Fensterschreiben von Technomage (Every day is writing day) ================================================================================ Neunfemünde ----------- Es muss eine Zufälligkeit geben oder eine spontane Kombination von Wörtern, die alles besser macht. Wenn nicht das, dann zumindest einfacher. Der magische Satz oder das unerwartete Ereignis, die aussperren, was nicht sauber und richtig ist. Die Elimination der Möglichkeit, dass Missverständnisse entstehen. Die Identität von Körper und Geist ohne schmerzhafte Bildung und die Irrwege der Dialektik. Die direkte Begegnung mit dem Anderen und Fremden, die weder Mittel noch Medium benötigt. Klarheit der Gedanken. Widerspruchslose Emotionen. Und eine Einheit von Fühlen und Denken. Alles reiner Eskapismus. Es gibt sie nicht, diese Spontanität, den reinigenden Zufall. Sie in Betracht zu ziehen ist nur der nächste Kiesel auf einem Haufen von Problemen. Klingt alles recht klug soweit? Keine Sorge. Das gibt sich. Der Schein trügt. Das erste, was ihr über mich wissen müsst, ist dass ich alles, was mir passiert erzähle, nicht einfach wiedergebe. Den ganzen verrückten Kram und die langweiligen Routinen, ich kann es nicht als meinen Tagesbericht auflisten. Ich könnte, aber ich kann nicht. Geschichten, Erzählungen. Nicht einfach nur schnelllebiges Gefasel mit einem Witz und dreizehn Satzzeichen in jedem Absatz. Wovon ich erzähle und was ich erlebe, ist nicht einfach nur Unterhaltung. Nicht einfach nur ein Blog. Du sagst, ich blogge gerade, also ist es einfach nur ein Blog? Warum fange ich einen Blog an, wenn ich keinen Blog schreiben will? Geh sterben. Oder twittern. Was auch immer deine Aufmerksamkeitsspanne verkraftet. Falls du es verkraftest, habe ich dir das eine oder andere zu erzählen. Ich halte es für einen Segen, dass die einzige Schule meiner Stadt ein Flachdach hat, das sich ohne weiteres betreten lässt. Ich gehe natürlich nicht auf diese Schule. Ich bin Sechsundzwanzig und so etwas wie berufstätig, aber es gibt einfach so herzlich wenig hohe Gebäude in dieser Stadt. Wenn die Hölle ein gewöhnlicher Ort wäre, dann ist sie eine mittelgroße Kleinstadt, eingeklemmt in einem schmalen Tal, in der es halbwegs alles gibt und rein gar nichts passiert. Diese Form der Hölle heißt vermutlich ebenfalls Neunfemünde. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl an Buchstabenkombinationen, um einen verdammten Ort dieser Art zu benennen. Das Schuldach der Neunfemündener Gesamtschule, auf dem ich liege, beherbergt sechs Stockwerke unter sich und ist damit das höchste Gebäude der Stadt. In Ermangelung eines kreativen Baukonzepts für mehrere Schulgebäude hat die Stadtverwaltung, solange ich denken kann, einfach die Schule weiter aufgeschichtet wie eine Torte. Es sieht aus wie ein modernes Krankenhaus und ich kann jedem Patienten nur wünschen bald sein Krankenbett und die Stadt verlassen zu dürfen. Jetzt ist die Schule auch von den letzten unentschlossenen Jugendlichen, die auf dem Hof in der Sonne dahinvegetieren wie Fallobst, leer gefegt. Selbst die Leseratten haben die Bibliothek verlassen und sind nach Hause zum Mottenlicht ihrer Computerbildschirme geflohen. Es geht auf sechs Uhr zu. Es ist Freitag. Es gibt keinen verflixten Grund in einer Schule zu sein. Ich bin hier, weil ich ganz unverhohlen und ehrlich nichts besseres mit mir anzufangen weiß. Außerdem kann ich von hier über die ganze Stadt sehen und mag den Überblick. Es ist wie ein überdimensionales Dorf, das vergessen hat mit dem Wachsen aufzuhören und langsam die Berghänge hinaufkriecht. Ich denke, ich hasse nichts mehr als diesen Ort, meine Heimatstadt, und bin doch hier geblieben. Es dämmert und bevor ich zusehen muss wie sich das Licht der Straßenlaternen wie ein Netz über meine Sicht wirft, raffe ich mich auf und mache mich auf den Weg nach Hause. In meine Wohnung. Ich will nichts in Neunfemünde als mein Zuhause ansehen. Sollte ich mir Sorgen machen, dass ich mich selbst korrigieren muss – oder dass es mir wichtig ist mich korrigieren zu müssen? Ich wandere mit ungelenken Schritten, steif und taub vom langen Herumliegen, durch die düsteren Gänge des Schulbaus und steige Treppe um Treppe hinab. Noch vor zwei oder vielleicht sogar einem Jahr habe ich eine ganze Menge gemischter Gefühle und Eindrücke mit einem leeren Schulbau im Zwielicht der Dämmerung verbunden. Der Hall, die lange Gänge, die Leere wie von Gott und Mensch verlassen. Das Aufwallen, irgendwo zwischen Sehnsucht, Irrsinn und Enge, von Gefühlen. Die Frage, wie es ist Sex in einem Klassenzimmer zu haben. Tatsächlich ist dies alles für mich nun nur noch 'eine ganze Menge gemischter Gefühle und Eindrücke', die in meinem Gedächtnis verzeichnet sind, aber nicht mehr überspringen. Durchdringen. Hochkochen. Ich kann mich nicht einmal mehr auf mein bevorzugtes Bild für unfassbare Regungen und Gedanken festlegen. Sie sind abgelegt in Ordnern und Zettelkästen, die verschlossen in einem Aktenschrank meiner Erinnerung ruhen. Als ich früher durch diese Gänge gestreift bin – auch da ging ich schon nicht mehr zur Schule – und nichts besseres mit mir anzufangen wusste, hat es mich stets mit sich fortgerissen wie eine Strömung. Ein Fluss von Erinnerungen, vielleicht an meine Jugend oder Mitschüler, doch nicht einmal das: die vergangene Zeit. Schulzeit. Ein Abschnitt meines Lebens, der mir damals unwiederbringlich und unheimlich weit entfernt vorkam, sodass ich es auf unerklärliche Weise kaum ertragen konnte. Mittlerweile, mehr als fünf Jahre später, kommt mir dieses tragische Gefühl von Distanz ziemlich lächerlich vor. Andererseits fehlt mir – wie zu so vielem – einfach der Bezug. Damals war die Parole, die ich hinter mir hertrug wie ein Banner noch 'Ich vermisse die Vergangenheit, lebe nicht in der Gegenwart und fürchte mich vor der Zukunft.' Heute scheint es mir einfach egal zu sein. 'Ich bin nicht gut in sowas' kursiert bei meinen Reaktionen und Gedanken sehr hoch. Es lässt sich traurigerweise auf erstaunlich viele Bereiche anwenden. Ich lasse die Gedanken mit der letzten Glastür hinter mir wie Gespenster, die im Schulhaus spuken. Die Tür, die nicht richtig schließt, schloss schon zu meiner Zeit nicht richtig und tief in meinem Inneren bin ich davon überzeugt, dass irgendwo in diesen lehrenden Halle ein weiser Eremit lebt, der genau mit der Absicht eine Tür offen hält, dass Menschen wie ich ihren Weg auf das Dach finden. Vielleicht will er auch einfach nur den Weg zum einzigen Ort in 50 Kilometern Umkreis offen halten, von dem aus man mit realistischer Chance in den Tod springen kann. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)