Götterdämmerung von 35M3R0D ================================================================================ Prolog: Das Ende der Welt ------------------------- Wir sind auf der Flucht. Er nennt es zwar nicht so, aber etwas in seinem einen Auge zeigt es ganz deutlich, wenn er in Momenten, in denen er sich unbeobachtet fühlt, hastig hinter sich schaut. Die Strassen Londons sind nicht freundlich zu den Schwachen, aber das hat keiner von uns beiden erwartet. Als wir aufgebrochen sind, war uns klar, dass eine Zeit vor uns liegt, die noch düsterer sein wird als jene, die bereits vergangen ist. Dieser eine Tag hat alles verändert. Er hat die Welt zerstört, die Sonne erlöschen lassen und den Mond in Staub verwandelt. Jene, die uns wichtig waren, sind nicht mehr. Für mich und für ihn. Deswegen begleite ich ihn. Offiziell haben wir uns auf die Jagd gemacht, doch gleichzeitig werden auch wir gejagt. Ein Schatten folgt uns auf Schritt und Tritt, wo auch immer wir hingehen und macht seine Präsenz in jedem Atemzug deutlich. Ich spüre, wie sich seine eiskalte Klaue um meinen Hals legt und ihr Griff mir von Tag zu Tag mehr die Luft abschnürt. Es gibt keine Zukunft für die Verdammten und die Verlorenen, also fliehe ich vor den Erinnerungen. Wovor mein Begleiter flieht, kann ich nicht sagen. Ich versuche ihn zu beschützen, versuche die Stelle desjenigen auszufüllen, den er zurückgelassen hat, doch ich weiss immer noch nicht genau, was sein Ziel ist. Er blickt um sich und sieht Dinge, die selbst mir verborgen bleiben. Die Schatten sind viel gieriger nach ihm als nach mir, aber das erstaunt mich nicht. Schliesslich ist er wie derjenige, dessen Verlust ich zu sühnen suche. Rache wird ihn nicht zurückbringen und ein Teil meines Herzens weiss, dass er den Sündern an meiner statt vergeben hätte. Doch ich bin schwach und verloren. Ich weiss nicht, was ich anderes tun könnte, als Vergeltung zu suchen für das Ende meiner Welt. Kapitel 1: Nihil ---------------- POV Agni Agni beobachtete den jungen Earl, wie er mühsam die grossen Pakete herumschleppte. Sie hatten am Hafen angeheuert und waren bei einer Truppe von Arbeitern untergekommen, die ihr Geld mit dem Abladen von Schiffsgütern verdiente. Natürlich hatte sich der Earl schon am ersten Tag den Spott der bärbeissigen Männer eingefangen, aber er hatte einfach stoisch weitergemacht, so dass die Kommentare irgendwann verstummt waren und sie nur noch erstaunt hatten dabei zusehen können, wie er die schweren Lasten auf seinem schmalen Rücken herumtrug. Der Earl trug sowieso schwer. Immer lastet irgendetwas Unsichtbares auf ihm, das Agni selbst nach all den Jahren der Bekanntschaft nicht fassen konnte. Auch ihm war es hier im Hafen nicht leicht gefallen. Natürlich sah er sich nicht mit denselben körperlichen Hindernissen wie der junge Earl konfrontiert, doch auch er wurde belastet. Die Anwesenheit der vielen dunkelhäutigen Fremden hier erinnerte ihn auf allzu schmerzhafte Weise daran, dass er selbst ein Fremder in einem fremden Land war, und dass er allein war. Der Earl war zwar da und war es doch nicht. Stets schien sein Blick auf etwas anderem zu ruhen, nachzudenken, zu beschäftigt mit seinen eigenen Gedanken, um welche an Agni zu verschwenden. „Hey, du da! Inder! Beweg dich!“ Ein unrasierter, ungewaschener Engländer schrie von der anderen Seite der Halle zu ihm herüber. Inder, das war er hier. So nannte man ihn. Die Männer interessierten sich nicht für seinen Namen und selbst wenn, hätte er ihn nicht preisgegeben. Er war zwar bei weitem nicht der einzige seiner Art hier, aber das schien ebenfalls niemanden zu interessieren. Hier am Hafen gab es sowieso nur drei Sorten von Menschen: Männer, Inder und Jungen. Zu den Jungen zählte der Earl. Agni schlenderte ohne grosse Eile zum Steg, wo auch schon ein weiteres grimmiges Exemplar von Mann darauf wartete, ihm eine Kiste aufzuladen. Wortlos nahm er sie entgegen, hob sie hoch und trug sie wieder hinein. Seine Stärke hatte bereits einen legendären Ruf erlangt, weswegen die Arbeiter gerne die besonders schweren Lasten auf ihn abwälzten. Agni war es egal. Sollten sie doch, wenn sie der Meinung war, es würde ihre Arbeit erleichtern. Sie hatten nicht einen Bruchteil seiner wahren Stärke gesehen… Er stellte die Kiste zu den Reihen der anderen und betrachtete für einen Moment seine bandagierte Hand. Sie war nutzlos geworden, denn wenn Gott tot war, gab es auch nichts mehr wofür es sich zu kämpfen lohnte. Neben sich vernahm er ein dezentes Räuspern. Der Earl hatte sich neben ihn gestellt. Sein hageres Gesicht wurde von einem dünnen Schweissfilm überzogen, trotzdem blitzte sein eines Auge warnend auf. „Du solltest durch dein nachlässiges Verhalten keine unnötige Aufmerksamkeit auf uns ziehen, Diener.“ Kurz glitt ein abschätziger Blick zu Agnis Hand, dann hatte sich der Earl schon wieder umgewandt. Agni murmelte ein leises „Verzeiht, Herr, es wird nicht wieder vorkommen“ vor sich hin und machte sich dann ebenfalls daran, von draussen wieder mehr Material hineinzuholen. Natürlich hatte der Earl recht, er war zu nachlässig, zu unkontrolliert, aber seine sündhafte Natur hatte ohne die Präsenz des Prinzen wieder angefangen überhand zu nehmen. Bei der Erinnerung an seine ehrenwerte Majestät Soma zog sich in seiner Brust sowieso sein Herz zusammen, doch er schüttelte den Gedanken schnell wieder ab. Er durfte sich jetzt nicht solcher Melancholie hingeben, sonst würde es ihm unmöglich sein die Dunkelheit, die über ihn gekommen war, zu verbreiten. Er ging hinter der schmalen Form des Earls. Es war offensichtlich, warum sie ihn Junge nannten. Er wirkte jung, obwohl er es doch gar nicht mehr war. Vor fünf Monaten war er offiziell zum Mann geworden und trotzdem wirkte er kleiner und zerbrechlicher als jemals zuvor. Als er ihn vor gut fünfeinhalb Jahren kennengelernt hatte, war er trotz seines Alters erwachsener gewesen als sein Pr-… als diese Person; und jetzt war die Zeit dabei, ihn zu zerstören. Agni wusste, dass es nicht nur die schwere Arbeit, der Schlafmangel und die schlechte Ernährung waren, die an seinem Körper nagten, da war noch etwas anderes. Die Last, die er auf den Schultern trug, liess ihn langsam in den Schatten versinken, deswegen mussten sie sich beeilen. Sie mussten den Urheber finden und den Hafen wieder verlassen, doch bisher hatte sich das als unerwartet schwierig herausgestellt. Er hielt sich bedeckt und von den Hafenarbeitern konnte man keine brauchbaren Informationen erwarten. Die meisten hier wussten tatsächlich nichts und die wenigen, die etwas wussten, waren sich selbst die nächsten. Es war schwierig sie zum Reden zu bringen ohne dabei Aufmerksamkeit zu erregen. POV Ciel Über ihnen kreischten die Möwen und das stinkende Hafenwasser plätscherte gleichmässig vor sich hin, während Ciel den schmalen Steg erklomm. Er konnte den Hafen nicht ausstehen. Alles hier war verkommen und dreckig, der Abschaum des menschlichen Daseins. Mit geübten Handgriffen lenkte er die angeseilte Kiste an sich vorbei, hinunter zu Angi. Er hasste diese Arbeit, sie war nichts für ihn. Das alles hier war unter seiner Würde, trotzdem tat er es stillschweigend. Er hatte ein Ziel, dafür musste man Unannehmlichkeiten ertragen. Es war alles Teil eines grösseren Ganzen. Er stieg wieder hinunter und half Agni die Kiste auf eine der rollenden Plattformen zu heben. Eigentlich hätte der Inder seiner Hilfe nicht bedarf, das wusste er. Aber es gab gewisse Dinge, die tat man der Form halber. Und wenn Ciel Phantomhive etwas verstand, dann war es die Form zu waren; selbst hier in dieser Hölle auf Erden würde er sich niemals die Blösse geben, das würde er nie wieder tun. Die Möwen kreischten etwas lauter und eine setzte zu einem halsbrecherischen Sturzflug an, welcher gerade knapp seinen Kopf verfehlte. Ciel hob unbeeindruckt seine heruntergefegte Mütze wieder auf. Die Viecher hatten es auf ihn abgesehen, aber es überraschte ihn nicht. All diese niederen Kreaturen schienen ein Auge auf ihn geworfen zu haben – nicht nur die tierischen. Agni beäugte ihn misstrauisch von der Seite. Er sagte zwar nichts, aber Ciel wusste, dass ihm das seltsame Verhalten der Tiere auch schon aufgefallen war. Es war sein Werk. Er tat es, um zu sehen, ob Ciel sich dadurch aus der Ruhe bringen lassen würde. Aber dieses Spiel würde er nicht gewinnen, Ciel hatte sich vorgenommen, dass er es auch allein schaffen konnte. Er würde den Gipfel der Leichen dieses Mal allein bezwingen, ohne ihn. Als wäre es das normalste der Welt klopfte er den Dreck aus der Mütze und setze sie wieder auf. Er würde nicht aufgeben. Während er schon dabei war sich wieder in Richtung der Halle zu begeben, vernahm er plötzlich schwere Schritte, die sich ihm von der Seite her näherten. Ciel musste sich nicht umdrehen um zu wissen, wem sie gehörten. Es gab nur einen, der hier so herumstampfte: Bull. Bull war – ganz seinem Namen entsprechend – etwa so breit wie hoch, glatzköpfig und trug ebenfalls eine Augenklappe; was auch der Grund dafür war, dass er stets mit einem ekelhaften Grinsen im Gesicht betonte, wie viel er und Ciel doch gemeinsam hatten. Ciel versuchte solcherlei Kommentare zu ignorieren. Bull war für ihn eines der widerwärtigsten Individuen, das ihm je vor die Augen gekommen war. Seine Erscheinung zusammen mit der Tatsache, dass er unfähig schien in Ciels Gegenwart seine Hände im Zaum zu halten, sorgten dafür, dass der junge Earl meistens einen grösstmöglichen Bogen um ihn machte. Leider gehörte Bull aber auch zu den wenigen, die hier am Hafen tatsächlich etwas zu sagen hatten, was es etwas schwierig machte ihm aus dem Wag zu gehen. Sein grosser Schatten fiel in sein Blickfeld. „Na Junge. Bist du nicht müde? Du solltest dich wirklich nicht so überanstrengen.“ Er packte Ciel am Handgelenk und zog ihn zu sich hin. Hinter ihm zuckte Agni zusammen, sich wohl nicht entscheiden könnend, ob es nötig war dazwischen zu gehen oder nicht. Doch Ciel machte eine unauffällige Geste, dass er sich zurückhalten sollte. Bull war vielleicht menschlicher Abschaum, doch leider aufgrund seiner Stellung einer der wenigen hier im Hafen, der ihn tatsächlich zum Urheber führen konnte. Also hiess es nett zu sein. Ciel lächelte. Es war das netteste falsche Lächeln, das er unter gegeben Umständen zustande brachte, aber genug um Bull dazu zu bewegen sein Handgelenk wieder loszulassen. „Sie wissen doch, Mr. Bull, ich brauche das Geld.“ Bull starrte ihn an. Er schien einen Moment zu brauchen, um sich von dem gebotenen Anblick wieder erholen zu können. Dann aber tätschelte er übertrieben Ciels Schulter und meinte: „Das Leben ist hart, Junge. Aber wie ich dir schon mehrere Male gesagt habe, kannst du jederzeit zu mir kommen. Da kommst du leichter an Geld und ich bin sicher eine bessere Wahl als nachts am Strassenrand zu stehen, wie die da drüben.“ Er deutete zu einer Gruppe von Jungen - alle etwa in Ciels Alter - die nicht unweit von ihnen Kisten aufstapelten. „Aber Mr. Bull, so was geht doch nicht“ gespielt verschämt senkte er den Blick, was dem grossen Mann nur ein tiefes Lachen entlockte. Er beugte sich zu Ciel vor und erwiderte, während er seine Hand forsch in dessen Kreuz legte: „Natürlich geht das. Aber ich verspreche dir, Junge, dass ich gut sein werde.“ Seine Hand glitt tiefer und umfasste schliesslich Ciels Hintern. „Wenn du heute Abend zu mir kommst, verspreche ich dir, dass ich nett sein werde. Wir können auch erst etwas essen und reden.“ Er zwinkerte Ciel noch einmal eindeutig zweideutig zu, bevor er schliesslich von ihm abliess und sich schweren Schrittes entfernte. Ciel atmete ganz tief ein. Sein Blick war auf den Boden gerichtet und sein ganzer Körper schien einen Moment lang einfach nur zu zittern. Er konnte die Abscheu, die er empfand nicht in Worte fassen. Seine Arme wurden von einer Gänsehaut überzogen, während er in einer verzweifelten Manier die Hände zu Fäusten ballte. Was für eine Demütigung! Und dass sie auch noch so direkt vor Agnis Augen geschehen musste. Dieser trat neben ihn. „Herr…“ seine Stimme war leise, „…soll ich ihn dafür bestrafen?“ Doch Ciel winkte bloss wortlos ab. Obwohl es ihn unglaublich viel Überwindung kostete, meinte er schliesslich: „Nein, lass gut sein. Ich ziehe unter Umständen sogar in Erwägung auf Bulls Angebot einzugehen.“ Agnis ungläubiger Gesichtsaudruck sprach Bände, so dass der junge Earl sich genötigt sah hinzuzufügen: „ Er ist der Einzige hier, der vielleicht eine Ahnung bereffend des Urhebers hat. Wenn er sich also daran hält und erst mit mir essen und reden will, musst du nur einschreiten bevor er auf die Idee kommt den Nachtisch einzufordern.“ Ciel machte eine selbstironisch Grimasse, so dass Agni nichts anderes übrig blieb als stumm zu nicken. Er war von diesem Plan nicht überzeugt, aber es war der bisher einzige Anhaltspunkt, den sie hatten. Sie steuerten also beide wieder die Halle an, doch bevor sie das Tor passieren konnten, hatte sich ihnen einer der Jungen, die vorher so unauffällig neben ihnen gearbeitet hatten, in den Weg gestellt. Er schaute Ciel direkt in Gesicht, ja schien ihn regelrecht zu mustern. „Du solltest nicht zu ihm gehen, er zahlt nicht.“ Der junge Earl hob sein Kinn demonstrativ etwas an. Auch er musterte sein Gegenüber eingehend. Der Junge war nicht viel grösser als er und hatte einen Mob dunkelblonden, zerzausten Haares auf dem Kopf. Seine Erscheinung wirkte heruntergekommen und sein Gesicht wurde geziert von Sommersprossen und Dreck. Alles in allem ein typischer Strassenjunge. Obwohl – Ciel korrigierte sich geistig – es sich wohl doch eher um einen typischen Strichjungen handelte. Er legte ein verächtliches Lächeln auf, während er sich, ohne den Jungen zu berühren, an ihm vorbeischob. „Vielen Dank für den Ratschlag, aber ich weiss schon was ich tue.“ Der Junge liess Ciel passieren, doch als dieser schon ein paar Schritte weiter war, fügte er doch noch hinzu: „Gut, aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, wenn du es dann bereust.“ Damit dreht er sich um und ging zu den anderen zurück. Ciel konnte es nicht unterdrücken einmal mit den Augen zu rollen. Dieser Abschaum wollte ihn belehren? Also wirklich. Er war schliesslich der Earl of Phantomhive. Er hatte mehr Abscheuliches gesehen, als all diese Strassenjungen zusammen. TBC Kapitel 2: Rom -------------- Ciel POV Die untergehende Sonne tauchte den Hafen in rotes Licht. Eine Welt, die in ihrem eigenen Blut ertrank. Ciel konnte nicht anders als zynisch den Mundwinkel nach oben zu ziehen. Die Zeit für seine Verabredung mit Bull näherte sich und obwohl sich jede Faser seines Körpers vor Abscheu sträubte, wusste er, dass er gehen würde. Es war wieder eine jener Unannehmlichkeiten, die man ertrug, um ans Ziel zu gelangen. Und Ciel war sehr gut darin geworden zu ertragen. Agni trat hinter ihn. „Herr? Wollt Ihr das wirklich tun?“ Ciel gab keine Antwort, stattdessen warf er dem Inder nur einen stummen Blick zu. Die Sonne verschwand langsam endgültig hinter dem Horizont. Er hatte sich vorgenommen, dass er dann aufbrechen würde, wenn ihre letzten Strahlen erloschen waren. „Ihr seid Euch gewiss bewusst, dass dieses Unterfangen nicht ungefährlich ist“ fuhr Agni mit leiser Stimme fort. „Nichts hier in dieser Welt ist ungefährlich, “ entgegnete der Earl sardonisch, „und entgegen dem Sprichwort führt nur ein einziger Weg nach Rom.“ Er blickte hinauf zu Bulls Büro, welches sich in der grossen Halle, eine kleine Treppe hoch, oben auf der Balustrade befand. Ein schummriges, oranges Licht trat durch sein verdrecktes Fenster und markierte nur allzu deutlich wo Ciels Weg hinführen sollte. Agni nickte stumm. Es hatte keinen Sinn dem Earl dieses Unterfangen ausreden zu wollen. Wer war er schon, um das zu tun. Der Earl of Phantomhive hatte sich entschieden, also sollte er seinen Willen kriegen. Er würde gewissenhaft seine Rolle darin spielen. „Dann werde ich das Büro von der gegenüberliegenden Seite aus beobachten. Sollte irgendetwas Unerwartetes geschehen… schreit einfach.“ Ciel beobachtete wie die letzten Sonnenstrahlen noch einmal die asymmetrische Silhouette der Stadt umrahmten und dann endgültig erloschen. Es wurde Nacht. Die Tageszeit perfekt für das, was er vorhatte. Er warf einen letzten abschätzigen Blick nach draussen und setzte sich dann mit gleichmässigem Schritt in Bewegung. „Auf nach Rom“ flüsterte er leise. Angi folgte ihm erst noch, schlug dann aber, nachdem sie etwa die Hälfte der Halle passiert hatten, eine andere Richtung ein. Ohne sich umzudrehen, konnte Ciel hören, wie der Inder sich entfernte. Sein eigener Blick ruhte stattdessen auf der kleinen, hölzernen Treppe, die ins obere Stockwerk führte und immer näher kam. Er war nicht nervös, lediglich ein bisschen angespannt, ob Bull nun wirklich die Informationen bereithalten würde, die sie sich von ihm erhofften. Wenn nicht, würde ihre Tarnung nämlich umsonst auffliegen und das war nichts, woran Ciel unnötig Gedanken verschwenden wollte. Er hatte schon seine Hand an das morsche Geländer gelegt, als ihn plötzlich etwas sacht an der Seite berührte. Erschrocken wirbelte er herum. „Du solltest wirklich auf mich hören und nicht gehen.“ Eine Person trat aus dem Schatten, die sich selbst in dem fahlen Halblicht der Halle schnell als der verlaute Strichjunge vom Nachmittag herausstellte. Ciel warf ihm erst einen bösen Blick zu und erwiderte dann während er bereits schon wieder dabei war sich der Treppe zuzuwenden: „Und ich habe dir gesagt, dass ich weiss, was ich tue.“ Sein erster Fuss war schon auf der Treppenstufe, doch der Junge liess nicht locker und griff stattdessen nach Ciels Oberarm. „Hör auf mich! Du wirst es sonst bereuen!“ Er blickte den wütenden Ciel eindringlich an, „Bull zahlt nicht nur nicht, er hat auch noch eine gewalttätige Ader. Einmal hat er einen Jungen so schlimm zugerichtet, dass er an den Verletzungen gestorben ist. Also geh nicht zu ihm!“ Ciel starrte den Jungen an. Er konnte nicht abschätzen, ob das, was der Strichjunge erzählte nun tatsächlich stimmte; immerhin konnte es sich ja auch bloss um ein böswilliges Gerücht handeln, um die Konkurrenz klein zu halten, trotzdem hatten seine Worte ihre Wirkung nicht ganz verfehlt. Sie hatten Ciel nämlich tatsächlich für einen Moment in Zweifel versetzt, ob sein Plan wirklich gelingen konnte. Trotzdem löste er sich mit einem reichlich vehementen Ruck aus dem Griff des andern und hatte schon den Mund geöffnet, um etwas zu erwidern, doch dieses Mal kam ihm Bull persönlich zuvor. Seine tiefe Stimme dröhnte über die Balustrade und liess beide Jungen gleichsam erschrocken zusammenzucken. „HEY DU DA!“ Er meinte offensichtlich den blonden Strichjungen. Dieser schaute sich auch panisch nach einer Fluchtmöglichkeit um, als wäre er sich bewusst, dass er mit seiner Näherung an Ciel verbotenes Terrain betreten hatte. „Was tust du da?! Verschwinde gefälligst!“ donnerte Bull weiter, doch es war gar nicht mehr nötig den Jungen verscheuchen zu wollen, dieser hatte ganz von allein das Weite gesucht und war noch schneller wieder in den Schatten verschwunden als er aus ihnen hervorgetreten war. Ciel schaute ihm noch für einen Moment nachdenklich nach, richtete dann aber seinen Blick wieder nach oben zu Bull. Dessen Gesicht war wutverzerrt, erst als er bemerkte, dass Ciel ihn ansah, wandelte es sich innerhalb von Sekundenbruchteilen zu einer entschuldigende Maske. „Ich hoffe, der Junge hat dir keine Flöhe ins Ohr gesetzt. Er ist bloss eifersüchtig. Aber komm doch hoch…“ damit streckte er seine Hand aus. Ciel stieg die Treppe hoch, trotzdem wollte das ungute Gefühl nicht mehr von ihm ablassen. Er wusste, dass er sich gerade in die Höhle des Löwen begab. Kaum war er oben angekommen, legte Bull auch schon überschwänglich seinen Arm um ihn. Ciel musste sich zusammenreissen nicht zu schaudern und legte stattdessen ein gekünsteltes Lächeln auf. „Aber nicht doch. Ich glaube doch so etwas nicht.“ Er schaute Bull direkt an, welcher wohl auch wirklich für einen Moment gefangen von dem Anblick schien. Unbewusst leckte er sich über die Lippen, schüttelte dann aber den Kopf und begann Ciel mit leichtem Nachdruck in Richtung seines Büros zu leiten. „Ich muss sagen, ich bin etwas überrascht, dass du tatsächlich kommst, Junge. Heute Nachmittag schienst du noch so unsicher…“ er zwinkerte Ciel zu und schob ihn dann durch die Tür. Sie fiel hinter ihnen mit einem schweren Klacken ins Schloss. Ciel schluckte einmal unauffällig und bemühte sich dann aber wieder zu lächeln. Er warf einen Blick in den spärlich eingerichteten, verdreckten Raum, bevor er antwortete: „Oh Mister Bull, Sie können manchmal ziemlich furchteinflössend sein. Da musste ich es mir zweimal überlegen, ob ich wirklich kommen soll.“ Bull lachte tief auf, es schien ihm wohl zu gefallen, was er hörte. Trotzdem liess er von Ciel ab und steuerte den einzelnen Holzstuhl an, der an dem kleinen Tisch stand. Er setzte sich darauf und deutete dem Jungen dann mit einer eindeutigen Geste an, dass er sich auf seinen Schoss setzen sollte. Ciel näherte sich ihm zögerlich. Einerseits war es gespielt, Teil der Rolle, die ihn als unschuldigen, verzweifelten Jungen darstellte, andererseits war allein die Vorstellung mit Bull in weiteren Körperkontakt treten zu müssen derart abstossend, dass der junge Earl eine gewisse undefinierte Übelkeit in der Magengegend aufsteigen fühlen konnte. Er überwand die kurze Distanz und setzte sich auf den Schoss des Mannes. Dieser umfasste sofort mit der einen Hand Ciels Hüften und zog ihn dicht zu sich hin, mit der anderen griff er nach einer Glasflasche, die mit irgendeiner gelblich-braunen Flüssigkeit gefühlt war und einen eindeutig alkoholischen Geruch von sich gab. Ciel verzog das Gesicht, während Bull dass Getränk mit grosszügigen Schlucken hinunterstürzte. Dann rieb er sich mit dem Handrücken den Mund ab. „Entschuldige Junge, das mit dem Essen wird wohl nichts. Ich hatte, wie gesagt, nicht wirklich mit deiner werten Gesellschaft gerechnet. Aber du kannst was hiervon haben.“ Er hielt Ciel die Flasche hin, welcher sie auch tatsächlich ergriff. Doch anstatt sie zum Mund zu führen, stellte er sie erstmal auf seinem Oberschenkel ab. Er drehte sich auf Bulls Schoss herum und schaute diesen mit grossen Augen. „Aber Mister Bull, sie haben doch gesagt, wir werden reden. Das können wir doch trotzdem tun, oder?“ Bulls Mundwinkel wanderte in allzu schmieriger Manier nach oben. Er drehte Ciels Gesicht wieder nach vorne und platzierte sein eigenes an der Schulter des Jungen. „Aber natürlich. Worüber möchtest du denn reden?“ Ciel antwortete für einen Moment nichts, meinte dann aber zögerlich: „Vielleicht über die Arbeit. Ich hab mich immer schon gefragt, was eigentlich in diesen Kisten drin ist, die wir den ganzen Tag rumschleppen.“ Hinter sich konnte er fühlen, wie Bull seinen Kopf wieder hob, eine offensichtliche Anspannung schien den Mann plötzlich erfasst zu haben. Ciel fuhr fort: „Die Lagerhalle gehört doch der Funtom Company…“ Er bemühte sich seinem Tonfall einen möglichst kindlichen Klang zu geben, „…ist es dann also vielleicht Spielzeug?“ Bulls Anspannung schien sofort wieder von ihm abzufallen und ein tiefes, grollendes Lachen brach aus ihm heraus. Es war so stark, dass Ciel auf seinem Schoss die Erschütterung davon regelrecht spüren konnte und er sich automatisch an der Flasche in seinen Händen festklammerte. Er warf dem Mann einen irritiert vorwurfvollen Blick zu, als könne er überhaupt nicht verstehen, was an dieser Idee so lustig sein sollte. Bull wischte sich noch eine Träne aus dem Augenwinkel und klopfte Ciel dann tröstend auf den Oberschenkel. „Ach Junge, du bist wirklich goldig.“ Der fragende Blick aus dem grossen blauen Auge war dann wohl genug, um ihn hinzufügen zu lassen: „In den Kisten ist etwas viel besseres als Spielzeug.“ Er zwinkerte Ciel zu und angelte sich dann noch mal die Flasche aus dessen Händen. Nachdem er einen weiteren grossen Schluck daraus genommen hatte, drückte er sie ihm wieder in die Hände und meinte nun mit sehr offenkundiger Alkoholfahne im Atem: „Nimm doch auch einen Schluck, Junge. Es wird dir gut tun nach der ganzen harten Arbeit heute.“ Ciel führte die Flasche nun auch tatsächlich zum Mund, täuschte aber ein Trinken nur vor, indem er seinen Adamsapfel einmal geschickt rauf und runter hüpfen liess. Allerdings war der scheussliche Geschmack des Getränks an seinen Lippen allein schon genug, um ihn sofort angewidert das Gesicht verziehen zu lassen. Ein weiteres schweres Lachen folgte, Bull empfand die Reaktion wohl als durchaus authentisch. Er nahm Ciel die Flasche wieder aus der Hand und stellte sie dieses Mal auf den Tisch. „Ich verrate dir ein kleines Geheimnis, Junge…“ unerwartet plötzlich umschlang er ihn erneut von hinten und drückte ihn fest an sich. Ciel konnte die Stimme des Mannes nun direkt an seinem Ohr hören, weil Bull sein eigenes aufgedunsenes Gesicht an seines presste. „… an den Dingen, die hier dieser Halle lagern, hat nicht nur die Funtom Company Interesse.“ Damit drückte er Ciel einen feuchten Kuss auf, was diesen augenblicklich zurückzucken liess. Er kollidierte mit der Tischkante und bemerkte unter seinem gepeinigten Aufstöhnen erst zu spät, dass der Tisch begonnen hatte, wie in Zeitlupe zur Seite zu kippen. Mit einem lauten Knall und dem noch viel lauteren Geräusch von zersplittertem Glas kamen Tisch und Flasche auf dem Boden auf. Ciel betrachtete mit verzogenem Gesicht das Chaos. Eine drückende Stille hatte sich nach dem ganzen Lärm in dem kleinen Büro breit gemacht. Bull gab ein abschätziges Geräusch von sich, das an ein Grunzen erinnerte und stiess Ciel grob von seinem Schoss herunter. Dieser musste aufpassen nicht in die Scherben zu stolpern und konnte sich gerade noch mit einem kleinen Sprung darüber retten. Hinter ihm hatte sich auch Bull erhoben, sein Gesichtsausdruck wirkte jetzt eindeutig anders. „Argh Junge, warum musstest du das tun? Dabei hatte es so gut angefangen mit uns beiden…“ er starrte auf den Boden. Die Lache des ausgelaufenen Alkohols begann sich mehr und mehr auszubreiten. „Warum musstest du wie all die anderen reagieren?“ Seine Hände ballten sich zu Fäusten, während er Ciel immer noch nicht angesehen hatte. Dieser machte einen kleinen Schritt zurück. Hier drin war die Luft gerade heisser geworden. Möglicherweise hatte der Strichjunge doch die Wahrheit gesagt. Er warf einen unauffälligen Blick zu dem verdreckten Fenster. Vielleicht wäre das jetzt der richtige Moment für eine Unterbrechung. Agni POV Agni hatte sich auf der Balustrade an der gegenüberliegenden Seite der Halle positioniert. Die Lage war zwar nicht optimal, weil er durch das kleine Fenster zu wenig von dem, was im Innern des Büros vor sich ging, erkennen konnte, aber es war trotzdem noch besser als gar nichts zu sehen. Schliesslich hatte er es sich nicht nur zur Aufgabe gemacht Rache zu üben, sondern auch seinen neuen Herrn zu beschützen. Auch wenn dieser Herr dazu neigte, es ihm schwieriger zu machen als sein vorheriger. Der Earl war – zugegebenermassen – wagemutig. Er benahm sich ganz und gar nicht wie der fragile 18-jährige, der er eigentlich war. Allerdings hatte er das noch nie getan. Immer schon hatte er sich wie ein Mann gegeben, dem nichts und niemand etwas anhaben konnte. Ein kaltes Lächeln hier, eine vernichtende Geste da. Er war gewiss nie ein Kind gewesen. Nicht so wie sein Prinz…. Ein wehmütiges Lächeln schlich sich auf Agnis Gesicht. Jetzt hatte er schon wieder an ihn gedacht, dabei hatte er sich doch so fest vorgenommen es nicht zu tun. Doch Ciel war anders, vollkommen anders. Nicht nur wie er sich gab unterschied sich von seiner Majestät, sondern auch wie er ihn behandelte. Er und Soma – der Name allein versetzte ihm einen Stich ins Herzen– waren sich nah gewesen, doch der Earl war von ihm weiter entfernt als die Sonne vom Mond. Wenn sie zusammen unterwegs waren, dann wurde es nicht nur optisch deutlich, dass sie Meister und Diener waren, sondern auch jede Bewegung schien es auszudrücken. Sie waren sich nicht nah, absolut nicht. Ciel behandelte ihn wie einen Diener und Agni behandelte ihn wie seinen Herrn. Er tat sein Bestes und trotzdem war klar, dass es niemals gut genug für den jungen Earl of Phantomhive sein würde. Immer wollte er mehr, immer mass er ihn an ihm. Der Schatten dieses Butlers lag über ihnen beiden. Ciel wollte, dass er ihn bediente und beschützte, wie Sebastian es getan hätte. Aber er war nicht Sebastian und er wollte es – um ehrlich zu sein – auch nicht sein. Agni hatte stets gefühlt, dass dieser Butler von etwas umgeben wurde, das jeden vernünftigen Menschen eigentlich sofort in die Flucht hätte schlagen müssen. Trotzdem hatte der Prinz damals darauf bestanden, dass sie blieben und die Gastfreundschaft dieses seltsamen Paares in Anspruch nahmen. Doch es war schnell klar gewesen, dass da etwas zwischen dem Herrn und seinem Butler vor sich ging, an dem niemand sonst teilhaben konnte. Es spannte sich ein Band zwischen ihrer beider Herzen, das dunkler war als die Nacht. Weswegen es Agni auch umso mehr erstaunte, dass der Earl Sebastian nun auf so raue Weise von sich gestossen hatte. Aber das war eine weitere Sache, die er im Bezug auf diese beiden nicht verstand. Es hatte wohl genau mit jenem Band zu tun, dass Ciel ihm die Niederlage jenes Tages nicht verzeihen wollte. Ein Rascheln erklang. Agni wandte blitzschnell sein Haupt und schalt sich innerlich dafür, dass er sich wieder hatte ablenken lassen. Er war wahrhaft eine schwache Natur. Um diese Uhrzeit hielt sich von den normalen Arbeitern eigentlich keiner mehr in der Halle auf, aber da zwischen den Kisten schlich tatsächlich jemand umher. Agni verengte die Augen zu Schlitzen. Der Unbekannte seinerseits schien den Inder noch nicht bemerkt zu haben, stattdessen wandte sich sein eigener Kopf nur immer wieder zu Bulls Büro hinauf. Wohl auch jemand, der interessiert daran war, was da drinnen gerade vor sich ging. Angi schlich auf seiner Balustrade lautlos ein paar Schritte in die Richtung des Beobachters und musste zu seinem grossen Erstaunen feststellen, dass es sich schon wieder um den Strassenjungen handelte. Ihn hatte sein zweites Auftreten dem Earl gegenüber vorhin schon überrascht, aber dass er jetzt immer noch nicht von der Sache ablassen konnte, erschien ihm etwas zuviel, um es noch nur als gutgemeinte Warnung abzutun. Dieser Junge musste ebenfalls etwas im Schilde führen, und Agni konnte nicht zulassen, dass es des Earls und seine Pläne durchkreuzte. Er näherte sich ihm noch ein paar Schritte und hatte eigentlich vorgehabt, sich ihm zu erkennen zu geben und den Jungen damit zu vertreiben, doch ein lautes Scheppern aus Bulls Büro kam ihm zuvor. Es liess beide erschrocken zusammenzuckten und veranlasste den Jungen dazu, kaum hatte er sich erholt, zu einem Sprint aus den Kistenreihen hinaus anzusetzen und den Ausgang anzusteuern. Agni verzog den Mund, der Mut des Jungen war also etwa so viel Wert wie seine Warnungen. Trotzdem setzte auch er sich in Bewegung. Er musste sehen, was da im Büro passiert war und ob der Earl tatsächlich in Gefahr schwebte. Seine Schritte waren so schnell und leise wie die einer Katze, während er sich immer mehr den orangen Fenster näherte. Es war jetzt wieder vollkommen still, dennoch traute Agni der Ruhe nicht. Ein paar Meter vor der Tür hielt er inne und versuchte einen weiteren Blick auf das Innere zu erhaschen. Das trübe, dreckige Glas machte es schwer etwas zu erkennen, trotzdem sah er die Form des Earls. Sie lehnte an der Wand und Bulls mächtiger Körper schob sich langsam über sie. Agni überfiel ein kleiner Schauer. Das war nicht gut! Gleichzeitig warnte ihn aber auch sein Gefühl, dass wenn er dieses Treffen zu früh stürmte und der Earl sich noch in gar keiner wirklichen Notlage befand, würde er sich wieder eine – wohlgemerkt verdiente – Schelte einfangen, weil er den Plan verdorben hatte. Es galt also abzuschätzen, wann der richtige Moment gekommen war. Er durfte sich nicht irren, denn würde dieser Abschaum Bull seinem neuen Herr auf irgendeiner Weise zu nahe treten, war das für ihn als seinen Butler unverzeihlich. Also wartete und beobachtete er. Die Schemen bewegten sich und gedämpfte Stimmen drangen an sein Ohr. Er konnte nicht richtig verstehen was sie sprachen, trotzdem liess ihn etwas in Bulls Stimme aufhorchen. Es klang bedrohlich. „da- …-irst… du …-ssen, JUNGE!“ Dann schepperte wieder etwas und Agni vernahm ein Zeichen, wie es deutlicher nicht hätte sein können. „Seba-.. AGNI!!!!!“ Die Stimme des Earls ging ihm durch Mark und Bein. Ohne noch einen Augenblick länger zu zögern, stiess er die Türe auf und sah, wie Ciel von dem riesigen Kerl an die Wand gepinnt wurde. Bull hatte dabei seine Hand um den Hals des Jungen gelegt und riss gleichzeitig an dessen Hemd. Es war wahrhaft ein Anblick des Grauens für Agni, so dass sein rationaler Verstand in diesem Moment auszusetzen schien und er sich wie in Trance nach vorne bewegte, Bull am Kragen packte und ihn einfach einmal quer durch den kleinen Raum schleuderte. Sein Körper kollidierte mit der Wand, welche Tür und Fenster beherbergte, und sackte erst einmal in sich zusammen. Doch Agni zollte dem nicht weiter Aufmerksamkeit und ging stattdessen sofort auf den jungen Earl zu, um diesem aufzuhelfen. Anstatt eines Dankes erhielt er aber nur ein heiseres „Du hast zu lange gewartet, Idiot.“ Schamhaft betreten senkte er seinen Blick und erwiderte leise: „Bitte vergebt meine Nachlässigkeit, Herr. Es lag nicht in meiner Absicht Euch…“ während er noch versuchte sich zu entschuldigen, hatte sich hinter ihm aber Bull doch schon wieder soweit erholt, dass er auf dem Boden kriechend nach dem Hals der zerbrochenen Flasche griff und sich schwerfällig aufraffte. „DU…“ er hatte nun ganz eindeutig Agni ins Visier genommen. Torkelnd ging er auf den Inder los, welcher dem Angriff gerade noch knapp ausweichen konnte. Sofort wollte er nach Ciel greifen, um diesen aus der Schusslinie zu bringen und versetzte Bull dazu einen gezielten Tritt in die Bauchgegend. Leider hatte er nicht damit gerechnet, dass die Körperfülle des Mannes einen derart bremsenden Effekt auf ihn ausüben würden, so dass Bull sich einfach weiter auf ihn zu bewegte und ihm die Flasche in vollem Tempo in die Schulterpartie rammte. Das Glas blieb stecken, während Agni einfach nur mit weit aufgerissenen Augen Bull anstarrte, der laut auflachend von der Flasche abgelassen hatte und nun rückwärts taumelte. Der Schmerz begann sich pochend in seinem Körper auszubreiten. Agni sank in die Knie. Ein Flimmern hatte sich über seine Augen gelegt und er atmete schwer durch den Mund. Er wusste nicht, was ihn mehr quälte, die Verletzung oder das Gefühl schon wieder versagt zu haben. Nicht einmal diesen simplen, unkontrollierten Angriff hatte er abwehren können. Seine Majestät wäre beschämt gewesen. Er atmete tief ein griff nach der Falsche. Mit einem einzelnen Ruck zog er sie aus seinem Fleisch. Ein ganzer Schwall Blutes folgte. Bull lehnte an der Wand und lachte immer noch wie ein Wahnsinniger vor sich hin. „Du glaubst wohl, dass ich Angst vor dir habe, Inder.“ Angi zwang sich wieder auf die Beine und fokussierte den rot angelaufenen Mann. Er hatte die Flasche in der Hand. „Ich sehe, dass du keine Angst vor mir hast“ flüsterte er gefährlich. Damit wollte er auf ihn losgehen, doch Ciel hielt in zurück. Ein einzelner kühler Blick genügte, um ihn wieder zur Besinnung kommen zu lassen. Agni verstand, was der Earl ihm damit sagen wollte, wenn du ihn tötest, wird das die Polizei auf den Plan rufen. Er liess die Flasche sinken. Ja, der Earl hatte recht. Die Polizei war etwas, das sie momentan gar nicht gebrauchen konnten. Sie waren nicht in einer Position, in welcher man Scottland Yard besonders gut manipulieren konnte, denn dafür hätten sie ihre Deckung aufgeben und zurück ins Mansion gemusst, aber genau das wollte der Earl ja um jeden Preis vermeiden. Also würde dieser Abschaum Bull wohl noch eine Weile sein wertloses Leben behalten. TBC Kapitel 3: Opium ---------------- Ciel POV Agnis Keuchen war unregelmässig und schnell. Ciel mochte es schon gar nicht mehr hören, denn es verstärkte das Gefühl des Gejagtwerdens nur noch mehr. Er hatte den Arm des Inders über seine Schulter gelegt und zusammen torkelten sie durch die dreckigen Strassen von Londons Nacht. Ein Teil von ihm wusste, dass seine Stütze Agni wegen der Grössendifferenz wohl kaum etwas nützte, trotzdem konnte er ihn nicht einfach allein durch diesen Morast stolpern lassen. Es war nicht das Gefühl von Verbundenheit oder Verantwortung, sondern vielmehr die Tatsache, dass Ciel Agni brauchte, die ihn zu solch einem Handeln nötigte. Es war sonst niemand da, auf den er sich verlassen konnte, also musste er sicherstellen, dass der Inder stets an seiner Seite blieb – selbst wenn das hiess, dass er ihn stützen musste. „Herr…“ Agnis Stimme klang brüchig, er warf Ciel einen gequälten Blick zu. Dieser verdrehte mit offenem Unwollen die Augen, liess aber von Agni ab, damit er erschöpft an der nächsten Wand zu Boden gleiten konnte. Sein schweres Atmen durchbrach die Stille und hämmerte gleichzeitig auch jedes Mal auf Ciels Kopf ein. Er wandte sich vorsichtig einmal nach links und nach rechts, um sicherzustellen, dass sie tatsächlich allein waren. Sie hatten ihre Verfolger schon am Hafen abgehängt, trotzdem mussten sie sicher sein. Bull hatte natürlich Alarm geschlagen, nachdem sie ihm gnädigerweise sein erbärmliches Leben gelassen hatten; und da in dieser Welt allein das Gesetz des Stärkeren galt, sollte seine Vergeltungsaktion ihnen wohl ein möglichst schmerzhaftes Ende bereiten. Doch Ciel sah niemanden. Ihre Kulisse bestand einzig aus dem Unrat auf Londons Strassen und dem gelegentlichen Geräusch einer vorbeihuschenden Ratte. Er vermied es immer noch Agni eingehender zu betrachten, denn ihre Situation war zugegebenermassen schlecht. Wohin sie jetzt gehen sollten? Ciel hatte keine Ahnung. Natürlich bestand jederzeit die Option ins Mansion zurückzukehren, aber das war das Letzte, was der junge Earl in Erwägung ziehen wollte. Er hatte sich schliesslich vorgenommen, es allein zu schaffen. Ohne diesen Butler. Unbewusst verzog er das Gesicht und trat ein paar Schritte von Agni weg. Er tat so, als würde er sich umschauen, aber eigentlich hatte er einfach nur das Bedürfnis etwas Abstand zwischen sich und den verletzten Inder zu bringen. Der Geruch von Blut haftete an ihm. Ciel fand es ekelhaft. Neben ihm raschelte etwas. Erschrocken wandte Ciel den Kopf, nur um dann mit einem gewissen Ärger feststellen zu müssen, dass es sich um einen weiteren vierbeiniger Bewohner von Londons niedereren Sphären handelte. Er trat nach der Ratte, verfehlte sie aber, was ihm ein heiseres Lachen des Verwundeten einbrachte. „Ihr solltet stets in Erinnerung behalten, Herr, dass jede Kreatur ein Recht auf Leben hat…“ Ciel warf ihm einen verächtlichen Blick zu, doch Agni bemerkte es gar nicht. Mit geschlossenen Augen hatte er seinen Kopf an die Wand hinter sich gelehnt und atmete hörbar durch den Mund. Für einen Moment fragte sich der Earl, wie dieser Inder dazu kam, ihn selbst in einer Situation wie dieser noch belehren zu wollen. War es, weil Soma… Ein erneutes Geräusch beendete seinen Gedankengang abrupt. Dieses Mal jedoch war es nicht nur streunendes Kleinvieh, sondern da tönten ganze eindeutig Schritte von hinter der nächsten Ecke hervor. Ciel bedeutete dem röchelnden Inder mit einem Fingerzeig, dass er versuchen sollte leiser zu atmen, aber die Geräusche waren schon wieder am verklingen. Die Schritte entfernten sich und wurden leiser in der Finsternis und liessen den Earl mit einem unguten Gefühl zurück. War das einer ihrer Häscher gewesen? Oder einfach sonst nur menschlicher Abschaum, der sich in ihre Nähe verirrt hatte? Das Bedürfnis eine Antwort auf diese Frage erlangen zu müssen, hatte von ihm Besitz ergriffen. Er musste sicher stellen, dass ihnen immer noch niemand auf den Fersen war. Mit vorsichtigen Schritten näherte er sich der Ecke. Hinter sich hörte er Agni tief einatmen. Der Inder war offensichtlich nicht begeistert von seiner Idee, aber was kümmerte das schon Ciel Phantomehive?! Er spähte um die Ecke und sah eine Gasse, die genauso leer und dreckig war, wie die ihrige. Ohne noch einen weiteren Blick an Agni zu verschwenden, trat er hinein und lauschte. Er hörte Wasser tropfen und das Getrippel winzig kleiner Füsse, aber die Person von vorhin blieb verschwunden. Ciel ging weiter. Er schaute sich nach allen Seiten um, nur um zu vermeiden, dass sich jemand unbemerkt heranschleichen konnte. Und dann, als er eigentlich schon kurz davor gewesen war, umzudrehen und zu Agni zurückzugehen, hört er sie wieder… Die Schritte waren nicht weit von ihm entfernt, irgendwo in der Dunkelheit bewegten sie sich. Alle Vernunft in ihm schrie, dass er umdrehen und sich verstecken sollte, dass es besser war nicht herauszufinden, wer der Verursacher dieser Geräusche war, doch dieses seltsame Gefühl wollte nicht von ihm ablassen. Es war wie ein Prickeln auf seiner Haut, das nicht aufhören wollte, bis er die Antwort gefunden hatte. Also trat er tiefer in die Finsternis und folgte den gleichmässig hallenden Schritten. Sie führten weg von der Gasse, wo der verwundete Agni lag, und in eine, wo Strassenlaternen ihre langen Schatten warfen. Ciel sah eine Person in einem langen, schwarzen Mantel etwas vom Boden aufheben und fragte sich, ob das sein Verfolger war. Als die Person sich nicht wieder erhob, sondern in der Hocke blieb, trat er von hinten an sie heran. Leise gehauchte Worte drangen an sein Ohr „…wie hübsch du doch bist, du kleiner Streuner. Aber man sollte wirklich dafür sorgen, dass du etwas mehr zu Essen kriegst…“ Ciel gefror mitten in seiner Bewegung. Diese Stimme… Dann erhob sich die Person und drehte sich zu ihm um. Der grossgewachsene Mann hielt eine etwas zerzauste Katze im Arm und schaute mit einem wissenden Lächeln auf Ciel herunter. „Guten Abend, junger Herr, ich hatte schon befürchtet, Ihr würdet gar nicht mehr kommen.“ „Se-sebastian…“ Ciel trat automatisch einen Schritt zurück. Sein Gesicht spiegelte für einen Moment eine Mischung aus Erstaunen und Entsetzen wider, bevor es sich innert des nächsten Wimpernschlages zu einer wütenden Maske verzerrte. „Was tust du hier?! Ich will nicht,…“ er war wieder nach vorn getreten und packte den grösseren Mann am Aufschlag seines Mantels. Doch dessen einzige Reaktion bestand darin, erstmal mit gelassenem Amüsement die Katze von seinem Arm springen zu lassen und dann seine eigenen behandschuhten Hände auf jene des Jungen zu legen. „Was wollt Ihr nicht, Bouchan?“ Das Blitzen in den roten Augen des Dämons liess Ciel für einen Moment erschaudern und erinnerte ihn auf allzu eindringliche Weise an all das, was er in der letzten Wochen so erfolglos hatte zu verdrängen versucht. Er liess von Sebastian ab. „Ich will nicht, dass du hier bist“ entgegnete er jetzt leiser. „Aber Bouchan, ich muss doch sicherstellen, dass mit Euch auch alles in Ordnung ist…“ er lächelte Ciel in seiner üblichen Manier an, legte dann aber die Stirn in Falten und meinte mit gestellter Besorgnis: „…allerdings seht Ihr schrecklich dünn aus, junger Herr. Esst Ihr auch genug? Ihr solltet wirklich nach Hause kommen und diese ‚Jagd’ hier aufgeben.“ Mit der Selbstverständlichkeit eines routinierten Butlers griff er nach dem Kragen von Ciels dreckigem, zerknittertem Hemd und wollte ihn richten, doch dieser schlug seine Hand mit einer barschen Geste weg. Er funkelte Sebastian aus wütenden Augen an und fauchte: „Ich brauche deine Hilfe nicht! Ich kann das hier auch alleine!“ Er wollte davon stampfen, doch der belustigte Tonfall seines Butlers liess ihn innehalten. „Seid Ihr da sicher, Bouchan? Die letzten acht Jahre habt Ihr nicht besonders viel allein gemacht.“ Sebastian trat dicht an ihn heran und legte erneut die Hand an Ciels Kragen, während er mit zuckersüsser Stimme fortfuhr: „Wir wissen doch beide, dass Ihr mich braucht, Bou~chan.“ Das letzte Wort rollte nur so von seiner Zunge, während seine Finger sacht über Ciels Hals streiften und hinauf zu seinem Kiefer wanderten. Er berührte das Gesicht des Jungen und blickte mit seinem undurchschaubaren, siegessicheren Lächeln auf ihn hinunter, so dass dieser für einen Moment regelrecht gefangen davon schien. Dann jedoch schwappte wieder eine Welle der Wut über ihn herein und er verengte die Augen zu Schlitzen. „Du bildest dir zuviel auf deine Existenz ein, Dä~mon.“ Er löste sich erneut aus Sebastians Griff, dieses Mal allerdings etwas ziviler als zuvor, und drehte sich um. Mit gleichmässigem Schritt entfernte er sich von ihm. Er bog wieder in die dunkle Gasse ein und wollte sich auf den Weg zurück zu Agni machen, doch etwas sagte ihm, dass sein dämonischer Butler wohl noch nicht ganz zufrieden war. Obwohl er keine Schritte vernahm, konnte er fühlen, dass ein beobachtender Blick regelrecht an ihm zu haften schien. Ein dunkler Vogel flog über Ciels Kopf und liess den Herzschlag des Jungen gleich noch mal etwas zulegen, während er immer noch versuchte seinen Schritt nicht zu sehr zu beschleunigen. Er wollte nicht weglaufen. Nicht vor Sebastian. Erst als die Ecke, hinter der er den verwundeten Agni wusste, wieder in Sichtweite war, atmete er erleichtert aus. Er wusste, Sebastian würde ihn nicht aufsuchen, wenn der Inder dabei war. Folglich war er sicher dort. Er hatte sie schon beinah erreicht, als plötzlich wieder ein Rauschen an seine Ohren drang. Es breitete sich in Windeseile über der Gasse aus und schien sie noch dunkler zu machen, als sie sowieso schon war. Ciel wollte zu einem Sprint ansetzten, doch anstatt die Biegung zu erreichen, wurde er von etwas seitlich erfasst, von den Füssen gerissen und kollidierte hart mit den nächsten Backsteinwand. Sämtliche Luft wurde aus seinen Lungen getrieben und er wusste, dass er eigentlich bewegungsunfähig hätte vornüberfallen müssen, doch etwas hielt ihn gefangen in seiner jetzigen Position. Ein schwerer Körper presste sich von vorne gegen ihn und pinnte ihn gegen die Wand. „Bou~chan, Ihr wisst doch, Ihr sollt nicht weglaufen.“ Hände glitten gierig und rastlos über Ciels Haut und legten sich schliesslich mit spielerischem Druck um seinen Hals. Dieser antwortete nicht sofort, sein rasselnder Atem machte es schwierig die Worte überhaupt zu formulieren. „I-ch lau-fe nicht weg“ presste er schliesslich hervor, die Augen dabei immer noch geschlossen haltend. Er wollte sie nicht öffnen, denn alles, was er gesehen hätte, wären bloss Sebastians rot glühende Iriden, die ihn in dieser finsteren Gasse zu verschlingen drohten. Ein leises Lachen ertönte. „Oh doch, das tut Ihr, Bouchan. Ihr weigert Euch nach Hause zu kommen, wo ich auf Euch aufpassen kann. Ihr wollt nicht in meiner Nähe sein, denn Ihr…“ er beugte sich runter, so dass seine Wange jene Ciels berührte und sein Mund direkt an dessen Ohr war, „…fürchtet Euch.“ Ciel hörte die Worte in seinem Kopf nachhallen, während er gleichzeitig das Hämmern seines eigenen Herzens in seiner Brust fühlte. Nein, er…. Er spürte Sebastians Körper so dicht an seinen gedrängt, das Bein des Butlers hatte sich zwischen die seinen geschoben und noch immer berührte sich ihre Haut. Nein, er…. …er wollte das nicht! Vehement stiess er den Butler von sich. „Ich habe keine Angst vor dir!“ brüllte er. „Und ich laufe auch nicht weg!“ Schweratmend stand er in der Gasse, seine Schultern hoben und senkten sich in schnellem Tempo, während der Butler - nun wieder ganz gelassen - etwas von ihm weggetreten war. Schmunzelnd hob er seine behandschuhten Finger zu seinem Mund und musterte den aufgebrachten Ciel. „Aber Bouchan, regt Euch doch nicht gleich so auf. Das hier ist doch bloss ein kleines Spielchen.“ Er strich dem Jungen in einer beruhigenden Geste in paar wirre Haarsträhnen aus der Stirn, doch Ciel wich augenblicklich zurück. Mit zu Schlitzen verengten Augen warf er dem Butler mörderische Blicke zu. „Fass mich nicht an!“ Sebastian betrachtete den Jungen für einen Moment stumm. Das Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden und er schaute Ciel einfach nur eindringlich an. Dann, als dieser schon begann sich unter dem Blick unwohl zu fühlen und protestieren wollte, wandte er sich ab. „Wenn Ihr das hier schon unbedingt allein erledigen wollt, Bouchan, dann nehmt wenigstens meinen Rat…“ er blickte in Richtung der Biegung, hinter jener der verwundete Agni lag, und Ciel musste augenblicklich erkennen, dass der Dämon perfekt über die Situation Bescheid wusste. „Ein paar Strassen weiter hat Lau einen seiner berühmt-berüchtigten Keller. Er treibt sich dort eher selten persönlich herum, aber zu erwähnen, dass ihr ihn und Ranmao kennt, dürfte genug sein, um eine sichere Übernachtungsmöglichkeit zu kriegen.“ Damit wandte der Butler sich ab und war schneller in der Dunkelheit verschwunden, als Ciel es wirklich erfassen konnte. Während sein Blick noch in der Ferne hinter Sebastian her hing, wälzte er gleichzeitig schon den Gedanken in seinem Kopf herum, ob er diesen Rat wirklich befolgen sollte. Es widerstrebte ihm etwas zu tun, das der Dämon sagte, aber ihm blieb nicht gross eine andere Wahl. Er verzog das Gesicht und ging zu Agni zurück. Die Begegnung mit seinem Butler liess seinen Herzschlag immer noch etwas schneller sein als gewöhnlich. Agni POV Er hörte Ciels Schritte, wie sie sich ihm näherten. Doch etwas daran war seltsam. Sie waren nicht gehetzt, aber trotzdem hatte sich etwas Unrhythmisches in ihren Takt gelegt. Mühsam versuchte er seine Augen zu öffnen. Er sah den leicht verschwommenen Umriss des jungen Earl of Phantomhive, der abwesend auf ihn herabblickte, seine Gedanken offensichtlich schon wieder an einem anderen Ort. „Wir sollten zu Lau gehen“ hörte er ihn murmeln. Agni kannte Lau nur flüchtig. Er hatte den Chinesen und seine wortkarge Gefährtin ein paar Mal beim Earl angetroffen, aber stets war sein Eindruck von dem Kaufmann etwas zweifelhafter Natur gewesen. Wie alle Händler schien auch Lau hauptsächlich an seinem eigenen Profit interessiert, Werte wie Loyalität, die auch schweren Zeiten standhielt, gab es für diese Sorte Mensch nicht. Es zählte bloss Gewinn, Macht und Geld. Folglich niemand mit dem Agni aus eigenem Interesse heraus hätte verkehren wollen, doch sein Prinz hatte sich selbst mit so einer Person gut verstanden. Seine Gutmütigkeit – die in Agnis Augen teilweise schon an Naivität grenzte – liess ihn über das Offensichtliche hinwegsehen. Er und Lau hatten sich nur zu gern kleine Scherze über den Earl erlaubt; dass er so hübsch sei wie ein Mädchen, dass ihm eines von Ranmaos Kleidchen gewiss gut stehen würde. Danach hatten sie immer alle gelacht und der Earl war verärgert gewesen. Solche Dinge waren an der Tagesordnung gewesen und wenn er jetzt daran zurück dachte, stimmte es ihn noch melancholischer, dass sie wohl nie wieder in dieser Formation beisammensitzen würden. Ciel hatte nach seinem Arm gegriffen und hievte Agni schwerfällig hoch, was diesem ein gepeinigtes Stöhnen entlockte. Er wusste, der Earl meinte es gut, trotzdem zeugte sein Grad an mangelndem Einfühlungsvermögen davon, dass er es nicht gewohnt war sich um andere zu kümmern. Aber Agni trug es ihm nicht nach; wie käme er auch dazu. Er wusste, dass er momentan eine Last für seinen Herrn darstellte, und das war in sich selbst ein Widerspruch zu dem, wozu Diener eigentlich da waren. Sie sollten einem Lasten abnehmen, nicht sie verursachen! Er musste zugeben, er fand es beschämend, dass er sich auf den viel kleineren Earl stützen musste, und wäre es sein Prinz gewesen, hätte er solches Handeln vehement abgelehnt - obwohl seine Hoheit, Soma, wahrscheinlich darauf bestanden hätte, dass er es tat. Sie irrten wankend und immer mal wieder anhaltend durch die zwielichtigen Gassen. Agni kriegte kaum etwas davon mit, wohin Ciel ihn führte. Er verliess sich darauf, dass dieser schon wusste, was er tat. Schliesslich war das seine Stadt. Irgendwann, Agni wusste nicht wirklich wie lang es gedauert hatte, wurde er gegen eine kühle Mauer gelehnt und ein dumpfes Klopfen erklang. Mühsam versuchte er erneut seine Umgebung auszumachen und musste feststellen, dass sie an irgendeiner heruntergekommenen Holztür standen. Ein Sehschlitz wurde geöffnet und zwei schwarze, mandelförmige Augen musterten sie. „Ich will zu Lau“ hörte er den Earl mit fester Stimme sagen, woraufhin hinter der Tür Getuschel entstand. Der Schlitz wurde geschlossen und dann passierte erstmal für einen langen Moment gar nichts. Agni befürchtete sogar schon, dass man sie gerade abgewiesen hatte, während der Earl einfach nur reglos dastand und weiterhin auf die geschlossene Tür starrte. Und dann, als ein Teil von ihm schon gar nicht mehr damit gerechnet hatte und er sich liebend gern der Ohnmacht hingegeben hätte, ging sie auf. Mehrere chinesische Mädchen, die alle aussahen wie schlecht gemachte Kopien von Ranmao, standen im Eingang und verneigten sich. „Mister Lau ist nicht da, aber kommen Sie doch herein“ meinte die vorderste von ihnen mit einem dick gefärbten Akzent. Der Earl deutete ein leichtes Nicken an und spazierte dann hocherhobenen Hauptes an den Frauen vorbei hinein in die Dunkelheit. Agni kriegte nur am Rande mit, wie ihn mehrere kleine Hände packten und hinterher schleiften. Es war ihm zwar grundsätzlich zuwider sich von Frauen stützen lassen, trotzdem ging sein Protest in einem Anfall von Schwindel unter. Er konnte nicht mehr, sein Atem ging immer rasselnder und er wusste, er musste sich dringend hinlegen. Alles in seinem Kopf schien sich zu drehen, während er eine Treppe hinuntergeleitet wurde und bei jeder zweiten Stufe beinahe gefallen wäre. Schliesslich wurde er auf irgendetwas Weichem abgelegt. Es war eine unglaubliche Erleichterung für den indischen Butler nicht mehr auf den eigenen zwei Beinen stehen zu müssen. Während er gedämpft hören konnte, wie der Grossteil der Leute sich entfernte, wurde plötzlich das Polster direkt neben ihm eingedrückt. Eines der Mädchen hatte sich zu ihm gesetzt. Ihre Hand glitt tröstend durch sein verschwitztes Haar und sie murmelte etwas auf Chinesisch. Dann fühlte er etwas Kühles an seinen Lippen und wusste trotz seines deliriumsartigen Zustands, dass es das Mundstück einer Opiumpfeife war. Der Geruch und der Qualm hatten ihm schon auf der Treppe entgegengeschlagen, nur war es ihm da noch schwer gefallen ihn zu klassifizieren. Er wollte denn Kopf wegdrehen, aber sie redete weiter leise auf ihn ein und irgendwo von weit her hörte er die Stimme des Earls, die sagte, dass er sich gefälligst nicht zieren sollte. Also gab Agni nach und versank nur schon Momente später in der dumpfen Welt des traumlosen Schlafes. TBC A/N: Die Sache mit dem Bouchan – eigentlich finde ich japanische Begriffe in deutschen Fanfictions doof-_-’ Aber das Wort „Bouchan“ mag ich einfach, es ist so süss und passt so gut zu Ciel, weswegen ich mal über meine eigenen Vorurteile diesbezüglich hinwegsehe^^ Und was die Schreibweise angeht, hab ich „Bouchan“ gewählt, weil ich sie schlichtweg optisch ansprechender finde als „Bocchan“. Kapitel 4: In Medias Res - flashback I -------------------------------------- „Herr, ich würden für diesen Anlass den royalblauen Gehrock empfehlen.“ Ciel sass hinter seinem Schreibtisch und hatte die Zeitung aufgeschlagen. Mit einem genervten Augenrollen klappte er sie herunter. „Mir egal, nimm denjenigen, den du am besten findest.“ „Aber Herr, so geht das doch nicht.“ Sebastian legte das Kleidungsstück auf einen Stuhl, wo sich schon eine ganze Anzahl anderer Gehröcke in allen Farben und Formen stapelte und stellte sich gerade hin. „Ihr solltet wirklich mehr Interesse zeigen, schliesslich ist solch ein Tag einmalig im Leben eines jungen Paares. Lady Elizabeth wäre am Boden zerstört, wenn sie Euch so reden hörte.“ Ciel zuckte unter der Nennung des Namens seiner Verlobten leicht zusammen. Warum mussten bloss alle ein solches Gehabe um diese Feier machen? Es würde sich doch nichts ändern. Er seufzte tief, winkte dann aber Sebastian heran. „Also gut, ich werde den blauen anprobieren.“ Der Butler nickte zufrieden und nahm den Gehrock wieder vom Stuhl. Er ging damit um den Tisch herum und hielt ihn seinem Herrn offen hin, damit dieser nur hineinschlüpfen konnte. „Er steht Euch wirklich vorzüglich. Blau ist wahrhaft Eure Farbe, my Lord.“ Sebastian lächelte süsslich, während er dem kritisch dreinblickenden Ciel den Spiegel vorhielt. Dieser drehte sich in alle Richtungen und versuchte zu erkennen, was sein Butler nun so viel besser an diesem Exemplar fand, als an all den vorhergehenden. „Dieses Blau passt perfekt zu Euren Augen…“ die Worte rollte nur so von Sebastians Zunge, so dass die Betonung allzu offensichtlich war. Ciel konnte nicht anders als säuerlich aufzusehen. Er fokussierte den Dämon, der hinter dem Spiegel übertrieben freundlich lächelte. „Dann sollte ich vielleicht doch lieber den Lilanen anziehen, von dem Lizzy so begeistert war“, entgegnete Ciel schnippisch und schlüpfte sogleich wieder aus dem Kleidungsstück. Sebastian lächelte noch immer. Es war ihr alltägliches Spiel, ein ewiger Kampf darum wer denn nun das letzte Wort hatte. Sie liebten es beide, denn das Kräftemessen war genauso Teil dieses Paktes wie dem jungen Earl of Phantomhive seine Rache zu ermöglichen. Ein Klopfen an der Tür unterbrach die kleine Modesession und liess Butler als auch Herr überrascht den Kopf wenden. Wer wagte es, um diese Uhrzeit zu stören? Alle Bediensteten im Phantomhive Haushalt wussten, dass der junge Herr am Morgen stets seinen Geschäften nachging und es deswegen hasste gestört zu werden. „Herr…“ Maylene steckte betreten den Kopf durch die einen spaltbreit geöffnete Tür. Sie war sich wohl bewusst, dass sie einen ungünstigen Augenblick gewählt hatte. „Was ist?“ Ciel streifte schnell wieder seinen üblichen schwarzen Gehrock über. Sein eisiger Tonfall untermauerte seinen offensichtlichen Unmut bloss noch. Das Hausmädchen zuckte auch merklich zusammen, trotzdem erwiderte sie schliesslich – nachdem sie erst nervös ihre Brille wieder hatte hochschieben müssen: „Es ist Besuch da, Herr. Ein gewisser Baron von Rochester.“ Ciel antwortete daraufhin nicht sofort, stattdessen bildete sich auf seiner Stirn eine Falte, während er konsterniert an ihr vorbeischaute. „Er sagt, er sei ein guter Bekannter Eures Vaters gewesen“ fügte das Hausmädchen schliesslich unsicher hinzu. Sie wusste, es war nie besonders gut den Earl auf seine verstorbenen Eltern anzusprechen, deswegen vermied man es am besten ganz. Doch Ciel winkte schlussendlich nur ab. Sein Gesicht wirkte jetzt wieder entspannter und er bedeutete Sebastian mit einem Wink die vielen Gehröcke wegzuräumen. „Ja, ich erinnere mich. Eine aufdringliche Peron mit zu lauter Stimme und zu flinken Fingern. Vater hat ihn gerne magpie[1] genannt.“ Sein Mundwinkel wanderte in zynischer Weise nach oben. „Dass er sich nach all den Jahren wieder mal blicken lässt…“ Sebastian gesellte sich wieder zu seinem Herrn und schaute fragend auf diesen herunter. „Dann wollt Ihr ihm also tatsächlich eine Audienz gewähren, Herr?“ „Nun, ich bin gespannt, was er will.“ Sie begannen sich in Bewegung zu setzen, „Allerdings solltest du ein Auge auf unser Silberbesteck haben.“ „Herr?“ Sebastian ging pflichtbewusst hinter Ciel, der bloss kurz innehielt, um einen grinsenden Blick über seine Schulter zu werfen. „Den Namen magpie hat er, weil er offensichtlich eine Schwäche für alles hat, das glänzt.“ Der Butler lächelte verstehend. „Sehr wohl, mein Herr.“ ~~~ Sie konnten ihn schon hören, bevor sie die grosse Treppe auch nur erreicht hatten. Er stand unten im Eingangbereich und schien auf Finnian und Bard einzureden, die beide wohl nicht so richtig wussten, was sie von dem seltsamen Gast halten sollten. Ciel schritt erhobenen Hauptes die Treppe hinunter. Es war etwas, das er als Herr des Hauses Phantomhive tat oder genauer gesagt, war es seine Art Gäste zu empfangen. Doch erst als sich die Blicke der beiden Anstellten nach oben wandten, erkannte auch der viel zu gesprächige Baron, dass sie nicht mehr allein waren. Voller Überschwung ging er auf die Treppe zu und breitete die Arme aus. „Ciel, mein Junge. Bist du gross geworden.“ Er umarmte den jungen Earl auch sogleich, der von dieser Aktion tatsächlich etwas überrumpelt wurde. Mit einer scharfen Geste löste er sich aus dem Griff und schaffte sogleich wieder etwas Abstand zwischen sich und seinem Gast. „Baron von Rochester, ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns so nahe stünden. Ich muss also sehr bitten…“ Doch dieser schien sich von der ablehnenden Haltung nicht im Geringsten beeindruckt, stattdessen schmiss er Sebastian seinen Mantel und Hut in die Arme, welche dieser lediglich mit einer leicht hochgezogenen Augenbraue auffing. „Natürlich erinnerst du dich nicht mehr…“ er tätschelte Ciel die Schulter, „…es ist ja auch schon Jahre her. Aber du musst nicht so förmlich sein, mein Junge, früher hast du schliesslich auch immer Onkel zu mir gesagt. Ich möchte, dass du das beibehältst.“ Er lächelte übertrieben und machte dann ein paar Schritte von der Gruppe weg, so als wollte er sich im Haus umsehen. Ciel kam nicht umhin einmal tief einzuatmen. Das war die anstrengende Art von Gästen. „Baron...“ er betonte den Titel besonders, „…wären Sie so freundlich mir den Anlass Ihres Besuches zu verraten?“ „Immer noch kein Onkel?“ Seufzend trat Rochester wieder näher, „es gibt wirklich keinen Grund so steif zu sein. Der Anlass meines Hierseins ist schliesslich fröhlicher Natur, denn der liebe Onkel darf doch die Hochzeit seines Lieblingsneffen nicht verpassen.“ Er unternahm schon wieder einen Versuch Ciel zu umarmen, doch dieses Mal wich jener geschickt aus. „Erstens, Baron, sind wir nicht verwandt und zweitens…“ Ciels Tonfall drückte nun ganz offen Feindseeligkeit aus, „…handelt es sich dabei nicht um eine Hochzeit, sondern um eine Verlobungsfeierlichkeit, die lediglich den wirklichen Blutsverwandten vorbehalten ist.“ Rochester verzog beleidigt den Mund und wollte wohl schon irgendein fadenscheiniges Argument nachlegen, als sich von oben an der Treppe eine weitere Stimme einmischte: „Sei doch nicht so gemein, Ciel.“ Prinz Soma kam leger heruntergeschlendert. Sein Diener Agni befand sich wie immer direkt hinter ihm und die beiden bildeten - verglichen mit dem Hausherrn und dessen Butler – ein erstaunlich gutgelauntes Duo. „Ich bin schliesslich auch nicht blutsverwandt und mich hast du auch eingeladen.“ Der Prinz stellte sich grinsend zu Ciel hin, der gerade dabei war entnervt die Zähne zusammenzubeissen. „Das ist etwas anderes“, murmelte er kaum verständlich, doch die Aufmerksamkeit des Prinzen hatte sich schon dem Neuankömmling zugewandt. „Ein Gast, wie schön!“ Soma packte überschwänglich Rochesters Hand und begann sie zu schütteln. „Ich bin Prinz Soma Asman Gandal, 26. Spross des Königshauses von Bengalen und das hinter mir ist mein Butler, Agni…“ Betreffender schenkte Rochester ein kleines Kopfnicken, „…es ist so schön, wenn wieder einmal Besuch kommt. Hier in diesem Haus ist wirklich zu wenig los.“ Im ersten Moment schien der Baron von der herzlichen Begrüssung ebenfalls etwas überrascht, dann jedoch begann er Somas Hand mindestens genauso enthusiastisch zurückzuschütteln. „Genau meine Meinung. Es muss hier mehr Leben reinkommen!“ Der Prinz und Rochester grinsten sich gegenseitig überschwänglich an, während Ciel nur leicht angewidert daneben stand. Da hatten sich gerade zwei Idioten gefunden. Hinter sich hörte er Sebastian leicht lachen. Der Butler fand die Situation wohl erstaunlich amüsant, doch Ciel unterband das ganze schnell, indem er ihm einen vorwurfsvollen Blick über seine Schulter hinweg zuwarf. Leider gestaltete es sich dann aber etwas schwieriger die beiden Männer vor sich ruhig zu stellen… „Also mein Herren, ich…“ irgendwie ging seine Stimme zwischen dem Geplapper der beiden unter, die gerade angefangen hatten darüber zu verhandeln, warum man eine Verlobungsfeier im Dezember abhalten wollte. „Sie müssen wissen, dass der 14. Dezember Ciels achtzehnter Geburtstag ist. Lizzy hat darauf bestanden den Anlass dann stattfinden zu lassen, damit die Hochzeit dann im Juli, an ihrem eigenen achtzehnten Geburtstag sein kann.“ „Dann ist es wahrhaft eine grossartige Idee! Man kann sich gar nicht genug für diese jungen Leute freuen, die den Bund fürs Leben eingehen wollen.“ Ciel starrte irritiert vom einen zum anderen. Er wurde hier vollends ignoriert, dabei drehte sich dieses Gespräch doch um ihn. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sein Butler die Hand hob, wahrscheinlich um dahinter sein schadenfreudiges Grinsen zu verstecken. „So, jetzt reicht es aber“, versucht er sich erneut durchzusetzen. Der Prinz warf ihm aber lediglich einen fragenden Seitenblick zu, während er immer noch damit beschäftigt war, Rochester den genauen Ablauf der Zeremonie zu erläutern. Dieser nickte im Sekundentakt und schien äusserst interessiert. Als er dann aber schon den Mund aufgemacht hatte, um erneut das Gespräch an sich zu reissen, reichte es dem Earl endgültig: „RUHE! Alle beide, und zwar sofort!“ Rochester zuckte unter dem Ausbruch erschrocken zusammen, doch Soma drehte ihm bloss tadelnd den Kopf zu. „Aber Ciel, wir versuchen uns doch bloss für dich zu freuen; wenn du es schon nicht tust.“ Der Earl ignorierte den Vorwurf und hob stattdessen Einhalt gebietend die Hand, während er sich an Rochester wandte: „Baron, wenn es etwas im Phantomhive Haushalt gibt, das Ihr Interesse geweckt hat, dann dürft Ihr mir in mein Büro folgen. Andererseits muss ich Euch bitten zu gehen.“ Dieser hob sofort beschwichtigend die Hände. „Warum denn gleich so streng. Dein Vater war auch nicht…“ Ciels mörderischer Blick liess den letzten Teil des Satzes ersterben, stattdessen beeilte er sich leise anzufügen: „Büro bitte.“ ~~~ Sie sassen einander gegenüber. Ciel hatte die Arme gefaltet auf die Tischplatte gestützt und schaute den leicht nervösen Rochester eindringlich an. Es war einfach Menschen wie ihm ein Gefühl der Bedrängnis zu vermitteln, das hatte der junge Earl of Phantomhive während all der Jahre gelernt. Selbst wenn es nicht seine eigene Erscheinung war, die den Leuten den Angstschweiss auf die Stirn trieb, so genügte doch stets ein Lächeln seines Butlers, um sie alle zu Lämmchen werden zu lassen. Ciel atmete tief ein und lehnte sich dann in seinem hohen Sessel zurück. „Also Baron, was wollen Sie von mir?“ Rochester rutschte auf seinem Stuhl etwas hin und her. Sein Blick glitt abwechselnd von Ciel zu dessen Butler und zu der Fensterfront hinter dem Earl. Er hatte den Knaben wirklich anders in Erinnerung gehabt, nicht so kalt, nicht so zynisch. Aber irgendwie war es ja verständlich…. Trotzdem hatte er sich das hier irgendwie einfacher vorgestellt. Kaum zu glauben, dass er erst achtzehn wurde. „Also, ich möchte natürlich nach wie vor betonen, dass ich dem Hause Phantomhive nur das Beste wünsche und dass diese Hochzeit wirklich…“ Ciel hob einhaltgebietend die Hand. „Könnten wir zum Punkt kommen?“ „Also, ich…“ Rochester atmete noch mal tief ein. Das war nicht gut, der Earl war viel zu geradeheraus, so würde das nie etwas werden. Unbewusst glitten seine Hände über seine Jackentaschen, auf der Suche nach einer kleinen Stärkung. Mit geübter Geste fischte er ein kleines, silbernes Metalletui hervor. Erst als er den mörderischen Blick des Earls bemerkte, der an der unschuldigen, braunen Zigarre haftete, die er zutage gefördert hatte, wurde ihm bewusst, dass er gerade eben einen weiteren gravierenden Fehler begangen hatte. „Hier drin wird nicht geraucht, magpie!“ Rochester hob abwehrend die Hände und versenkte die braune Schönheit sogleich wieder in einer seiner Brusttaschen. „Nicht doch, mein Junge, ich wollte doch nur…“ Doch Ciel erwiderte nichts. Sein Blick durchbohrte den Baron und liess diesen ein weiteres Mal leer schlucken. Rochester wusste, dass er nur noch einen Versuch hatte. „Also, wie du sicher bereits bemerkt hast, ist die momentane Wirtschaftlage eher als harsch einzustufen. Viele kleine und mittelgrosse Manufakturen kriegen das nur allzu deutlich zu spüren… so auch die Rox Company.“ Ciels Gesichtsausdruck wurde wieder etwas weicher. Endlich kamen sie zum Punkt, magpies Fabrik war also in Schwierigkeiten. Das war eigentlich zu erwarten gewesen. „Gewisse Quellen haben aber berichtet, dass die Fantom Company eine neue Technologie entwickelt habe, die sehr vielversprechend sei und die vielleicht Abhilfe schaffen könnte.“ Der junge Earl warf einen kurzen Seitenblick zu seinem Butler, woraufhin dieser kurz nickte und dann verschwand. Rochester beobachtete die wortlose Kommunikation angespannt. Der Earl schien jetzt auf jeden Fall nicht mehr ganz so feindselig wie zuvor. „Die Funtom Company entwickelt viele neue Technologien…“, nebenan, wo der Butler war, raschelte etwas. Der Baron kam nicht ganz umhin, davon abgelenkt zu sein, während Ciel fortfuhr: „…um welche genau soll es sich denn handeln?“ „Ähhhh…“ der Butler betrat den Raum wieder und hielt dieses Mal ein Tablett in den Händen, Rochester musste sich regelrecht losreissen und wieder dem jungen Mann vor sich ansehen. „… das mit dem Gas“ erwiderte er schliesslich immer noch leicht verwirrt. Die Augenbrauen des Earls wanderten nach oben. „Das ist eine Heiztechnologie.“ „Ja, das habe ich auch vernommen. Trotzdem…“ er lehnte sich etwas vor und seine Stimme nahm nun ganz eindeutig einen dunkleren Klang an, „…erscheint es doch irgendwie seltsam, dass eine Spielzeugfirma eine sogenannten Gasheizung entwickelt.“[2] Neben ihnen trat Sebastian an den Tisch heran und liess Rochester zurückweichen. Der Butler stellte eine Tasse vor seinem Herrn ab und schenkte dann mit geübten Handgriffen ein. Der Baron beobachtete, wie die heisse Flüssigkeit die Porzellantasse bis unter den Rand füllte. Solange der Butler da war, würde der Earl keine Antwort geben, das war klar. Also wartete er bis sich dieser wieder entfernte hatte und schaute dann den jungen Mann vor sich an. Dieser rührte unbeeindruckt mit einem Löffel in seinem Tee und schien seinen Gast einen momentlang regelrecht vergessen zu haben. Erst nachdem er das kleine Besteckstück sorgfältig auf der Untertasche abgelegt hatte, schaute er wieder auf. „Das mag korrekt sein, aber die Funtom Company versucht ihren Einfluss und ihr Sortiment stets auszubauen.“ Der Earl hob die Tasse hoch und lächelte ihn darüber hinweg an. Es war ein falsches Lächeln, ein derart falsches, dass es Rochester regelrecht erschreckte. Schon wieder musste er schlucken. „Ciel, mein Junge… ich….“ „Die Funtom Company kann es sich unglücklicherweise nicht erlauben ein jeden Bittsteller zu erhören“, der Butler hatte sich eingeschaltet und war von hinten neben Rochesters Stuhl getreten. „Auch für uns ist die momentane Wirtschaftslage bedrohlich, weswegen wir Ihre Anfrage leider auf einen unbestimmten Zeitpunkt aufschieben müssen. Aber wir danken für Ihr Interesse und möchten Sie bitten nun wieder zu gehen.“ Der Butler lächelte höflich, aber seine ausgebreiteten Handflächen machten es nur allzu deutlich, dass Rochester verschwinden sollte. Dieser stolperte schon beinah aus dem Sessel, als Sebastian Anstalten machte seinen Oberarm zu berühren. Mit einem giftigen Blick bedachte er die behandschuhte Linke des Butlers, richtete dann aber seine Kleidung und schaute schliesslich noch einmal zu Ciel. „Du bist wirklich nicht wie dein Vater, Junge. Aber ich werde wiederkommen. So schnell gebe ich nicht auf.“ „Soll das eine Drohung sein, Baron?“ Ciel lehnte sich auf seinem schweren Schreibtisch abgestützt wieder etwas nach vorn. Sein eines blaues Auge funkelte regelrecht. „Keine Drohung, mein Junge. Ein Versprechen.“ Er liess sich von Sebastian seinen Mantel und Hut reichen, vermeid es dabei aber immer noch dem Butler näher als unbedingt nötig zu kommen. Schliesslich wandte er sich zur Tür, bevor er aber hindurchschritt, fügte er noch hinzu: „Ich beabsichtige fest, an deiner Verlobungsfeier anwesend zu sein.“ Ciel sah dem abziehenden Baron mit abschätzig verzogenem Mund nach. Sebastian stand immer noch an der Tür und schien auf Anweisung zu warten. Erst als der junge Earl seufzend den Kopf schüttelte, trat er wieder an den Tisch heran. „Soll ich dafür sorgen, dass er Euch nicht wieder belästigt, my Lord?“ Ciel winkte ab. „Nein, er ist harmlos. Stell einfach sicher, dass, falls er wirklich auf die absurde Idee kommen sollte, am 14. hier aufzutauchen, er die Feierlichkeiten nicht stört.“ „Sehr wohl, mein Herr.“ TBC [1] magpie (engl.) = Elster [2] Etwas geschichtlicher Hintergrund: Den Gasofen gab’s zwar im 19. Jh. schon, aber die Gaszentralheizung ist eine Entwicklung des 20. Jh. Ich deute hier also mal ganz frech an, dass die Funtom Company ihrer Zeit voraus ist;) A/N: Ich habe dieses Kapitel angefangen zu schreiben, bevor Nina, die Schneiderin vorgestellt wurde. Natürlich bin ich mir bewusst, dass es vielleicht realistischer wäre, sie die Anprobe durchführen zu lassen, aber da ich es schlichtweg nicht mehr umschreiben wollte, bleibt die Kleiderauswahl halt jetzt bei Sebbi;P Desweiteren bin ich mir auch bewusst, dass Sebastian Ciel im Kapitel vorher als „Bouchan“ anspricht, hier aber als „Herr“. Dieser Wechsel ist absolut gewollt*g* Ihr dürft euch jetzt also selbst die Frage stellen warum. Kapitel 5: Workhouse -------------------- Ciel POV Ciel schleppte mit einem Gesichtsausdruck, der Abscheu nicht bloss ausdrückte, sondern regelrecht personifizierte, einen grossen Mehlsack durch die dreckige Küche. Vom Rest des Personals war keine Hilfe zu erwarten, denn das machte schon seit Beginn seines Aufenthalts hier einen grossen Bogen um ihn - nicht, dass das relevant gewesen wäre, er war schliesslich nicht hier um Freunde zu finden. Folglich schaute er bewusst nicht auf, als er ihr verhaltenes Getuschel vernahm. Wahrscheinlich machten sie sich nur wieder lustig über ihn, weil ihm dieser einzelne Sack so viel Mühe bereitete. Stoisch schleifte er ihn weiter in Richtung Vorratskammer. Neben den hämischen Blicken des Küchenpersonals ruhte aber auch noch einer auf ihn, dessen Ausdruck nur als mitleidig beschrieben werden konnte. Agni stand am Herd vor seinen dampfenden, zischenden Töpfen und versuchte nicht allzu auffällig in seine Richtung zu linsen. Ciel verzog den Mund und wischte sich mit einer fahrigen Geste über die verschwitzte Stirn. Es ärgerte ihn, wenn der Inder ihm dabei zusah, wie er sich hier abmühte. Nicht, dass er erwartete, dass Agni eingriff. Nein! Aber es widerstrebte ihm, dass überhaupt jemand, der ihn als Earl Ciel Phantomhive kannte, so zu sehen bekam. In gewisser Weise war es schon ironisch, dass Agni jetzt sein Vorgesetzter war, denn als Koch stand es ihm natürlich zu, dem Küchenpersonal Anweisungen jeglicher Art zu geben. Selbstverständlich bemühte er sich, sie Ciel gegenüber so neutral wie möglich zu halten, aber das war nicht immer einfach, wenn sie nicht noch mehr anecken wollten. Und genau das war der Grund, warum Ciel sich mit dem Workhouse von Anfang an schwerer getan hatte als mit dem Hafen. Als Hafenarbeiter waren sie gleichgestellt gewesen und es war auch nicht so aufgefallen, wenn Agni ihm immer mal wieder die eine oder andere Sache abgenommen hatte, aber hier auf so engem Raum, sah jeder alles. Es war beinah unmöglich, den neugierigen und alles-beurteilenden Blicken des Personals auszuweichen oder zu verbergen, was man wirklich fühlte. Besonders den Ekel zu überspielen war schwierig… Ein Räuspern durchbrach seine Gedanken. Hinter ihm stand Agni, der mit leicht betretenem Gesichtsausdruck auf den Mehlsack schaute. Ciel durchbohrte ihn mit seinem Blick, unterliess es aber etwas dazu zu sagen, als der Inder sich bückte, den Sack auf seine Schulter lud und schliesslich mit langen Schritten die Vorratskammer ansteuerte. Ciel ging ihm hinterher und beobachtete dabei ganz genau, wie Agni die Last des Sackes mit nur einer Seite ausbalancierte. Zudem hing der Arm, den er nicht zum Tragen gebrauchte, völlig regungslos an seiner Seite herunter. Es war offensichtlich, dass die Verletzung, die Bull ihm beigebracht hatte, immer noch schmerzen musste - was sonst würde diese einseitige Belastung erklären -, aber Ciel hatte beschlossen, sich nicht weiter mit dem Thema auseinander zu setzen. Agni hatte nach jener Nacht, als sie bei Lau aufgeschlagen waren, nie mehr etwas verlauten lassen oder sich gar beklagt. Also würde Ciel ihn auch nicht darauf ansprechen. Es war nicht seine Art. Mit einem dumpfen Geräusch landete der schwere Sack auf einem seiner Artgenossen. Die aufgestobene Mehlwolke umhüllte Agni, der vergeblich versuchte sich das weisse Pulver aus seiner Kleidung zu klopfen. Ciel entging nicht, dass er auch dazu bloss eine Hand benutzte. „Herr, wenn es Euch nicht zu viele Umstände bereitet, möchte ich Euch bitten nachher auf den Markt zu gehen und ein paar Dinge zu besorgen.“ Er zog einen kleinen Zettel aus seiner Hosentausche und hielt ihn sorgfältig gefaltet Ciel entgegen. Dieser nahm ihn und warf einen flüchtigen Blick auf die Liste, bevor er schliesslich nickte. Er wusste, dass dies wieder einer jener Momente war, wo er Agni hätte sagen sollen, dass es nicht nötig war, ihn derart höflich um etwas zu bitten. Aber er tat es nicht, stattdessen steckte er den Zettel einfach ein und nickte noch einmal. „Ich werde gleich gehen. Ich bin sowieso froh, wenn ich hier rauskomme.“ ~~~ Ciel liess seinen Blick kritisch über die aufgereihten Waren gleiten. Das meiste davon sah nur noch so mässig frisch aus und widersprach sowieso grundsätzlich seiner Vorstellung von dem, was zu einem richtigen Dinner gehörte. Wenn ihm Sebastian Zuhause so was angeschleppt hätte, dann… Ciel biss sich auf die Zunge. Jetzt hatte er schon wieder Vergleiche mit dem Butler gezogen. Er wusste, er sollte es nicht. Und vor allem wollte er es nicht! Er wollte nicht mehr Gedanken an seinen dämonischen Butler verschwenden als unbedingt nötig. Unbewusst griff er nach einem Apfel und begann ihn in seinen Fingern herumzudrehen. Die alte Verkäuferin des Obststandes lächelte ihm freundlich entgegen, konnte damit aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich wohl dringlichst erhoffte, etwas zu verkaufen. Ciel legte ihr kommentarlos ein paar Pence hin und ging dann weiter. Den Apfel steckte er in seine Hosentasche. Agni hatte keine Äpfel auf seiner Liste gehabt, also hatte er gerade Geld ausgegeben, das nicht seines war. Aber er wusste, dass der Inder es ihm verzeihen würde; genauso wie er ihm auch alle anderen Eigenheiten verzieh. Er war schliesslich der Herr. Ciel holte den Zettel wieder hervor und liess seinen Blick noch mal über die Liste schweifen. Eigentlich hatte er jetzt schon fast alles zusammen, einzig Ingwer fehlte ihm noch. Um ehrlich zu sein, bezweifelte er, dass man auf einem solchen Markt Ingwer finden konnte. Es war nicht der Ort dafür. Die Leute, die hier einkauften, aber auch verkauften, waren zu arm, um sich Gedanken über Gewürze zu machen. Seufzend liess er seinen Blick über die Marktstände gleiten. Dort am anderen Ende war die Fischabteilung, deren Geruch ihn selbst an seinem momentanen Standort beinah zu erschlagen drohte. Sie war zu einem weiteren Ort geworden, um den Ciel einen grossen Bogen machte, wenn es sich denn irgendwie einrichten liess. Hier im Teil für Früchte und Gemüse hielt er es gerade noch knapp aus, aber der Markt war ihm gesamtheitlich fast so unangenehm wie das Workhouse. Es fiel ihm schwer einzukaufen, weil ihm nichts von den angebotenen Waren als wirklich gut genug erschien. Zudem störte er sich an den drängelnden und schubsenden Menschenmassen, dem Lärm und an den bereits erwähnten Gerüchen. Stetig verfolgte ihn das Gefühl beobachtet zu werden. Es war eine nagende Angst, die sich im Bild eines Paares von Augen manifestierte, welches, verborgen in der anonymen Masse, ihm auf Schritt und Tritt folgte. Ciel hatte es lang schon aufgegeben sich umzudrehen und nach dem Beobachter zu suchen. Er fand ihn sowieso nie. Aber das Gefühl war da, immerzu. Es verfolgte ihn. Er schlenderte weiter. Eigentlich hatte er den Ingwer mental schon aufgegeben, aber er wollte wenigstens so tun, als bemühte er sich darum. Seine Schritte leiteten ihn unbewusst zum anderen Ende des Marktes – dasjenige, das am weitesten entfernt vom Fischmarkt war – wo die Auswahl der Waren weniger Richtung Lebensmittel ging, sondern vielmehr als „wahllos zusammengewürfelter Ramsch“ zu bezeichnen war. Ciel verzog das Gesicht, als ein übereifriger Verkäufer ihm ein Paar uralte Schuhe entgegenstreckte, die angeblich noch in tadellosem Zustand seien und ihm gewiss perfekt passen würden. Er ging kommentarlos weiter. Die Anzahl der Stände hier war, verglichen mit der Lebensmittelabteilung, eher gering, dafür wirkten sie aber umso überladener. Kleider, Stoffe, Hüte, alles erregte den Anschein als sei es vor langer Zeit einmal in keinem so schlechten Zustand gewesen, doch jetzt, am Ende ihrer Laufbahn angekommen, lagen sie alle aufgestapelt und übereinander geworfen auf einem Marktstand am Londoner East End und erhofften sich noch ein letztes Mal für den Bruchteil ihres ursprünglichen Preises verkauft zu werden… Wie erbärmlich. Wirklich. Es war der Moment, in dem Ciel befand, dass dieser Teil des Markes noch schlimmer war als die anderen. Und er wäre auch in der Tat kurz davor gewesen sich umzudrehen und den Markt dieses Mal endgültig zu verlassen, hätte er nicht aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrgenommen. Ein Junge war an den Schuhverkäufer herangetreten. Er legte ihm ein paar Münzen in die Hand und kaufte das Paar Schuhe, das dieser vorhin noch Ciel hatte andrehen wollen. Eigentlich eine ganz normale Begebenheit, wäre da nicht die kleine Sache gewesen, dass der Junge Ciel unangenehm bekannt vorkam. Eine magere Erscheinung, heruntergekommene Kleidung, struppiges, aschblondes Haar, das von einer Mütze halb verdeckt wurde, eigentlich war er sich fast sicher…. Der Junge bedankte sich bei dem Verkäufer und schlug dann den Weg in die andere Richtung ein. Ciels Blick klebte noch immer an ihm, und dann, ohne es wirklich zu bemerken, begannen seine Füsse sich in Bewegung zu setzen und ihm zu folgen. Die Schritte des Jungen waren gleichmässig, aber trotzdem relativ zügig. Er wich den vielen Menschen geschickt aus und bewegte sich dabei so behände durch die schmalen Gassen, dass es Ciel fast ein wenig schwer fiel mit ihm mitzuhalten. Erst als ihre Umgebung wieder etwas ruhiger wurde, verlangsamte sich sein Tempo. Seine Schritte strebten zwar nach wie vor vorwärts, aber seine Aufmerksamkeit hatte sich jetzt auf das alte Paar Schuhe gerichtet. Im Laufen fingerte er an den Schnürsenkeln herum und wäre dabei beinah über irgendwelchen am Boden herumliegenden Unrat gestolpert. Ciel hob kritisch die Augenbraue, doch den Jungen schien der Strauchler kaum zu kümmern, denn er ging, immer noch voll auf seine Fingerarbeit konzentriert, weiter. Schliesslich warf er sich mit zufriedenem Gesichtsausdruck die Schuhe über die Schulter. Sie waren jetzt an den Schnürsenkeln verknotet und baumelten bei jedem Schritt hin und her. Sein Tempo beschleunigte sich wieder. Während Ciel den Rücken des Jungen musterte, kam ihm kurz der Gedanke, dass die Schuhe doch eigentlich viel zu gross für ihn sein mussten. Sie sahen aus, als wären sie für einen erwachsenen Mann gemacht, der Junge war aber gewiss nicht älter als Ciel, wahrscheinlich sogar eher jünger. Diese riesigen Treter sahen eher so aus als würden sie vielleicht jemandem wie Sebastian passen…. Kaum hatte Ciel den Namen gedacht, hätte er sich auch schon wieder dafür ohrfeigen können. Warum konnte er sich einfach nicht daran halten, seinen elenden Butler zu ignorieren?! Es konnte ihm schliesslich egal sein, wenn der dumme Strichjunge Schuhe kaufte, die ihm sowieso zu gross waren… Beinah als hätte jener das gehört, hielt er an und drehte sich um. Er musterte Ciel kurz und begann dann zu grinsen. „Du! Und ich hatte schon befürchtet, sie hätten euch doch noch gekriegt. Wo ist dein indischer Freund?“ Ciel kam sich einen Moment lang ertappt vor. Eigentlich wusste er selbst nicht so recht, warum er dem Strichjungen überhaupt hinterher gegangen war. Er war einfach diesem seltsamen Impuls gefolgt. Dass dieser ihn ebenfalls gleich auf den ersten Blick wiedererkannt hatte, warf ihn jetzt leicht aus der Bahn. Er gab also keine Antwort, sondern zuckte stattdessen bloss mit den Schultern. Der Junge nickte. „Willst du mit mir kommen?“ Ciel schloss zu ihm auf, blieb aber bei etwa einem Meter Abstand stehen. „Wohin gehst du denn?“ „Zu meinen Freunden.“ Damit drehte er sich um und begann sich wieder in Bewegung zu setzen, dieses Mal jedoch mit deutlich langsamerem Schritt. Die Umgebung war ruhiger geworden, so dass ihre Fussschritte auf den verlassenen Gassen regelrecht nachhallten. Als der Strichjunge schliesslich in einen Hof einbog, verlor Ciel ihn für einen kurzen Moment aus den Augen. Sofort nahm er einen Satz, um aufzuschliessen, doch der Junge wartete gleich hinter der Biegung auf ihn und lächelte ihm bloss wissend entgegen. Ohne auf Ciels Verhalten einzugehen, machte er eine ausladende Geste und deutete auf den Hof hinter sich. Dieser war genau wie der Rest der Strassen heruntergekommen und von Unrat übersät, doch das war es nicht, was Ciels Aufmerksamkeit auf sich zog. Auf dem kleinen Hof, an den wegen der hohen Mauern der benachbarten Häuser kaum direktes Licht drang, türmten sich Holzkisten. Sie formten lange, labyrinthartige Linien, deren Zwischenräume fast gänzlich im Dunkeln lagen. Für einen Moment kam Ciel sogar der Gedanke, dass die Kisten ihn an jene aus dem Lager am Hafen erinnerten. Aber er verdrängte den Gedanken schnell wieder, stattdessen fiel sein Blick auf die Schatten, die vorsichtig zwischen den Kisten hervorspähten. Misstrauisch beäugten sie den Neuankömmling, nur um dann zögerlich hervor zu kommen. Ciel erkannte ein paar der Jungen, die er schon am Hafen gesehen hatte. Sie mussten wohl so was wie eine Gang sein, die sich zusammengerottet hatte und jetzt hier herumtrieb. Eigentlich hätte ihm der Sinn danach gestanden abschätzig das Gesicht zu verziehen, aber er wusste, dass das keine gute Idee war. Sie waren zu viele, um ihren Unmut auf sich zu ziehen. Ausserdem zeigte schon die Mimik des vordersten der Jungen – er war ein stämmiger Kerl mit rundem Gesicht und knolliger Nase – dass man Ciels letzten Auftritt noch nicht vergessen hatte. Er steuerte direkt auf dem Strichjungen zu, der ihn geführt hatte. „Ian, was soll das? Warum ist er hier?“ Er deutete auf Ciel, ignorierte diesen ansonsten aber vollständig. Der Strichjunge – offensichtlich Ian – lächelte sein Gegenüber bloss milde an. „Ich hab ihn auf dem Markt getroffen...“ Der Rest des Satzes blieb offen, stattdessen nahm Ian die zusammengebundenen Schuhe von seiner Schulter und reichte sie dem grösseren Jungen. „Hier, ich hoffe, sie passen dir.“ Dieser schien hin- und hergerissen zwischen der Tatsache, dass er gerade beschenkt worden war und den bösen Blicken, die er Ciel zuwerfen wollte. Auch der Rest der Gruppe, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, näherte sich jetzt und schaute dem Neuankömmling skeptisch an. „Du hättest ihn nicht herbringen sollen“, meinte ein grosser, dürrer Rothaariger. „Ja“, stimmte ein weiterer mit ein, den Ciel nicht sehen konnte, weil es ihm zu auffällig erschien den Kopf nach dem Sprecher umzuwenden, „schliesslich ist er der Grund, warum wir nicht weiter am Hafen arbeiten können.“ Der Rest der Gruppe nickte bestätigend. Doch Ian schien sich davon nicht im Geringsten beeindrucken zu lassen, stattdessen ergriff er Ciels Unterarm. „Seid doch nicht so! Ich bin sicher …“, er schaute ihn auffordernd an, aber erst als die Pause auffallend lang geworden war, begriff Ciel, dass Ian seinen Namen wissen wollte. Für einen ganz kurzen Moment überkam ihn Panik. Bisher hatte ihn noch niemand hier nach seinem Namen gefragt, er war immer nur der Junge gewesen. „Vincent“, murmelte er ohne grossartig darüber nachzudenken und verwünschte gleich darauf was ihm über die Lippen gekommen war. „Vincent…“, wiederholte Ian. „Das klingt irgendwie unpassend, wie wär’s mit Vinny?!“ Er grinste und fuhr fort: „Also, ich bin sicher, dass Vinny keine bösen Absichten hatte. Wir wissen schliesslich alle, was für eine Missgeburt Bull ist. Vinny…“ Der Rest von Ians Gerede ging in Ciels Wahrnehmung unter. Er befand sich immer noch in einem leichten Schockzustand, dass er einfach den Namen seines Vaters missbraucht hatte. Er konnte selbst nicht verstehen, was ihn da überkommen hatte. Und sowieso, wieso war dieser Ian plötzlich so nett zu ihm? Es hatte schliesslich in der Lagerhalle eher so geklungen, als würde er Konkurrenz fürchten. Erfreute er sich jetzt vielleicht an der Tatsache, dass Ciel gescheitert war? Die Gesichtsausdrücke von Ians Freunden entsprachen nämlich viel eher dem, was er von einer Truppe herumstreunender, obdachloser Strassenjungs erwartet hätte. „Weißt du, Vinny, nachdem du und dein indischer Freund aus dem Hafen verschwunden seid, gab es einen ziemlichen Aufruhr. Es war die Rede davon, dass ihr Bull attackiert hättet und dass wir alle…“, er machte eine Geste, die sich und den Rest der Gang miteinschloss, „… mit euch unter einer Decke stecken würden. Es war also nicht mehr sicher für uns dort, wir musste den Hafen verlassen.“ Ciel verstand. Die vorwurfsvollen Gesichter schienen ihm plötzlich gar nicht mehr so unangebracht. Dabei war ihm aber immer noch nicht klar, warum Ian es ihm nicht so sehr nachzutragen schien wie die anderen… obwohl er versucht hatte ihn zu warnen. Wenn Ciel ganz ehrlich mit sich selbst war, hätte er eigentlich viel eher mit einem Hatte ich dich nicht gewarnt gerechnet, doch stattdessen verteidigte er ihn. Es war seltsam, da musste noch irgendetwas anderes dahinter stecken… „Deswegen würde mich interessieren, was wirklich passiert ist“, schloss Ian seine kleine Erzählung. Durch die Reihen der Jungen ging ein zustimmendes Nicken. Ciel musste schlucken. Er wusste nicht, was er ihnen erzählen sollte. Die Wahrheit schloss er von vornherein aus, aber sie im Glauben zu lassen, er hätte mit Bull dieselben Absichten gehabt hatte wie sie, widerstrebte ihm beinah noch mehr. Er war keiner von ihnen. Er war kein Strichjunge, selbst wenn ein paar schmierige Individuen dazu neigten, das anzunehmen. Unruhig verlagerte er sein Gewicht vom einen auf den anderen Fuss. Die Jungen schauten ihn immer noch abwartend an. „Ich…“, er druckste herum. „Bull ist das Temperament durchgegangen, nicht?“, half Ian nach. Ciel nickte. „Ich habe nach Hilfe gerufen und A…Agni ist gekommen…“ Es schien unnötig zu erläutern, dass Agni der Inder war. Aber vielleicht hätte er seinen Namen auch lieber verschweigen sollen… „Und weiter?“ „Sie haben gekämpft, und schlussendlich sind wir geflohen…“, endete er, dabei allerdings immer ausweichend die Holzkisten anstarrend. Ciel war wohl nicht der einzige, dem bewusst war, wie oberflächlich seine Erklärung war, denn aus der Reihe der Jungen ertönte plötzlich eine Stimme, die vorwurfsvoll nachhakte: „Was wolltest du denn überhaupt von Bull?“ „Ja“, stimmten die anderen mit ein und nickten. Es war die Frage, die Ciel gefürchtet hatte. Betreten wich er ihren Blicken aus, bis Ian schliesslich abwinkte. „Na, Leute, jetzt lasst Vinny doch mal in Frieden. Er hat ja schon gesagt, dass er nichts Böses im Sinn hatte.“ Hatte er eigentlich nicht, trotzdem kam Ciel nicht umhin, aufzusehen und mit Ians grinsendem Gesicht konfrontiert zu werden. „Ich sollte langsam wieder gehen“, meinte er kleinlaut. Ian nickte und durch die Reihe der Strassenjungen ging ein ärgerliches Grummeln. Sie waren nicht zufrieden mit dem, was Ciel erzählt hatte. Aber das wäre er an ihrer Stelle auch nicht gewesen. Er wandte sich zum Gehen. „Du kannst jederzeit wieder herkommen“, meinte Ian, der ihm zum Abschied freundlich winkte. Ciel glaubte nicht, dass die anderen seine Meinung teilten. ~~~ Agni POV Schwerfällig nahm er die Hand von seiner Schulter. Sie tat weh. Eigentlich tat sie immer weh, aber gegen Abend war es tendenziell schlimmer. Er warf einen Blick aus dem verdreckten, kleinen Fenster. Der junge Earl war spät und das liess Agni konsterniert die Stirn in Falten legen. Er wusste, er hätte ihn nicht allein einkaufen schicken sollen. Der Markt war zwar nicht weit entfernt, aber er hätte es trotzdem nicht tun sollen. Nachdem er ihn die ersten paar Male noch begleitet hatte, hatte der Earl irgendwann darauf bestanden, allein zu gehen. Es würde zu viel Aufmerksamkeit erregen, wenn der Koch extra mit dem Küchenjungen zum Markt ging, hatte er gesagt. Natürlich hatte er recht gehabt, aber es widerstrebte Agni seinen jungen Herrn allein den Gefahren von Londons East End auszusetzen. Mit einem Seufzen auf den Lippen wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der köchelnden Brühe in dem grossen Topf vor sich zu. Er rührte um und probierte dann etwas. Das Essen, das er hier im Workhouse auftischte, war keine geniale indische Küche, nein, es war viel eher behelfsmässig und simpel. Für seinen Prinzen hätte es nie genügt, aber da er hier hauptsächlich für das Workhouse Personal kochte, war es ausreichend. Sie lobten sein Essen sogar. Und Ciel sagte sowieso nie etwas. Dieser Gedanke allein genügte, um Agni einen kleinen Stich in die Magengegend zu versetzen. Manchmal wünschte er sich, der junge Earl würde ihn dazu anhalten sich mehr Mühe zu geben… Noch während er umrührte, glitt sein Blick wieder zum Fenster. Auch wenn er es für eine schlechte Idee hielt, den Earl allein zu lassen, hatten die Zeiten, in denen dieser abwesend war, auch ihre Vorteile. Agni nutzte sie nämlich mehrheitlich dazu, sich um seine verletzte Schulter zu kümmern. Er wollte nicht, dass Ciel mitbekam, wie er die Verbände wechselte oder Salbe auftrug. Der Junge hielt ihn sowieso schon für schwach, da musste er diese Schwäche nicht auch noch vorgeführt bekommen. Obwohl der Earl damit nicht falsch lag. Denn wenn Agni ehrlich mit sich selbst war, musste er sich eingestehen, dass er die Schwäche jeden einzelnen Tag verspürte… denn jeden einzelnen Tag sehnte er sich nach Erlösung. Er schämte sich dafür, aber er wünschte sich, diesen wüsten Teil Londons endlich wieder verlassen zu können, die Schmerzen in seiner Seele und seiner Schulter zu lindern und in die heile Welt, deren Kern- und Angelpunkt sein Prinz war, zurückzukehren. Er seufzte noch einmal tief, während sein Blick auf der blubbernden Brühe haftete. Noch immer keine Spur von Ciel. Es besorgte ihn, wenn der junge Earl so lang ausblieb. Gleichzeitig flüsterte die kleine Stimme in seinem Hinterkopf, dass, wenn er von vornherein gewusst hätte, dass er solange allein sein würde, er die Zeit hätte nutzen können… Obwohl, tagsüber ging er ja eigentlich nie dahin. Ein weiterer beschämender Gedanke, es überhaupt in Erwägung zu ziehen, denn normalerweise ging er nur nachts, wenn sein neuer Herr schlief. Er tat es nicht regelmässig, nur wenn die Schmerzen besonders schlimm waren. Und wenn er sicher war, dass Ciel nichts davon mitkriegte. Es schmerzte ihn zutiefst sich wieder einem solchen Laster hingegen zu haben. Denn nachdem er seinem Prinzen begegnet war, hatte er sich eigentlich von allen irdischen Versuchungen losgesagt. Jetzt wieder einem anheim zu fallen, bewies bloss wie verdorben seine Seele war. Und dennoch war jener Ort der einzige, der ihm Linderung verschaffte. Er hasste ihn! Hasste den Geruch, der immerzu in der Luft lag, und die kleinen Chinesinnen, die sich tröstend neben einem setzten, wenn man bereits zu gefangen war in ihrem Netz. Er wollte es nicht und trotzdem liess er ein jedes Mal zu, wenn sie ihm die kalten Mundstücke an die willigen Lippen setzten. Es war das einzige, das half zu vergessen… Hinter ihm klapperte etwas. Die Tür ging auf und Ciel trat herein. Agni war für einen Moment erschrocken darüber, so in Gedanken versunken gewesen zu sein, dass er den jungen Earl nicht hatte kommen sehen. Er musste sich wirklich zusammenreissen. „Willkommen zurück, junger Herr. Gab es irgendwelche Unannehmlichkeiten?“ Ciel schüttelte leicht den Kopf. „Nein, alles in Ordnung. Aber ich konnte keinen Ingwer finden.“ Agni nickte nur. „Es wird auch ohne gehen.“ Damit wandte er sich wieder seinen Töpfen zu, während Ciel hinter ihm die Einkäufe auspackte. „Gab es sonst irgendetwas Interessantes auf dem Markt? Ihr habt etwas länger benötigt als sonst üblich.“ Für einen Moment schien Ciel mit der Antwort zu zögern, doch dann entgegnete er bestimmt: „Nein, ich hab bloss sehr viel Zeit damit verplempert nach deinem Ingwer zu suchen.“ TBC A/N: Eine kleine Anmerkung zur Situation, besonders zum Thema Workhouse: Workhouses waren Einrichtungen, in denen Leute, die sich nicht selbst versorgen konnten, unterkommen konnten. Also Armenhäuser, wenn man so will. Wie der Name schon sagt, sollten die Workhouses für die Betroffenen aber nicht nur Nahrung und ein Dach über dem Kopf bieten, sondern sie sollten dort auch arbeiten. Sie wurden allerdings oft als gefängnisähnliche Institutionen betrachtet, weil die Workhouses auch den persönlichen Lebenswandel kontrollierte. Es gab strenge Regeln und (körperliche) Strafen bei Verstoss gegen diese, die Art der verrichteten Arbeit wurde kontrolliert, zudem lebten Männer, Frauen und Kinder meist in voneinander getrennten Bereichen. Ciel und Agni sind allerdings nicht Insassen eines solchen Workhouses, sondern sie haben einen Job beim Personal ergattert. Kapitel 6: Markt ---------------- Agni POV Er wusste, es gehörte sich nicht. Es untergrub die Autorität seines jungen Herrn, trotzdem konnte Agni es nicht einfach so gut sein lassen. Vorsichtig spähte er um die Ecke und versuchte sicher zu stellen, dass Ciel ihn noch nicht bemerkt hatte. In letzter Zeit hatte dieser nämlich eine Tendenz entwickelt, für die Einkäufe etwas länger zu benötigen als normal gewesen wäre. Er war zwar nie wirklich lange weggeblieben, aber er kam auch nicht auf direktem Weg zurück, das wusste Agni. Der Earl tat noch irgendetwas anderes, von dem er ihm nichts erzählte. Aber jedes Mal, wenn er den Versuch unternommen hatte, ihn danach zu fragen, war er ausgewichen, hatte ihm Ausreden aufgetischt, wie dass die Verkäufer lange gebraucht hätten oder dass er dieses und jenes nicht gleich gefunden hätte. Es war keine grosse Sache, trotzdem machte sich der Inder Sorgen. Schliesslich war es seine Aufgabe den jungen Herrn zu schützen, selbst wenn dieser momentan nicht besonders gewillt schien, sich von ihm beschützen zu lassen. Ciel hatte ihm den Rücken zugewandt und stand zwischen den belebten Reihen der Marktstände. Sein Kopf drehte sich erst nach links, dann nach rechts, als würde er etwas suchen. Agni schaute ihm kritisch dabei zu, wie er von Stand zu Stand wanderte. Hin und wieder kaufte er tatsächlich etwas ein und steckte es in die mitgebrachte Jutetasche, doch für den Inder war ersichtlich, dass der junge Earl nicht ganz bei der Sache war. Sein Blick schweifte immer wieder in die Ferne und Agni fragte sich, was es wohl sein konnte, das sein neuer Herr sich hier zu finden erhoffte. Die Einkäufe waren es gewiss nicht, soviel war klar. Also hatte er mit seiner Vermutung richtig gelegen, gleichwohl empfand er einen gewissen Missmut darüber, dass Ciel ihn nicht einweihte. Schliesslich war er doch hier um zu helfen. Es war der ganze Zweck dieses verzweifelten Unterfangens. Oder hatte er Agni etwa endgültig als zu schwach und somit als nutzlos abgestempelt? Der Gedanke liess ihn bange die Lippen aufeinanderpressen. Das durfte nicht sein. Er wollte genauso wie der Earl den Urheber finden und Rache üben! Es war der einzige Lebenszweck, der ihm noch innewohnte. Ihn also von ihrer Suche auszuschliessen, war für Agni keine tolerierbare Option. Er ballte entschlossen die Hände zu Fäusten, doch sofort durchzuckte ihn wieder eine Welle des Schmerzes. Seine Hände erschlafften und Agni musste ein Stöhnen unterdrücken. Vielleicht, wenn der Schmerz nur nicht so omnipräsent wäre, könnte er Ciel nützlicher sein. Das Opium half, aber er wollte es eigentlich nicht. Ciel entfernte sich von ihm. Sein Schritt wirkte jetzt zielstrebiger als zuvor, fast so als hätte er gefunden, wonach er gesucht hatte. Agni gab sich Mühe an ihm dran zu bleiben, ohne ihm dabei zu nah zu kommen oder unnötig aufzufallen. Der Junge verliess die Lebensmittelabteilung des Marktes und steuerte jene mit den universal gebräuchlichen Gegenständen an. Der Richtungswechsel liess Agni die Stirn runzeln, weil er wusste, dass er bestimmt nichts auf die Liste geschrieben hatte, das dort zu finden gewesen wäre, aber somit war es umso mehr ein Grund ihm zu folgen. Für einen Moment verschwand Ciel aus seinem Blickfeld, weil er irgendwo zwischen den Ständen eingebogen war. Agni beschleunigte sein Tempo, nur um gleich darauf zu entdecken, dass sein junger Herr stehen geblieben war und mit jemandem sprach. Diese Person war versteckt hinter einem Pfeiler, schien aber einen interessanten Einfluss auf den jungen Earl auszuüben, denn dieser wirkte für einmal erstaunlich normal. Er schaute nicht abfällig oder gehässig auf diesen ominösen Gesprächspartner, sondern wirkte lediglich etwas reserviert. Er war nicht überschwänglich, aber die Tatsache allein, dass der Earl of Phantomhive sich mit jemandem auf solche Weise unterhielt, war ungewohnt für den indischen Butler. Bisher hatte Ciel es nämlich nie versteckt, was er von Londons Unterschicht hielt. Dass dort hinter dem Pfeiler also jemand stehen sollte, der anderer Behandlung bedufte, überraschte ihn… und zugleich bestätigte es ihn in seinem Verdacht, dass Ciel ohne seine Hilfe weiter ermittelt hatte. Es versetzte Agni einen Stich ins Herz… und in die Schulter. Langsam näherte er sich dem Earl und versuchte einen Blick auf den Unbekannten zu erhaschen. Es war schwierig, einen besseren Beobachtungspunkt zu finden, wenn er nicht zu nahe rangehen durfte; zudem machte der Lärm des Marktes es beinah unmöglich etwas zu verstehen, wenn man nicht in unmittelbarer Nähe der beiden Gesprächspartner stand. Agni beschloss die Sache anders anzugehen, nämlich von hinten. Mit schnellem Schritt umrundete er die Marktstände, so dass er sich auf der Seite des Unbekannten befand, der ihm nun den Rücken zugewandt hatte. Er wusste, dass er aufpassen musste, dass Ciel ihn nicht entdeckte, aber der Pfeiler bot ihm ausreichend Sichtschutz. Er schlenderte den Ständen entlang und tat so als würde er sich für einzelne Waren interessieren, während er immer mal wieder einen verstohlenen Blick zum Earl und seinem Gesprächspartner warf. Wenn er das richtig einschätzte, handelte er sich dabei ebenfalls um einen jungen Mann, der mit tief ins Gesicht gezogener Mütze und in den Hosentaschen vergrabenen Händen an den Pfeiler lehnte. Was sein optisches Erscheinungsbild anging, erinnerte er ihn sehr an den Jungen vom Hafen, aber Agni betrachtete es als abwegig, dass der Earl sich freiwillig in solche Gesellschaft begeben würde. Also ging er noch etwas näher heran. An einem Stand für Kupferwaren blieb er allerdings stehen und versuchte so zu tun, als würde er sich für einen heruntergekommenen Kochtopf interessieren. Der Verkäufer begann natürlich sofort auf ihn einzureden und den guten Zustand seiner Ware anzupreisen. Angi nickte und lächelte freundlich, doch geistig hatte er die Stimme des Verkäufers schon längstens ausgeblendet, stattdessen konzentrierte er sich auf das undeutliche Gespräch der zwei jungen Männer, die sich jetzt in unmittelbarer Nähe befanden. Es war nicht einfach etwas zu verstehen, oftmals gingen Teile im Lärm unter und er verstand nur Bruchstücke. „Vinny… du solltest vorbei kommen… es ist nicht schlimm, sie sind meistens ganz nett…“ Agni zog die Stirn kraus. Wer war Vinny und wohin sollte Ciel gehen? Er musste wirklich herausfinden, wer der andere Junge war, aber dafür wäre es nötig gewesen, ihn von vorne zu sehen. „Nein, ich werde nicht kommen. Das ist nichts für mich. Ausserdem muss ich jetzt sowieso zurück...“ Das war Ciels Stimme gewesen. Agni konnte nicht verhindern, dass er sich automatisch etwas umwandte. Er konnte noch sehen, wie der fremde Junge mit den Schultern zuckte und sich dann von der Säule abstiess. „Hmm na dann, aber wenn du es dir anders überlegen solltest, weißt du ja, wo du uns findest. Komm einfach nicht zu spät…“, er winkte Ciel einmal kurz zu und ging dann an Agni vorbei, ohne diesen zu beachten. Der indische Butler stand perplex da. Das war nicht der Junge vom Hafen gewesen, aber wer war er dann? Verwirrt ging sein Blick zwischen dem Pfeiler und der Stelle, wo der unbekannte Junge in der Menschenmasse verschwunden war, hin und her. Er konnte sich wirklich keinen Reim auf dieses Geschehen machen. [1] Ciel war auch nirgendwo mehr zu sehen, wahrscheinlich hatte er sich wirklich auf den Rückweg gemacht. Angi beschloss, dass es auch für ihn an der Zeit war zurück zu gehen. Eigentlich sollte er ja zusehen, dass er vor dem jungen Earl im Workhouse ankam, wenn dieser nämlich merken würde, dass er ebenfalls weg gewesen war, würde er ihm bestimmt Fragen stellen. Und im Gegensatz zu seinem Herrn stand es einem Diener nicht zu sich der Ausreden zu bedienen. Wenn Ciel also misstrauisch werden und nachfragen sollte, würde Agni die Wahrheit sagen, selbst wenn das den Unmut des jungen Earls nach sich ziehen würde. Genau als er sich in Bewegung setzen wollte, durchzog plötzlich eine heiss glühende Welle des Schmerzes seinen gesamten Körper. Ein grosser, torkelnder Kerl hatte ihn angerempelt und stand nun mit unfokussiertem Blick vor ihm. „Pass doch auf, du dreckiger Inder“, lallte er. Unter normalen Umständen hätte Agni den Mann höflich darauf aufmerksam gemacht, dass er es gewesen war, der in ihn hineingelaufen war, aber gerade jetzt war der Schmerz einfach so übermächtig, dass er einfach nur die Hand auf seine Schulter pressen konnte und sich ohne eine Erwiderung umdrehte. Kleine Pünktchen tanzten vor seinen Augen, während er sich leicht panisch den Weg durch die Menge bahnte. Er musste nach draussen. Seine Atmung ging rasselnd. Warum musste das gerade jetzt passieren?! Es war wahrhaft ein grauenhafter Zeitpunkt. Schweratmend lehnte er sich an eine kalte Steinmauer. Er konnte sein eigenes Blut in den Ohren rauschen hören. So konnte er wirklich nicht zurück zum Workhouse. Er musste sich erst etwas beruhigen… Er musste etwas gegen die Schmerzen haben… Er musste zu Lau. Ciel POV „Schön, dass du doch noch gekommen bist. Jason meinte ja, du würdest kneifen.“, so etwas wie Schalk lag in Ians Augen, während sie durch die ins Dämmerlicht getauchten Gassen wanderten. Ciel erwiderte nichts und vergrub seine Hände in den Hosentaschen. Er hatte nicht wirklich kommen wollen, der einzige Grund, warum er es dennoch getan hatte, war gewesen, dass Agni seit seiner Rückkehr nirgends aufzufinden war. Das Personal hatte ihm zwar mitgeteilt, dass er kurz nachdem Ciel zum Einkaufen gegangen war, ebenfalls aufgebrochen sei, aber gerade das machte ihn stutzig. Wo sollte Agni denn hingehen? Er brauchte schliesslich nichts von ausserhalb des Workhouses… „Wo sind die anderen hingegangen?“, Ciel hatte zu seinem grossen Erstaunen feststellen müssen, dass die Gang für ihre nächtlichen Aktivitäten nicht zusammenblieb, sondern sich in mehrere kleine Gruppen aufgeteilt hatte. „Fred, Simon und Nathan sind zum Ancor gegangen, sie haben dort Stammkunden; Jason und sein Bruder wollten die Lage entlang der Marlborostreet abchecken; und Liam, Sam und Ezechiel waren sich noch unsicher, werden aber wahrscheinlich zur Langley gehen.“ Ciel nickte bedächtig. Die Gegend, in der sie sich befanden, war ziemlich ruhig. „Es scheint ja reichlich viel Methode hinter eurer Aufteilung zu stecken.“ Ian zuckte mit den Schultern, „es verschreckt die Kunden bloss, wenn es zu viele von uns auf einem Haufen sind. Sie finden es einfacher auf uns zuzukommen, wenn es bloss zwei oder drei sind.“ „Verstehe. Und warum hast du mich hierhergebracht? Soll ich auch nicht verschreckt werden?“ Ian wandte sich um, ein entschuldigendes Grinsen lag auf seinem Gesicht. Er hob beschwichtigend die Hände, während nun zum ersten Mal seit geraumer Zeit jemand an ihnen vorbei ging. Es war ein junger Mann, von der Art seiner Kleidung her zu schliessen wahrscheinlich ein Student. Sein Blick blieb für einen Moment lang an Ciel hängen, bevor er sich wieder losreissen konnte – aber natürlich nicht ohne diesem ein mehr als schmieriges Augenzwinkern zukommen zu lassen. Und der junge Earl verstand. Er fokussierte Ian mit strenger Miene, „du bist nicht halb so nett wie du tust.“ „Hey, ich versuche bloss zu überleben“, Ian klopfte ihm versöhnlich auf die Schulter, „aber mit deinem Gesicht schien es eine vielversprechende Idee dich hierher zu bringen.“[2] Ciel presste die Lippen aufeinander, bevor er sich schliesslich wieder genug unter Kontrolle hatte, um zu erwidern: „Also, was ist das hier?“ „Hmmm,“ Ian legte gespielt nachdenklich den Finger ans Kinn, „lass uns mal sagen, eine Gegend, wo die Leute zwar nicht reich sind, aber dennoch etwas mehr Geld haben als unsereins.“ Mit skeptisch hochgezogener Augenbraue sah Ciel sich noch einmal um. Die Gegend wirkte in der Tat etwas besser, als der Rest von Londons East End, trotzdem war sie immer noch weit entfernt von dem was er als gehoben bezeichnet hätte. „Und was tun wir jetzt?“ „Na, wir warten“, Ian lehnte sich demonstrativ gegen die nächstgelegene Backsteinwand und verschränkte die Arme vor der Brust. Während Ciel etwas deplatziert daneben stand, konnte er nicht anders als unwillkürlich die Hände zu Fäusten zu ballen. „Du erwartest doch nicht ernsthaft, dass ich dabei mitmache?“ In gewisser Weise war es ihm von Anfang an schleierhaft gewesen, warum er überhaupt mit den Strichjungen mitgegangen war, wenn allen Beteiligten sowieso klar war, wie das enden musste. Ian zuckte gelassen mit den Schultern. „Das bleibt dir überlassen. Ich zwinge dich zu nichts, aber…“, sein Blick wanderte abgelenkt zur gegenüberliegenden Strassenseite. Zwei Männer, beide mit Schnurbärten, wahrscheinlich etwas über fünfzig, waren stehen geblieben. Ian schaute ganz unverhohlen zu ihnen und lächelte – für Ciels Geschmack etwas zu übertrieben – freundlich. Die Männer wechselten ein paar unverständliche Worte miteinander, dann schüttelte einer der beiden den Kopf und sie gingen weiter. Ian gab bloss ein abschätziges Geräusch von sich, wandte sich dann aber wieder seinem Gesprächspartner zu. „Also, wo war ich… ach ja, ich zwinge dich natürlich zu nichts, aber du weißt so gut wie ich, dass es, wenn man mal ganz unten angekommen ist, nicht mehr besonders viele Möglichkeiten gibt. Ausserdem hat es dich bei Bull ja auch nicht gestört.“ Das war genau der Satz gewesen, den Ciel gefürchtet hatte zu hören. Er versteifte sich etwas und wandte den Blick von Ian ab. Vielleicht war genau das der Grund, warum er überhaupt mitgegangen war. Die Strichjungen glaubten, er sei einer von ihnen und dass er am Hafen in ihrem Territorium gefischt hatte, als er sich mit Bull getroffen hatte. Es war also besser, ihn zu ihrem Verbündeten zu machen, anstatt ihn zum Rivalen zu haben. Deswegen hatten sie ihn mitgenommen. Die Frage blieb aber bestehen, warum hatte er selbst nicht einfach Kehrt gemacht hatte, als er Ian an jenem Tag auf dem Markt gesehen hatte. Er hätte es tun sollen! Stattdessen wurde er jetzt für ein Stück menschlichen Abschaums gehalten…. „Ich will nicht über Bull reden“, murmelte er kaum verständlich. „Wer will das schon…“ Ians Blick war wieder in die Ferne geschweift, er folgte einer gleichmässig herannahenden Kutsche. „Wie gesagt, ich zwinge dich zu nichts. Ich wollte dir einfach nur klar machen, dass ich und die anderen zusammenhalten. Wir sind eine Gang. Wenn du auch dazu gehörst, wärst du nicht mehr allein und wir beschützen dich.“ Das Geräusch der Kutsche wurde immer lauter. Ihre Räder donnerten über das Pflaster bis sie schliesslich direkt vor Ciel und Ian zum Stehen kam. Die Tür wurde geöffnet und gab den Blick auf das halbdunkle Innere frei. „Ian, mein Junge, wie geht es dir?“, tönte es heraus, ohne dass Ciel den Sprecher dabei hätte sehen können. „Alles bestens“, Ian grinste und näherte sich der Tür. „Wie ich sehe, hast du einen Freund dabei. Möchte er auch mitkommen?“ Ian warf einen kurzen Blick zu Ciel, meinte dann aber, während er sich schon auf den Fussrost gestellt hatte: „Ach Vinny ist noch neu und deswegen etwas schüchtern. Vielleicht beim nächsten Mal.“ „Verstehe“, tönte es wieder aus dem Innern der Kutsche. Und während sich eine behandschuhte Hand um Ians Taille schob, erhaschte Ciel endlich einen Blick auf den Besitzer der Stimme. Ein Mann mittleren Alters mit Monokel und einem Ziegenbärtchen, seine Augen blitzten Ciel an, während er Ian zu sich in die Kutsche zog und gleichzeitig die Tür schloss. ~~~ Ciel sah der Kutsche noch lange nach. Nicht, weil es ihn besonders gestört hätte, dass Ian einfach mit einem Freier mitgegangen war und ihn allein gelassen hatte. Nein, es war viel mehr die Tatsache, dass er besagten Freier kannte, die ihn derart beschäftigte. Er hatte den Mann schon einmal am Hafen gesehen. Ian hatte bestimmt auch schon dort Kontakt zu ihm aufgenommen, denn offensichtlich trafen sich die beiden nicht zum ersten Mal. Damals am Hafen war der Mann mit Bull aneinandergeraten. Er hatte wohl etwas über das Lager der Funtom Company erfahren wollen, aber Bull hatte sich geweigert mehr Informationen als nötig preiszugeben. Vielleicht hatte er sich auch erhofft, dass, wenn er sich stur stellte, der Mann versuchen würde ihn zu schmieren und er so zu etwas zusätzlichem Verdienst käme – zuzutrauen war es Bull - , aber der Versuch war offensichtlich nach hinten losgegangen. Der Mann war danach wieder verschwunden, was in Ciel natürlich sofort das Bedürfnis ausgelöst hatte herauszufinden wer er war und was er sich vom Funtom Lagerhaus erhoffte. Leider war es ihm damals unmöglich gewesen, den Namen des Unbekannten zu ermitteln, aber dass er ihm jetzt, zu einem derart unerwarteten Zeitpunkt wieder begegnete, erschien ihm beinah wie ein Wink des Schicksals. Vielleicht führte der Weg zum Urheber ja über Ians ominösen Freier. Es war nun an Ciel sich mit vor der Brust verschränkten Armen gegen die Backsteinwand zu lehnen. Sein Blick war nachdenklich gen Himmel gerichtet. Nach langer Zeit war das der erste brauchbare Hinweis, den sie kriegten; und dass dieser ihnen auch noch wegen eines Strichjungen zugeflattert kam, war geradezu ironisch. Seine Hände rumorten durch die Taschen und bekamen schliesslich etwas zu fassen. Er zog es heraus und drehte es nachdenklich in seinen Fingern hin und her. Der Apfel wirkte schon nicht mehr ganz frisch, seine Haut war leicht schrumplig und fühlte sich unter Ciels Fingerspitzen etwas wie Gummi an. Er wollte ihn eigentlich nicht essen, trotzdem hob er ihn an seine Lippen und biss hinein. Auf der anderen Strassenseite ging wieder jemanden vorbei. Ciel konnte aus den Augenwinkeln sehen, dass die Person ihren Schritt verlangsamte, dann aber, als er bloss weiterhin uninteressiert auf seinem Apfel herumkaute, weiterging. Irgendwie schmeckte die Frucht seltsam. Er verzog das Gesicht, schluckte das Stückchen in seinem Mund aber dennoch hinunter. Sebastian hätte bestimmt eine spitze Bemerkung gemacht, dass der Earl jetzt doch noch Bescheidenheit lernte, aber darum ging es hier gar nicht. Bescheidenheit spielte absolut keine Rolle, als er einen weiteren Bissen vom Apfel nahm, es ging einzig und allein um Glaubhaftigkeit. Wenn man sich als Teil von Londons Unterschicht ausgeben wollte, dann musste man auch so leben wie sie; und das hiess arm. Eigentlich wäre es schon nach ihrem Kampf mit Bull nötig gewesen, dass Agni einen Arzt aufsuchte. Einen richtigen, der die Wunde desinfizierte und nähte, nicht bloss einen Armenviertel Quacksalber, der irgendeine matschige Salbe draufklatschte und nach dem Motto praktizierte ‚was dich nicht umbringt, macht dich stärker’. Aber sie hatten nicht einmal das getan, denn sie hatten kein Geld gehabt. Der einzige Grund, warum sie seither nicht verhungert waren, war, weil sie in einer Küche arbeiteten, deren Bezahlung mehrheitlich aus Naturalien bestand. Ciel drehte den schrumpligen Apfel in seinen Fingern hin und her. Vielleicht war es das Wissen, dass er diese ganze Scharade mit einem einzelnen Satz hätte beenden können, welches ihn die Situation so dermassen distanziert betrachten liess. Er hatte keine Angst zu verhungern oder an einer banalen Infektion zu krepieren, denn er brauchte bloss zu rufen und er würde kommen. Natürlich stand es momentan nicht zur Debatte die Hilfe seines Butlers in Anspruch zu nehmen, aber er hätte es jederzeit tun können. Und solange Agni ihn nicht darum bat, irgendwas an ihrer momentanen Situation zu verändern, würde er dieses kleine Schauspiel fortführen. Angewidert warf er den Rest des Apfels fort und verschränkte wieder die Arme vor der Brust. Der Geschmack der Frucht lag ihm immer noch auf der Zunge. Er seufzte. ~~~ Es war dunkel geworden. Ciel stand immer noch an die Backsteinmauer gelehnt. Er wusste auch nicht so recht worauf er wartete, damit dass Ian zurückkam rechnete er eigentlich nicht. Er stand einfach nur da und dachte nach. Hin und wieder gingen Männer vorbei, die ihren Schritt verlangsamten und ihn kurz anschauten, dann aber weitergingen, wenn er nicht reagierte. Erst als schliesslich einer der Kerle direkt vor ihm stehen blieb, wusste Ciel, dass das Ende seines sinnlosen Herumhängens gekommen war. Er schaute nicht auf, sondern hoffte mit sich versteifender Köperhaltung darauf, dass auch dieser weiterziehen würde. „Na, was haben wir denn da?“ Falsch gehofft. Ciel verdrehte die Augen und hob langsam seinen Blick. Der Mann war für die Gegend überraschend gut gekleidet. Modische schwarze Schuhe, ein langer schwarzer Mantel… Sein Blick wanderte weiter hoch, nur um schliesslich bei einem Grinsen hängen zu bleiben, welches ihm das Blut in den Adern gefrieren liess. Sein Gesicht musste blankes Entsetzen widergespiegelt haben, denn der Mann tat einen Schritt auf ihn zu. „Junger Herr, habt Ihr das Gewerbe gewechselt? Ganz ohne es mir zu sagen?“, säuselte die Stimme. Ciel war zu perplex um etwas zu erwidern, so dass Sebastian bloss noch näher an ihn herantrat. „Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass Ihr so schnell, so tief sinken würdet.“ Er legte herausfordernd den Kopf schief. Ciel, der endlich wieder zu sich gekommen war, stemmte die Hände gegen die Brust seines Butlers und versuchte ihn von sich zu stossen. „Lass mich in Frieden, Dämon! Das hier geht dich gar nichts an!“ „Oh, aber junger Herr, alles was Ihr tut, geht mich etwas an. Meine oberste Priorität ist Euer Wohlergehen und wenn es soweit kommt, dass ihr Euren Körper in einer finsteren Gasse feilbieten müsst, ist es meine Pflicht einzugreifen.“ Das Grinsen im Gesicht des Dämons schien neue Ausmasse des Amüsements zu erreichen. Es war mehr als offensichtlich, wie sehr es ihm gefiel, Ciel in einer derart kompromittierenden Situation zu sehen. „Ich biete gar nichts feil!“, blaffte Ciel. Hitze war ihm ins Gesicht gestiegen, während er immer noch versuchte sich aus Sebastians Griff zu winden. „Ach, dann steht Ihr hier einfach nur so rum, und das auch noch ganz alleine?“ Die Feststellung liess Ciel ruhig werden. Sein Blick war abgewandt und seine Wangen gerötet, während sein Handgelenk immer noch von Sebastian festgehalten wurde. Der Butler beugte sich zu ihm herunter und flüsterte mit verschwörerischem Tonfall: „Kann ich auch zu Eurem Kundenkreis gehören, junger Herr?“ „Lass das, du Bastard. Das ist nicht komisch…“, Ciel Stimme war nun leiser, beinah schon leicht verlegen. Er liess zu wie Sebastian sich wieder näher an ihn drängte und seinen Arm um seine Taille legte. „Das war in keinster Weise als Scherz gemeint, junger Herr…“, seine Hand hatte von Ciels Handgelenk abgelassen und glitt nun seinem Hals entlang nach unten. Dabei förderte sie gleichzeitig eine kleine, klimpernde Geldbörse zu Tage, die sie, wie nebenbei, in der Jackentasche des jungen Mannes verstaute. „…wie Ihr sehen könnt, zahle ich auch.“ Sebastians heisser Atem an seinem Ohr verhinderte für einen Moment, dass Ciel das wirkliche Ausmass dieser Geste begriff. Verwirrt folgte seine Hand jener Sebastians. Er ertastete die harten, klimpernden Münzen in seiner Tasche und erst da verstand er…. Er verstand, dass sein eigener Butler ihn gerade gekauft hatte. Die Hitze in seinem Körper schwoll an. Wie eine sprichwörtliche Flutwelle brach sie über ihn herein, als er Sebastian vehement von sich stiess. „WAS ERLAUBST DU DIR?!“ Er starrte seinen dämonischen Butler an, der immer noch amüsiert grinsend vor ihm stand, packte dann den kleinen Geldbeutel und schleuderte ihn ihm entgegen. Doch anstatt ihn aufzufangen, wich Sebastian ihm bloss geschickt aus, so dass er ein paar Meter hinter ihm auf dem Boden aufschlug. Er lächelte diabolisch. „Wie grausam von Euch, junger Herr. Lehnt Ihr mich ab, weil ich es bin oder zahlen Eure anderen Kunden besser? Es macht mich eifersüchtig, wenn andere Euch haben dürfen…“ Ciel ballte die Hände zu Fäusten und bemühte sich so ruhig es ging zu erwidern: „Niemand darf mich haben. Ich tue hier nichts derartiges….“, dann fixierte er Sebastian, „ich stehe hier bloss rum, alleine.“ Sebastian nickte anerkennend und richtete dann seinen Mantel. „Dann ist ja alles in Ordnung. Gehe ich richtig in der Annahme, dass Ihr immer noch nicht beabsichtigt nach Hause zu kommen?“ Ciel nickte bloss stumm. „Nun denn, junger Herr. Ich werde wieder ins Mansion zurückkehren, aber vergesst nicht, dass ich immer da bin.“ Er deutete eine kleine Verbeugung an und drehte sich dann um. ~~~ Ciel lauschte seinen verhallenden Schritten, obwohl er wusste, dass Sebastian die Wahrheit gesagt hatte. Er war immer da, selbst wenn er es nicht war… Er würde es auch wissen, selbst wenn er es nicht sah. Sein Blick fiel auf den am Boden liegenden Geldbeutel. Er hasste Sebastian dafür, aber wenn er ihn nicht nahm, würde es bloss ein anderer tun…. TBC [1] Nur um hier Verwirrung zu vermeiden, Ciel spricht auf dem Markt nicht mit Ian, sondern mit Jason, welcher zwar auch zur Gang gehört, aber im Hafen nicht mit dabei war, weswegen Agni ihn auch nicht wiedererkennt. [2] Das ganze erklärt vielleicht auch, warum Ian im letzten Kapitel so nett zu Ciel war. Er verspricht sich nämlich insgeheim davon, dass wenn Ciel bei ihnen mitmacht, es sicherlich einen positiven Effekt auf das Budget der Gang haben wird;P Kapitel 7: Jus Primae Noctis - flashback II ------------------------------------------- A/N: Nur noch mal kurz zur Erinnerung, weil der letzte Flashback schon ein Weilchen zurück liegt und damit sich die Leser die Umstände wieder ins Gedächtnis rufen können: Es ist Winter, kurz vor Ciels Geburtstag, und die Verlobungsfeier steht bevor. Ausserdem hat es Schnee;3 Kapitel 7 – Jus Primae Noctis „Sebastian, wo ist Lizzy? Alle warten schon!“ Besagter Butler half seinem Herrn mit einem geduldigen Lächeln in den Gehrock, bevor er antwortete: „Ich bin sicher, dass Lady Elizabeth jeden Moment kommen wird. Die toilette einer jungen Dame benötigt schliesslich ihre Zeit; vor allem für einen solchen Anlass. Ihr solltet also nicht so ungeduldig sein, Herr.“ Ciel gab ein verächtliches Schnauben von sich, während er sich von Sebastian die Knöpfe zumachen liess. „Das ist doch alles Unfug. Wer braucht einen solchen Aufwand für die Probe einer Verlobungsfeier?! Es ist noch nicht einmal die Hochzeit, nein, es ist bloss die Verlobung, es wäre wirklich nicht nötig, das Kleid jetzt schon zu tragen…“, ereiferte sich der Earl, während seine eigenen Hände rastlos über seine Kleidung glitten und immer wieder unsichtbare Falten glattstrichen. Sebastian lehnte sich zurück und betrachtete den jungen Mann vor sich mit hochgezogener Augenbraue: „Ihr seid ja nervös, junger Herr. Das ist richtig süss.“ Ein leichtes Lachen folgte und er legte gespielt nachdenklich die Hand ans Kinn. „Hach, wie die Zeit vergeht. Da wart Ihr gerade erst ein klein geratener Zehnjähriger und jetzt werdet ihr schon heiraten. Ein bisschen nostalgisch macht mich das ja schon…“ „Sebastiaaaan…“, Ciels Gesicht war rot geworden, während sein Blick den Butler erdolchen wollte, „…gib keinen solchen Schwachsinn von dir. Du bist keine Glucke, die ihr Kücken unter die Haube bringt.“ „Manchmal komme ich mir aber in der Tat so vor…“, er zwinkerte dem jungen Lord schelmisch zu. Hinter ihnen stimmte das leise Gelächter von Bard, Finny und Maylene mit ein, welche die hinterste Stuhlreihe besetzt hielten. Mit freudigen Mienen schauten sie zu ihrem Herrn und Sebastian herüber. Ciel verzog kurz den Mund, schaffte es aber bei dieser allgemein viel zu fröhlichen Stimmung nicht, die drei Bediensteten für ihre Frechheit zurechtzuweisen. Sie sassen auf der rechten Seite des aufgebauten Pavillons. Die meisten anderen Stuhlreihen davor waren leer, einzig Prinz Soma und sein Butler Agni hatten sich noch auf die Seite des Bräutigams geschlagen. Die beiden hatten es sich zu Ciels Verdruss nicht nehmen lassen, auch bei der Probe anwesend zu sein. Er hatte zwar versucht dem indischen Prinzen klar zu machen, dass das noch nichts mit der richtigen Feier zu tun hatte, aber das hatte diesen wenig interessiert. Auf der linken Seite hingegen sassen, Gott sei Dank, nur noch Lizzys Mutter, Francis Middleford-Phantomhive und eine von ihren Bediensteten. Marquis Middleford, ihr Mann, hatte es vorgezogen bis zur richtigen Feier in drei Tagen zu warten, womit die Zahl der Anwesenden momentan bei neun lag. Nur eine Person fehlte noch… Die zukünftige Braut. Ciel atmete tief ein. Warum musste Lizzy bloss einen solchen Hang zur Übertreibung haben?! Das war doch bloss eine Verlobungsfeier. Es würde so laufen, dass er, Ciel, als Vertreter des Hauses Phantomhive erst ein paar Worte sagen, dabei natürlich immer die lange und tiefe Verbindung zu den Middlefords preisend, und dann um Lizzys Hand anhalten würde. Dabei war das nun absolut nichts Neues! Jeder wusste, dass er und sie heiraten würden. So war das schon geplant gewesen bevor sie beide überhaupt laufen konnten. Ihre Familien wussten das, die Öffentlichkeit wusste das, warum musste es also noch eine Feier dafür geben? Wenn es nach ihm ginge, hätten sie das überspringen und gleich zur Hochzeit kommen können. Nicht, dass Ciel derart erpicht darauf gewesen wäre den Bund der Ehe einzugehen. Er mochte Lizzy zwar, denn sie war eine Konstante in seinem Leben, aber er interessierte sich wenig für Romantik, Kinder und andere häusliche Dinge, die mit der Ehe einhergingen. Zudem würde es schwierig werden, gewisse Sachen vor ihr geheim zu halten, wenn sie erst bei ihm wohnte. Um ehrlich zu sein, bereitete ihm schon der Gedanke daran Kopfzerbrechen… Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, die Verlobung vor langer Zeit zu lösen, aber das hätte Lizzy das Herz gebrochen und Ciel brachte es nun einmal nicht über sich, ihr weh zu tun. Also war alles beim Alten geblieben. Er würde sie heiraten und versuchen sie glücklich zu machen, so gut es eben ging. Denn das war der Grund, warum er ihre Extravaganzen ertrug und warum sein ganzer Haushalt bei diesem himmelschreienden Blödsinn mitmachte. Ciel atmete nochmal tief ein und liess unbewusst seinen Blick über den Pavillon streifen. Er war nicht besonders gross, aber die Wände waren aus Glas und stilistisch dem Crystal Palace[1] nachempfunden. Sie hatten ihn extra für die Verlobung neben der kleinen Kapelle auf dem Phantomhive Anwesen aufgebaut – und mit „sie“ war natürlich Sebastian gemeint, aber das braucht niemand zu wissen. Lizzy hatte auf jeden Fall Gefallen an der Idee geäussert, sie liebte ja sowieso alles, was glitzernd und ungewöhnlich war. Blieb also nur zu hoffen, dass auch das Wetter mitspielte, denn nur wenn die Sonne durch die Scheiben fallen und alles erleuchten würde, wäre die Szenerie perfekt. Das Licht sollte vom frischen Schnee reflektiert werden und alles würde glitzern, das Glashaus und das Paar darin, der perfekte Tag… Ein leichter Schauer überfiel Ciel. Er vertrieb das Bild, das sich in seinem Geiste manifestiert hatte. Es war einfach zuviel des Guten. Er hätte nach all den Jahren wissen müssen, dass es eine schlechte Idee war, Sebastian Befehle wie mach, dass alles perfekt laufen wird zu geben, denn der Hang seines Butler zur Übertreibung war fast genauso ausgeprägt wie der seiner herzallerliebsten Verlobten, nur äusserte sich das bei ihm normalerweise etwas anders. „Ist Euch kalt, Herr?“ Sebastians aufmerksamem Blick war nicht entgangen, dass dem jungen Phantomhive das ganze Spektakel etwas zuviel zu werden schien, trotzdem konnte er es sich nicht verkneifen eine entsprechende Bemerkung fallen zu lassen. „Oh, wie könnte es“, entgegnete Ciel höhnisch, „du hast dich schliesslich mit dem Ausbau des Heizungssystems selbst übertroffen.“ Er taxierte den Dämon, der trotz der mehr als offensichtlichen Schmähung eine Verbeugung andeutete. Ihr kleines Spielchen hatte wieder begonnen… „Euer Lob ehrt mich, Herr, doch ich kann nur immer wieder betonen, dass es Eure eigene Idee war, die Gasleitungen der Kapelle für die Beheizung des Pavillons zu benutzen. Ich habe sie lediglich in die Tat umgesetzt.“ Ciel hatte schon den Mund geöffnet um etwas zu erwidern, als sein Blick plötzlich an etwas auf der anderen Seite der Glaswand hängenblieb. Falten bildeten sich auf seiner Stirn. „Was macht der denn hier“, murmelte er mürrisch. Sebastians Blick folgte dem seines Herrn, nur um einen leicht bläulich angelaufenen Baron von Rochester zu erspähen, der sich gerade daran machte hektisch von aussen gegen die Glaswand zu hämmern und so Einlass zu erbitten. Doch der junge Phantomhive wandte sich einfach wieder ab und schien den ungebetenen Gast ignorieren zu wollen. Sebastian hob kritisch eine Augenbraue. „Herr, würde es die Höflichkeit nicht gebieten, ihn einzulassen?“ „Pffff“, Ciel verschränkte beinah schon trotzig die Arme vor der Brust, „er hat keinen Termin. Ausserdem ist das ein Privatanlass, warum also sollte ich ihn reinlassen?“ „Nun…“ Sebastian kam nicht dazu seine Argumentation zu beenden, sondern wurde von einem - wie immer - überaus eifrigen Prinz Soma unterbrochen, der sich gegenüber von Rochester positioniert hatte und diesen mit wildem Gestikulieren anzeigte, dass er doch hereinkommen sollte. Ciel rollte mit den Augen, während Sebastian grinste. „Nun, es scheint als würden die anderen Gäste seine Gegenwart wünschen.“ „Sollen sie doch machen, was sie wollen. Das tut hier sowieso jeder…“ entgegnete er halblaut und wandte dem Neuankömmling demonstrativ den Rücken zu. Rochester trat über die Schwelle und klopfte sich energetisch die letzten Schneeflocken aus der Kleidung. „Was für eine Schweinekälte da draussen… Hoheit, was für eine Ehre Euch wiederzusehen!“, er ergriff Somas Hände, welcher den Gruss nicht minder enthusiastisch erwiderte. Während die beiden in die üblichen überschwänglichen Begrüssungslitaneien verfielen, kam Ciel nicht umhin sich die Schläfen zu reiben. Warum musste jetzt dieser Trottel auch noch auftauchen? War es denn nicht schon genug, dass er dieses Theater über sich ergehen lassen musste? Er seufzte tief. „Ruhig Blut, mein Herr. Es wird bald vorbei sein.“ Sebastian hatte ihm beruhigend die Hände auf die Schultern gelegt, dirigierte ihn aber gleichzeitig mit leichtem Nachdruck in Rochesters Richtung. „Ciel, mein Junge“, der Baron ergriff seine Hand und schüttelte sie kräftig. Mit einem leicht gequält-abschätzigen Lächeln erwiderte dieser die Geste, stellte aber gleichzeitig mit einer gewissen Genugtuung fest, dass Rochester nach ihrer letzten Begegnung nicht mehr versucht hatte ihn zu umarmen. Wenigstens ein kleiner Fortschritt. Bevor er allerdings dazu kam, nachzufragen, was seinen ungebetenen Gast hierher verschlagen hatte, kam dieser ihm zuvor: „Was für ein imposantes Konstrukt, dieser Pavillon. Muss bestimmt ein Vermögen gekostet haben, aber für euch Phantomhives war Geld ja noch nie ein Thema. Und wie wunderbar warm es hier drin ist, man kann nur immer wieder über die neusten Errungenschaften der Technik staunen…“ Rochester plapperte weiter, während Ciel mental auf Durchzug schaltete. Er warf einen kleinen Blick über seine Schulter zu Sebastian, der sein übliches Grinsen aufgesetzt hatte. „… das Gebäude wird doch bestimmt mit Gas beheizt. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ein derart grosses Volumen mit Wärme versorgt werden kann. Wirklich beeindruckend…“ „Sebastian“, Ciel schnitt seinem Gast scharf das Wort ab, „finde doch bitte einen freien Platz für den Baron. Du kannst ihn auf der Middleford Seite platzieren.“ Der Butler deutete eine kleine Verbeugung an und machte sich daran Rochester von Ciel wegzubugsieren. Dieser plapperte trotzdem unbeeindruckt weiter, „Irgendwie ist es kaum zu glauben, dass dieser Junge jetzt schon heiraten soll. Wissen Sie, ich kennen ihn schon seit er so klein war.“, er deutete die übliche Geste auf Höhe seiner Hüfte an. Sebastian nickte geduldig. Er fand den Baron von Rochester eigentlich einen durchaus unterhaltsamen Zeitgenossen, vor allem weil schon seine alleinige Gegenwart ausreichte, um den jungen Herrn zu reizen. Mit einem undeutbarem Lächeln wies er dem Gast seinen Platz zu. Sofort begann dieser auf Lady Francis einzureden, welche ihn aber mit steinerner Miene zu ignorieren versuchte. Ciel konnte fühlen, wie sich das kontinuierliche Pochen in seinen Schläfen langsamen zu einer ausgewachsenen Kopfschmerzattacke entwickelte. Doch zu seinem Verdruss schien seine Tortur noch nicht beendet, denn nun hatte sich Soma – inklusive Anhang – vor ihm aufgebaut. Sein Gesichtsausdruck war eindeutig vorwurfsvoll, während er seine Arme vor der Brust verschränkt hatte. „Ciel! Sei doch nicht immer so unfreundlich! Der Baron ist schliesslich extra gekommen, um dir zu deiner Verlobung zu gratulieren…“ Ist er nicht, entgegnete dieser mental, er ist bloss ein Schleimer, der sich bei mir gutstellen will und deswegen alles tut, um sich in einem guten Licht darzustellen. „Der Baron war nicht eingeladen, Soma. Ich will schliesslich nicht halb London bei meiner Verlobung haben“, war die die offizielle Erwiderung des jungen Earls, bevor er sich umwandte und betont lange zur Tür schaute. „Wo bleibt bloss Lizzy?“ „Du weichst mir aus, Ciel! Warum bist du so schlecht gelaunt?! Ich kann ja verstehen, dass du nervös bist, eine Verlobung ist schliesslich ein wichtiger Moment im Leben, aber gerade deswegen solltest du fröhlich sein!“, Soma breitete die Arme in einer überschwänglichen Geste aus. Das ganze liess Ciel bloss das Gesicht verziehen, jetzt musste er sich auch schon eine Standpauke von Prinzen der Minderbemittelten anhören. Heute war eindeutig nicht sein Tag. Er wollte sich schon endgültig abwenden, da fuhr Soma fort: „Was würde bloss Schwester Lizzy dazu sagen?“ Das liess Ciel innehalten. Soma hatte da offensichtlich einen Nerv getroffen. „Wie soll bloss eure Ehe aussehen, wenn du es jetzt schon nicht fertig bringst dich zu freuen?“, er wedelte mit dem Zeigefinger vor Ciels Gesicht herum. „Du kannst sie doch nicht den Rest ihres Lebens deiner schlechten Laune aussetzen. So was ist nicht der Sinn der Ehe. Du sollst sie glücklich machen! Schliesslich geht es bei den ehelichen Pflichten ja auch darum!“ Soma hatte sich eindeutig in die Sache hineingesteigert, trotzdem war Ciel für einen Moment lang zu schockiert, um etwas zu erwidern. „Ich bezweifle stark, dass der Junge etwas von Erfüllung ehelicher Pflichten versteht!“, warf nun Rochester dazwischen. Er hatte sich auf seinem Stuhl halb zu ihnen herumgedreht und sich eine seiner fetten Zigarren angesteckt, während sich auf seinem Gesicht ein zweideutiges Grinsen ausgebreitet hatte. Leichtes Gekicher breitete sich im Raum aus, während Ciel immer noch entgeistert zwischen den Parteien hin- und herschaute. „Wie bitte?! Was soll das? Ich…“, er wurde von Soma unterbrochen, der seinen Arm ergriff und ihn nun etwas näher zur Gruppe hinzerrte. Plötzlich schien die Stimmung total umgeschlagen zu haben, Ciel verstand es nicht. Die Männer schienen sehr amüsiert über die Aussage des Barons zu sein, Meylenes Wangen waren von einem zarten Rot überzogen und Marquise Middlefords Gesichtsausdruck war noch härter als sonst, was also…. Und dann dämmerte es Ciel. „Baron, was erlaubt ihr Euch!“, er befreite sich aus Somas Griff. „Natürlich weiss ich es meine, wie ihr es nennt, ehelichen Pflichten zu erfüllen. Ich verbitte mir solch schamloses Gerede!“ Obwohl der junge Earl eigentlich beabsichtig hatte, streng zu klingen und so diesem Theater endgültig ein Ende zu bereiten, war nicht zu übersehen, dass sich eine gewisse zarte Röte auch auf seinem Gesicht ausgebreitet hatte. Die Geräuschkulisse aus leichtem Gelächter wollte ebenfalls nicht verstummen, so dass er sich schliesslich energisch abwandte und seinen Butler anfunkelte. „Sebastian, geh’ und hol endlich Lizzy!“ „Kein Grund gleich so ungehalten zu sein, mein Junge. Du findest schon noch raus, wie es funktioniert.“, mischte sich nun wieder Rochester ein. Er sass mit einem nach wie vor sehr zufriedenen Grinsen auf seinem Platz und zog genüsslich an seiner Zigarre. Als es eine seiner kleinen Rauchwolken es dann auch noch wagte, direkt auf den jungen Earl zuzudriften, riss diesem endgültig der Geduldsfaden. Mit hochrotem Kopf brüllte er: „SEBASTIAN! Wirf den Baron raus!“ Der Butler war sofort neben seinem Herrn. „Sollte ich nicht Lady Elizabeth holen?“, fragte er zunächst noch mit gedämpfter Stimme, trotzdem war es mehr als offensichtlich, dass ihn die momentane Situation doch sehr zu erheitern schien. „Vergiss das und tu’ was ich sage!“ Der Earl atmete schwer durch den Mund und betrachtete den Baron mit einem Blick, der auch einem ekelhaften Insekt gegolten haben könnte. Dieser hatte mittlerweile beschwichtigend die Hände gehoben, „Ciel, mein Junge…“ Die Zigarre hing lose in seinem Mundwinkel und bewegte sich bei jedem Wort leicht auf und ab. Ihr ekelhafter weisslich-grauer Rauch stieg immer noch auf… Ciel holte aus. Seine Hand berührte Rochester nicht, sondern ging bloss wenige Zentimeter direkt vor seinem Gesicht durch und beförderte die stinkende Zigarre ans andere Ende des Pavillons. Der Baron seinerseits war erstarrt und sein Grinsen erstorben. „Raus!“, zischte Ciel nun wesentlich ruhiger. „Ihr seid nicht eingeladen, also zeigt Euch hier erst wieder, wenn Ihr einen Termin habt.“ Mit einem entschuldigenden Lächeln brachte Sebastian den Baron dazu sich zu erheben, welcher auch erstaunlich widerstandslos mitmachte. Sein Gesichtsausdruck hatte immer noch etwas ehrlich Schockiertes. Ciel wischte sich erschöpft ein paar Haarsträhnen aus der Stirn, während Sebastian ihn endgültig nach draussen geleitet. „Ich kann Raucher nicht ausstehen“, murmelte er mehr zu sich selbst. „War das jetzt nötig?“ Er brauchte sich nicht einmal umzudrehen, um zu wissen, dass es schon wieder Soma war. „Es war doch wirklich nicht so schlimm, was er gesagt hat. Du kannst manchmal so schrecklich humorlos sein“, plapperte es weiter. Eigentlich war Ciel ja der Meinung, dass der Prinz ihn mittlerweile lang genug hätte kennen müssen, um einschätzen zu können, dass gerade nicht der Moment für so etwas war. Aber manchmal konnte Soma erstaunlich unsensibel – oder vielleicht sollte man bei ‚minderbemittelt’ bleiben – sein. „Und sowieso, er hat doch recht!“ „Wie bitte?!“, Ciel glaubte sich verhört zu haben. „Ja, hat er! Du hast es doch noch nie getan, dann weißt du doch auch nicht wie es geht!“ Soma hatte in fast schon trotziger Manier die Hände in die Hüften gestützt, während Agni hinter ihm versuchte sie Szene mit leisem Zuflüstern und Abwinken zu beruhigen. Aber es war schon zu spät, Ciels Kampfgeist war geweckt. Da spielte es keine Rolle mehr, ob Soma ein Freund war oder nicht. „Ach, und du bist da natürlich viiiel erfahrener als ich….“, sein Tonfall klang herausfordernd, während er den Prinzen mit einem überheblichen Blick anfunkelte. Dann geschah allerdings etwas, womit der Earl nicht gerechnet hatte. Denn anstatt sich aufzuplustern und mit seinen nicht-existenten Affären zu prahlen, zuckte der Prinz zurück. Auf seinen Wangen breite sich eine wunderbare rote Färbung aus und er brach den Blickkontakt mit Ciel ab. Seine einzige Antwort war dann etwas Unverständliches zu murmeln und leicht verlegen zu Agni zu schauen. Dieser – und das überraschte Ciel gleich noch um ein Vielfaches mehr – wirkte nicht minder betreten und zog den Prinzen leicht von ihm weg. „Was zum…?“ „Junger Herr“, Sebastian unterbrach die kleine Szene. Er hatte wieder dieses wissende Lächeln im Gesicht, wies den jungen Earl dann aber pflichtbewusst darauf hin, dass Lady Elizabeth unterwegs sein. Ciel atmete tief durch und beschloss den unmöglichen Prinzen und dessen Butler fürs erste zu ignorieren. Jetzt gerade hatte er wichtigeres zu tun. TBC Eine kleine Anmerkung zur Anrede, die Sebastian für Ciel benutzt: In den normalen Kapiteln nennt er ihn stets "Bouchan" oder "junger Herr". In den Flashback Kapitel hat Sebastian aber eher die Angewohnheit ihn mit "Herr" oder teilweise auch "Milord" anzureden. Das ist durchaus bewusst so gemacht, weil Ciel ja kurz vor seinen achtzehnten Geburtstag steht und Sebastian wohl der Ansicht ist, dass er jetzt langsam kein junger Herr mehr ist, sondern ein richtiger „Herr“. Junger Herr nennt er ihn in den Flashback Kapitel also nur dann, wenn er ihn ärgern will oder findet, dass Ciel sich kindisch verhält…. Was wohl auch schon etwas über die Anrede in den normalen Kapiteln aussagt;P [1] Der crystal palace ist der Ort, wo das Finale des Curry Wettbewerbs mit Agni und Sebastian stattgefunden hat. Es war auch tatsächlich mal ein realer Ort, man hat ihn damals für die grosse Weltausstellung gebaut und er galt als architektonische Meisterleistung, weil alles aus Glas und Metall bestand. Kapitel 8: Himmel und Hölle --------------------------- Kapitel 8 – Himmel und Hölle Ciel POV Ciel stiess sich von der Wand ab, als die Tür geöffnet wurde. Der Arzt trat hinaus und wischte sich die Hände an einem dreckigen Lappen ab, während er geistesabwesend etwas vor sich hin brummte. Er war die Art von Quacksalber, die sich erst in Bewegung gesetzt hatte, als Ciel ihm ein paar Geldstücke hingeworfen und eine extra finstere Miene aufgesetzt hatte. Als er den Jungen erblickte, nahm er eine etwas repräsentativere Haltung ein. „Du brauchst dir keine Sorgen um deinen Freund zu machen. Er ist soweit über den Berg.“ Um seine Worte zu unterstützen, wollte er Ciel auf die Schulter zu klopfen, doch der wich der Berührung geschickt aus. „Was ist mit seinem Arm? Wird er den wieder benutzen können?“, fragte er stattdessen nüchtern. „Ach, mein Junge…“ Der Arzt seufzte tief, gleichzeitig machte es sein theatralisch leidender Gesichtsausdruck mehr als deutlich, dass es eigentlich bloss eine Frage der Bezahlung war. Ciel konnte nicht anders als mit den Augen zu rollen, griff aber trotzdem in seine Hosentasche und zog den kleinen Geldbeutel, den er von Sebastian hatte, hervor. Ohne noch einmal hineinzusehen, schmiss er ihn dem Arzt entgegen. Es würde schon genug sein. Der Arzt fing den Beutel mit einem jovialen „Hoppala“ auf und warf einen kurzen Blick hinein. Für einen Moment war von seinem Gesicht abzulesen, dass er sich wohl fragte, wie der junge Mann vor ihm zu so viel Geld gekommen sein konnte, entschied sich dann aber offensichtlich dafür, dass ihm die Details egal waren und schlussendlich nur das Glänzen der Münzen zählte. Mit einem nun doch wesentlich professionelleren Nicken sackte er den Beutel ein. „Gut, dann brauche ich heisses Wasser und Licht.“ Ciel nickte ebenfalls. Es würde also noch eine weitere Nacht dauern, bis er seine Antworten erhielt. Er konnte nicht leugnen, dass er zunächst verärgert mit Agni gewesen war, als ein paar von Laus Männern ihn am Morgen nach seinem Zusammentreffen mit Sebastian einfach wortlos bei ihm angeliefert hatten. Ein Blick auf die grauenhaft vereiterte Schulterwunde hatte auch schon genügt, dass Ciel besagten Quacksalber-Arzt geholt und bezahlt hatte. Mittlerweile war aus diesem Ärger aber regelrechte Wut geworden. Nicht nur hatte er den Arzt mit Sebastians Geld – welches er ihm eigentlich bei seiner Rückkehr ins Mansion an den Kopf hatte knallen wollen – dafür aufwenden müssen, sondern der Inder gefährdete auch noch ihre Mission! Natürlich war er sich bewusst gewesen, dass etwas mit ihm nicht stimmte und Agni sich diese Verletzung eingefangen hatte, weil er Ciel beschützt hatte. Trotzdem widerstrebte es dem jungen Earl mit solcher Imperfektion umgehen zu müssen. Er war das nicht gewohnt, weder von Sebastian noch von Agni! So würden sie ihr Ziel nie erreichen den Schuldigen nie stellen können! Er ballte die Hände zu Fäusten und warf einen bösen Blick zu der mittlerweile wieder geschlossenen Tür von Agnis Zimmer. Der konnte was erleben, sobald er wieder wach war…. Agni POV Feuer. Es brannte in seinem Körper. Es brannte in seiner Schulter. Schemenhaft nahm er die Umrisse eines Mannes wahr. Agni konnte nicht klar feststellen, ob er ihn kannte oder nicht, aber wirklich wichtig war das im Moment sowieso nicht. Ein kehliges Stöhnen kam ihm über die Lippen als der Unbekannte begann an seiner Wunde herum zu hantieren. Agni wollte sich abwenden, doch der Mann liess ihn nicht. Undeutliche Worte, die keinen Sinn ergaben, drangen an sein Ohr. „Ich…-de…jetzt...-mittel….verab-… Schlaf.“ Schlaf. Das Wort hallte in seinem Kopf nach, während sein Blickfeld begann sich zu verengen. Agni wollte sehr gerne schlafen, doch das Pochen in seiner Schulter war immer noch zu spüren. Es war so penetrant, hämmerte durch seinen gesamtem Körper, bei jedem einzelnen Herzschlag. Er seufzte tief. Es wurde immer dunkler um ihn herum… das Pochen etwas leiser… ----- Er wusste, dass das ein Traum sein musste. Es gab zwar nichts, das als direktes Indiz fungiert hätte, aber irgendwie wusste er es einfach. Alles war so schön, so weich, so warm…und zu ruhig. Die Sonne schien auf die grüne Wiese und irgendwo hörte sogar die Vögel zwitschern. Es war zu perfekt, es konnte nicht echt sein… „Agni, sei doch nicht so ein Spielverderber, so macht das doch keinen Spass!“ Die Stimme liess ihn aufhorchen. Doch er hörte sie nicht nur mit seinen Ohren, sondern sie drang bis tief in sein Herz vor. „Prinz Soma…“, ein trauriges Lächeln schlich sich auf seine Lippen, während er sich zu ihrem Ursprung umdrehte. „Na siehst du, so ist es doch schon viel besser,“ der Prinz lächelte zurück und stellte sich direkt vor ihn, „schliesslich reicht es doch, wenn Ciel, der Griesgram, hier allen immer die Stimmung verdirbt.“ Mit der Leichtigkeit eines Schmetterlings hauchte er Agni einen kleinen Kuss auf die Wange und nahm seine Hand, „Ich habe dich vermisst. Wo warst du so lange?“ „Ich…“, Agni konnte nicht antworten. Sein Blick flatterte im Sekundentakt vom Gesicht seines Prinzen, zu ihren verschlungenen Händen, zu der wundervollen Umgebung und wieder zurück. „Agni, mach dir nicht immer so viele Sorgen. Alles ist gut.“ Das Lächeln auf Somas Gesicht war so strahlend hell und schön, dass der Brahmane wirklich nicht anders konnte, als ihm zu glauben. Und mit einem kleinen, bestätigenden Nicken fiel eine riesige Last von ihm ab, „Verzeiht, Eure Hoheit, dass ich Euch so lang warten liess, aber jetzt bin hier.“ „Gut. Wir sind nämlich schon spät dran.“, mit seiner üblichen überschwänglichen Art begann der Prinz ihn hinter sich her zu ziehen. Agni, der für einen Moment etwas überrumpelt aber gleichzeitig auch ungewillt war, das Szenario zu hinterfragen, liess es mit sich geschehen. „Wo gehen wir denn hin?“ „Na zu der Hochzeit“, er warf ihm ein weiteres strahlendes Lächeln zu und erst da bemerkte Agni, dass sein Prinz ganz in weiss gekleidet war. Die unzähligen kleine Schmuckstücke und Glasperlen, mit denen das Gewand verziert war, reflektierten die Sonne, so dass seine gesamte Gestalt in Licht getaucht war. „Āmāra īśbara, oh, wie habe ich Euch vermisst.“ [1] „So, wir sind da.“ Sie standen vor einem gläsernen Pavillon, der fast genauso in der Sonne glänzte wie der Prinz. Seltsamerweise löste das reflektierte Licht in Agni aber nicht die gleiche Glückseligkeit aus, wie der Anblick seiner Hoheit. Vielmehr überkam ihn ein gewisses Unbehagen. Es war bloss ein leises Flüstern in seinem Hinterkopf und er wollte es zugunsten der warmen Hand, die seine fest umschlossen hielt, ignorieren; trotzdem konnte er nicht verhindern, dass sich seine Nackenhaare aufstellten, als sie über die Schwelle traten und in das gläserne Gebäude eintraten. Drinnen schien schon alles in vollem Gange zu sein. Ciel, der Lizzy am Arm hatte, stand im Mittelgang und liess sich von Sebastian irgendetwas erklären. Das Eintreffen der Neuankömmlinge schien den Hausherrn und seinen Butler aber mehrheitlich kalt zu lassen, einzig die Lady zeigte eine Reaktion, indem sie sich von Ciel löste und zu ihnen herüberkam. „Da seid ihr ja endlich. Ich dachte schon, ich müsste alleine heiraten!“, sie schenkte ihnen ein strahlendes Lächeln, das dem von Soma in nichts nachstand. Überhaupt konnte Agni sich des Gedankens nicht erwehren, dass Lady Elizabeth und seine Hoheit, Prinz Soma, sich heute irgendwie sehr zu ähneln schienen. Auch sie trug weiss – wie es sich natürlich für eine Braut gehörte – und ihr goldenes Haar funkelte im Licht nicht weniger als es die Juwelen des Prinzen taten. „Das würden wir uns doch nie entgehen lassen, Schwester Lizzy“, Soma umarmte sie. „Das will ich auch sehr hoffen“, sie lachte, „immerhin will ich dabei sein, wenn ihr heiratet.“ Agni brauchte einen Moment, um das Gehörte zu verstehen, während die Diskussion neben ihm munter weiterging. „Ich hatte dir doch schon versprochen, dass du unsere Hochzeit ausrichten darfst.“ Agni hing mental immer noch bei ‚wenn ihr heiratet’ fest. Er und Soma heirateten? Sollte er nicht etwas davon wissen? Eine leichte Röte stieg ihm ins Gesicht. Es schien ihm doch recht unangebracht, wenn er und seine Hoheit… „Lady Elizabeth, es ist Zeit“, Sebastian war neben ihre kleine Gruppe getreten und streckte der jungen Frau seine Hand entgegen. Mit einem kleinen Nicken legte sie ihre hinein und liess sich, ohne noch einmal zurück zu schauen, von dem Butler Richtung Altar führen. Auch Soma und Agni setzten sich in Bewegung, um dann jeweils auf der linken und rechten Bankreihe Platz zu nehmen. „Das ist so wundervoll“, flüsterte der Prinz zu ihm herüber – allerdings in einer Lautstärke, dass sämtliche Anwesende es hören konnten. Lizzy, die nun vorne neben Ciel angekommen war, kicherte leicht. Sebastian hatte den Part des Priesters übernommen und sich hinter den Altar begeben. Zwischen den brennenden Kerzen und dem aufgeschlagenen Messbuch wirkte seine Gestalt geradezu mystisch, während er mit der altbekannten Phrase eröffnete: „Wir haben uns heute hier versammelt…“ Während alle Anwesenden gebannt nach vorne schauten, manifestierte sich in Agni aber erneut – und dieses Mal wesentlich deutlicher – dieses Gefühl des Unbehangens. Irgendetwas stimmte nicht an dem Bild, das sich ihm bot. Der Butler, ganz in seiner üblichen schwarzen Kleidung, wirkte viel zu dunkel. Er war mehr wie ein Schatten, der sich hinter dem Brautpaar aufgebaut hatte und dort seltsam bedrohlich wirkte. Agni überfiel ein kleiner Schauer. Es schien ihm zwar falsch und undankbar solche Gedanken in Verbindung mit Herrn Sebastian zu haben, gleichzeitig war ihm aber auch bewusst geworden, dass es nicht nur die Erscheinung des Butlers war, die mit der Festlichkeit dieses Anlasses zu brechen schien, sondern auch jene Ciels. Der junge Mann trug – ganz seiner Rolle als Bräutigam entsprechend – einen schwarzen Anzug, aber die dunkle Farbe war so übermächtig, dass er und Sebastian die kleine Lady Elizabeth in weiss irgendwie zu ersticken schienen. Es war als ob sich der Schatten – die Dunkelheit – mehr und mehr über sie ausbreiten würde. Es war ein schlechtes Omen. Und als hätten seine Gedanken Böses heraufbeschworen, begannen die Flammen der Altarkerzen plötzlich höher zu lodern. Ihr Wachs schmolz, tropfte auf die weissen Tücher, verbrannte sie. Agni erhob sich beunruhigt, doch niemand ausser ihm schien das sich anbahnende Übel zu bemerkten. Die kleinen Flammen ergriffen den Stoff, bis schliesslich der ganze Altar in Flammen stand. Dahinter las Sebastian immer noch weiter die Riten als wäre nichts - oder als könne ihm das Feuer nichts anhaben. Ciel und Lizzy hielten sich bei der Hand und sahen sich tief in die Augen. Als schliesslich der entscheidende Moment nahte, wo die Braut das finale ‚Ich will’ sprechen sollte, tropfte das Feuer hinunter… es tropfte auf Lizzys Rocksaum und steckte ihn in Brand. Doch sie reagierte noch immer nicht, stattdessen sah sie nur Ciel. Agni wollte nach vorne stürzen und eingreifen, doch Soma hielt ihn zurück. Stumm schüttelte er den Kopf und fügte ein leises „du kannst ihr nicht helfen“ hinzu. „Aber…“, panisch glitt der Blick des Brahmanen wieder zu dem jungen Paar, wo die Flammen nun begonnen hatten an den unzähligen Stoffbahnen des weissen Kleides hinauf zu kletterten und die Braut einzuhüllen. „Wie kann sie es nicht bemerken?“ Seine Stimme war durchwoben von angsterfülltem Unverständnis, während er wild nach vorne gestikulierte, doch der Gesichtsausdruck des Prinzen blieb milde und Agni glaubte darin so etwas wie Resignation zu erkennen. „Sie weiss bereits, dass sie nicht gerettet werden kann.“ Agni schluckte den Kloss in seinem Hals herunter, er konnte nicht mehr hinsehen. Verzweifelt schlug er die Hände vors Gesicht, bis er schliesslich wieder die warme Berührung Somas spürte. Seine Finger legten sich zart auf Agnis und zogen dessen Hände wieder nach unten. „Du musst es sehen, Agni. Es ist wichtig.“ Mit der allergrössten Mühe wandte er seinen Blick erneut zu dem Brautpaar, nur um zu erkennen, dass Lizzys Kleid nun nicht mehr weiss war. Stattdessen war es überall, wo die Flammen er berührt hatten, rot geworden. Rot wie Blut… rot wie der Tod. Tränen rannen über Agnis Wangen, während er weiter beobachtete, wie der schwarze Butler hinter seinen Herrn trat und ihn von seiner brennenden Braut wegzog. Ciels und Lizzys Hände waren ineinander verschlungen gewesen, doch nun wurde diese Verbindung auf eine geradezu erbarmungslose Weise getrennt. Agni hörte Ciel noch Lizzys Namen rufen, doch gefangen im Griff seines Butlers liess der Widerstand des jungen Earls bald nach. Seine ausgestreckte Hand sank nach unten und sein schockiertes Gesicht wandte sich ab. Verzweifelt – oder vielleicht war es schamvoll – vergrub er es im Frack seines Dieners, und jener legte tröstend seine Hand auf den Hinterkopf des jungen Earls. „Verstehst du jetzt?“, klang Somas Stimme neben ihm. Agni konnte nicht antworten. Immer noch klebte sein Blick an dem Paar in schwarz, nun völlig ineinander verschlungen. „Ich… es ist so ungerecht!“ „Ja, das ist es.“ Eine sanfte Berührung an seinem Hals liess den Brahmanen sich schliesslich umwenden. Er sah seine Hoheit, Prinz Soma, erfüllt von derartiger Schwermut, dass es ihm das Herz brach, und überkommen von einem unerklärlichen Bedürfnis danach sank er auf die Knie und schlang seine Arme um die Mitte des Prinzen. Ein Schluchzen brach aus ihm hervor. „Ich will das nicht…“ Tröstend strichen die Hände des Prinzen über seinen Kopf. „Du hast keine Wahl. Das alles ist schon geschehen…“ „Aber…“, Agni sah durch tränensverschleierte Augen auf. Der Prinz lächelte ihn unsäglich traurig an, und erst da bemerkte Agni, dass dessen Kleidung nicht mehr weiss war wie zuvor. Sie war rot. „Nein, nein…“, er schüttelte verzweifelt den Kopf, „… ich will nicht ohne Euch sein! Ich kann es nicht!“ „Agni, mein Liebster,“, die Finger des Prinzen berührten sein tränennasses Gesicht, „du musst weiter machen, du musst Ciel beschützen, wenn ich nicht mehr da bin. Ich vertraue auf dich.“ Kleinen Flammen begannen von Somas Armen und Schulter aus hochzuschlagen. Er beugte sich nach vorne und hauchte seinem Diener einen zarten Kuss auf die Stirn. „Nein…. Nein!“ Agni wollte den Prinzen festhalten, doch dieser trat einen Schritt nach hinten von ihm weg. Und als dessen Lippen schliesslich ein stummes „Vergiss mich nicht“ formten, wusste Agni, dass es vorbei war…. . . . Es war vorbei… Agnis Herz raste. Der Traum war vorbei, der Prinz brannte. Es war kein neues Bild, er hatte es schon oft gesehen, weil es sich in jeden einzelnen der Sinne seines Körpers eingebrannt hatte. Er atmete tief ein. Sein Herzschlag wollte sich einfach nicht beruhigen, obwohl der Schlaf – oder war es eher eine Ohnmacht gewesen? – begann von ihm abzufallen. Das Pochen in seiner Schulter war wieder da, omnipräsent, aber nicht mehr ganz so schmerzhaft wie zuvor. An seiner Tür klopfte es. Ciel kam herein. „Ich habe einen Schrei gehört… Wie geht es dir?“ Das Gesicht des Earls spiegelte Missfallen wider, und Agni musste ihm mental zustimmen. Er verdiente es eindeutig. Ein heiseres „Es geht“ kam ihm über die Lippen. Ciel gab ein abfälliges Schnauben von sich. „Der Quacksalber hat dich operiert, es sollte jetzt besser werden…“ Dabei war aber beiden Parteien klar, was er eigentlich meinte. Es war ein Aufruf, ein Befehl, es musste jetzt besser werden, andernfalls hätte Agni seine Chance verwirkt und wäre endgültig nutzlos für ihren Kreuzzug. Er nickte stumm. Es würde besser werden. TBC [1] Āmāra īśbara bedeutet so viel wie „mein Gott“. Ich gebe aber zu, dass ich bloss den Google Translator benutzt haben, sollte also jemand, der das liest, mehr Ahnung von Bengali haben als ich, ist er herzlich eingeladen mich diesbezüglich zu korrigieren. Kapitel 9: Orient ----------------- Ciel wusste nicht, ob er lieber lachen oder doch eher heulen sollte. Die Ironie der Situation liess ihn zum Lachen tendieren, aber wenn er sich seine verbrühten Hände so ansah, war ihm ganz eindeutig nach Heulen zumute. Agni hatte sich erholt, aber der Arzt hatte ihn angewiesen, für die nächsten paar Tage weiterhin das Bett zu hüten. Unter normalen Umständen hätte sich der Inder nie daran gehalten, aber der Quacksalber – wahrscheinlich hatte Ciel ihn ZU gut bezahlt – schaute mindestens einmal täglich rein, um sicher zu stellen, dass der Patient sich nicht überanstrengte. Das hiess für Ciel zum einen, dass sie mit ihrer Suche nicht vorankamen und zum anderen – und das war momentan sein grösseres Problem – dass Agni als Koch des Workhouses ausfiel. Dementsprechend hatte das Personal beschlossen, dass jetzt sein „Assistent“ – Ciel! – für ihn einspringen sollte. Der genaue Wortlaut war zwar eher gewesen „der verdammte Küchenjunge soll auch mal was machen! Immerhin schleicht er ständig um den Inder rum, da wird er wohl was gelernt haben!“, aber jeder Teil von ihm, der Aristokratie indoktriniert gekriegt hatte, weigerte sich das Wort „Küchenjunge“ auf sich selbst bezogen zu akzeptieren. Trotzdem änderte das nichts daran, dass er jetzt gewissermassen zum Aushilfskoch aufgestiegen war. Was ihn zu seinem momentanen Hauptproblem brachte: Er hatte, obwohl er doch "immer um Agni herumschlich", absolut keine Ahnung vom Kochen! Er warf den grossen, blubbernden Topf einen misstrauischen Blick zu. Sein Versuch mit dem Rezept, das Agni ihm aufgeschrieben hatte, etwas zusammen zu brauen, das im besten Fall auch noch geniessbar war, schien gerade erneut zu scheitern. Überhaupt war es bisher nicht besonders gut gelaufen. Da Agni den Grossteil des Tages in seinem Zimmer verbrachte, musste er sich allein mit dem unfreundlichen Küchenpersonal herumschlagen. Einer der Männer war schon kurz davor gewesen ihm eine zu scheuern, weil er zum dritten Mal das Essen verbrannt hatte. Wäre nicht in genau jenem Moment der Quacksalber hereingestolpert, hätte er es bestimmt auch getan. Die Erinnerung daran liess Ciel resigniert aufseufzen. So konnte es nicht weitergehen. Er löffelte mürrisch etwas von der Brühe auf einen kleinen Teller. Agni sollte das Zeug probieren, bevor er es den anderen vorsetzte. Ehe er allerdings an die Tür des Inders klopfte, richtete er noch einmal seine Escheinung. Dann atmete er tief ein. „Agni, ich bin es. Mach auf!“ Drinnen tat sich nichts. Ciel hob verwundert eine Augenbraue. Eigentlich war Agni um diese Uhrzeit immer wach. Das war seltsam. Er klopfte noch einmal, nur um erneut Stille als Antwort zu erhalten. „Was…?“ Ohne weiter darüber nachzudenken, griff Ciel nach dem Türknauf. Die Tür war wie erwartet unverschlossen, aber drinnen begrüsste ihn nur ein leerer Raum. Das Bett war gemacht und etwas an der kalten Atmosphäre machte deutlich, dass der Inder schon eine Weile weg sein musste. Ciel trat hinein. Er konnte nicht glauben, dass Agni einfach so weggegangen war, ohne ihm etwas zu sagen. Das war… Er konnte spüren, wie sein Herzschlag sich beschleunigt hatte. Das letzte Mal als Agni verschwunden war, hatte er am nächsten Tag einen Arzt gebraucht! Der Teller mit der Brühe glitt ihm aus den Fingern und schlug mit einem lauten Krachen auf den Boden... Das liess Ciel aufschrecken und sein Blick wanderte leicht benommen zum nassen Chaos am Boden. Er trat instinktiv einen Schritt zurück. Die Frage nach Agnis Verbleib wirbelte währenddessen geradezu panikerregend in seinem Kopf herum. Warum tat der Inder so etwas? Es gefährdete ihre Mission. Das musste er doch wissen! Es konnte doch nicht sein… Er brauchte jemanden, auf den er sich verlassen konnte. Jemanden wie… Sebastian Er wollte den Namen nicht denken. Es beschwor den Dämon, da war er sich sicher. Aber Agni war weg… schon wieder! Ciel atmete schwer, seine Hände in seinen Haaren vergraben. Er konnte nicht… er konnte das nicht allein. Sollten all diesen Wochen – Monate – wo sie sich jetzt schon in Londons Unterwelt herumtrieben umsonst gewesen sein? Das durften sie nicht! Er konnte nicht akzeptieren, dass er sich all diesen degradierenden Tätigkeiten ausgesetzt hatte, wenn er schlussendlich doch kleinbeigeben und Sebastian rufen musste. Er wollte das nicht! Aber jeder vernünftige Teil seines Wesens wusste, dass es ohne Agni zu gefährlich war hier weiter zu verweilen. Er wollte Rache, keinen verfrühten Tod in einem Strassengraben. Und er wollte auch nicht weiter so leben müssen… „Seba-…“ NEIN! Noch nicht. Nicht aus Verzweiflung! Ciel biss sich regelrecht auf die Zunge. Sein Herz raste immer noch. Er würde Sebastian nicht rufen, noch nicht. Erst würde er einen letzten Versuch unternehmen Agni zu finden. Falls ihm das nicht gelingen oder sich herausstellen sollte, dass der Inder endgültig unbrauchbar geworden war, würde er auf diese letzte Option zurückgreifen. Vorher nicht. Er konnte dem Dämon nicht so einfach diesen Triumph gönnen. Also atmete er einmal tief ein und ballte die Hände zu Fäusten. Noch war er nicht gänzlich am Tiefpunkt angelangt. ----- Ciel schlich durch die dämmrigen Strassen. Er hatte das Abendessen zurückgelassen, womit er es endgültig zu einem Schicksal als schwarze, ungeniessbare Melasse verdammte und stattdessen den Weg zu Laus Etablissement eingeschlagen. Das letzte Mal hatten die Handlanger des Chinesen Agni nach Hause geschleppt. Seine Chancen standen also gut, dass er auch jetzt wieder dort zu finden war. Mit tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen und gesenktem Blick wich er den Leuten auf der Strasse aus. Er brauchte keine unnötige Aufmerksamkeit. Wenn er eines auf der Strasse gelernt hatte, dann war es, dass man jemandem an seiner Gangart ansah, was für eine Art Mensch er war. Jene, die stolzierten waren nichts weiter als arglose Gecken. Es waren die, die schlichen, vor denen man sich in Acht nehmen musste. Er erreichte Laus Keller unbehelligt. Ins rote Licht des Abendrots getaucht, war Ciel beim blossen Anblick der schweren Holztür schon klar, dass er früh dran war. Möglicherweise zu früh, denn diese Art von Betrieb war normalerweise nur während der Nachtstunden aktiv. Er klopfte trotzdem. Doch wie schon bei Agnis Tür blieb sein Ruf unbeantwortet. Für einen Moment fühlte er sich erneut übermannt von dieser Flutwelle tiefster Frustration. Agni, wo zum Teufel bist du? Seine Faust kollidierte mit dem robusten Holz, was ihn schmerzhaft das Gesicht verziehen liess. „Vinny…“, die Stimme neben ihm klang zaghaft. Ciel zog seine Hand ruckartig zurück. „Was willst du hier?“ Er hatte sich nicht zum Sprecher umgedreht. „Ich…ich bin dir von der Kreuzung aus gefolgt. Also eigentlich hatte ich dich gerufen, aber du hast mich nicht gehört, wie’s scheint.“ Ian machte eine kleine, leicht verlegene Geste und verschränkte dann die Arme vor der Brust. Es schien beiden klar zu sein, dass dies kein guter Zeitpunkt war. „Und was tust du hier?“, die Betonung sollte wohl die Anspannung überspielen. „Agni ist verschwunden.“ Der junge Earl wusste selbst nicht genau, warum er dem Strichjungen diese Information zukommen liess, aber momentan hatte er keine Nerven sich über solche Details den Kopf zu zerbrechen. Sein Blick war immer noch auf die Tür gerichtet. „Dein indischer Freund? Ich hab‘ ihn nicht gesehen. Denkst du, ihm ist etwas zugestossen?“ Ciel zuckte nichtssagend mit den Schultern, aber die mitfühlende Anteilnahme auf Ians Gesicht blieb bestehen. „Wenn du willst, kann ich dir helfen ihn zu suchen.“ Ciel winkte ab. „Du wird nicht nötig sein. Ich wüsste nicht wo.“ Er schob die Hände wieder in seinen Hosentaschen, als wolle er damit ausdrücken, dass die Diskussion beendet war, doch Ian schien den Wink nicht ganz zu verstehen. „Was willst du denn dann tun?“ „Nichts. Agni wird schon früher oder später wieder auftauchen… tut er immer.“ Sein Versuch unbekümmert zu klingen, wurde von dem forschenden Blick des Strichjungen irgendwie zunichte gemacht. Ciel musste sich abwenden. „Aber du bist doch extra hergekommen, um ihn zu suchen.“ „Na und wenn schon!“, fuhr Ciel ihn an. Sein Mass an Geduld war gerade endgültig überschritten worden. „Halt dich da raus! Das geht dich nichts an!“ Ian hob beschwichtigend die Hände. „Reg dich doch nicht so auf, Vinny. Ich versteh‘ ja, dass du dir Sorgen machst…“ „Ich mache mir keine Sorgen!“ Von dem aufgebrachten Ciel reichlich wenig beindruckt, tätschelte Ian bloss mitfühlend dessen Arm. „Wie auch immer. Wenn du Gesellschaft brauchst, kannst du auch gerne mit mir kommen. Du weisst ja wie’s läuft, ich bin heute Abend mit Lord Kent verabredet.“ Ciel atmete schwer. Hätte Ian nicht gerade den ominösen Mister Monokel erwähnt, hätte er ihm wahrscheinlich eine geknallt. So allerdings sah er sich gezwungen sich wieder zu beruhigen. Es war nicht seine Art so aus der Haut zu fahren. Das alles fing an ihm viel zu sehr zuzusetzen. Er atmete tief ein. „Kent?“ „Ja, er hat dir beim letzten Mal schon angeboten mitzukommen.“ Ciel nickte. „Ich erinnere mich.“ Eine bedeutungsschwangere Stille breitete sich zwischen den beiden aus. Neben ihnen wuselten konstant Leute durch die in Abendrot getränkten Strassen. Es war laut, deswegen war Ians Abwarten umso deutlicher. „Willst du denn, dass ich mitkomme?“ Ciel machte eine fahrige Geste, während Ians Blick irgendwo an ihm vorbei ging. „Klar will ich, dass du mitkommst. Sonst hätte ich es nicht angeboten…“ „Aber er ist doch dein bester Kunde?“ Ein resignierendes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Strassenjungen aus. „Ja, und genau deswegen muss ich ihn bei der Stange halten und ihm geben was er will.“ Ciel gab ein kleines Schnauben von sich. Natürlich war es ihm zuwider zu einem von Ians Freiern mitzugehen, aber es war auch die ultimative Gelegenheit mehr über den Kerl zu erfahren. „Also gut, ich komme mit.“ ~~~ „Was macht dieser Kent eigentlich so?“ Sie waren auf dem Weg zur Kreuzung, wo Ian sich schon das letzte Mal von ihm hatte aufgabeln lassen. „Keine Ahnung. Ich glaube, er hatte mal was erwähnt von wegen, dass er für eine grosse Firma arbeitet, die Ichweissnichtwas vertreibt.“ Ian schenkte ihm ein schräges Grinsen. Ciels Versuche jemanden auszuhorchen waren auch schon mal subtiler gewesen - dessen war er sich bewusst - aber mit Agni verschwunden und er selbst auf direktem Weg zu jemandem, der bereit war für sexuelle Dienste zu bezahlen, war es wirklich nicht verwunderlich, dass seine Finesse litt. „Der Mann scheint dich ja wirklich sehr zu interessieren.“ Ian versetzte ihm einen neckischen Boxer an die Schulter, welcher Ciel aber so aus dem Konzept brachte, dass er leicht strauchelte. „Was?!“ Das heitere Auflachen des Strassenjungen war die einzige Antwort. „Pass bloss auf, dass du dich nicht verliebst. Das ist tödlich fürs Geschäft“, er klopfte Ciel in brüderlicher Manier auf den Rücken, welcher ihm daraufhin nur einen verärgerten Blick zuwarf. Sie erreichten die Strassenecke, wo die Kutsche sie abholen sollte, ohne weiteres Aufsehen. „Ich hab' ihn mal am Hafen gesehen“, gab Ciel leise zu, während er sich in der eingeübten Pose an die Backsteinwand lehnte. Vielleicht war es ein unkluger Zug das Ian gegenüber zuzugeben, aber falls der andere Junge doch etwas wusste, war das wohl der beste Weg es herauszufinden. Erstaunlicherweise schaute dieser tatsächlich einen Moment lang verwundert auf, bevor er antwortete: „Ja, ich habe ihn da kennengelernt. Er hat sich über das Lagerhaus erkundigt.“ Ciel nickte. Also doch, irgendwas stimmte mit dem Kerl nicht, wenn er Informationen über das Funtom Lagerhaus wollte. Vielleicht war er nicht der Urheber, aber Dreck am Stecken hatte er auf alle Fälle, soviel war klar. Ciel nickte mehr zu sich selbst, während am Ende der Strasse eine Kutsche um die Ecke bog. ~~~ „Vinny… Vincent, ein klassischer Name. Gefällt mir.“ Kent hatte gelächelt und ihm die Hand gereicht. Es hatte beinah etwas von der üblichen Interkation mit Ciels Geschäftspartnern gehabt, nur dass er in einer Kutsche auf dem Weg zur Behausung eines dubiosen Freiers sass. Neben ihm plapperte Ian gelassen mit Kent, erzählt ihm alles und nichts. Ciel hielt sich raus und beobachtete stattdessen lieber ihre Umgebung. Wie er bereits angenommen hatte, war Kent ein Bourgeois, weit davon entfernt dem Adel anzugehören, aber reich genug, um sich ein Haus in einer von Londons besseren Gegenden leisten zu können. Als die Kutsche dann endlich anhielt, öffnete ihnen auch sogleich ein Bediensteter die Tür. Er trug keine Uniform und schien auch sonst nicht wirklich dem Standard zu entsprechen, den Ciel für sein eigenes Personal bevorzugte, trotzdem nickte er höflich und zog sich sofort wieder zurück, nachdem die Tür mit einem Klacken ins Schloss gefallen war. Kent geleitete sie hinein und schien der Tatsache, dass jeder schaulustige Nachbar, der hinter seinen Gobelin Vorhängen hervorspähte, sehen konnte, wen er hier in der Dämmerung in sein Haus einlud, wenig Aufmerksamkeit zu zollen. Ein Mann mit zumindest einem Minimum an Rückgrat. Ciel hätte das unter normalen Umständen schätzen können. „Tretet ein in mein bescheidenes Heim. Ian, du kennst dich ja schon aus; Vincent, verzeih mir, dass ich ein schlechter Gastgeber bin und heute keine Tour gebe“, er zwinkerte Ciel zu, „aber ich würde es bevorzugen, gleich in mein Büro zu gehen.“ Etwas in Ciels Magengrube zog sich zusammen – ob das nun daher rührte, dass Kent der einzige war, der darauf zu bestehen schien, seinen falschen Namen nicht durch eine grauenhafte Abkürzung zu verunstalten oder eher weil die Situation wesentlich schneller zum eiskalten Ernst geworden war als er sich das vorgestellt hatte, blieb dahingestellt. Eine warme Hand legte sich in sein Kreuz und begann ihn in Richtung Treppe zu schieben. Daneben schenkte ihm Ian ein aufmunterndes Grinsen. „Das wird schon werden“, formten seine Lippen tonlos. Doch Ciel konnte bloss ein genauso stummes „Warum Büro?“ zurückgeben. Ian zuckte mit den Schultern und deutete dann unauffällig auf den Ringfinger seiner rechten Hand, was Ciel dazu veranlasste sich inmitten seiner mittlerweile doch schon immens angewachsenen Nervosität eine geistige Notiz zu machen. Kent war also verheiratet; besass aber immerhin noch so viel Anstand keine Strassenjungs ins gemeinsame Ehebett zu lassen. Wieder etwas, das Ciel ihm eigentlich zugutegehalten hätte… eigentlich. Sie traten durch die Tür und Kent nahm ohne grosse Umschweife auf dem schweren Ledersessel Platz. Ian fiel auch sogleich vor ihm auf die Knie und fing an, an seinem Gürtel herumzufingern. Ciel konnte das ganze nur mit schockiertem Blick verfolgen, während er sich unweigerlich gegen die Wand presste. "Vinny ist noch etwas schüchtern", erklärte Ian, ohne sich zu dem anderen Jungen umzudrehen. "Er sollte vielleicht erstmal nur zuschauen." Kent nickte, hatte sich aber bereits in den Sessel zurückgelehnt und liess Ian machen. Ciel währenddessen war sich nicht sicher, wohin er den Blick richten sollte. Er wollte definitiv nicht Zeuge dieses Aktes sexueller Abartigkeit werden. Gleichzeitig war er sich aber bewusst, dass wenn er nicht hinsah, er wohl unweigerlich als unberührter Strichjunge auffliegen würde. Seine Augen wanderten also verzweifelt im Raum umher, schauend und nicht schauend, zutiefst verunsichert was sie sehen sollten und was nicht… bis sie an einem Zeitungsartikel hängen blieben. Ciel tat einen Schritt in Richtung des Schreibtisches, wo die Zeitung unter einigen anderen Dokumenten hervorlugte. Einige Stellen im Text waren unterstrichen oder umkreist, aber Ciel musste nicht näher hinsehen, um sie lesen zu können, er kannte den Artikel. Er hatte selbst für das Interview Rede und Antwort gestanden. "DIE FUNTOM COMPANY SETZT AUF GAS UND WEIST SO DEN WEG IN DIE ZUKUNFT?" Ciel erinnerte sich daran, dass er damals verärgert gewesen war, dass die Schlagzeile als Frage formuliert war. Der Artikel war etwa vier Monate alt und noch einige Zeit vor dem Vorfall erschienen. Es war also definitiv ungewöhnlich, dass Kent noch immer eine Ausgabe davon herumliegen hatte. Ciels spürte wie sein Blick unweigerlich wieder zu dem älteren Mann glitt und bereute es fast augenblicklich. Kent hatte den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen, während seine Hände in Ians aschblondem Haarschopf vergraben waren und ihn antrieben sich schneller zu bewegen. Stöhnen und das gleichmässige Geräusch von… Ciel konnte es nicht wirklich benennen, halt von dem, was Ian da gerade mit deinem Mund tat, erfüllte den Raum. Ciel wollte wegsehen, aber sein Blick war wie gefangen von den rhythmischen Bewegungen… und dem Ekel. "Vincent", presste Kent heraus, "ich möchte, dass du dich um Ian kümmerst." Ciels Augen weiteten sich. Sich um Ian kümmern? Bedeutete das, was er dachte, dass es bedeutete? Ciel stand wie angewurzelt da. Er wusste nicht, was er tun sollte. Ians Hand – diejenige, die nicht gerade beschäftigt war – deutete ihm mit einer unauffälligen Geste an, dass er näherkommen sollte. Aber Ciel war immer noch zutiefst schockiert. Er konnte… wollte das nicht. Ians Winken wurde auffälliger und Ciel trat einen widerwilligen Schritt näher. Dann löste sich der Strichjunge vom Kent, der ein unzufriedenes Geräusch von sich gab, und griff nach Ciel. Er presste seinen Körper so dicht an jenen des anderen jungen Mannes, dass Ciel ihren Freier an ihm riechen konnte. Er musste sich beherrschen nicht das Gesicht zu verziehen und Ian wieder von sich zu stossen. "Spiel mit!" zischte ihm Ian ins Ohr. "Du musst nur deine Hand in meine Hose stecken, er schaut eh nicht so genau hin." Ohne Ciels Reaktion abzuwarten, wandte sich Ian wieder Kent zu und fuhr da fort wo er aufgehört hatte. Ciel konnte nachwievor nur starren. Seine Hand in Ians Hose stecken? Ciels Augen suchten verzweifelt nach einer anderen Möglichkeit und blieben erneut bei den Dokumenten auf dem Schreibtisch hängen. Unter der Zeitung, halb verdeckt, waren noch Briefe. Von hier aus konnte er den Absender nicht entziffern, aber wenn er näher rangehen würde… wenn er sich hinter Ian positionieren würde, so wie Kent das wollte… Also kniete er sich hinter den Strichjungen, und alles in ihm rebellierte gegen die Situation; besonders seine Nase. Der Geruch war einfach widerlich. Ciel musste den Würgereiz unterdrücken und vergrub sein Gesicht in Ians Nacken. Kent schien die Situation offensichtlich falsch zu interpretieren, denn er gab ein weiteres zufriedenes Grunzen von sich. Ciel wollte sich am liebsten übergeben. Wenigstens roch Ian normal… menschlich, nach Schweiss, Küche und etwas Rauch. Damit konnte er fast leben. Zögerlich schob Ciel seine Hand um den Körper des anderen jungen Mannes, während seine Augen weiter den Schreibtisch absuchten. Er schaute bewusst nicht hin, deswegen überraschte es ihm umso mehr als er schliesslich an dem Ort angelangte, wo eigentlich eine Beule hätte sein sollen. Seine Hand suchte tiefer, tastete den Schritt des anderen jungen Mannes ab und fand schliesslich dessen schlaffes Glied. Ciel konnte spüren wie sich seine Stirn runzelte. Ian griff nach seinem Handgelenk und führt Ciels Hand unter seinen Hosenbund. Er machte ein paar eindeutige Bewegungen mit seiner Hüfte und brachte den jungen Earl so dazu, sich noch enger an seinen Rücken zu pressen. Trotzdem änderte das nichts an der Tatsache, dass der Strichjunge offensichtlich nicht erregt war. Seine Hand, die immer noch von Ians umschlossen war, bewegte sich, bedeckt vom rauen Stoff der Hose, auf und ab. Sie simulierten was Kent von ihnen erwartete, und Ciel kam nicht umhin sich einzugestehen, dass er minimal beeindruckt von Ians Taktik war. Beindruckt und nachwievor im höchsten Mass angeekelt, aber trotzdem irgendwie beeindruckt. Seine Augen machten sie wieder auf die Suche nach den Dokumenten, während er so gut es halt ging, versuchte zu ignorieren, was sein Körper gerade tat. Unter der Zeitung lag ein geöffneter Brief, der ein Siegel trug, das er kannte: Der Baron von Rochester. Ciel atmete tief ein. Von hier konnte er den Inhalt des Briefs natürlich nicht ermitteln, aber allein die Tatsache, dass Kent einen Brief mit Rochesters Siegel besass, war verdächtig. Es musste also eine Möglichkeit geben – oder erschaffen werden – den Brief an sich zu nehmen. Vor ihm bäumte sich Kent mit einem letzten eindeutigen Stöhnen auf, bevor er völlig erschöpft in seinen Sessel zurücksank. Auch Ian lehnte sich zurück. Seine Hand, die Ciels angetrieben hatte, hatte abgelassen und der junge Earl versuchte nun vorsichtig – und ohne drauf aufmerksam zu machen, dass eindeutige Spuren fehlten – sich zu befreien. "Ian, du bist der Beste", murmelte Kent fast schon etwas geistesabwesend. Ciel stand auf und bewegte sich unauffällig zum Schreibtisch herüber. "Ich hoffe doch, Vincent hat sich gut um dich gekümmert. Ich bin immer dafür, Freunde am Spass teilhaben zu lassen." Er lachte müde. Ian war währenddessen auch aufgestanden und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Ciel konnte aus dem Augenwinkel sehen, dass er Kent zuzwinkerte und sich dann auf seinem Schoss platzierte. Der ältere Mann zog ihn näher zu sich und flüsterte ihm ein paar Dinge ins Ohr. Ciel wollte definitiv nicht wissen was und versuchte stattdessen sich so leger und dezent wie möglich gegen die Schreibtischkante zu lehnen. Er war nicht sicher, ob es ihm gelang, denn, obwohl Ian sich kichernd an Kent schmiegte, war sein Blick konstant auf Ciel gerichtet und folgte ihm auf Schritt und Tritt. Der junge Lord atmete tief ein. Manchmal musste man gewisse Risiken eingehen. Also legte er den Finger an die Lippen und sah Ian direkt an, während seine andere Hand hinter sich griff und die Briefe unter seinem Hemd verschwinden liess. Für einen Moment weiteten sich Ians Augen, dann jedoch schlich ein harter Ausdruck in sie. Er lehnte sich weiter an Kent und nahm auch das ihm entgegengestreckte Geld mit einem zuckersüssen Lächeln entgegen, trotzdem war klar, dass er Ciels Verhalten nicht guthiess. Er warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, als sie schliesslich wieder die Treppe hinunter und in die Empfangshalle geleitet wurden. "Und, Jungs? Zum Abschluss noch ein Küsschen?" Kent lächelte ihnen schmierig entgegen und streckte Ian eine Münze hin. Dieser rollte mit den Augen, Ciel konnte es aus seiner Position genau erkennen, brachte dann aber seine Gesichtszüge sogleich wieder unter Kontrolle und stellte sich schon auf die Zehenspitzen, um Kents Wunsch nachzukommen. Dieser schüttelte allerdings den Kopf. "Nicht ich, Vincent. Der Junge sollte schliesslich etwas lernen." Ciels und Ians Blick trafen sich. In beiden war grösster Widerwillen abzulesen. Dann legte Ian wieder ein gezwungenes Lächeln auf und zog Ciel an seiner Jacke zu sich hin. Sanft legte er seine Wange an jene des anderen Jungen. "Wenn du mir das hier versaust, bring ich dich um", wisperte er im allersüsstesten Tonfall. Dann spürte Ciel auch schon weichen Lippen auf seinen. Erschrocken wollte er zurückweichen, aber Ian hielt ihm fest, während sich die Lippen weiter bewegten. Sie erkundeten seinen Mund, wollten dass er mitmachte, den Kuss erwiderte, aber Ciel stand da wie angewurzelt. Erst als er schliesslich ein paar weitaus weniger sanfte Zähne spürte, die sich an seiner Unterlippe zu schaffen machten, öffnete er instinktiv den Mund. Als Ian schliesslich von ihm abliess, schmeckte er Blut. Er verzog das Gesicht, versuchte aber im gleichen Mass gute Miene zum bösen Spiel zu machen als sie schliesslich zur Tür geleitet wurden. "Ich hoffe, du bringst Vincent das nächste Mal wieder mit", sagte Kent mit einem Winken bevor er die Tür schloss. Draussen versetzte ihm Ian einen harten Stoss an die Schulter. "Sag mal, spinnst du?! Du kannst ihn doch nicht bestehlen! So lädt er uns nie mehr zu sich ein, wenn er's bemerkt." Sie gingen zur Kutsche hinüber, die sie zurück in ihre eigene Nachbarschaft bringen sollte. Ciel zuckte nur mit den Schultern und stieg ein. "Dir ist das vielleicht egal, aber Leute wie Kent sind mein Lebensunterhalt. Also reiss dich gefälligst zusammen! Was hast du überhaupt mitgehen lassen?" Ciel sagte noch immer nichts, stattdessen lehnte er sich zurück und lauschte den Geräuschen der Strasse von draussen. TBC Kapitel 10: Aperitif - flashback III ------------------------------------ A/N: Wie im letzten Kapitel schon angemerkt, nimmt diese FF keinen Bezug auf die neueren Enthüllungen des Mangas. Kapitel 10 Ciel war in seinem Arbeitszimmer und ging noch einige Dokumente für die Funtom Company durch, als sein Butler hereintrat und Tee brachte. Er schaute kaum auf, während Sebastian den Trolley hereinrollte und schliesslich neben dem schweren Schreibtisch zum Stehen brachte. Vorsichtig platzierte er eine Tasse neben Ciels rechter Hand und begann die heisse Flüssigkeit einzugiessen. "Heute Abend serviere ich Euch einen Lemon Balm Tea. Ich hoffe, er wird Euren Geschmack treffen." Der Butler deutete eine kurze Verbeugung an, welche Ciel mit einem kaum hörbaren Hmpf quittierte. Erst als Sebastian schon fast wieder an der Tür war, schaute er auf. "Prinz Soma und Agni sind immer noch hier?" "Das sind sie, mein Herr. Sie residieren nachwievor im Ostflügel." Sebastian schaute ihn an, sein Gesicht eine Maske höflicher Zurückhaltung, aber Ciel kannte den dämonischen Butler mittlerweile gut genug, um zu erkennen, was sich dahinter versteckte. Wenn seine Augen so glühten, wartete er nur darauf, dass Ciel irgendein taktischer Fehler unterlief. Der junge Earl drehte die Tasse in seinen Händen und studierte das zarte Blumenmuster. Eigentlich hatte er ja sowieso schon zu viel gesagt, indem er hatte durchblicken lassen, dass ihn Somas merkwürdiges Verhalten immer noch beschäftigte. Der Butler wusste etwas, soviel war klar. Aber schlichtes Nachfragen wäre zu einfach gewesen. "Agni residiert ebenfalls in diesen Gemächern, korrekt?" Sebastians Augen verengten sich kurz, bevor er antwortete: "Das ist korrekt, mein Herr." Dann legte sich eine bedeutungsschwangere Stille über den Raum. Sebastian betrachtete den jungen Earl, der nachwievor die Tasse in Händen hielt und keine Anstalten machte, seine Nachfrage weiter zu erläutern. Der Butler liess ab von seinem Trolley und stellte sich gerade hin. "Hat Herr Agni in irgendeiner Weise Euren Unmut auf sich gezogen?" Ciel stellte die Tasse ab. "Das hat er nicht. Es wundert mich lediglich, dass er nicht in den Bedienstetenquartieren untergebracht ist." Sebastian hob eine Augenbraue, gleichzeitig umspielte aber wieder dieses wissende Lächeln seine Lippen. "Es wurde dieses Mal nicht gewünscht." "Nur dieses Mal?" fragte Ciel, immer noch Desinteresse vortäuschend. "Nein, Prinz Soma und Herr Agni teilen schon seit Anfang Jahr die Gemächer." "Verstehe." Ciel nickte und wieder kehrte diese drückende Stille ein. Sebastian betrachtete ihn sehr aufmerksam. "Tut Ihr das wirklich, mein Herr? Seine Hoheit lag nicht ganz falsch als er Euch Unerfahrenheit unterstellt hat." Er hatte eine unschuldige Miene aufgelegt und schien nicht im Geringsten beeindruckt, als Ciel nach seiner Tasse griff und sie ihm entgegenschleuderte. "Was fällt dir ein?! Du unverschämter Dämon!" Sebastian fing sie mit Geschick auf und stellte mit der gleichen eleganten Bewegung sicher, dass der halbe Zentimeter Tee, der sich noch darin befunden hatte, ebenfalls nicht verschüttet wurde. Vorsichtig platzierte er sie wieder vor dem jungen Earl, der leicht rot angelaufen war. "Eine Belehrung auf diesem Gebiet wäre wahrscheinlich von Nöten. Besonders in Anbetracht der Tatsache, dass Eure Hochzeit kurz bevorsteht." Sebastian hatte einen Finger an sein Kinn gelegt und ging überhaupt nicht auf den fassungslosen Gesichtsausdruck des Earls ein. "Kommt in zwanzig Minuten zum Bediensteteneingang. Bringt allerdings kein Licht, ich werde mich um den Rest kümmern." Dann nickte er kurz, platzierte seine behandschuhten Hände wieder auf dem Griff des Trolleys und schob ihn durch die Tür hinaus. Ciel konnte ihm nur fassungslos hinterher starren. ~~~ Ciel konnte nicht glauben, dass er sich gerade durch sein eigenes Haus schlich, und das auch noch im Dunkeln! Eigentlich hatte er den unmöglichen Dämon ja ignorieren wollen und deswegen die zwanzig Minuten bewusst verstreichen lassen ohne Anstalten zu machen, sich aus seinem Sessel zu erheben. Nachdem aber weitere zehn Minuten in zähflüssiger Langsamkeit dahingeronnen waren, konnte er spüren, wie sich Unruhe in ihm breit machte. Ein Teil von ihm wollte definitiv wissen, worauf der respektlose Butler hinauswollte. Es war nicht etwas, das er sich gerne eingestand, aber mit der Rationalisierung, dass dies schliesslich sein Haus war und er wissen musste, was unter dessen Dach vorging, war er schliesslich doch aufgestanden. Sebastian wartet wie angekündigt beim Bediensteteneingang auf ihn. Er hielt lediglich eine kleine Kerze in den Händen und das Flackern der Flamme tauchte seine Erscheinung in ein schauerliches Halblicht. Ciel gab ein unbeeindrucktes "Hmpf" von sich und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. "Also, hier bin ich." Der Butler lächelte und legte den Zeigefinger seiner freien Hand an die Lippen. "Es wäre empfehlenswert, mein Herr, wenn Ihr die Lautstärke ab jetzt etwas anpassen würdet. Wir wollen doch keine unnötige Aufmerksamkeit erregen." Ciel schnaubte hörbar, enthielt sich sonst aber jedweden Kommentars. Dann trat Sebastian einen Schritt zur Seite und Ciel erkannte hinter ihm die fast unsichtbaren Umrisse einer Tür. Im Muster der Tapete waren sie kaum zu erkennen, aber Ciel hatte schliesslich sein ganzes Leben im Phantomhive Manor verbracht, er war sich der Existenz der Dienstbotengänge also durchaus bewusst. Sie als geheim zu bezeichnen wäre eine Übertreibung gewesen, aber da sie traditionellerweise dem Zweck dienten, dass das Personal sich möglichst ungesehen bewegen konnte, waren ihre Eingänge sehr unauffällig gestaltet. Sie führten durchs gesamte Haus. Ciel zog seine Stirn kraus als Sebastian einen kleinen Schlüssel zu Tage förderte und die Tür aufschloss. Er bedeutete Ciel mit einer höflichen Geste, dass er vorausgehen sollte. "Was soll das?" fragte der junge Earl, hielt seine Stimme aber gedeckt. Sebastian schloss die Tür hinter ihnen wieder ab, bevor er antwortete: "Betrachtet dies als Unterrichtsstunde in Hinblick auf Eure baldige Vermählung." Er warf Ciel einen Blick zu, der nichts Gutes verhiess. "Und nun, junger Herr, folgt dem Gang bis zur Biegung, dann haltet Euch links." Ciel starrte seinen Butler noch einen Moment lang entgeistert an, bevor er schliesslich den Kopf schüttelte und sich in Bewegung setzte. Im Dunkeln und nur von hinten beleuchtet, kamen sie langsam voran, aber Sebastian schien sich nicht daran zu stören. Er wies stattdessen regelmässig auf tief platzierte Balken und Unebenheiten im Boden hin, die den Weg des Earls allenfalls hätten beeinträchtigen können. Ciel hatte wirklich keine Ahnung worauf das ganze hinauslaufen sollte. "Wir sind angekommen", informierte Sebastian ihn schliesslich mit sanfter Stimme. Ciel schaute verwirrt um sich. Hier war gar nichts ausser Staub und Spinnweben, und Ciel wollte seinen Butler schon zur Rede stellen, was dieser Unfug sollte, als dieser mit behandschuhten Fingern auf eine kleine Luke wies. Sie war geschlossen, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass dem Earl so langsam dämmerte, was sie kurz davor waren zu tun. Sebastian grinste ihn unheilvoll an. "Ich werde jetzt die Kerze löschen, junger Herr. Wir wollen schliesslich nicht, dass jemand unser Licht sieht." Ciel nickte, spürte aber bereits eine nicht zu bestreitende Nervosität in sich aufsteigen. Wenn er ihre Schritte richtig nachverfolgt hatte, dann waren sie jetzt im Ostflügel, und zwar beim Zimmer, wo, laut Sebastian, Soma und Agni nächtigten. Das Licht ging aus und es war vollkommen dunkel um sie herum. Ciel hörte wie Sebastian die Luke öffnete. Das Geräusch war zurückhaltend, kaum zu vernehmen für jemanden, der nicht darauf achtete, aber Ciel schien es gerade wie ein Paukenschlag. Dann ergriff Sebastian seinen Arm und geleitete ihn sanft direkt vor die Luke, so dass er sah, was im Zimmer dahinter geschah. Der Raum war in blaues Zwielicht getaucht. Die beiden Männer darin hatten keine Kerzen angezündet, sondern es war lediglich der kühle Wintermond, der von draussen hereinleuchtete und ihre Umrisse nachzeichnete. Ciel sog scharf Luft ein und hätte instinktiv fast wieder einen Schritt nach hinten getan, hätte ihn Sebastians unnachgiebige Hand nicht an Ort und Stelle gehalten. Seine Augen hatten einen Moment gebraucht, um sich an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen, aber jetzt erkannte er Soma und Agni ganz deutlich… oder eher, er erkannte Soma, der ohne jegliche Oberbekleidung rittlings auf Agni sass. Ciel konnte spüren wie sein Mund sich öffnete und ein tonloses "Oh" herauskam. Der Griff von Sebastians Hand an seiner Schulter verstärkte sich ebenfalls. "Wir haben wegen Eurer Verspätung leider den Anfang verpasst, junger Herr. Aber ich bin mir sicher, es wird Euch auch so möglich sein, dem Geschehen zu folgen." Sebastian betonte das Wort Geschehen ganz besonders, und hätte Ciel in der Dunkelheit irgendetwas erkennen können, dann hätte sein Butler sicherlich wieder dieses selbstgefällige Grinsen im Gesicht gehabt. Der junge Earl biss die Zähne aufeinander, um sich eine Erwiderung zu verkneifen, wurde dann aber schnell wieder vom "Geschehen" im Raum abgelenkt. Agnis Hände glitten ehrerbietig über den Rücken des jungen Prinzen, welcher im Gegenzug atemlos den Namen seines Geliebten stöhnte. Er schlang seine Arme um Agnis starke Schultern und vergrub sein Gesicht in dessen Halsbeuge. Ciel konnte indes spüren, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Also, das war ja wirklich… "Āpani āmāra jan'ya sūrya, cām̐da ēbaṁ tārā." Die Worte klangen bedeutsam, auch wenn Ciel sie nicht verstand. Er lehnte sich instinktiv etwas näher zur Luke hin, als würde das die fremde Sprache verständlicher machen. Neben ihm lachte Sebastian leise in sich hinein. "Herr Agni neigt zum Pathos", erklärte der Butler, ohne dabei wirklich etwas zu erklären. Ciel verzog den Mund, während im Zimmer die Liebesbekundungen weitergingen. "Āmi āpanāra jan'ya āmāra ananta astitba sthāpana karā habē,…" Diesmal lehnte sich Sebastian vor und übersetzte mit leiser Stimme: "Ihr seid Sonne, Mond und Sterne für mich. Ich würde meine ewige Existenz für Euch niederlegen,.." "…sudhu āpanāra aiśbarika cāmaṛā sparśa sukhī hatē." "….nur um damit gesegnet zu sein, Eure göttliche Haut berühren zu dürfen", schloss er. Ciel prustete leise Luft aus. Er gab Sebastian nicht gern Recht, aber Agni neigte in der Tat zum Pathos. Wer wollte denn so etwas bitteschön gesagt bekommen? Diese Frage wurde allerdings überaus schnell von Soma beantwortet, welcher seine Arme um den Oberkörper des grösseren Mannes schlang und ihn leidenschaftlich küsste. Wieder fühlte Ciel Hitze in sich aufsteigen. Also wirklich! Einen Diener auf solche Weise… Das war absolut unangebracht! Unruhig verlagerte er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Er war sich ja schon immer bewusst gewesen, dass die Beziehung zwischen dem indischen Prinzen und seinem Butler anders war als jene zwischen ihm und Sebastian, aber das war nicht, was er erwartet hatte. Ein Teil von ihm wollte sich umwenden und Sebastian fragen, wie lang das schon so ging, aber die Männer in seinem Gästezimmer hatten gerade beschlossen, sich aus ihrer Umarmung zu lösen und noch den Rest ihrer Kleidung abzustreifen. Es liess sämtlich Fragen auf Ciels Lippen ersterben, während er mit schockiertem Blick die Bewegungen verfolgte. Soma hatte ihm immer noch den Rücken zugewandt, aber es war sowieso Agni, der den Grossteil von Ciels Aufmerksamkeit für sich beanspruchte. Sein nackter Körper wurde vom Mondschein umspielt und das fahle Licht zeichnete die Hügel und Täler seines definierten Oberkörpers nach. Ciel hatte bisher kaum Gedanken daran verschwendet, was sich wohl unter der Kleidung des Butlers verbergen mochte, aber jetzt gerade war der einzige Vergleich, der ihm dazu einfiel, Michelangelos David. Er musste einmal tief einatmen. Der Griff Sebastians um seinen Oberarm intensivierte sich. Das sorgte dafür, dass der junge Earl seinen Blick für einen Moment abwandte. Mit einem Ruck versuchte er sich daraus zu befreien, aber mit wenig Erfolg. Stattdessen schob ihn Sebastian etwas nach rechts und platzierte sich prompt hinter ihm. Ciel wusste nicht, was er davon halten sollte. Die Körperwärme seines Butlers legte sich wie ein erdrückender Mantel über ihn, so dass er nicht sicher war, ob er seine Aufmerksamkeit wieder den Männern in Zimmer zuwenden oder doch lieber Sebastian einen spitzen Ellbogen in die Magengrube rammen sollte. Schlussendlich entschied er sich für Ersteres. Der Gedanke, dass sein Butler – und sei es bloss aus Boshaftigkeit – ein Geräusch von sich geben und so die beiden anderen ihrer Gegenwart gewahr machen könnte, war genug, ihn davon abzuhalten. Im Zimmer hatte Soma sich wieder rittlings auf Agni gesetzt und den grösseren Mann mit sanftem Nachdruck dazu gebracht, sich hinzulegen. Ciels Augen waren mittlerweile tellergross geworden und besonders der Anblick der Planen von nackter Haut erinnerte ihn auf geradezu penetrante Weise daran, wie nahe Sebastian bei ihm stand. Er schob sich unbewusst einen Finger in seinen zu eng gewordenen Kragen und versuchte ihn etwas zu lockern. Sebastian lachte leise und legte dann vorsichtig seine Arme um seinen jungen Herrn, nur um mit geschickten Fingern den obersten Knopf an Ciels Hemd zu öffnen. Ciel schnaubte, war aber insgeheim nicht unglücklich darüber wieder etwas mehr Luft zu kriegen, weil Soma nämlich gerade dazu übergegangen war, hinter sich zu greifen und Agnis Penis mit einer Hand zu massieren. Für einen Moment konnte der junge Earl kaum glauben, was er sah. Er blinzelte und lehnte sich noch näher zur Luke hin. Hinter ihm schloss auch Sebastian auf, so dass er regelrecht an seinen Rücken gepresst war. Für einen Moment zog Ciel nochmal die Idee mit dem Ellbogen in Erwägung, aber sie war so schnell wieder vergessen, wie sie gekommen war, weil Soma sich nämlich leicht erhoben hatte und nun dabei war Agnis Penis in… "Was?" presste Ciel unbewusst heraus. "Ihr solltet jetzt gut aufpassen, junger Herr. Das könnte lehrreich für Euch werden", hauchte Sebastian direkt neben seinem Ohr, so dass Ciel dessen warmen Atmen auf seiner Haut spüren konnte. Soma sank mit einem leichten Stöhnen hernieder, und Ciel konnte nicht anders als zu starren. "Wie?" fragte er, ohne wirklich zu registrieren, dass ihm das Wort über die Lippen gekommen war. "Nun, der menschliche Körper kann bei richtiger Vorbereitung sehr flexibel sein. Ihr solltet so etwas natürlich nie ohne die richtigen Hilfsmittel probieren", gab Sebastian im besten Schulmeisterton von sich, gleichzeitig aber hatte er seine Hände an Ciels Hüften gelegt. Dieser wand sich etwas unter der Hitze der Berührung, während Sebastian unbeirrt fortfuhr: "Natürlich unterscheidet sich bei weiblichen Partnern die zu penetrierende Öffnung." Ciel blinzelte, und blinzelte dann nochmal. Die gehörten Worte hallten in seinem Kopf nach, ohne wirklich Sinne zu ergeben, bis… "Was erlaubst du dir!" Vehement stiess er Sebastian von sich. "Natürlich weiss ich, was es mit…" Sebastian legte eine Hand über Ciels Mund und erstickte so alle potenziellen Einwände. "Ihr seid zu laut, junger Herr", flüsterte der Butler, "man wird Euch hören." Ciel schüttelte seinen Kopf und versuchte die Hand des Butlers loszuwerden, aber unten im Zimmer war es verdächtigt still geworden. Soma und Agni hatten in ihren Tätigkeiten innegehalten und der indische Prinz wandte den Kopf in ihre Richtung. Ciel konnte Panik in sich aufsteigen spüren. Oh nein! Was hatte er getan? "Hast du das gehört?" fragte Soma. Ciel konnte seine Stimme nur gedämpft vernehmen, aber im momentanen Kontext war mehr als klar, was er gefragt haben musste. Agnis Antwort blieb ihm verborgen, da das sein Gesicht nachwievor von Soma verdeckt wurde. Aber die Tatsache allein, dass sich der eiserne Griff von Sebastians Hand um seinen Mund lockerte, wies darauf hin, dass die zwei Männer noch nichts zu ahnen schienen. "Waren wahrscheinlich nur Ratten", sagte Soma und zog die Schultern hoch bevor er sich wieder nach vorn lehnte und seine Hände auf Agnis Oberkörper abstützte. Ciel, währenddessen, konnte spüren wie sich sein Gesicht zu einem abschätzigen Ausdruck verzog. Ratten? Im Phantomhive Manor? Also bitte, sein Heim war tadellos! Sebastian schien diese Ansicht zu teilen, denn er konnte ein leises Schnauben vernehmen, bevor sich sein Butler nach vorn beugte und ihm ins Ohr flüsterte: "Seine Hoheit scheint zu denken, er sei immer noch in Indien." Ciel atmete einmal tief ein und ignorierte die Bemerkung. Für den Moment schienen sie Glück gehabt zu haben und davongekommen zu sein. Auf der anderen Seite der Wand nahmen die Liebenden ihre Tätigkeiten wieder auf. Im in Mondlicht getauchten Zimmer begann Soma sich wieder zu bewegen. Seine Hüften schmiegten sich lustvoll an Agnis, kreisten, und fanden schliesslich einen gemeinsamen Rhythmus. Ciel hätte es nie für möglich gehalten, aber er musste sich eingestehen, dass er das Bild dieser beiden nackten Körper, ihrer sinnlichen und synchronen Bewegungen, geradezu hypnotisierend fand. Das lose Haar, das sich mit jedem Auf und Ab mitbewegte, die leisen Geräusche, das alles liess den Herzschlag des jungen Earls merklich ansteigen. Er konnte fühlen, wie sich die Hitze in seinem eigenen Körper sammelte und konzentrierte… auf seinen Schoss. Er öffnete den Mund und atmete schwer aus. Sebastian drängte sich von hinten wieder enger an ihn, nur dieses Mal konnte er spüren, dass sein Butler auch nicht vollkommen unberührt vom Geschehen war. Da war definitiv etwas sehr Hartes, das sich an seinem Po rieb. Ein Teil von ihm wollte aufbrausen und Sebastian erneut lauthals zurechtweisen, doch gleichzeitig verspürte er auch sowas wie Bestärkung durch die Tatsache, dass er offensichtlich nicht allein mit seiner Reaktion war. Und zumindest der Teufel teilte seine Ansicht, dass das was da gerade in seinem Gästezimmer vor sich ging, durchaus sehenswert war. Ein leicht selbstironisches Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. Er war durch und durch verkommen… Und wie so oft schien der Butler seine Gedanken zu lesen, denn dessen Hände schlichen sich flink und viel zu elegant um seinen Oberkörper und begannen daran auf und ab zu wandern. "Junger Herr…" Sie schlichen sich zu den Knöpfen von Ciels Weste und öffneten sie geschickt, nur um dann mit geschickten Fingern diabolische Muster auf den dünnen Stoff seines weissen Hemdes zu zeichnen. Ciel atmete erneut tief ein. "Was tust du da, Sebastian?" "Ihr sollt doch etwas lernen", flüsterte die tiefe Stimme verführerisch in sein Ohr. "Einen Liebhaber während des Aktes zu befriedigen, ist von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit für eine Beziehung." Sebastian nickte in die Richtung der beiden Männer im Zimmer, welche mittlerweile ihre Hände ineinander verschlungen hatten. Soma hatte den Kopf Nacken gelegt und gab kleine Laute von sich, die Ciel die Röte ins Gesicht trieben, während er Agni gleichzeig unablässig ritt. "Natürlich unterscheidet es sich von Person zu Person was als besonders pläsierlich empfunden wird." Sebastians behandschuhte Finger glitten unter die Knopfleiste und berührten Ciels nackte Haut. Der junge Earl konnte spüren wie ihn eine Gänsehaut überfiel. Er atmete tief ein, während Sebastian dazu überging, sein Hemd aufzuknöpfen. "Es ist eine hohe Kunst den Körper eines anderen Menschen richtig zu lesen und ihn so die höchsten Berge der Lust erklimmen zu lassen." "Du hast gut reden", presste Ciel heraus, während er sich unsicher war, wo er seinen Blick hinwenden sollte. Hinter der Wand schien die Szene von Soma und Agni gerade ihrem Höhepunkt entgegen zu schreiten, gleichzeitig wollte Ciel aber unbedingt die wandernden Hände seines diabolischen Butlers im Auge behalten. "Oh ja, das habe ich, junger Herr." Ciel konnte das Grinsen in Sebastians Stimme regelrecht hören. "Ich wage sogar zu behaupten, in allen mündlichen Dingen hervorragend zu sein." Und zur Untermalung dessen glitt eine feuchte Zunge über Ciels Ohrmuschel. "Was erlaubst du dir?!" zischte der junge Earl und legte erschrocken seine Hand an das betroffene Ohr. Sebastian lächelte nur selbstzufrieden und stützte seinen Arm direkt neben Ciels Kopf ab um ihn so effektiv einzukerkern. "Ich erlaube mir, Euch etwas beizubringen." Er deutet wieder zur Luke. "Schaut zu." Ciel musste schlucken aber tat wie ihm geheissen. Im Gästezimmer bäumte sich Soma noch ein letztes Mal hemmungslos auf und rief Agnis Namen bevor er erschöpft nach vorne sank. Ciel beobachtete das ganze mit Erstaunen und etwas, das er nicht genauer benennen wollte. Die Hitze, die seinen eigenen Körper eingenommen hatte, liess ihn schwer atmen und über Dinge sinnieren, die ihm zuvor noch nie in den Sinn gekommen waren. Sebastian lehnte wie ein dunkler, drückender Schatten über ihm, und seine Hände machten sich mittlerweile an seinem Hosenbund zu schaffen. "Die beiden sind fertig. Herr Agnis Durchhaltevermögen ist trotz seiner nicht zu verneinenden kämpferischen Fähigkeiten höchstens als mittelmässig einzustufen." "Ah, und du würdest es besser machen?" entgegnete Ciel fast geistesabwesend, während er beobachtete wie Soma etwas nach vorn rutschte und so Agnis schlaffes Glied aus ihm herausglitt. Es löste allerlei, wieder sehr schwer zu beschreibenden Gefühlen in dem jungen Earl aus. "Oh, ich könnte es die ganze Nacht machen…. Oder den ganzen Tag. Ganz wie Ihr wünscht." Dabei glitt seine Hand unter Ciels Hosenbund und berührten seinen Schritt. Ciel wirbelte entsetzt herum. Seinen Aufschrei mussten die beiden im Gästezimmer definitiv gehört haben, aber das war gerade zweitranging geworden. "Was tust du da?!" Sebastian war vor ihm auf die Knie gesunken. Er schaute seinen Herrn mit rotglühenden Augen an. "Euch etwas beibringen." Damit lehnte er sich vor und rieb sein Gesicht an Ciels Schoss. Ciel vergrub instinktiv seine Hände in dem dunkeln Haarschopf seines Butlers und versuchte ihn wegzuziehen, aber genauso gut hätte er versuchen können einen Felsen zu bewegen. "Oh Gott", stöhnte er zwischen Verzweiflung und Erregung. "Falsche Abteilung, junger Herr", entgegnete Sebastian schelmisch, bevor er Ciels Hose nach unten schob und ihn in den Mund nahm. Ein unterdrücktes Keuchen entkam ihm, während sich seine Hände in Sebastians Haar festkrallten. "Oh Gott", wiederholte er. Der Butler antwortete nicht, stattdessen umspielte seine teuflische Zunge die geschwollene Spitze von Ciels Penis. Es trieb dem jungen Mann die Schweissperlen auf die Stirn und er wusste regelrecht nicht mehr wo ihm der Kopf stand. "Wa-Warum tust du das?" presste er hervor. Sebastian hielt inne, und für einen Moment fühlte Ciel sich seltsam beraubt. "Warum?" Er blickte zum jungen Earl auf und seine Augen funkelten immer noch unmenschlich. "Weil ich nichts mehr begehre als Eure Seele, junger Herr. Aber das wisst Ihr." Seine Hand glitt Ciels entblösster Brust entlang nach oben bis sie schliesslich beim Hals des jungen Mannes angekommen war und diesen bedrohlich-spielerisch umschloss. Ciel konnte spüren wie sein Herz in seiner Brust hämmerte. "Aber sie ist noch nicht ganz reif, das Ende unseres Vertrages noch nicht erreicht, also begnüge ich mich mit einem kleinen Aperitif: Eurer Essenz." Er schenkte dem jungen Earl ein verschwörerisches Lächeln, welches diesen bloss verwirrt den Kopf schütteln liess. Seine Essenz? Er starrte den knienden Sebastian an, dessen Blick sich wieder auf Ciels entblösste Männlichkeit gerichtet hatte, und schon im Begriff schien sich wieder seiner vorherigen Tätigkeit zuzuwenden, als das volle Ausmass dieser Worte zu ihm durchdrang. "Du willst mich fressen?" Sebastian nickte. "Nichts lieber als das." Nun war es an Ciel seinem Butler ein böses Lächeln zu schenken. Mit einer brutalen Bewegung zog er sein Knie an, so dass es direkt mit dem Kiefer seines Dieners kollidierte. Dieser taumelte rückwärts und liess von ihm ab. "Warte bis du dran bist!" herrschte Ciel ihn an. "Noch ist deine Zeit nicht gekommen und im Hause Phantomhive gibt es keine Aperitifs!" Damit zog er seine Hose wieder hoch und versuchte so erhaben es ging davon zu stolzieren; es war im fahlen Halblicht ein mehr als prekäres Unterfangen. Sebastian wischte sich mit einer gespielt theatralischen Geste den Mundwinkel ab, während er dem jungen Earl hinterher sah. Eigentlich war er überrascht darüber, dass er überhaupt soweit gekommen war. Er hatte nicht mit mehr als ein paar anstössigen Berührungen unterhalb der Gürtellinie gerechnet. Aber wahrscheinlich war es die Hochzeits-Sache und des Earls damit einhergehende Unsicherheit, die ihm zugutekam. Ein zufriedenes Grinsen breitete sich auf Sebastians Lippen aus. Er würde weiter daran arbeiten. Kapitel 11: Das kurze Leben der Raucher --------------------------------------- Kapitel 11 – Das kurze Leben der Raucher Ciel POV Ciel wartete. Er wartete an dem Strasseneck, das er innerlich als ‘Ians Stelle’ bezeichnete. Der Titel war etwas ironisch, weil besagter Namensgeber nicht unweit von ihm ebenfalls wartete, sich aber strickt weigerte rüberzukommen und mit ihm zu reden. Ciel konnte es ihm nicht verübeln und steckte stattdessen mit einem Schulterzucken die Hände in die Hosentaschen. Es war kühl heute Abend. Seit dem Vorfall in Kents Haus hatte Ian seine Versuche Ciel für die Bande zu rekrutieren eingestellt. Es war fast schon amüsant, dass ein Strassenjunge, der normalerweise nicht von übermässigen moralischen Skrupeln geplagt wurde, anscheinend eine Grenze zog, wenn es um die Sicherheit seiner Stammkunden ging. Ciel verzog dem Mund und ärgerte sich insgeheim trotzdem etwas, dass ihn Ians Abweisung störte. Aber er brauchte den Strichjungen nicht. Zumindest redete er sich das immer und immer wieder ein, während sein Blick die Strasse auf und ab glitt. Suchend, abwartend. Von seiner jetzigen Position aus würde die Kutsche zuerst bei ihm vorbeifahren, bevor sie Ians neue Stelle passierte. Folglich war die Chance gross, dass er anstatt des anderen Strichjungen mitgenommen werden würde. Ciel ballte die Hände in seinen Taschen zu Fäusten. Heute war die Nacht, in der alles enden würde. Endlich war es vorbei! Er atmete schwer aus und sein weisser Atem umhüllte ihn sacht, bevor er sich auflöste. Es war wirklich kalt heute. Die Dokumente, die er bei Kent hatte mitgehen lassen, waren eindeutig gewesen. Sie hatten ihm die fehlenden Hinweise geliefert, nach denen er gesucht hatte. Zum einen war da der Brief von Rochester, welcher mehr oder weniger beschrieb, dass er – Ciel Phantomhive – für sein anmassendes Verhalten büssen müsse und dass Rochester deswegen seine Unterstützung zusichern würde. Dummerweise hatte Ciel bei seinem kleinen Diebstahl in Kents Büro nur die erste von mehreren Seiten erwischt, aber das war auch schon Beweis genug und hatte beinah dazu geführt, dass er in seiner Empörung über Rochesters Verrat das Schriftstück in tausend kleine Einzelteile zerstückelt hatte. Er hatte sich gerade noch knapp zurückhalten können, aber das Workhouse Personal hatte ihm ein paar sehr verstörte Blicke zugeworfen. Zum anderen hatte er auch noch zwei weitere kleinere und sehr schwer leserliche Notizen eingesteckt. Eine davon enthielt bei genauerer Betrachtung die Adresse des Funtom Lagerhauses am Hafen und den Namen "Bull". Ciel verengte seine Augen zu Schlitzen und prustete Luft aus. Um Bull würde er sich auch noch kümmern, aber erst war Kent dran. Denn der ultimative Beweis war die andere Notiz gewesen. Auf ihr waren lediglich ein paar kurze Worte hingekritzelt, aber sie waren alles gewesen, was Ciel gebraucht hatte. 14th December, 1893 D. at Phantomhive Engagement Party Das war das Datum, das Datum des Vorfalls… des Anschlages! Der Tag an dem sein Leben zum zweiten Mal aus den Angeln gehoben worden war. Ciel hatte sich dieses Mal nicht zurückhalten können und das Papier in seiner Faust zerknüllt. Es hatte ein paar Minuten gedauert, bis er sich wieder genug unter Kontrolle hatte, um es auseinander zu falten und wieder glatt zu streichen. Er brauchte es schliesslich noch. Deswegen hatte er all die Papiere in seine Hosentasche gestopft und sich hierher begeben, wo er auf Kent wartete. Er würde den Mann heute stellen. Sicherlich wäre es besser gewesen, Agni zu suchen und mit ihm zusammen loszuziehen. Aber der Inder war schon wieder irgendwo verschollen – wahrscheinlich in einer anderen Opiumhöhle – und Ciel hatte keine Geduld mehr für dessen Schwäche. Stattdessen hatte er mit dem Rest von Sebastians Geld einen zwielichtigen Händler bestochen und sich eine Pistole besorgt. Sie war seinem üblichen Modell zwar deutlich unterlegen, aber um den Urheber – nein, Kent! - zum Reden zu bringen würde sie genügen. Ciel nickte mehr zu sich selbst und richtete seinen Blick zurück auf die Strasse. Bald würde die Kutsche kommen. Laut Ian war Kent ein Mann der Gewohnheit, was bedeutete, dass er immer am selben Tag zur selben Uhrzeit hier vorbeikam, um sich seine Abendunterhaltung mitzunehmen. Und wie auf Geheiss vernahm er auch schon das Rattern der Räder von Kents Kutsche auf dem harten Kopfsteinpflaster. Ciel trat einen Schritt nach vorne und die Kutsche verlangsamte ihr Tempo. Direkt vor dem jungen Mann kam sie zum Stehen. Der feine weisse Vorhang am Fenster wurde zur Seite geschoben und gab Kents Gesicht preis, welches Ciel eindringlich betrachtete. "Guten Abend, Sir. Wie kann ich Ihnen heute behilflich sein?" Ciel zwinkerte und versuchte sowas wie ein charmantes Lächeln aufzulegen. Er war nicht ganz sicher, ob es ihm gelang. Kent runzelte die Stirn und schaut sich um. "Wo ist Ian?" fragte er. "Oh, er hat sich eine Erkältung eingefangen und hütet das Bett. Deswegen bin ich heute allein." Ciel trat einen weiteren Schritt auf die Kutsche zu, gleichzeitig klopfte der Kutscher zweimal mit seinem Peitschenstiel gegen den Passagierwagen. Kents Kopf drehte sich in die Richtung des Geräusches, runzelte erneut die Stirn und schenkte Ciel dann ein offensichtlich falsches Lächeln. "Verstehe. Nun, dann werde ich wiederkommen, wenn Ian sich erholt hat. Ich entbiete noch einen schönen Abend." Damit schloss Kent den Vorhang wieder und die Kutsche begann, noch bevor Ciel wieder zurücktreten konnte, sich wieder Bewegung zu setzen. Der junge Earl stand perplex da. Hatte er ernsthaft gerade eine Abfuhr erhalten? Und das wegen Ian, einem Strichjungen?! Er starrte immer noch vollkommen fassungslos der Kutsche hinterher, die jetzt im Begriff war um die Ecke zu biegen, wo er wusste, dass Ian wartete. Ciel begann sich zu bewegen… der Kutsche hinterher! In seinem Kopf hallten immer noch Kents Worte nach, und er konnte nicht glauben, dass er einfach so abgewiesen worden war. Ciel rannte. Die Kutsche war mittlerweile aus seinem Blickfeld verschwunden, und er konnte das Blut in seinen Ohren rauschen hören. Er war so unglaublich wütend! Wie hatte das nicht funktionieren können?! Kent hatte ihn das letzte Mal noch gewollt und jetzt einfach so nicht mehr? Es war nicht möglich! Jemand musste ihn gewarnt haben, denn Typen wie Kent wiesen ihn nie ab! Ciel keuchte. Er war an der Biegung angekommen und sah gerade noch wie Ian durch die geöffnete Tür in die Kutsche einstieg. "Halt!" schrie Ciel. Der Strassenjunge drehte auch tatsächlich den Kopf in seine Richtung, aber als er ihn aber erkannte, grinste er nur, zeigte ihm dann eine rüde Geste und schloss die Tür hinter sich. Die Kutsche setzte sich wieder in Bewegung, und Ciel, immer noch schweratmend, wusste, dass er keine Chance hatte, sie einzuholen. Nicht so. Sein Blickfeld verengte sich. Er versuchte Luft in seine Lungen zu pressen, die sowieso schon brannten. Er musste etwas tun! Das war die Chance, er konnte Kent nicht entkommen lassen! Wenn ihn tatsächlich jemand gewarnt hatte, würde er sonst nie mehr an ihn herankommen. Ciel riss verzweifelt seine Weste auf holte mit zitternden Händen die Pistole hervor. Und noch während er unstet zielte, wusste er schon, dass er gerade im Begriff war einen riesigen Fehler zu begehen. Trotzdem betätigten seine Finger den Abzug und der Knall des Schusses barst durch das abendliche London. Die Kugel schlug auf der Rückseite der Kutsche ein und für einen Moment schien es tatsächlich als würde das Fuhrwerk stehen bleiben, bevor dann ein panisches "Hüüüü!" ertönte und das Gespann in einem halsbrecherischen Tempo begann davonzujagen. Ciel feuerte noch einmal, und noch einmal. Im Hintergrund hatte sich eine Menschenmenge angefangen zu sammeln. Leute spähten vorsichtig aus ihren Fenstern und Gemurmel von wegen 'Jemand muss die Polizei rufen' drang vage an Ciels Ohr. "Junger Herr?" Eine behandschuhte Hand legte sich vorsichtig auf seine und sorgte mit sanftem Nachdruck dafür, dass er die Pistole senkte. Sebastian stand hinter ihm und schirmte ihn so vor den neugierigen Blicken ab. "Ihr wollt doch keinen Skandal verursachen?" Ciels Blick begann sich langsam wieder zu fokussieren. Als würde er erst jetzt wirklich realisieren was geschehen war, wandte er sich zu Sebastian um. "Du wagst es?" Sein Blick spie Funken und mit einem unerwarteten Ruck erhob er die Waffen gegen seinen Butler. Dieser hob nur leicht überrascht die Augenbraue, deutet aber mit einer gespielt theatralischen Geste an, dass er sich ergab. "Du wagst es dich einzumischen, nachdem du monatelang nichts getan hast?!" schrie Ciel und gestikulierte wild mit der Waffe. "Da vorne fährt gerade der Mörder von Lizzy und Soma davon, und wegen dir…" Ciel musste einmal tief Luft holen. Dann blitzte sein eines blaues Auge auf. "Sebastian, ich befehle dir…" Eine Hand legte sich blitzschnell auf seinen Mund und Sebastian schüttelte den Kopf. "Junger Herr, ich würde Euch strengstens von diesem Befehl abraten. Mister Kent ist nicht der, für den Ihr ihn haltet." Doch Ciel gab nur ein unterdrücktes "hmpf" von sich, verzweifelt gegen die dämpfende Hand ankämpfend. Die Pistole war ihm mittlerweile aus den Fingern geglitten und zu Boden gefallen, wo sie nicht mehr weiter beachtet wurde. Stattdessen krallte der junge Earl seine Fingernägel in Sebastians Hand, versuchte zu beissen und um sich zu schlagen, aber es war alles zwecklos. Sebastian schüttelte erneut den Kopf. "Lasst es gut sein, junger Herr. Ihr bringt Euch nur selbst in Gefahr und das kann ich nicht dulden." Zur Untermalung seiner Worte hob er Ciel hoch und war mit einem grossen Satz aus der Gasse verschwunden. Zurück blieben nur ein paar erstaunt Gaffer, die der später eintreffenden Polizeistreife auch nicht sagen konnten, was aus dem aufgebrachten jungen Mann geworden war. Sebastian setzte Ciel auf einem der nahegelegenen Dächer ab. Natürlich kam er nicht umhin sich eine relativ wirkungslose Ohrfeige einzufangen, bevor sich der immer noch schweratmende Earl wieder soweit gefangen hatte, dass er wenigstens verstand, was sein Butler zu sagen hatte. "Mister Kent ist nicht für den Anschlag letzten Dezember verantwortlich." Sebastian richtete seinen Frack und strich sich seine durch Ciel etwas in Unordnung geratenen Haare glatt, bevor er fortfuhr: "Oder zumindest nicht in der Form, derer Ihr ihn bezichtigt." Ciel starrte ihn an. "Was sagst du da? Aber… aber das ist nicht möglich! Du lügst!" Sebastian warf ihm einen unbeeindruckten Blick zu. "Ich lüge nie, junger Herr. Das solltet Ihr wissen." Mit vorsichtigen Bewegungen näherte er sich dem jungen Mann wieder und versuchte ihn zu beschwichtigen. "Was wisst Ihr über Mister Kents Erwerbstätigkeit?" Ciels Mund öffnete sich um etwas zu erwidern, dann hielt er inne und starrte Sebastian an. Mit einem trotzigen Blick verschränkte er die Arme vor der Brust. "Er arbeitet für eine grössere Firma." "Wisst Ihr für welche?" Die ausbleibende Antwort machte mehr als klar, was der Stand der Dinge war. "Mister Kent arbeitet für Hollister & Co." "Hollister? Aber die vertreiben doch… das erklärt alles!" rief Ciel aus. Sebastian schüttelte erneut seinen Kopf, so etwas wie Mitleid spiegelte sich in seinem Gesichtsausdruck wider. "Tut es nicht, mein Herr," erwiderte er sacht. "Wenn eine Konkurrenzfirma wie Hollister, die vor allem auf Kohle spezialisiert ist, Euch attackieren wollte, würden sie eine Eure Fabriken sabotieren und so Euer Produkt unsicher erscheinen lassen. Euer Heim anzugreifen, macht absolut keinen Sinn." "Aber die Korrespondenz mit Rochester?" Der Earl schaute so hilflos und verzweifelt drein, es war klar, dass er es nicht gewohnt war, so daneben zu liegen. "Der Baron ist in der Tat nicht ganz unschuldig." Sebastian förderte ein paar beschriebe Seiten Papier zutage, die Ciel sofort als die fehlenden Teile des Briefes identifizierte. Der Butler überreichte sie ihm und er begann sie blitzschnell zu überfliegen. "Der Baron von Rochester hat nachdem Ihr ihm Eure Unterstützung versagt habt, offensichtlich beschlossen sich mit der Funtom Konkurrenz kurzzuschliessen, indem er ihnen bei gewissen Nachforschungen behilflich war." Ciel schloss die Augen. Ein gequälter Gesichtsausdruck hatten ihn überkommen, aber jetzt sah er es deutlich vor sich. Rochester bei der Probe für die Verlobungsfeier. Er hatte sich über die Gasheizung erkundigt. Beim Pavillon hatte es sich um einen noch nie dagewesenen Prototyp gehandelt, den sie nachher massentauglich hatten machen wollen. Es war das grosse neue Steckenpferd der Funtom Company und hatte ziemlich viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Natürlich würde eine Firma wie Hollister daran interessiert sein… Oh, wie hatte er das nicht sehen können? Er öffnete die Augen wieder und fokussierte Sebastian mit einem harten Blick. "Was sonst noch?" Der Butler warf ihm ein diabolisches Lächeln zu und legte spielerisch seinen Finger ans Kinn. "Der Baron war ausser einem Spion noch zwei weitere Dinge. Wisst Ihr welche?" Nach einer kurzen Pause und einem fast schon manischen Blick seines Herrn, fuhr er jedoch fort: "Ich werde es Euch verraten. Er war passionierter Raucher, aber er war auch nicht sehr… gewieft." Er entfernte sich etwas von Ciel und zog dann etwas auf seiner Seitentasche hervor, das der junge Earl sofort als den Stummel einer von Rochesters widerlichen Zigarren identifizieren konnte. Ekel begann sich in ihm auszubreiten, während Sebastian mit einem simplen Fingerschnipsen die Reste der Zigarre entzündete und zum Glühen brachte. "Stellt es euch so vor, junger Herr," er zeichnete mit dem Rauch Schemen in die Luft. "Der Baron schleicht am Tag Eurer Verlobungsfeier auf dem Anwesen umher. Er hat eine Zigarre in der Hand, da Ihr das Rauchen im Pavillon untersagt habt. Die Bediensteten beachten ihn nicht grossartig, da er ein geladener Gast ist – niemand Ungeladenes könnte das Phantomhive Anwesen je betreten. Das ist auch der Grund, warum Hollister ihn rekrutiert hat. Er ist schliesslich in der Tat ein alter Bekannter Eures Vaters." Die Schemen folgten Sebastians eleganten Bewegungen und zeigten die Umrisse eines korpulenten Mannes, der sich jetzt einem kleinen Gebäude näherte. "Kent hat ihm aufgetragen, etwas über die grossartige neue Technologie herauszufinden, mit der der Pavillon beheizt wird und welche, so munkelt man, Kohle bald überflüssig machen wird. Der Baron folgt also den Leitungen, welche vom Pavillon zur Kapelle führen, wo der Brennkessel untergebracht ist. Er untersucht das Ganze, versteht dabei wenig, nimmt sich aber vor, das Beobachtete wie gesehen weiterzuleiten." Ciel schluckte schwer, er wusste mittlerweile worauf die Geschichte hinauslief, trotzdem liess er Sebastian fortfahren und beobachtete wie Schemen-Rochester den Kopf umwandte. "Vom Pavillon her ertönt das Zeichen für den Beginn der Zeremonie. Der Baron weiss, dass er sich jetzt sputen muss, also – und jetzt kommen wir zum Teil, der einem an der Intelligenz dieser Elster zweifeln lässt – schnippt er, ohne sich noch einmal umzuschauen, den Stummel seiner Zigarre weg. Er landet in der Kapelle. An sich kein nennenswertes Vergehen, hätte dort auf dem Boden nicht etwas gelegen, das durch die Glut in Brand gerät." Die Schemen-Kapelle begann zu lodern und wurde von immer höher und höher schlagenden Flammen umhüllt, bis sie schliesslich, vollkommen geräuschlos, explodierte. Ciel zuckte trotz des fehlenden Knalls zusammen. Die Explosion war eine Erinnerung, die ihn nicht losliess und praktisch jede Nacht heimsuchte. Sebastian wedelte relativ nonchalant den Rest des Rauches weg und überging den steinernen Gesichtsausdruck seines Herrn völlig. "Ihr seht also, das ganze war ein Un-", "SCHWEIG!" Ciel hatte die Hände zu Fäusten geballt und atmete schwer. "Du weisst gar nichts! Wenn das ganze nur ein Unfall gewesen sein soll, wie erklärst du dir dann das?" Er förderte die kleine Notiz mit dem Datum seiner Verlobungsfeier zutage und hielt sie Sebastian unter die Nase. Dieser studierte sie kurz, bevor sich wieder ein gespielt milder Ausdruck auf seine Miene legte. D. at Phantomhive Engagement Party "Junger Herr," er pausierte kurz als würde er darüber nachdenken, wie der die folgende Information am besten formulieren sollte. "Ihr seid Euch bewusst, dass das D. hier wahrscheinlich auf Mister Kents Gattin verweist? Ihr voller Name ist Danielle Esther Kent-Middleford. Sie ist eine entfernte Cousine des Marquis Middleford und war folglich von den Eltern der Braut zur Verlobungsfeier eingeladen. Ihr habt sie sogar gesehen. Sie war die Dame in dem lila Kleid mit den grossen Schleifen, welches von Lady Elizabeth als 'ganz liebreizend' eingestuft wurde. Euer Kommentar dazu ging, sofern ich mich recht entsinne, allerdings mehr in die Richtung 'Clowns gehören in den Zirkus'." Sebastians Mundwinkel waren ganz leicht angehoben. Es war so klar, dass der Butler sich gerade grossartig amüsierte, während Ciel einfach nur noch schreien und sich die Haare ausreissen wollte. Ja, er erinnerte sich an die Dame in lila! Nein, er hatte sich nicht für ihren Namen interessiert! Und nein, es war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass der einzige Grund, warum Kent sich das Datum notiert hatte, die Abwesenheit seiner Frau war, damit er sehr wahrscheinlich im gemeinsamen Heim eine Orgie mit einer ganzen Bande von Strichjungs veranstalten konnte! Ciel taumelte rückwärts. Das war einfach alles zuviel. Wie war es möglich, dass er so falsch gelegen hatte? Er verstand es einfach nicht. Er war doch sonst nicht so blind und unfähig die einfachsten Verbindungen zu sehen. Also wie? Wie?! Er schaute zu Sebastian auf, der ihn betrachtete, als wäre er ein besonders faszinierendes Insekt. Vollkommen erschlagen fragte er: "Hast du dich dann wenigstens um Rochester gekümmert?" "Oh, das war nicht nötig, junger Herr. Und wenn Ihr Zuhause geblieben wärt, anstatt auf diesen vollkommen unnötigen Kreuzzug zu gehen, wüsstet Ihr das auch." Sebastian näherte sich dem Earl wieder und beugte sich zu ihm runter. "Der Baron hat sich knappe zehn Tage nach Eurer desaströsen Verlobungsfeier das Leben genommen, indem er sich mit seinem Gürtel erhängt hat. Wahrscheinlich hatte er zuviel Angst vor der berühmt-berüchtigten Phantomhive Vergeltung." Um sie herum fing es an dunkel zu werden und Schatten huschten über Sebastians schwarze Uniform. Ciel wusste, dass der Butler ihm seine Entscheidung vorwarf. Er wendete den Blick ab, aber Sebastian packte sein Kinn und drehte sein Gesicht wieder zu sich. "Natürlich ist das ganze ironisch, wenn man bedenkt, dass der Baron diese vorschnelle Entscheidung wahrscheinlich gar nicht nötig gehabt hätte… in Anbetracht der Inkompetenz eurer Irrfahrt hier und wie ihr vollkommen auf der falschen Fährte wart." Sebastians Grinsen war bedrohlich geworden und sein Mund gab eine Reihe viel zu vieler spitzer Zähne preis. Er flüsterte direkt neben Ciels Ohr: "Ihr seid eine Enttäuschung, junger Herr." Das war genug! Ciel schüttelte sich und stiess Sebastian von sich. "Du hast gut reden! Wenn du all das von Anfang an wusstest, warum hast du nichts gesagt? Du hast mich manipuliert und glauben lassen, der Mörder wäre da draussen." Sebastian schüttelte den Kopf. "Inkorrekt, junger Herr. Ich habe von Anfang an gesagt, dass Ihr Eure Zeit verschwendet und den Ereignissen zuviel Bedeutung beimesst. Euer Schutz und Eure Rache sind Teil unseres Vertrages und haben somit Priorität für mich. Der Vorfall während Eurer Verlobungsfeier, wenn auch tragisch, war lediglich ein Unfall und hat somit nichts mit meinem Aufgabengebiet zu tun." Ciel schnaubte. Er konnte fühlen wie sich Tränen in seinen Augen zu sammeln begannen. Langsam bewegte er sich von Sebastian weg. "Alles war also nur ein Unfall? Und dich kümmert nur meine Rache und mein Schutz?" Er warf Sebastian ein verstörtes Lachen zu. Hinter ihn endete das Dach. Die Strassen Londons waren nur einen Schritt entfernt. Dann fokussierte er Sebastian noch einmal, bevor er sagte: "Na, dann solltest du dich darum kümmern." Dann breite er die Arme aus und liess sich rückwärtsfallen. ~~~ Agni POV Der Earl war nicht da. Er hatte das Workhouse abgesucht, er war zum Markt gegangen, er hatte sogar einen von Ciels Bekannten nach ihm gefragt – letzteres hatte ihm aber lediglich ein verärgertes Schnauben eingebracht. Und jetzt irrte er verloren durch die Strassen Londons auf der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Agni wusste natürlich, dass er sich das ganze selbst zuzuschreiben hatte. Er war zu lange der süssen Befreiung des Opiums erlegen und hatte realistisch betrachtet keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen war, seit er das letzte Mal so klar im Kopf gewesen war. Was natürlich dazu geführt hatte, dass der Earl ungeduldig geworden und allein losgezogen war. Agni nahm es ihm nicht übel, es lag in der Natur seines neuen Herrn ungestüm und unnachgiebig zu sein, da war Nachsichtigkeit gegenüber Agnis Schwäche nicht wirklich etwas, das er von ihm erwartete. Nichtsdestotrotz musste er ihn finden. Mit einer Zeichnung in den Händen eilte er von Person zu Person. "Habt Ihr diesen Jungen gesehen?" Die meisten ignorierten ihn, aber hin und wieder blieb tatsächlich jemand stehen und schaute sich das Bild an. Es reichte in Sachen künstlerischer Begabung natürlich nicht im Ansatz an jenes heran, welches Seine Hoheit damals von Meena angefertigt hatte, trotzdem fing es seiner Meinung nach die essenziellen Wesenspunkte des Earls recht gut ein: klein, mürrisch, Augenklappe. Der beleibte Herr, der das Bild gerade eingehend betrachtete, rieb sich das Kinn und runzelte die Stirn. "Ich glaub, da stand ein Stricher an der Corner Westside, der so mehr oder weniger auf die Beschreibung passt." Agni schüttelte den Kopf. "Nein nein, Ihr missversteht mich. Ich suche keine Unterhaltung für einsame Stunden, die dem Jungen ähnlich sieht. Das hier ist mein Freund und er ist verschwunden." Der Mann zuckte mit den Schultern. "Sag' ich ja. Da ist ein Stricher, der so aussieht, an der Corner Westside." Agni starrte dem sich entfernen Mann hinterher. Es konnte nicht wirklich sein, dass der Earl…? Agni weigerte sich das zu glauben und sein Blick wandte sich ungläubig zum Bild in seinen Händen. Mehr aus Trotz befragte er noch ein paar mehr Passanten, bevor seine Füsse schliesslich trotzdem den Weg zur Corner Westside einschlugen. ~~~ Der Radau war schon um die Ecke zu hören. Agni bildete sich aber noch nicht allzu viel darauf ein, denn da war schliesslich immer irgendetwas, das die Neugier der Menge auf sich zog. Ein paar Leute hatten ihre Fensterläden geöffnet und starrten nach unten auf eine Menschentraube, die sich um etwas gesammelt hatte. Dann waren Schüsse zu hören, die das Gemurmel zerrissen, und Agni erschrocken aufhorchen liessen. Er begann zu rennen. Sein Herzschlag beschleunigte sich und er stiess recht unsanft einen Gaffer zur Seite, welcher ihm den Blick auf den Schützen versperrte. Dort in der Mitte stand der Earl, eine Pistole erhoben, sein Blick entrückt und schwer atmend. Agnis Augen weiteten sich. Sein erster Instinkt war es einzuschreiten und den jungen Mann davor zu bewahren, etwas sehr Unkluges zu tun, doch zu seiner grossen Überraschung – und Erleichterung – kam ihm Sebastian zuvor. Der schwarz gekleidete Butler näherte sich dem aufgebrachten Earl von hinten und brachte ihn dann sanft dazu, die Pistole zu senken. Ein Raunen der Bewunderung ging durch die Menge, und auch Agni atmete auf. Er war unglaublich froh, dass Herr Sebastian sich endlich entschlossen hatte, einzuschreiten. Dass der Butler es überhaupt erlaubt hatte, dass der Earl allein loszog war für ihn immer vollkommen unverständlich gewesen, aber er hatte aus Ciels Bemerkungen heraushören können, dass dieser wohl gegen ihren Rachefeldzug war und so etwas nicht unterstützen wollte. In gewisser Weise hatte ihn diese Haltung stutzig gemacht, denn Herr Sebastian war durchaus nachtragend, um nicht zu sagen rachsüchtig. Seine Indifferenz gegenüber dem Vorfall schien also atypisch. Aber welcher Grund auch immer ihn zurückhielt, war schlussendlich etwas, in das nur der Butler und der Earl eingeweiht waren. Und so beobachtete Agni, wie der junge Mann herumwirbelte und kurzzeitig die Waffe auf seinen Butler richtete. Wieder ging soetwas wie erschrockenes Gemurmel durch die Menge, doch Agni machte sich ob dieser Entwicklung wenig Sorgen. Der Earl würde nie auf Sebastian schiessen. Er war sich also ziemlich sicher, dass der Butler die Situation unter Kontrolle hatte. "Du wagst es dich einzumischen, nachdem du monatelang nichts getan hast?!" schrie Ciel. Er klang so unglaublich verzweifelt, was Agni erneut einen immensen Anflug von Schuld verspüren liess. Er wusste, dass er kein guter Ersatz für Sebastian gewesen war. Aber als er ihn damals gefragt hatte, ob sie sich zusammen auf die Jagd nach dem Urheber des Anschlags begeben würde, hatte es Sinn gemacht. Schliesslich waren sie diejenigen, die am meisten verloren hatten. "Da vorne fährt gerade der Mörder von Lizzy und Soma davon, und du…" Agnis Blickfeld verengte sich und sein Herz begann lauthals in seiner Brust zu hämmern. Die Worte hallten in seinem Kopf nach. Der Mörder? Der Mörder von Lizzy und Soma? Wie in Zeitlupe richtete er seinen Blick in die Richtung, in die die Kutsche davongedonnert war. Das war er also? Der Urheber? Der Earl hatte ihn gefunden und ihn nicht informiert? Er konnte sich nicht mehr konzentrieren auf das, was sonst noch um ihn herum geschah. Das Gespräch zwischen Ciel und seinem Butler ging noch weiter, aber es spielte keine Rolle mehr. Agni konnte nur noch das Blut in seinen Ohren rauschen hören und die Wut wie Gift durch seine Adern fliessen spüren. Sie hatten ihn gefunden, den Schuldigen! Den Mörder von Soma und Lizzy! Sebastian mochte dagegen sein, dass Ciel sich die Hände schmutzig machte, aber er würde sich bestimmt nicht daran stören, wenn Agni vollendete, was der junge Earl begonnen hatte. Er fühlte wie sich sein Gesicht zu einer manischen Fratze verzog. Auf dem Boden lag zurückgelassen die Pistole des Earls. Es war ein Zeichen der Götter. Der Urheber würde nicht davonkommen! Er würde ihn zur Strecke bringen! Kapitel 12: In Dubbio pro Reo - flashback IV -------------------------------------------- EXTRABLATT VOM 14.12.1983: ANSCHLAG AUF DIE PHANTOMHIVES!   Genau acht Jahre es her, dass das renommierte Adelsgeschlecht der Phantomhives den letzten grossen Schicksalsschlag erleiden musste. Erneut wird die Familie von einer mysteriösen Tragödie heimgesucht, welche zwei prominente Todesopfer und zahlreiche Verletzte gefordert hat.   Dabei ist besonders beklagenswert, dass sich der immer noch ungeklärte Vorfall während der Verlobungsfeierlichkeit des jungen Earls C. Phantomhive und seiner langzeit Verlobten E. Middleford ereignet hat. Neben den Familienangehörigen waren auch zahlreiche namhafte Gäste der englischen Obersicht anwesend. Scotland Yard, unter Leitung von Lord Arthur Randall, halten sich bisher bedeckt und verweigern ein Statement. Ein Augenzeuge berichtet aber von einer Explosion und einem Flammenmeer. Wir halten Sie auf dem Laufenden!     "Wie meinen, Sie fahren zurück nach London?" Ciel stand aufgebracht in der Eingangshalle seines Mansion, wo Lord Randall gerade dabei war sich zu empfehlen. Sein Haar war zerzaust, seine Hände bandagiert und sein Gesicht wurde von mehreren Schnittwunden geziert.   Der Kommissar hielt inne. Er wirkte angespannt, aber gleichzeitig auch entnervt. "Es gibt nichts mehr, was wir hier tun könnten, Phantomhive. Wir haben den Tatort untersucht und nichts gefunden, das auf eine Fremdeinwirkung hinweisen würde." Er drehte den Zylinder in seiner Hand. "Was passiert ist, ist eine schreckliche Tragödie, aber unter diesen Umständen müssen wir davon ausgehen, dass es sich lediglich um einen unglücklichen Zufall gehandelt hat."   "Ein unglücklicher Zufall?" brauste Ciel auf und trat zu nah an Randall heran. "Nichts ist ein Zufall, wenn es um die Phantomhives geht! Sie wissen, was für eine Position meine Familie innehat, da hat es jemand auf uns abgesehen!"   "Und solange Ihr mir keinen konkreten Namen nennen könnt, gibt es leider keine weiteren Nachforschungen, die Scotland Yard anstellen könnte," entgegnete Randall gezwungen ruhig. Sie führten diese Diskussion schon etwa zum dritten Mal und sie lief immer genau gleich ab. Der Earl war überzeugt davon, dass es sich um einen Anschlag handelte und der Kommissar versuchte ihn mehr schlecht als recht vom Gegenteil zu überzeugen. "Die Fehlfunktion des Brennkessels ist wahrscheinlich auf einen Funkenschlag zurückzuführen. Bei diesem modernen Zeug weiss man ja nie so genau, was alles passieren kann."   Ciel verengte seine Augen. "Unterstellt Ihr mir, dass der Vorfall mein eigener Fehler war?" Seine Stimme klang bedrohlich und Randall verzog das Gesicht. "Ich habe nichts dergleichen gesagt, sondern lediglich in den Raum gestellt, dass eine Fehlfunktion eine mögliche Erklärung wäre." Er setzte seinen Zylinder auf.   "Meine Technik versagt nicht," entgegnete Ciel beunruhigend kühl.   Der Kommissar nickte. "Ganz wie Ihr meint, aber auf jeden Fall lässt sich im Moment hier nichts mehr tun. Ich werde mich wieder melden, wenn wir alle Zeugen fertig befragt haben." Damit verabschiedete er sich und trat durch die Tür.   Ciel sah ihm noch einen Moment hinterher, bevor er blind nach der Vase auf dem Beistelltisch griff und sie gegen die Wand schmetterte. "Dieser verdammte, inkompetente …."   Eine Hand legte sich auf seine Schulter. "Junger Herr, bitte seht davon ab, das Inventar zu zerstören. Es wird Lord Randall kaum befähigen in seinen Nachforschungen besser vorzugehen."   Ciel wirbelte herum und ohrfeigte seinen Butler. "Sei still! Ich kann deine respektlosen Kommentare jetzt nicht gebrauchen." Hasserfüllt starrte er Sebastian an. "Das ist sowieso alles deine Schuld."   Der Butler hielt sich mit leicht schockiertem Ausdruck die Wange, obwohl beiden klar war, dass Sebastian durch den Schlag kaum ernsthafte Schmerzen empfunden haben konnte. Trotzdem deutete er eine kleine Verbeugung an. "Ich bedaure den Vorfall zutiefst, My Lord, der Verlust von Lady Elizabeth und Prinz Soma hat uns alle erschüttert, aber diese Art von öffentlichem Spektakel ist für einen jungen Mann Eures Standes absolut unangebracht."   Ciels Blick sprühte Funken vor Zorn als er mit gepresster Stimme erwiderte: "Mein Büro, sofort."     SPEZIALAUSGABE VOM 17.12.1893 Augenzeugenericht zum Phantomhive Anschlag   D.K., welche aus persönlichen Gründen anonym bleiben möchte, hat den grauenhaften Anschlag am eigenen Leib erfahren. Trotz des traumatischen Erlebnisses, dessen Spuren sie immer noch zeichnen, war sie bereit für uns einen Bericht abzufassen.   "Der Vierzehnte war ein schöner, wenn auch kühler Dezembertag. Nichts hätte darauf hingewiesen, welche Tragödie sich in seinem Schatten noch ereignen sollte.   Der Festpavillon auf dem Phantomhive Anwesen war ein wahrgewordener Traum, grossartig in Szene gesetzt und geschmückt mit den herrlichsten Girlanden und Ornamenten. Zudem ein wahres Wunderwerk der Technik durch seine moderne Heiztechnologie, welche den Gästen beim Eintreten eine wunderbar warme Überraschung bescherte.   Die junge Braut war mindestens genauso atemberaubend schön wie ihre Umgebung. Sie trug ein cremefarbenes Kleid, verziert mit tausend glitzernden Schmucksteinchen. Der Bräutigam kam in einem modischen Dunkelblau mit einem weissen Band am Zylinder. Beide zusammen ergänzten sich grossartig, ein so attraktives Paar hat man seit Queen Victoria und Prince Albert bei ihrer Verlobung im Jahr 1840 nicht mehr gesehen.   Die Seite der Braut war vor allem durch die Familie Middleford und deren Verwandte vertreten. Auf der Phantomhive Seite musste aus offensichtlichen Gründen etwas nachgeholfen werden, trotzdem waren auch die dort platzierten Gäste nicht weniger renommiert. So befand sich zum Beispiel in der vordersten Reihe der sechsundzwanzigste Prinz von Benglen, seine Königliche Hoheit Soma Asman Gandal und dessen Entourage.   Die magische Zeremonie wurde lediglich etwas durch die Tatsache getrübt, dass die erhöhte Innentemperatur in Kombination mit der Vielzahl der Gäste zu einem Beschlagen der Pavillonscheiben führte. Phantomhive hat allerdings sofort seinen Butler entsandt, um das Problem zu beheben. Trotzdem stellte dies den Wendepunkt des Tages und den Anfang der Katastrophe dar. Kurz darauf begann nämlich von der kleinen Kapelle auf dem Phantomhive Anwesen, direkt vor dem Pavillon, Rauch aufzusteigen, was die Unterbrechung der Zeremonie zur Folge hatte. Phantomhive hat nach seinem Butler gerufen, offensichtlich beunruhigt.   Aber dann war es auch schon zu spät. Ein schrecklicher Knall ertönte und dann flog uns der halbe Pavillon um die Ohren. Die Schreie waren schrecklich! Überall flogen Scherben herum, Menschen standen in Flammen. Es war die Art von alptraumhaftem Bild, das einem sein Lebtag lang heimsuchen wird. Das Feuer hat sich in Windeseile ausgebreitet und dabei die Girlanden und Dekorationen mit gnadenlosem Eifer verschlungen. Besonders betroffen waren die vordersten Reihen, die der brennenden Kapelle am nächsten waren. Dabei ist es als wahres Wunder zu betrachten, dass der junge Earl den Vorfall unversehrt überstanden hat. Doch wo sein Körper dem Inferno entgangen sein mag, wird seine Seele durch den erneuten Verlust von Freuden und Familie jeglichen Beistand benötigen, den sie nur kriegen kann. Deswegen möchte ich mit den folgenden Worten schliessen:   Betet für Earl Ciel Phantomhive. Möge Gott seiner gnädig sein.   D.K.     Sie waren in Ciels Büro. Der junge Earl ging aufgebracht auf und ab während Sebastian vollkommen ruhig vor dem Schreibtisch stand und mit hinter den Rücken verschränkten Händen darauf zu warten schien, dass dieser die richtigen Worte fand.   "Wieso?" presst Ciel schliesslich heraus.   Sebastian hob eine Augenbraue und betrachtete den jungen Mann eindringlich bevor er schliesslich geduldig antwortete: "Das habe ich Euch doch bereits erklärt, junger Herr. Es wäre unmöglich gewesen, Lady Elizabeth and Seine Hoheit Prinz Soma noch rechtzeitig zu erreichen." Er schaute milde drein, aber das rote Funkeln seiner Augen verriet, dass ihn diese Diskussion mehr strapazierte als er zugeben wollte.   "Unsinn!" rief Ciel aus und fegte ein paar seiner Unterlagen wütend vom Schreibtisch. "Sie standen zuvorderst! Sie haben dir beide noch zugewinkt bevor du in die Kapelle gegangen bist. Du.." Ciel musste innehalten, sein Gesicht war zu einer schmerzhaften Maske verzogen. "Du hast sogar noch zurückgewinkt. Ich habe es gesehen."   Der Butler nickte. "Das ist korrekt, mein Herr. Trotzdem muss ich zu meiner Schande zugeben, dass auch mir die genauen Umstände des Kesselraumes zu spät bewusst geworden sind. Ich hätte die Explosion nicht mehr verhindern können." Er senkte den Blick, aber dieses betont zurückhaltende Verhalten schien den Earl nur noch mehr zu verärgern. Er packte Sebastian am Revers und starrte ihn mit wutverzerrtem Gesicht an. Der Butler jedoch legte bloss behutsam seine Hände auf jene des jungen Mannes. Er schaute ihn direkt an. "Die Explosion hätte Euch verschlungen. Ich hatte keine andere Wahl, denn Eure Sicherheit geht über die aller anderen, so hält es unser Vertrag fest."   Ciel Hände krallten sich in den Stoff von Sebastians Uniform und Tränen begannen sich in seinen Augenwinkeln zu sammeln. "Aber… aber du hättest sie retten können."   Sebastian schüttelte den Kopf. "Ich bin schnell, junger Herr, aber nicht so schnell, dass ich Euch hinausbringen, wieder hineinrennen und die anderen beiden ebenfalls rechtzeitig hätte erreichen können."   Ciel presste die Lippen aufeinander, sein Blick abgewandt. Dann straffte sich sein Körper wieder und er stiess Sebastian nach hinten. "Dann hast du versagt!"     TODESANZEIGEN VOM 18.12.1893   °°°°°°°°°   In stiller Trauer und tiefer Betroffenheit nehmen wir Abschied von   Lady Elizabeth Ethel Middleford (23.07.1876 – 14.12.1893)   Unerwartet durch einen tragischen Unfall aus dem Leben gerissen, hinterlässt sie eine tiefe Lücke in unserer Mitte. Unvergleichlich ist die Zeit, die uns gegeben ward, unersetzbar das Licht, das sie uns gespendet und unermesslich die Freude, die sie uns gebracht hat.   Die Trauerfeier findet am 20. Dezember in der der Westchester Cathedral statt. Zu Ehren der Verstorbenen wird darum gebeten, eine pinke Blume am Revers zu tragen.   Die Hinterbliebenen   °°°°°°°°°   Seine Königliche Hoheit Prinz Soma Asman Gandal, (03.01.1872 – 14.12.1893) Das Ende ist erst der Anfang.     "Ich will, dass du mir hilfst, den Schuldigen zu stellen." Ciel stand am Fester und schaute mit einem Glas Brandy in der Hand auf den wolkenverhangenen Himmel hinaus.   Sebastian, der gerade im Begriff war den Trolley mit Tee und Gebäck hineinzurollen, hielt inne und zog die Stirn kraus. "Welchen Schuldigen, junger Herr?"   "Stell dich nicht dumm!" Ciel wirbelte herum und starrte den Butler anklagend an. Das Getränk in seiner Hand schwappte über und die brauen Flüssigkeit verteilte sich über seine Finger, was den jungen Earl dazu veranlasste, das Glas mit einem angeekelten Gesichtsausdruck in die nächste Ecke zu donnern. "Den Verantwortlichen! Den Urheber, natürlich!"   Sebastian trat einen Schritt von seinem Trolley weg. "Junger Herr," er hob beschwichtigend die Hände, "das mag schwer vorstellbar sein, aber für einmal finde ich, dass Ihr auf Lord Randall hören solltet."   "Wie bitte?! Dieser inkompetente…"   Sebastian schüttelte leicht den Kopf und fuhr unbeirrt fort: "Auch meine Nachforschungen haben ergeben, dass es hier nichts zu finden gibt. Der Vorfall...", "SCHWEIG!" unterbrach Ciel ihn und zeigte anklagend auf seinen Butler. "Du lügst. Du willst nicht, dass ich dich nach dem Mörder von Lizzy und Soma suchen lasse, weil es nicht in deine üblichen Spielchen reinpasst!"   Sebastien legte dein Kopf schief. "Junger Herr, Ihr wisst, dass ich nicht lüge." Etwas an seinem Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Der besorgt-beschwichtigende Butler war einer wesentlich kalkulierenden Miene gewichen. "Während ich eingestehen muss, dass mein Interesse an Lady Elizabeth und seiner Hoheit Prinz Soma im besten Fall zweckgebunden ist, so würde ich trotzdem keine Minute zögern um den Verantwortlichen zu stellen, wenn ihr Tod denn tatsächlich etwas mit Euren Wachhund Aktivitäten zu tun hätte. Aber so wie die Dinge jetzt stehen, fällt es nicht in meinen Aufgabenbereich."   "Es fällt nicht in deinen Aufgabenbereich?" fragte Ciel erst ungläubig bevor sich seine Züge erhärteten. "Du willst es nicht tun. Und das bedeutet, du verweigerst den Befehl!"   "Ich verweigere keinen Befehl, junger Herr." Jedes von Sebastians Worten war betont und ein Schatten huschte über sein Gesicht. "Aber ich möchte Euch dringlichst darauf aufmerksam machen, dass wenn Ihr Eure Zeit verschwenden wollt, um ein Phantom zu jagen, das nicht existiert, Ihr per Definition vertragsbrüchig werdet." Er tat einen Schritt auf Ciel zu und der ganze Raum schien dunkler zu werden. Ciel hob herausfordernd das Kinn.   "Unser Vertrag dient dazu, Rache an jenen zu nehmen, die Eure Familie ermordet und Euch entführt haben. Dafür bin ich hier und dafür werde ich alles in meiner Macht Stehende tun um Euch zu helfen. Wenn ihr Euch aber einem sinnlosen Unterfangen widmet, das diesem Ziel in keinster Weise dient, dann bin auch ich nicht mehr gebunden, mich an unsere Spielregeln zu halten."   "Ha! Du gibst es also zu!" Er starrte Sebastian direkt an, sein eigenes Auge geweitet und sein Gesicht zu einer leicht manischen Fratze verzerrt. "Ich gebe gar nichts zu, junger Herr." Sebastians Stimme klang kontrolliert, trotzdem konnte sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Schatten mittlerweile an den Wänden hochgeklettert waren und den Grossteil des Raumes einnahmen, bedrohlich den letzten Lichtschein verschlingend. "Ich möchte Euch lediglich darauf hinweisen, dass auch Ihr Euren Teil zu leisten habt. Verschwendet Eure wertvolle Zeit nicht mit Trivialitäten."   Ciel zuckte zusammen, dann schrie er: "Raus! Raus mit dir, du elender Dämon! Ich will dich nicht mehr sehen!"   Sebastian gehorchte umgehend und verliess nach einer angedeuteten Verbeugung den Raum. Mit ihm gingen auch die Schatten und zurück blieb nur ein schweratmender Ciel.   "Trivialitäten sind sie also für dich", murmelte er mehr zu sich selbst, während er begonnen hatte auf und ab zu gehen, immer wieder sporadisch unterbrochen von planlosen Stopps um aus dem Fenster zu sehen oder sich die Hände zu wringen. Ciel wusste nicht mehr was er tat, und die kleine Stimme in seinem Hinterkopf versuchte ihn abermals darauf hinzuweisen. Trotzdem konnte er nicht anders…   Er schaute auf, sein Blick irgendwo ins Nirgendwo gerichtet. Sebastian konnte sagen was er wollte, aber er würde es nicht gut sein lassen. Er konnte es nicht. Er war es Lizzy und Soma schuldig herauszufinden was geschehen war, und wenn sein vermaledeiter Butler nicht helfen wollte, würde er es eben alleine tun. Er konnte auch ohne Sebastian! Er brauchte ihn nicht!   Die Uhr in der Ecke schlug die volle Stunde und Ciel schreckte aus seinen Überlegungen auf. Wie lange war er hier so herumgetigert? Er wusste es nicht, aber er hatte trotzdem einen Entschluss gefasst. Er würde losziehen, um den Schuldigen zu stellen, und er würde es alleine tun.   Wobei…   Sein Blick fiel auf den Zeitungsausschnitt, der immer noch auf seinem Schreibtisch lag. Die Todesanzeigen vom 18. Dezember. Er musste er vielleicht gar nicht alleine tun. Sebastian mochte Rache für Lizzy und Soma als Zeitverschwendung betrachten, aber es gab bestimmt mindestens eine Person, die diese Ansicht nicht teilte. Sein Gesicht verzog sich zu einem verstörten Grinsen. Agni würde, sofern ihn die Einschätzung nicht trog, immer noch in der Stadtvilla sein. Und der indische Butler würde definitiv Interesse daran haben zu erfahren, wer seinen Geliebten auf dem Gewissen hatte.   Ciel nickte zu sich selbst. Oh ja, das war der Anfang eines Plans. Er schaute zur Tür und ging dann hinüber, um den Schlüssel im Schloss zu drehen. Natürlich würde es Sebastian nicht lange aufhalten, aber da sein infernaler Diener klargemacht hatte, was er von diesem Unterfangen hielt, würde es wahrscheinlich einen Moment dauern, bis er zurückkam um nach seinem Herrn zu sehen.   Ciel nickte erneut, dann ging er zum Schreibtisch. Seine Finger glitten sacht über die Todesanzeigen. Dann jedoch ballten sich seine Hände zu Fäusten. Er atmete einmal tief ein und begann dann den blauen Phantomhive Familienring und seinen Siegelring abzustreifen. Wo er hinging würde er sie nicht brauchen. Er platzierte sie vorsichtig neben dem Zeitungsausschnitt, dann kletterte er aus dem Fenster. Die schwarzen Vögel auf dem Dach beobachteten ihn dabei. Kapitel 13: Götterdämmerung --------------------------- Ciel war Zuhause. Obwohl 'Zuhause' zu einem relativen Begriff geworden war. Das Haus fühlte sich kalt und fremd an, eine Empfindung, die ihn so nicht einmal nach dem Tod seiner Eltern heimgesucht hatte. Er starrte aus dem Fenster und beobachtete den fallenden Regen. Seine Finger folgten gedankenverloren den kleinen Tropfen, die an der Scheibe nach unten glitten. Die Dinge waren bedeutungslos geworden. "Junger Herr", Sebastian öffnete die Tür und schob einen Trolley mit Tee und der Morgenzeitung hinein. Ciel drehte sich nicht um, es war ein tägliches Ritual und bedurfte keines Kommentars seinerseits. Sebastian platzierte den Trolley vor dem Schreibtisch und begann damit den Tee vorzubereiten. Alles war soweit wie immer, ausser der Tatsache, dass er die bereits halb aufgeklappte Zeitung direkt vor Ciels Platz platziert hatte. Ciel hob eine Augenbraue. Das war ungewöhnlich, denn normalerweise begleitete sie den Tee eher und war nicht die Hauptattraktion. Trotzdem ging er zu seinem Schreibtisch hinüber und nahm Platz. Der Butler enthielt sich jedweden Kommentars, aber so funktionierten die meisten ihrer Interaktionen momentan. Sebastian forderte den jungen Earl nie direkt zu etwas auf, stattdessen suggerierte er unauffällig durch geringe Abweichungen von der Norm. Genauso wie jetzt die Zeitung bereits halb aufgeklappt dalag. Ciel überflog die Titelseite, aber da stach nichts für ihn hervor. Also öffnete er die Zeitung und entdeckte dann auf Seite drei worauf der Butler ihn wahrscheinlich hatte aufmerksam machen wollen: Die Vermisstenanzeigen. Der Text war kurz und sprach lediglich vom mysteriösen Verschwinden Horatio Kents, der wahrscheinlich aus seinem eigenen Haus entführt worden war. Die in Tränen aufgelöste Gattin bat um Hilfe aus der Bevölkerung, welche Scotland Yard bei der Aufklärung dieses Falles behilflich sein könnten. Ciel schluckte. Das Datum von Kents Verschwinden war auf denzehnten fixiert. Das war der Tag, an dem Sebastian ihn zurückgeholt hatte, aber es konnte nicht sein… Sein Blick glitt abwägend zum Butler, welcher ihm aber lediglich ein unbescholtenes Lächeln schenkte. Nein, Sebastian konnte es nicht gewesen sein. Einmal abgesehen davon, dass er ihm praktisch nicht mehr von der Seite wich, war es nicht sein modus operandi. Sofern ihn Ciel nicht explizit damit beauftragte jemanden verschwinden zu lassen, stellte Sebastian normalerweise sicher, dass genug von einem Opfer zurückblieb, um zu vermeiden, dass irgendwer Suchtrupps losschickte. Es war auf eine sehr perfide Weise gnädig jegliche Zweifel aus dem Weg zu räumen. Ciel klappte die Zeitung wieder zu. Wenn Sebastian es nicht gewesen war, wer denn dann? Der Butler schaute ihn mit seinem konstant leicht amüsierten Gesichtsausdruck an, als würde er fragen 'ist es nicht offensichtlich?' Es liess Ciel frustriert die Hände zu Fäusten ballen, aber er würde sich definitiv nicht dazu herablassen nachzufragen. Kent war verschwunden, wahrscheinlich tot, was kümmerte es ihn? Sebastian hatte mehr als klar gemacht, dass der Mann nur peripher etwas mit dem Unfall zu tun gehabt hatte, also musste ihn diese Vermisstmeldung auch nicht kümmern. Er schaute auf und warf Sebastian ein falsches Lächeln zu während er seine Teetasse in die Richtung des Butlers schob. "Was haben wir denn heute?" Ohne zu zögern, antwortete der Butler: "Lemon Balm Tea, Sir. Ich hoffe, er wird Euch munden." Die heisse Flüssigkeit füllte die Tasse und Ciel beobachtete ihr gleichmässiges Wirbeln mit einem gewissen Unbehagen. Während er zum Henkel griff kam ihm allerdings am Rande ein Gedanke. "Ist Lemon Balm nicht ein Abendtee?" Er führte die Tasse zu seinen Lippen und beobachtete über ihren Rand hinweg wie der Butler eine kleine Verbeugung andeutete. "Ich behalte ihn für besondere Anlässe vor." Ciel runzelte die Stirn. "Und was ist der Anlass?" Sein Auge glitt unwillentlich zurück zur zusammengefalteten Zeitung, doch der Butler lachte nur leise. "Oh, nichts dergleichen, junger Herr." Ciel starrte ihn an und wartete auf eine Erläuterung, doch es folgte nichts. Der Butler stand nur da, aufrecht und viel zu bedacht, und wartete. Es frustrierte den jungen Earl masslos und liess ihn beinah den Tee wieder ausspuken. Mit zu viel Kraft stellte er die Tasse zurück auf ihre Untertasse und das Klirren durchbrach die drückende Stille. "Was?!" So ging das schon seit seiner Rückkehr. Sebastian war da und wartete, und das ohne Unterbruch. Er war da, wenn Ciel aufwachte, wenn er arbeitete, wenn er zu Bett ging, und eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf flüsterte, dass selbst die Schatten in der Nacht sich etwas zu willkürlich zu bewegen schienen. Er liess ihn nicht mehr aus den Augen und kaum eine Minute verstrich, in der der Butler sich nicht in unmittelbarer Nähe befand. Es raubte ihm den letzten Nerv. Sebastian legte den Kopf schief. "Wünscht Ihr noch mehr Tee, junger Herr?" Ciel atmete schwer. Mühsam presste er heraus: "Nein, ich wünsche nicht mehr Tee. Ich wünsche, dass du mich in Ruhe lässt." Mit der allergrössten Sorgfalt stellte Sebastian die Tasse zurück auf den Trolley. "Ich fürchte, dass ist nicht möglich", bemerkte er fast schon nebenbei während er damit fortfuhr das Geschirr zu ordnen. Ciel starrte seinen Butler an während er das Blut in seinen Adern pumpen hören konnte. Seine Hände klammerten sich mit einem Todesgriff an die Tischkante. "Dann befehle ich es dir." Der Butler schaute auf und hob die Augenbraue. "Ihr befehlt es mir? Junger Herr…" Sebastian beugte sich vor und stützte langsam und geschmeidig seine behandschuhten Hände auf der glänzenden Oberfläche des Schreibtisches ab. "…Ihr habt das Recht verwirkt mir Befehle zu erteilen, denn Ihr habt den Vertrag gebrochen." Sebastians Stimme war sinnlich und schien tief in Ciels Innern zu widerhallen. Sie jagte ihm einen Schauer über den Rücken während er in die rotglühenden Augen des Dämons blickte. "Warum hast du mich denn dann noch nicht verschlungen?" fragte er trotzig und versuchte den Blickkontakt nicht zu brechen. Er wollte nicht schwach erscheinen. Fast schon abrupt zog der Dämon sich zurück und stellte sich wieder gerade hin. Er lachte leise bevor er grazil seine Finger an sein Kinn legte. "Ihr amüsiert mich." Dann ging er um den Tisch herum, so dass er direkt vor dem jungen Mann stand, welcher sich instinktiv in seinem Sessel weglehnte. Doch entgegen seiner Erwartung stürzte sich der Dämon nicht auf ihn, sondern ging vor ihm auf die Knie, mit einem Bein angestellt, und ergriff seine Hände. Ciel Augen weiteten sich überrascht, während er beobachtete wie Sebastian seine weissen Handschuhe abstreifte und dann die feingliedrigen Hände seines jungen Herrn auf den Armlehnen platzierte. " Ich habe beschlossen für einmal nachsichtig zu sein und diesen Fauxpas mit eurer mehr als unglücklichen Irrfahrt zu übersehen." Ciels Mund öffnete sich automatisch, um nachzufragen wie Sebastian das meinte, doch der Butler schüttelte lediglich den Kopf. "Ich erwarte allerdings eine Wiedergutmachung." Seine Hände glitten zu den Oberschenkeln des jungen Mannes, und Ciel verstand. "Einen Aperitif." Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)