Assoziatives Schreiben von Technomage ================================================================================ Kapitel 9: Satz 15: Zeit ------------------------ Ständig wurde er von Minuten, Stunden, Tagen, Monaten, Jahren, Jahrhunderten und Äonen verfolgt. James fluchte leise. Das ununterbrochene Ticken trieb ihn in den Wahnsinn. „James Antoine O’Connor, ich verlange eine Erklärung!“, meldete sich die hohe Mädchenstimme irgendwo hinter ihm. Isabellas wohlerzogene Empörung wäre der nächste Stichpunkt auf der langen Liste in Richtung Wahnsinn, knapp hinter dem Ticken, der Gesamtsituation und der möglicherweise global existenzbedrohlichen Lage. Er zog vorsichtig die Hände aus dem Kreis und wandte sich seinem kleineren Problem zu. „Miss Saintsbrook“, setzte er zum Reden an, während er noch seine Gedanken ordnete und die noch kindlichen Augen des jungen Mädchens fixierte. Im sanften Meer schwamm ein großes Floß beherrschten Unmuts verwirrt umher. Junge Damen wie Isabella, dachte James, wurden niemals wirklich wütend oder zornig oder verloren einfach die Beherrschung durch irgendein namenlos ungeheures Gefühl, weil nichts Bedrohliches oder Widerwärtiges in ihrer kleinen Welt existierte, woran sie hätte solche Emotionen entwickeln können. Ebenso war sie wie jetzt, wenn sie eine nahende Bedrohung und Ungewissheit verspürte, vollkommen damit überfordert dieser Ahnung mit Bewusstsein nachzukommen. Schon wie Isabella nun ihr Rüschenkleid glatt strich und mit erwartungsvoller Miene wartete, was er zusagen hatte, zeigte James, dass das Mädchen kein Unglück begreifen konnte, dass über eine zerbrochene Teetasse hinausreichte, selbst wenn es eine Machete an ihren Hals drücken würde. Lesen die wohlbehüteten Adelstöchter heute keine Abenteuerromane mehr, seufzte seine innere Stimme abfällig. Nein, antwortete er sich selbst, die werden für zu grobschlächtig und missverständlich erachtet. „Zuerst einmal bin ich Anwalt und mit einer solchen Situation deutlich außerhalb meines Kompetenzbereichs“, setzte James an. Isabella kräuselte sehr sachte die Brauen. Wie eine Falte in glatter Seide. „Aber Sie sind Pirat“, fiel ihm das Mädchen ins Wort. James seufzte. „Ich bin Anwalt auf einem Piratenschiff“, gab er zu. „Also zuallererst einmal Anwalt, vielleicht Piratenanwalt, oder ein piratischer Anwalt, je nachdem welche Perspektive Ihnen besser gefällt, Miss Saintsbrook. Ich würde Sie schließlich auch nicht als Piratin bezeichnen, sondern als junge Lady aus adeligem Hause auf einem Piratenschiff, nur weil sie sich wie ich – genauer gesagt länger als ich – auf einem solchen aufgehalten haben.“ Isabella sah ihn schweigend an und dann nachdenklich zur Seite. Entweder die Argumentation hatte sie überzeugt oder war zu kompliziert für eine Zwölfjährige. „Dorian hat immer gesagt, ich sei der ‚Köder’“, setzte das Mädchen wieder an. Sie war offenbar vom aktuellen Problem zu einer unkomplizierteren Fragestellung gesprungen. „Anfangs hatte ich Angst, dass er mich ins Wasser wirft, aber bisher hat er nie versucht mit mir Fische zu fangen, obwohl er immer lachte und sagte, er würde durch mich reichlich Beute machen. Dorian und ich saßen oft oben auf Deck und haben Kuchen gegessen. Wussten sie, dass Dorian ausgezeichneten Orange Pekoe zubereitet, Mr. O’Connor?“ „Ich habe im Moment offen gesagt andere Sorgen als Dorian Blacks Teekünste, Miss Saintsbrook“, ergriff James die Frage als Gelegenheit, um Isabellas Redefluss zu unterbinden. „Tatsächlich, welche?“ Das Mädchen sah ihn verdutzt an wie Sancta Simplicita höchstselbst. Gott habe sie selig, murmelte seine innere Stimme. „Wie sie bereits zuvor bemerkt hatten, bin ich gerade mit diesem … Ding beschäftigt, dass möglicherweise uns alle in Gefahr bringen könnte“, versuchte James händeringend zu erklären und deutete nur auf den Kreis hinter sich. Wie soll ich ihr erklären, was ich selbst nicht verstehe, stöhnte er in sich hinein. Du könntest es mit Raumzeittheorie versuchen oder den Hypothesen multipler Paralleldimension, schlug ihm die Stimme in seinem Kopf vor, vielleicht lesen höhere Töchter ja neuerdings so etwas statt Abenteuergeschichten. Dabei stirbt wenigstens niemand. Außer vielleicht uns. Jetzt. Isabella reckte neugierig den Kopf über seine Schulter und James folgte ihrem Blick. Der Kreis war eigentlich eine Kugel, wenn man um ihn herumging oder ihn nicht genau betrachtete. Doch wenn man davorstand und den Kopf nur ein wenig zur Seite legte und wieder zurück, dann wurde klar, dass das Ding nicht dreidimensional war. Es folgte der Perspektive des Anschauenden wie ein Kreis ohne räumliche Tiefe. Der Kreis war ein Loch und er verlor sich in einer Tiefe, die er offenkundig von Außen betrachtet nicht besaß, wie ein Fass ohne Boden. Innerhalb des Lochs gab es Schichten um Schichten von ineinandergreifenden Zahnrädern und haardünnen Kupferdrähtchen. Überall darin waren Zeiger, doch meistens fehlten die dazugehörigen Ziffernblätter oder waren in sich vollkommen verquer, sodass keine Uhren zustande kamen, trotz all der Mechanismen. Keine Uhren – Keine Zeit. Doch das lästige Ticken, abertausendfach gleichzeitig, war da und nun erinnerte sich James wieder daran. Es hob erneut dazu an ihn in den Wahnsinn zu treiben. „Oh“, formte Isabellas Mund nur. „Das ist mir bisher noch gar nicht aufgefallen. Und was hatten Sie damit zu schaffen? Sie wirkten angespannt und abwesend. Ich war besorgt um Sie, Mr. O’Connor.“ „Können Sie sich noch daran erinnern, weshalb wir hier sind?“, hakte James skeptisch mit einer Gegenfrage nach. „War es vielleicht, weil …“ Das Mädchen stockte nachdenklich wie eine Spieluhr, die man vergessen hatte aufzuziehen. Es passierte jedem seit ein paar Wochen. Kann schon mal passieren, sagte James zu sich selbst, wenn das Zeitgefüge schief läuft. „Wir sind hier, weil seit drei Wochen die Sonne nicht mehr untergeht, Miss Saintsbrook. Wir sind hier, weil wir ständig heute ins Bett gehen und gestern aufwachen. Oder übermorgen. Wir sind hier, weil so mancher einen halben Tag braucht, um eben schnell die Flinte zu holen, die er in seiner Kabine vergessen hat, während ich gelegentlich Bücher von tausend Blatt binne einer Stunde lese.“ James’ Gesprächsfaden riss ab, weil er keine Lust hatte sich noch mehr Beispiele aus der derzeitigen Zeitkrise auszudenken. „Oh“, machte Isabella erneut. „Wie konnte ich die Zeit vergessen?“ „Möglicherweise denken Sie nicht so oft darüber nach, wie viel Zeit noch bleibt“, seufzte er und fragte sich sogleich, ob es eine zu harsche Antwort war. Nein, du bist eine verzogene, sorgenfreie Göre, wäre unhöflich gewesen. „Und was ist das Problem?“, verlangte Isabella, nun wieder bestimmter, zu wissen. „Nun, ich weiß nicht so recht, was ich mit der Zeit anfangen soll“, gab James beschämt zu. „Ich greife hinein und versuchte sie richtig einzustellen, aber sofort hängen sich mir allerhand Zeiteinheiten und deren Einteilung, Planung, Nutzen und Bedeutung auf den Pelz und lassen nicht mehr von mir ab, als wollten sie etwas von mir. Ich bin offen gesagt überfordert mit der Zeit umzugehen.“ Isabella legte den Kopf schief. „Und man kann hier einfach in die Zeit hineingreifen und sie regeln?“ „Deshalb sind wir bis hierher vorgedrungen bzw. es sind nur noch Sie und ich bei dem Versuch übrig geblieben.“ James setzte sich ratlos auf den kahlen Fußboden. Er betrachte wehmütig den tickenden Kreis. „Aber es ist ein sensibles Gebilde und man darf nichts kaputt machen.“ „Können wir sie nicht einfach wieder aufziehen, sodass sie normal weiterläuft?“, fragte das junge Mädchen nachdenklich, ausnahmsweise nicht gerade altklug. „Wie meinen?“ „Nun ja, wie eine Taschenuhr eben. Oder andere mechanische Getriebe.“ Sie machte einen Schritt auf den Kreis zu und streckte die kleine Hand hinein. James zuckte erschrocken zusammen und wollte sie aufhalten, doch wollte keine hektischen Bewegungen machen, die womöglich großen Schaden anrichten würden, solange Isabella ihre Hände in der Zeit hatte. Ein rhythmisches Surren erfüllte den Raum und das Ticken verstummte, während Isabella nur den Arm einige Male sachte drehte. Dann zog sie die Hand wieder heraus. Das Ticken setzte wieder ein, nun jedoch nur ein einziges. „Was haben Sie getan?“, wollte James entgeistert wissen. „Ich habe sie aufgezogen.“ „Sie haben die Zeit wieder aufgezogen?“ „Ja, der Schlüssel steckte noch. Können wir jetzt gehen, Mr. O’Connor? Dort drin ist es furchtbar dreckig und ich habe mir die Finger schmutzig gemacht.“ Bei den letzten Worten wirkte sie zum ersten Mal wirklich besorgt. James musste grinsen. „Nehmen Sie mein Taschentuch, Miss Saintsbrook.“ Er zog es aus der Westentasche und reichte es ihr. „Sie dürfen es sogar behalten. Natürlich können wir jetzt gehen.“ Isabella wirkte sehr erfreut sich die Hände abwischen zu können und glitt sogleich in ihrem wehenden Gang zur Tür. „Wird die Zeit jetzt wieder laufen?“ James sah aus dem einzigen schmalen Fenster des Raumes, hoch über dem Meer. „Zumindest ist die Sonne gerade untergegangen. Alles Weitere werden wir sehen.“ James sah sich noch einmal im schlichten hohen Raum um, in dessen Mitte der Kreis war, als würde er schweben. „Was für ein trostloser Ort für die Zeit.“ „Was meinen sie? Nicht einmal mein werter Herr Vater hat ein ansprechender möbliertes Flanierzimmer.“ Sie stand draußen im Gang und sah ihn skeptisch an, als würde er den Verstand verlieren. „Ich dachte, sie kämen aus einfachen Verhältnissen, Mr. O’Connor.“ James sah noch einmal in den leeren Raum, dann schloss er die Tür hinter sich. „Vergessen Sie’s. Wir müssen ein Schiff kriegen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)