Flieger & Fänger von Terrormopf ================================================================================ Kapitel 10: Briefe ------------------ Endlich wurde er aus dem Lazarett entlassen. Aber was erwartete ihn nun draußen? Bisher hatte man die Verletzten verschont, aber das würde wohl kaum ewig so bleiben. Würden sie alle Männer verhaften, die an der Front gekämpft hatten? Das konnten sie doch gar nicht! Das hieße nämlich, dass sie fast jeden grauen Mann hätten festnehmen müssen und das ging sicher nicht. Aber einige würden sie gewiss festnehmen und Kama hatte keine Ahnung nach welchen Kriterien sie da beurteilten. Also fühlte er sich mulmig, als er mit Schwester Lisa in Richtung Ausgang ging. Wenn den Bunten seine Nase nicht passte, dann war er dran! Die Sicherheit des Lazaretts war ihm nun genommen. Aber er hatte beschlossen erst einmal nach Hause zu seiner Familie zu fahren um dort nach dem Rechten zu sehen, schließlich wusste Kama auch nicht inwieweit kleine Städte von den Bunten besetzt wurden. Und war das der Fall, dann hatte er Angst, dass die Soldaten nun gleiches mit gleichem vergelten würden. Kama wollte nicht, dass seiner Mutter irgendein Unrecht geschah. Und auch seine beiden Geschwister waren nicht in Sicherheit. Schwester Lisa hatte seine Hand ergriffen. Sie hatte es wohl endlich akzeptiert, dass Kama nicht so empfand wie sie, dass er sich unter keinen Umständen vorstellen konnte nun noch den Kontakt zu ihr zu pflegen, so nett sie auch gewesen sein mochte. Es tat ihm irgendwo leid, da sie eigentlich stets fröhlich und munter gewesen war und nun doch sehr geknickt wirkte. Zusätzlich noch zu der Unsicherheit in ihren Augen, die sich im ganzen grauen Volk ausgebreitet hatte. „Ist es in Ordnung, wenn ich dir Schreibe um zu erfahren wie es dir geht?“, fragte sie leise, als sie vor der Tür stehen blieben. Kama rührte sich nicht und erwiderte auch nichts. Er ließ es zu, dass sie seine Hand hielt; er bemerkte es kaum. Starr starrte er auf die Tür die ihn von der unsicheren Außenwelt trennte. Konnte er es wirklich wagen? „Kama! Warte!“, es war der Arzt, der ihn rief und schlagartig drehte sich Kama um und sah ihn, wie er den beiden eilig entgegen gerannt kam. Bis er endlich stehen blieb war er schon ganz außer Atem. Fast war Kama dem Arzt dankbar für diese Verzögerung, doch sagte er nichts, sondern sah etwas skeptisch auf den Arzt. Was wollte der denn jetzt noch von ihm? „Hier sind noch persönliche Gegenstände von dir“, sagte der Arzt, als er seine Atmung wieder unter Kontrolle hatte und reichte Kama ein Bündel mit Briefen, einen Schlüssel und seinen Ausweis. Kama nahm die Gegenstände seufzend an sich. Ob es ihm wohl wirklich dienlich war, wenn er einen Ausweis bei sich trug auf dem stand, dass er lange gedient hatte und eigentlich auch noch eine geraume Zeit vor sich hatte? Und der Schlüssel… Kama hoffte, dass er ihn nicht verwenden musste, denn sonst hieße das, dass seine Familie, wirklich niemand zu Hause war und das war dann kein gutes Zeichen. Und was sollte er denn mit den Briefen? Es waren wahrscheinlich die, die ihm seine Mutter geschrieben hatte. Das einzige, was ihn verwunderte war, dass es so viele waren. Aber vielleicht hatte man einfach die von der Front dazugelegt. Kama wusste es nicht. Er dankte dem Arzt, verabschiedete sich von ihm und seiner Tochter, ließ es noch zu, dass sie ihn zum Abschied auf die Wange küsste und ging dann hinaus. Das gleißende Sonnenlicht blendete ihn im ersten Moment als er den ersten Schritt hinaus tat, doch schnell gewöhnten sich seine Augen daran und er war nun froh darum, dass der Arzt Zivilkleidung für ihn besorgt hatte, denn hier draußen wimmelte es nur so von Blauen. Ein paar musterten ihn skeptisch, als er dort etwas verloren vor dem Lazarett stand, doch sie scherten sich nicht um ihn, sondern gingen weiter. Die Stadt war kein schöner Anblick; wenn man überhaupt noch von einer Stadt sprechen durfte. Einstmals war dies eine der schönsten Städte des grauen Landes gewesen, doch nun lag alles in grauen Trümmern. Dazwischen waren Frauen zu sehen, die in den Trümmern arbeiteten. Sie versuchten wahrscheinlich noch das Wertvollste aus den Trümmern zu suchen, aufzuräumen und wieder aufzubauen. Die Blauen halfen ihnen kaum, es waren eher die Kinder, die emsig hin und her liefen und von ihren Müttern, Tanten, Schwestern oder einfach fremden Frauen Anweisungen bekamen. Eigentlich war Kama auf dem Weg zum Bahnhof, aber wenn er konnte, dann half er den Frauen. Sie baten ihn nicht darum. Wahrscheinlich hatten sie keine guten Erfahrungen gemacht, aber wenn er mit anpackte, dann leuchtete ein wenig Dankbarkeit in ihren trostlosen Augen auf. Bei all den Leichen die Kama auf dem Weg zum Bahnhof sehen musste, wurde ihm schlecht. So viele Kinder und Frauen waren noch unter den Trümmern begraben und es stank dann bestialisch, wenn man gerade auf einen schon seit längerem leblosen Körper stieß. Als er dann endlich am Bahnhof ankam war es schon dunkel geworden. Er hatte Glück, dass er noch benutzbar war. Man hatte ihm erzählt, dass viele Bahnhöfe vollkommen zerstört worden waren. Aber es fuhr an diesem Tag kein Zug mehr. Er hätte zurück ins Lazarett gehen können, Schwester Lisa hätte gewiss noch ein Bett für ihn frei bekommen, doch er wollte nicht noch einmal durch diese Straßen voller Leid und Grauen gehen müssen. So beschloss er hier am Bahnhof zu übernachten und am nächsten Morgen dann den erstbesten Zug Richtung Heimat zu nehmen. So legte er sich auf eine der Bänke, sein Hab und Gut nahe an seinem Körper. In der Nacht wurde es aber empfindlich kalt. Im Laufen und beim Arbeiten war es ihm nicht aufgefallen, aber nun, wie nur dalag, sich nicht bewegte, da presste er fest die Kiefer aufeinander. Er musste daran denken, wie er damals an der Westfront, noch im Schützengraben, Levi seine Jacke gegeben hatte, weil dem so kalt gewesen war. Er würde es jetzt ohne zu zögern wieder tun, nur hatte er nun nicht mehr die Gelegenheit dazu. Ohne dass er es verhindern konnte, liefen nun vor seinem inneren Auge Bilder ab. Bilder von ihm und Levi. Aus frühster Kindheit, die letzten Momente, die sie miteinander verlebt hatten, als Levi seine Freundin gehabt hatte, die unzähligen Wochenenden an denen sie ausgegangen waren, Levis Leichtsinn. Kama wollte gar nicht daran denken, denn es war ihm schon oft passiert, dass er deshalb die ganze Nacht nicht schlafen konnte und er brauchte dringend Schlaf. So nahm er das Bündel Briefe und begutachtete es. Vielleicht würden ihn die Worte seiner Mutter beruhigen, so wie man kleinen Kindern Gutenachtgeschichten vorlas. Er öffnete die Schleife und den Knoten, die in der Schnur waren, die das Bündel zusammenhielt und nahm den ersten Brief zur Hand. Er sah auf das Datum des Poststempels. Das war wirklich noch ein Brief, den er an der Front bekommen hatte. Ein Absender stand nicht darauf, Kamas Mutter hatte das nie getan. Also blickte Kama auf den Adressaten. Im ersten Moment kam er ihm vor wie jeder andere Brief seiner Mutter, doch dann stutzte er. Das war nicht die Handschrift seiner Mutter! Auch nicht die seines Bruders oder seiner Schwester. Er kannte nur eine Person die so hastig und dennoch lesbar schreiben konnte und das war Levi. Konnte das denn sein? Hielt er hier einen Brief von Levi in der Hand? Unmöglich! Man hätte ihm die Briefe doch zugestellt. Wahrscheinlich begann er nun schon zu halluzinieren. Doch als er das Kuvert umdrehte um den Brief hinauszunehmen, entdeckte er, dass es noch nicht geöffnet worden war. Aber er hatte doch jeden Brief seiner Mutter gelesen! Kama schluckte schwer und öffnete das Kuvert nervös und mit feuchten Händen. Zitternd entfaltete er das Blatt Papier und sah darauf, las die erste Zeile: „Mein lieber Kama!“ Seine Mutter hatte immer geschrieben „Geliebter Sohn“ Doch noch immer versuchte er sich auszureden, dass der Brief von Levi war, denn wenn er sich nun Hoffnungen machte, dann würde er später nur umso enttäuschter sein. So las er denn weiter: „Ich bin nun an der Ostfront angekommen und das hier ist kein Zuckerschlecken, das kannst du mir glauben.“ Hastig ließ Kama seinen Blick auf die Unterschrift gleiten und dort stand doch tatsächlich Levis Name. Kama wusste nicht, ob er nun vor Freude Jauchzen oder weinen sollte. Levi hatte ihm doch geschrieben! Und in dem Moment konnte er nicht weiter lesen. Er musste sich zunächst zurücklehnen und sich sammeln und fassen. Unruhig legte er das Blatt aus der Hand und blätterte durch die restlichen Briefe. Es war jedes Mal Levis Hand gewesen, die da seinen Namen drauf geschrieben hatte. Von Mal zu Mal war sie unsicherer und zittriger geworden, aber es war Levis Handschrift. Wieso hatte er die Briefe nicht erhalten? Waren sie nicht zur Front durchgekommen? Das konnte nicht sein, schließlich hatte er auch Briefe von seiner Familie erhalten. Er wusste nicht was er nun davon halten sollte. War das etwa noch ein weiterer Teil der Bestrafung gewesen? Dass man die Briefe nicht zu ihm durchgestellt hatte? Etwas Anderes konnte er sich einfach nicht vorstellen. Einen nach dem anderen Brief las er durch. Levi hatte auch keine Briefe von ihm erhalten, doch treu hatte er weiter geschrieben. Manche Briefe las Kama zwei- oder dreimal durch. Er sog die Worte in sich auf. All jene typischen Kleinigkeiten, die Levis Schreibstil ausmachten. Die Wiederholungen, die Euphorie und die Naivität. Doch kam Kama nicht umhin zu bemerken, dass sich nicht nur Levis Handschrift verändert hatte. Je öfter er einen Brief las, desto stärker wurde das Gefühl, dass all das Positive, all das Sorglose, das blind Vertrauende nur so dahin geschrieben war, dass er zwischen den Zeilen lesen musste. Und da stand Levis ganze Verzweiflung. Seine Einsamkeit und die Seelenqualen, die er durchlitt. Kama hatte einen Kloß im Hals, als er bei jedem Brief den wahren Sinn herausgefunden hatte. Levi war es schlecht ergangen. Sie hatten noch weniger Nahrung gehabt als an der Westfront, es war im Sommer viel zu heiß gewesen, weit über dreißig Grad bei denen man durch die ausgedörrte Landschaft marschieren musste und im Winter tiefe Minusgrade, obwohl keine Winterkleidung vorhanden gewesen war. Man stahl den gefallenen Roten, was man brauchte. Und dann waren sie endlich in der großen Stadt angekommen, die ihr Ziel gewesen war. Es war ein Häuserkampf gewesen, zu einem Straßenkrieg ausgeartet, doch noch viel erbitterter als sie es zusammen erlebt hatten – man kämpfte am Tag um wenige Quadratmeter. Und irgendwann war man eingekesselt geworden, obwohl doch alles nach einem Sieg ausgesehen hatte. Man hatte ihnen versprochen, dass sie mit ausreichend Nahrungsmitteln und Munition versorgt würden, doch schnell hatte sie herausfinden müssen, dass das nicht der Fall war. Die Nahrung, die mit metallenen Fliegern eingeflogen wurde, reichte kaum für ein Viertel der Soldaten, sodass die Rationen immer kleiner, die Suppen immer dünner wurden. Und Levi hatte nicht fliegen können, denn wer am Himmel gesichtet wurde, wurde erschossen, nur die Metallflieger, diese Maschinen konnten es schaffen. So saß man in der Falle. Er las von dem gescheiterten Rettungsmanöver einer anderen Division, von den Befehlshabern, die es sich gut gehen ließen. Und er las: „Weißt du Kama, du solltest dir einen neuen Flieger suchen, der so leichtsinnig ist wie ich. Du brauchst jemanden auf den du aufpassen kannst.“ Und auch wenn man nicht mehr glaubte zu siegen, so wurde doch die Kapitulation immer und immer wieder verboten. Täglich fanden Massenexekutionen statt. Und dann wurde man von den Roten immer weiter zurückgedrängt, der Kreis zog sich immer enger. Und das war der letzte Brief. Erschüttert legte Kama das letzte Blatt neben sich, starrte stumm auf die Säule ihm gegenüber. Es war ihm durch Mark und Bein gegangen und als hätte er einen Teil miterleben müssen. Erst jetzt bemerkte er, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Er konnte nicht mehr. Er konnte die Tränen nicht mehr aufhalten, sich nicht mehr bewegen, nicht mehr denken. Er saß nur noch da, weinte stumm und sah durch die Dunkelheit auf diese hässliche Säule. Als die Tränen endlich versiegt waren, da konnte Kama endlich wieder einen Gedanken fassen. Nun sah er ein, dass er egoistisch gewesen war. Er hatte sich nur für sich gewünscht, dass Levi am Leben blieb, aber wenn er nun darüber nachdachte, dann glaubte er, dass es für Levi gnädiger gewesen wäre, wäre es wirklich gewesen, wie seine beiden Kameraden es zu der Zeit in der Stadt an der Westfront zu ihm gesagt hatten: dass er gleich am Anfang auf eine Landmiene getreten wäre oder von der Rotorgel getroffen worden wäre. Aber stattdessen hatte Levi leiden müssen. Ob er nun wenigstens in Frieden ruhen konnte? Natürlich wollte Kama nicht, dass Levi tot war, aber er glaubte, dass es leichter für ihn wäre. Langsam legte er sich auf die Parkbank, rollte sich auf der Seite zusammen, presste die Briefe gegen seine Brust. Er schloss die Augen und versuchte zu schlafen, doch immer wieder schreckte er auf, weil er von den Ereignissen, die Levi ihm im Brief geschildert hatte, träumte. Allein die Träume waren schrecklich, aber wenn er sich vorstellen musste, dass Levi all das hatte erleben müssen, dann wurde ihm ganz anders. Und ein- oder zweimal musste er sich auch übergeben. Als er am nächsten Morgen erwachte, herrschte schon ein reger Betrieb am Bahnhof. Zerzaust, müde und verschwitzt ging er zu einem Schalter und fragte, welcher Zug zu ihm führe, doch man konnte ihm nur sagen, dass er da erst einmal in die Hauptstadt fahren müsse. Seufzend willigte er ein und kaufte sich eine Fahrkarte für den nächsten Zug. Eigentlich hatte er sich auch etwas zu Essen kaufen wollen, doch als er die kleinen Portionen nur sah, da drehte sich ihm wieder der Magen um. Der Schock von letzter Nacht saß ihm noch zu tief in den Knochen. Er hatte sich noch nicht von den Berichten erholt. Als er nun zu seinem Gleis ging, all sein Hab und Gut konnte er unter einem Arm tragen, schenkte er seiner Umgebung das erste Mal wirklich Beachtung. Und erst jetzt viel ihm auf, dass auch hier unglaublich viele Blaue Soldaten waren. Sie standen gegen die Wände gelehnt da oder gingen durch die Menschentrauben. In den Händen hielten sie ihre Gewehre, an den Gürteln trugen sie noch Pistolen. Misstrauisch beobachtete Kama die Soldaten. Er hatte nie gegen die Blauen kämpfen müssen. Und hatte auch wenig Gerüchte über sie gehört, so konnte er diese Männer schlecht einschätzen. Gerade hatte er sich auf die Bank an seinem Gleis gesetzt, da kamen zwei Blaue und setzten sich, wenn auch mit Abstand, neben ihm. Sie unterhielten sich auf ihrer Sprache und lachten hin und wieder. Dann zog der eine zwei Papierchen und ein Döschen aus der Brusttasche seiner Uniform und als er das Gefäß öffnete, erkannte Kama, dass Tabak darin war. Nun begannen die beiden sich je eine Zigarette zu drehen. Viele von Kamas Kameraden an der Front hatten auch geraucht, oder es dort angefangen. Er selbst hatte es aber immer geschafft die anderen zu überzeugen, dass er nicht rauchen wollte und die Tabakration, die ihnen zugestanden worden waren, hatte er immer verschenkt. Plötzlich stieß ihm jemand gegen die Schulter. Er schreckte aus seinen Gedanken auf und sah perplex in das fragende Gesicht des Blauen, der neben ihm saß und ihm das Döschen Tabak hinhielt. Noch immer nicht fähig sich irgendwie mitzuteilen sah Kama einfach vom Tabakdöschen ins Gesicht des Besitzers und dann in das Gesicht seines Kameraden und wieder zurück. Nun hielt der Soldat ihm das Döschen noch näher hin und schüttelte es leicht. Nun erst fasste Kama sich wieder. Er schüttelte den Kopf, seine Mimik blieb starr. Der Blaue zuckte nur mit den Achseln, wandte sich an seinen Kameraden, sagte etwas und beide lachten daraufhin. Ihre Zigaretten qualmten schon und er packte das Döschen endlich wieder weg. Nachdem der Blaue noch einen Zug genommen hatte, wandte er sich wieder an Kama und fragte, wenn auch mit starkem Akzent: „Wohin?“ „Hauptstadt“, murmelte der Fänger, jedoch schien sein Gegenüber das nicht verständen zu haben, denn er zog die Brauen hoch und machte: „Hä?“ „Hauptstadt“, wiederholte Kama, nun deutlicher und lauter. Die beiden Blauen wechselten einige schnelle Worte, dann wandte der mit dem Tabak sich wieder Kama zu und sagte: „Wir begleiten.“ Kama erwiderte nichts. Er wusste auch gar nicht, was er davon halten sollte. Wollten sie ihn damit festnehmen? Oder wollten sie ihm nur sagen, dass sie ebenfalls in die graue Hauptstadt mussten? Kama war es nicht wirklich recht, dass er nun von diesen beiden blauen Soldaten regelrecht verfolgt wurde. Der Zug war bald gekommen und die beiden Blauen hatten einige Zivilisten aufgescheucht, um selbst Platz nehmen zu können. Kama hatten sie den Platz ihnen gegenüber angeboten, doch er ließ dort lieber eine alte Dame Platz nehmen, denn der Zug war regelrecht überfüllt. Die ganze Zeit über wurde Kama von den beiden Soldaten beobachtet und sie unterhielten sich auf ihrer Sprache, wobei Kama das Gefühl nicht loswurde, dass sie über ihn sprachen. Und irgendwann, als der Zug leerer geworden war und Kama sich doch ihnen gegenüber gesetzt hatte, da fragte wieder der mit dem Tabak: „Name?“ Schon längst war Kama überzeugt davon, dass nur er wenigstens sehr gebrochen seine Sprache sprach sowie verstand und sein Kamerad überhaupt keine Ahnung von der Sprache hatte. „Kama“, antwortete der Fänger, sah abwesend aus dem Fenster. Auch die beiden Blauen stellten sich ihm daraufhin vor, doch kaum hatten sie ihre Namen genannt, hatte Kama sie auch schon wieder vergessen. Er sah zum Fenster hinaus, beobachtete die Landschaft, die an ihm vorbei flog und musste dabei wieder an Levi denken. Wie gerne hätte Kama ihn noch einmal fliegen sehen. Wie gerne hätte er ihn noch einmal gefangen und dann das Gefühl gehabt ihn in Sicherheit zu wissen. Und wie gerne hätte Kama ihn einfach nur in den Arm genommen, ihn geküsst. Aber wahrscheinlich würden sie sich nie mehr wieder sehen, selbst wenn Levi noch leben sollte. Vielleicht war er dann in roter Gefangenschaft, oder in einem Lager, oder er irrte durch das weite rote Land um nach Hause zu finden. Kama schluckte schwer. Ob er Levi wohl überhaupt wieder erkennen würde, wenn er ihn nun sah? Die Kiefer fest aufeinander pressend stellte er schmerzhaft fest, dass ihm langsam Levis Gesichtszüge entfielen. Dass er Levi nun wohl nicht mehr nur an seinem Gewicht erkannte. Dass Levi sich in der langen Zeit an der Ostfront wohl sehr verändert haben musste. Vielleicht war er gar nicht mehr derselbe. Kama erhob sich und verließ das Abteil. Unbewusst bekam er mit, dass einer der Blauen ihm folgte, doch er ging auf die Toilette und sperrte von innen die Tür zu. Dann sah er in den zerschlagenen Spiegel und sein Gesicht spiegelte sich wider. Seine Augen waren gerötet und er musste die Tränen mit aller Macht zurückhalten. Allein die Gedanken an seinen Levi trieben ihn an seine Grenzen. Aber durfte er denn überhaupt noch von „seinem“ Levi sprechen? Bisher war es immer klar gewesen und er hatte Levi damit auch nicht als sein Eigentum bezeichnet, sondern damit die Besonderheit, die Levi für ihn bedeutete unterstrichen. Doch nun? Er wusste nichts mehr von Levi, nichts mehr über ihn. Nicht einmal ob er tot oder lebendig war. Mit zitternden Fingern fuhr Kama sich durch das dunkle Haar und legte sich die kalten, feuchten Hände dann über die Augen. Was sollte er nur tun? Einfach nach Hause zurückgehen, sich einen Job und eine Frau suchen und dann Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr immer weiter stupide leben, bis er letztendlich starb? Konnte er das denn überhaupt? Als er noch mit Levi zusammen gewesen war, hatte er sich nie wirklich Sorgen machen müssen – außer um Levi natürlich. Aber wie sollte es jetzt werden? Er konnte sich doch nicht nur um sich selbst kümmern! Er brauchte doch Levi, um den er sich Gedanken machen musste und der ihn wieder von diesen Gedanken abbrachte. Seine Lider wurden wieder heiß bei dem Gedanken daran die Zukunft ohne Levi verleben zu müssen. Und schnell dachte er an seine Mutter und seine beiden kleinen Geschwister, die sich sicher freuen würden, ihn wohlauf wieder zu haben. Langsam beruhigte er sich wieder, wenn er sich vorstellte, seine kleine Schwester in den Arm zu nehmen und ihr zu sagen, dass er nun dableiben würde, nicht mehr fort müsse. Wenn er seinem Bruder endlich die Verantwortung abnehmen konnte und seine Mutter entlasten konnte, indem er das Geld verdiente. Aber die Gedanken an Levi konnte er nicht ganz vertreiben. Sie blieben weiterhin in seinem Hinterkopf und schrieen ihn förmlich an, dass er sie bewusst dachte, doch er ignorierte es geflissentlich. Ein hartes, ungeduldiges Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken und jemand rief etwas auf einer anderen Sprache zu ihm. Schnell fuhr er sich mit dem Ärmel über das Gesicht und öffnete dann die Tür. So erkannte er, dass es der blaue Soldat gewesen war, der ihn so ruppig in die Realität zurückgerissen hatte. Skeptisch sah ihn dieser nun an, sagte aber nichts, sondern packte Kama am Arm und zog ihn zurück zu ihrem Platz. Kama wusste, was dieses Verhalten zu bedeuten hatte. Und somit musste er dem anderen, der ja annähernd seine Sprache sprach gar nicht mehr zuhören um zu wissen, dass er festgenommen war. Er sah lieber wieder aus dem Fenster und gab sich der Illusion eines heilen Familienlebens zu Hause hin. Er fragte sich auch nicht warum er festgenommen wurde. Wahrscheinlich weil sie vermuteten, dass er auch im Krieg gedient hatte. Und dass sie ihn nicht einmal nach seinem Pass fragten wunderte ihn auch nicht. Er ignorierte es einfach und ergab sich seinem Schicksal. Er hoffte nur, dass sie ihm seine Briefe lassen würden, dass er wenigstens diese behalten durfte, denn es war das Einzige, das er noch von Levi besaß. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)