte er nichts einzuwenden, und ihr weicher Busen, den sie kess an seine Brust presste, empfand er als sinngemäße Einladung, doch… doch was? Perfides Weibsbild, fluchte er innerlich. „Ich warte auf dich“, hauchte sie verheißungsvoll, ehe sie von ihm abließ und eine elegante Kehrtwende vollführte. Richtig, der Brief! Auf dem sandigen Übungsgelände exerzierte die fünfte Kompanie unter Brigadier Kopar, der verantwortliche Offizier hockte aschfahl und in sich zusammengesunken im Schatten einer Blumenesche, eine junge Heilerschwester reichte ihm einen Becher. Selbst Feuerdrachen vertrugen die brütende Hitze auf Dauer nicht, besonders nicht, ohne genügend Wasser zu sich zu nehmen. Ein Nachteil der humanen Gestalt, sie war empfindlich. Kurzerhand entschloss Eldur sich, dem unvernünftigen Kompaniechef ins Gewissen zu reden, und ihn anschließend darum zu bitten, ihm ein wenig bei seiner Suche nach dem kafteinn zu helfen. Raschen Schrittes näherte er sich dem angeschlagenen Drachen und grüßte ihn gemäß den militärischen Gepflogenheiten, die rechte Faust über dem Herzen, das Kinn gesenkt. Fölskvi - ja, er war sicher, so hieß er – winkte ab und bedeutete ihm, sich zu setzen. „Herforingi, Ihr solltet besser auf Euch achten“, empfahl er wohlmeinend, „Die Temperaturen sind nicht zu unterschätzen.“ „Der Tee schmeckt grässlich“, bemängelte der sachlich, jenseits eines Kontextes, und spuckte in den Staub. Angewidert goss er das bittere Gebräu ins Gebüsch. „Mach dich nicht nass. Das Bisschen Sonne bringt mich nicht um“, versicherte er danach mit einem Nicken, während er mit der linken Hand in dem Beutel an seinem Waffengurt kramte. „Glaub mir, es gibt Schlimmeres.“ Eldur zwang sich zu einem verkappten Lächeln. „Ihr würdet Eurer Gesundheit einen Gefallen tun.“ Sein Genosse zog ein Säckchen Tabak und Maispapier aus der Tasche hervor, drehte sich mit zitternden Fingern eine Zigarette: „Meine Gesundheit, heh... die ist an der Front einen Scheißdreck wert.“ „Deswegen müsst Ihr sie nicht mit Füßen treten“, mahnte der Heiler, „aber lassen wir das. Ich will hier keine Moralpredigt halten.“ Gespielt überrascht hob der herforingi die Augenbrauen, und Eldur kratzte sich, schlagartig verlegen, hinter dem Ohr. Tse, lächerlich. Einem Höherrangigen etwas vorschreiben zu wollen. „Tut mir leid.“ Fölksvi begnügte sich mit einem erheiterten Grinsen. „Verstehe, daher weht der Wind“, meinte er dann. „Was willst du?“ Im Hintergrund verausgabten sich die Soldaten in komplexen Formationsmanövern, Kopars Stimme donnerte in bemerkenswerter Lautstärke Instruktionen über den glühenden Sandplatz, der Schweiß rann in Strömen. Die Luft flimmerte. „Kennt Ihr zufällig einen kafteinn, der Logi heißt?“ *** Ein halbes Dutzend Krähen tummelte sich zänkisch schnarrend im Geäst des knorrigen Feuerahorns, schemenhaft, wie böse Geister im Halbdunkel des Blätterwerkes – als warteten sie darauf, dass in der näheren Umgebung demnächst ein Pferd krepierte oder ein Esel verreckte. Hungrig. Dabei unendlich geduldig. Wie Aasgeier. Er hatte die gefiederten Begleiter des Todes in der Gobi beobachtet, über dem ausgeweideten Kadaver einer verendeten Antilope kreisend. Die schwarzen Rabenvögel waren das hiesige Äquivalent, kleiner und weniger penetrant, dafür jedoch umso geschwätziger und zumeist in der Nähe der jüngsten Gefechtsstätten anzutreffen. An ihnen haftete der Geruch von vergossenem Blut. Trotz dessen, oder vielleicht gerade deswegen, störte ihn ihre Gesellschaft nicht – roch er nicht ebenso nach blutiger Schlacht und gewissenlosem Mord, verübt im Namen einer verzerrten Gerechtigkeit? Verschwendung von Leben, leidend unter dem Mangel an Überzeugung und falschen, selbstsüchtigen Intentionen. Wer starb, und wer überlebte, eine Fügung des Schicksals. Glücksspiel. Im Laub über ihm raschelte es, das Schlagen nachtfarbener Schwingen, und eines der Tiere segelte neben ihm zu Boden, feist und mit zerrauften Federn, legte den Kopf schief und bedachte ihn mit einem Blick aus unergründlichen Augen, in denen sich Intelligenz und Arglist spiegelten. Umsichtig hüpfte die dreiste Krähe näher, neugierig, gelockt von dem Versprechen einer rentablen Mahlzeit, und er rührte sich nicht. Aus welchem Grund sollte er…? Wozu…? Für wen…? Plötzlich stoben sie wild schimpfend auf, ein Kieselstein verfehlte den gierig lauernden Vogel vor ihm um Haaresbreite. Erst jetzt bemerkte er die Präsenz zu seiner Rechten. Schritte. Unwillkürlich verkrampften sich sämtliche Muskeln in seinem Leib. Denn anstatt gebührenden Abstand zu halten, trat der Neuankömmling so nahe wie irgend möglich an ihn heran, distanzlos, ließ sich direkt vor ihm auf die Schienbeine nieder, bis sein Knie beinahe seinen Oberschenkel berührte. Er blickte auf, notgedrungen. „…“ Der Fremde starrte ihn unverblümt an, und kein Laut mochte sich seiner Kehle entringen – er war nahezu zierlich für einen männlichen Feuerdrachen, unbewaffnet, mit relativ langem, zinnoberrotem Haar und einem fein geschnittenen Antlitz, das wohl eher dem eines unbedarften Aristokratensohnes glich. Als Kind musste er Sommersprossen gehabt haben, verblichene Flecken sprenkelten seinen Nasenrücken und die Haut über den Wangenknochen. Irgendetwas an ihm irritierte ihn. Er trug eine dunkelgrüne Binde am Oberarm. Ein Heiler. Auch das noch. Doch das war es nicht. Ihr stummer Blickkontakt bestand, offenbarte alles und nichts zugleich, ein ewiges Fixieren und Abschätzen, und letztendlich wusste man nicht mehr oder weniger als zuvor. Ob bedeutsam, oder nicht, wen interessierte das? Ein Eindruck, der verging, Schall und Rauch, belanglos. Vermeintlich. „Du…?“ brachte sein weiterhin ungläubig dreinschauendes Gegenüber nach einer Weile heraus. Er reagierte nicht, einem Unbekannten war er keine Antwort schuldig. „Kafteinn Logi?“ hakte der Feuerdrache, von dessen Nähe er sich mittlerweile ausgenommen belästigt fühlte, unbeirrt nach. Der Angesprochene zog ernsthaft in Erwägung, ihm das neuerliche verschmitzte Grinsen aus dem Gesicht zu schlagen, und entschied sich dagegen; er vergriff sich grundsätzlich nicht an Schwächeren. Seine Statur, die von Schläue zeugenden Züge erinnerten ihn an einen Fuchs, gerissen, klug, und wehrlos. „Was willst du?“ brummte er missgelaunt. Lächelnd überreichte der Fuchs ihm einen unbeschriebenen Umschlag. „Der Bescheid ist vom herstjóri. Wir müssen morgen bei Sonnenaufgang aufbrechen.“ Desinteressiert entfaltete der kafteinn das Blatt Pergamentpapier, überflog die Zeilen – und stockte, aufgrund eines einzelnen Wortes. Degradiert…? „Oh, entschuldige. Ich heiße Eldur“, stellte sich der Heiler verspätet vor und verbeugte sich höflich vor ihm. Logi ignorierte die entgegenkommende Geste, zu einvernommen von der Annullierung seines über Jahre erkämpften Ranges. „Und ich bin froh, dass du noch lebst.“ Huh? Er blinzelte, erstaunt. Was…? Er besann sich, taxierte ihn mit einem misstrauischen, düsteren Blick: „Was hast du gesagt?“ „Eh?“ „Was meinst du damit, ‚du bist froh, dass ich noch lebe’?“ fragte er, sein schwankender Unterton hart und bedrohlich. Eldur spürte die Scham des Soldaten, seine Verzweiflung, seinen Schmerz, und eine betrübende Schwermut erfasste sein Herz. Er widerstand dem Drang, sein Mitgefühl auszudrücken, verschränkte die Finger ineinander. „Ich war Teil des Rettungstrupps, der an die Grenzposten geschickt wurde.“ Ich habe dich mehr tot als lebendig auf dem Wall aufgefunden. „Komm. Ich hab was für dich aufgehoben“, fügte er mit heiterer Miene hinzu, bestrebt, das heikle Sujet zu umschiffen. In diesem Moment fiel der Groschen. Es waren seine Augen, das linke Rotbraun, das rechte lichtes Bernstein, die unterschiedlich gefärbten Iriden des Feldheilers, die ihn maßgeblich irritierten. Seine These, der füchsische Heiler wäre auf einem Auge blind, erwies sich als hinfällig. Dafür gab es schlichtweg keine Anzeichen. Sonderbar. Schwerfällig und ohne jegliche Motivation folgte er dem flinken Genossen durch das Labyrinth aus Gassen und geradlinigen Straßen, die sich um die Mittagszeit füllten, lebhaft bevölkert von Geflügel und Schafen und ihren Besitzern. Dann und wann marschierte eine Patrouille an ihnen vorbei. „Hier entlang“, winkte Eldur ihn um die nächste Biegung und ehe er sich versah, befanden sie sich im oberen Stockwerk einer gepflegten Pension, und er verharrte unschlüssig vor der Schwelle des Zimmers, das der Heiler sich mit zwei oder drei Kameraden teilte. Der durchwühlte indessen das Chaos unter seiner Bettstatt – und dort hortete er eine abstruse Menge an Plunder verschiedenster Art. „Aha!“ rief er triumphierend, und warf ihm ein Paar gebrauchte Lederstiefel vor die Füße. Perplex erkannte Logi diese als seine eigenen. „Du glaubst gar nicht, wie scharf diese Kerle auf Stiefel sind. Keinen Respekt, nicht einmal vor den Gefallenen… du drehst dich um, und schwupp, hat dir jemand die Stiefel geklaut. Unglaublich, so was…“ Er hörte nicht zu. Was sollte er davon halten, dass er, ein Fremder, ihm, vollkommen freiwillig und uneigennützig, seine Habseligkeiten gerettet hatte…? Überfordert strich er sich durch das halblange Haar, nicht imstande, seinen Blick von Eldurs Rücken abzuwenden. Wieso hatte er das getan? Verständnislos, konfus, knirschte er mit den Zähnen. Eldur schenkte ihm einen prüfenden Seitenblick über die Schulter hinweg, und hielt unverwandt inne. Unter sichtlicher Anstrengung zog er einen länglichen, klobigen Gegenstand aus dem Durcheinander hervor. Logis Augen weiteten sich, als ihm gewahr wurde, was genau der Heiler ausgegraben hatte. „Es gehört dir, nicht wahr? Ein ungewöhnliches Stück.“ „Ein europäischer Anderthalbhänder“, entgegnete er matt, als er das Schwert wie eine zerbrechliche Kostbarkeit entgegen nahm und absent über die schmucklose Scheide strich. „Hey, alles in Ordnung…?“ Der Krieger war blass, sein Atem flatterte. Im nächsten Augenblick entglitt ihm der Fokus, seine Lider senkten sich und er brach zusammen, kippte haltlos vornüber. Eldur handelte ohne nachzudenken und versuchte, seinen Sturz abzufangen, doch ihm wurde alsbald bewusst, dass er sich damit übernommen hatte. Das Gewicht des Soldaten riss ihn unzeremoniell mit zu Boden, und er keuchte, als sein Steiß unsanfte Bekanntschaft mit den Holzdielen schloss. „Verdammt, Logi“, quengelte er, den Kopf des Bewusstlosen in seinem Schoß und zum Glück vergleichsweise weich gelandet, „man könnte meinen, du hättest durch deine Auszeit einige Pfunde runter.“ Absoluter Irrtum. Kalter Schweiß perlte von seiner Stirn, und sein Magen äußerte lautstarke Proteste. Eindeutige Diagnose, konstatierte Eldur gedanklich. Herforingi Fölskvi hatte ihm keine Auskunft darüber erteilt, seit wann der kafteinn apathisch unter dem Ahorn gesessen hatte, belagert von unzähligen Krähen, ohne Wasser, ohne Proviant. Zu lange, offensichtlich. Besorgt musterte er das bleiche Gesicht des Feuerdrachen, das, entgegen seiner Vermutung aufgrund der dunklen Augen, kaum auf einen asiatischen Einfluss hindeutete, fuhr durch das feuchte, rote Haar, das sich an den Schläfen und hinter den Ohren zu Löckchen kräuselte. „Ich habe dir keinen Gefallen getan…“ murmelte er leise zu sich selbst. Um Verzeihung zu bitten, war sinnlos, die Würfel waren in der Einöde der Mongolei gefallen, und dennoch tat es ihm leid. Mit welchem Recht, welche Dreistigkeit hatte ihn besessen, eine solch folgenschwere Entscheidung zu fällen, die ihn persönlich nicht im Geringsten betraf…? Er hatte das Gefühl gehabt, ihn würde noch etwas mit dem Diesseits verbinden… ein Trugbild? Logis erratischer Puls beruhigte sich. „Wärst du nicht so schwer, würde ich dich nicht so herzlos auf dem Boden versauern lassen“, seufzte er bedauernd in die Stille hinein. Unterbewusst schloss er die Finger der rechten Hand fester um das Handgelenk des Soldaten, schob sich näher an seinen Leib heran. Eldur ertrug die Einsamkeit des Schweigens nicht, die Leere, die Kälte, ängstigte ihn. Augen wie schwarze Tinte. Wie Anthrazit. Oder Onyx. Die Pupillen nicht von der dazugehörigen Iris zu unterscheiden. „Pfoten weg…“ Abweisend wandte der kafteinn den Kopf ab, sich seiner misslichen Lage sehr wohl bewusst, und die Schamesröte stieg ihm in die Wangen. „Lass das in Zukunft besser“, meinte Eldur fürsorglich und gab das Handgelenk des Soldaten frei, „am Ende verletzt du dich dabei noch ernsthaft.“ Der murrte etwas Unverständliches und kehrte dem Feldheiler den Rücken zu, indem er sich auf die Seite drehte und sich somit seiner wohlmeinenden Berührung entzog. Eldur lächelte verstohlen. Er mochte sich gegen ihn sperren und jegliche Hilfe ablehnen, aber die Wärme, die er während ihrer ersten Begegnung bei ihm vermisst hatte, das Feuer in seinem Inneren war von neuem entfacht. Zwar loderte es zaghaft und unscheinbar, er nahm es trotz dessen wahr. Und es stimmte ihn zuversichtlich. „Ich habe die Pensionsbesitzerin gebeten, dir etwas zu essen zu machen. Das wird nicht mehr allzu lange dauern“, informierte er den unwilligen Genossen, die dünne Zudecke ordentlich über dessen zusammengerollte Form drapierend. „Hast du Durst?“ „Kümmer dich gefälligst um deinen eigenen Scheiß“, erwiderte Logi gereizt, seine Stimme schwankte, betrog ihn um die Härte seiner Aussage. Was für ein komplizierter Bursche. Wortlos rückte er den Pott mit kaltem Tee und den Rest Lycheesaft, den er sich von gestern aufgespart hatte, in Logis Reichweite und richtete sich auf. „Hör mal, Logi. Ich kenne dich nicht, und ich weiß nicht, ob jemand meiner Rangstufe das sagen darf, aber…“ er verstummte einen Augenblick, überdachte seine Wortwahl, fuhr dann allerdings unbeirrt fort: „Du riechst als hättest du seit Monaten kein Wasser gesehen.“ Die Resonanz blieb, wie erwartet, aus. Demnach musste er sich nicht in Zurückhaltung üben. „Tu deinem Körper, und insbesondere dir, etwas Gutes. Iss was, wasch dich und schlaf dich aus. Die Betten hier sind heute unbelegt, du kannst mir also ruhig ein bisschen Gesellschaft leisten. Ich weck dich auch, wenn du magst.“ Es liegt bei dir, was du mit deiner zweiten Chance anfängst. *** In dem beengten Wirtshaus am Rande der westlichen Hauptstraße war die Hölle los. Reisende, Flüchtlinge, herrenlose Krieger und Heerscharen von Soldaten pilgerten in Richtung der Vierländergrenze – oder soweit weg davon, wie es eben ging – und rasteten hier, manche suchten vergeblich eine sichere Herberge für die Nacht. Man feierte, debattierte, beriet über die ungewisse Zukunft des Clans, und das fidele Durcheinander der verschiedensten Stimmen erschwerte es ihr ungemein, auch nur ein einziges Wort aus dem Munde ihres Gegenübers zu verstehen. „… das letzte Bisschen Verstand verloren!“ entrüstete sich dieses gerade und stürzte eine weitere Schale chinesischen Reiswein hinunter. Sie musterte den Jugendlichen mit wachem Blick. „Ich glaube nicht, dass er aus dem Affekt heraus gehandelt hat. Das würde zwar zu ihm passen, aber“, sie pausierte, unablässig mit der linken Hand gestikulierend und schob sich eine getrocknete Dattel zwischen die Lippen, „so eine große Sache entscheidet man nicht von heute auf morgen. Blöd ist er ja nicht.“ Keine Manieren, dieses Mädchen, dachte er, während er ihre Trinkschalen erneut füllte. Den Ausspruch des reichlichen Bedienens hatte sie in übertriebener Form verinnerlicht. „Wieso hat er uns dann davon nichts erzählt? Nicht einmal der Kleine wusste Bescheid, und irgendwie, würde ich meinen, geht uns das schon etwas an.“ Grummelnd lehnte er sich zurück, betrachtete verachtend das Kurzschwert, das neben ihm auf der Bank lag. Für wen oder was hatte er eigentlich gekämpft? Und für wen würde er fortan in die Schlacht ziehen und sein Leben riskieren? „Wir haben bis heute keinen Rückruf erhalten…“ ergänzte er niedergeschlagen. Trotz seiner erwachsenen Haltung und dem hellen Verstand schimmerte ab und an seine unleugbare Jugend hindurch; ihr Vater hatte ihm keinerlei Anerkennung entgegengebracht, wie sehr er sich bemühen mochte, und sein älterer Bruder übte sich nunmehr in selbiger Ignoranz. Fairness hatten beide niemals gekannt. „Hör zu. Vielleicht nehmen wir das alles ein wenig zu persönlich. Die Verhältnisse müssen sich erst festigen, und vier verfeindete Reiche zu einen ist ein ziemliches Stück Arbeit“, sinnierte sie, die Finger in der Schüssel mit den süßen roten Datteln vergraben. „Wir könnten ihm helfen!“ rief er aufgebracht und schlug mit der Faust auf den Tisch, sodass das Geschirr klirrte. „Eldsvoði, damit würden wir ihm keinen Gefallen tun. In den Augen der alten Eliten sind wir nichts als unerfahrene Kinder. Er muss es alleine schaffen, sich zu beweisen.“ Missmutig presste er die Zähne aufeinander, wandte sich von ihr ab. „Seine Ambition wächst ihm über den Kopf, das ist Wahnsinn“, konstatierte er düsteren Tones, sein Blick schweifte durch den Raum, zu den zwielichtigen Gestalten, die am gegenüberliegenden Ecktisch hockten. Söldner. Auftragsmörder. Deserteure. Abschaum. Eine Anarchie sondergleichen hatte er heraufbeschworen, sonst nichts. „Vertrau ihm“, versuchte sie ihn zu besänftigen, doch er verzog bloß mürrisch das Gesicht und blaffte sie an: „Bist du von allen guten Geistern verlassen? Du willst dem Mörder deines Vaters Vertrauen schenken?“ *** Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)