Das Maleficium von Rahir ================================================================================ Kapitel 21: ------------ Die kleine Gruppe ging wenige Schritte hinter Sarik. Dorian, in ihrer Mitte, ließ den Blick über seine Wegbegleiter schweifen. Nadim, der die Zeit seit ihrer Ankunft an dieser Sandbank größtenteils geschwiegen hatte, sprach immer noch kaum. Seine Miene war in sich gekehrt, sein Gesicht die meiste Zeit auf den Waldboden gerichtet. Nur hin und wieder hob er den Blick, als müsste er sich vergewissern, dass es immer noch sein Schicksal war, durch einen ihm unbekannten Wald zu marschieren. Dann richtete er ihn wieder zu Boden und betrachtete seine Schritte, die ihm einem ungewissen Ziel entgegen trugen. Dorian erinnerte sich daran, wie vorlaut er in ihrer Runde gewesen war, an jenem Tag im Uhrturm, welcher so lange zurückzuliegen schien. Iria hingegen blickte meistens geradeaus, auf ihren Führer durch diese ihnen unbekannte Gegend. Aus ihrem Blick sprach nicht unbedingt Vertrauen diesem Mann gegenüber, eher die Bereitschaft, seine Anwesenheit hinzunehmen, wenn sie versprach, sie ihrem Ziel näher zu bringen. In diesem Moment wurde Dorian klar, wie wenig er über die Wälder um die Stadt Galdoria wusste. Sein ganzes Leben hatte er in dieser Stadt verbracht, und so oft er sich auch in Tagträumen über Abenteuer in fernen Landen verloren hatte, so war doch der Impuls, seine Heimatstadt zu verlassen, nie stark genug gewesen, um ihn diesen fernen Landen zumindest ein paar Schritte näherzubringen. Dies wurde ihm nun bewusst, und er schämte sich dafür. Jetzt betrachtete er selber den Mann, dem sie vertrauten, was diesen Ort anbetraf, wenngleich seine Heimat wesentlich weiter von diesen Wäldern entfernt war als Dorians. Wie auch die von Nadim und Iria, wie ihm einfiel, und er genierte sich für seine unbedachten Worte zuvor, die, wenn er es näher betrachtete, auch die beiden betroffen hatten. „Iria, Nadim…“, begann er zaghaft. Das Schwert, das er sich wieder durch seinen breiten Gürtel gesteckt hatte, war länger als jenes, das er in den Kanälen unter dem Palast zurück gelassen hatte. Es streifte am Waldboden, und so schob er es sich zurecht. „Was ich vorher gesagt habe… das war dumm. Es tut mir leid.“ „Was denn?“ „Na ja, das mit den Feinden und so“, sagte er und schob sich abermals das Schwert im Gurt zurecht. „Weil ihr doch auch aus Mosarria kommt.“ „Ach, das“, erwiderte Iria und winkte ab. „Für mich gibt es nur einen Feind“, sagte sie, und ihr Blick traf wieder Sarik, der vor ihnen ging, „Und das ist dieser Krieg“ „Dann ist es gut“, sagte Dorian, und rückte abermals sein Schwert im Gurt zurecht. Zu guter Letzt zog er es heraus und legte es sich über die Schulter. Nach kurzer Zeit fing das Gewicht an zu drücken, woraufhin er die Schulter wechselte. „Dann ist es gut…“, wiederholte er so leise, dass das Flüstern des Waldes um sie herum seine Worte beinahe übertönte. Schnelle Schritte huschten durch den Wald. Schritte von Füßen, die morschen Zweigen auswichen und dicken Ästen, die zur Stolperfalle hätten werden können. Schritte, die kaum Geräusche verursachten. Und wenn sie es taten, dann solche, die ebenso gut von einem der Bewohner des Waldes hätten stammen können. Ihre Augen hafteten auf ihrem Weg und erkannten alle Hindernisse, suchten den kürzesten Weg zu ihrem Ziel, und trotz der Nässe, die immer noch in ihren Kleidern herrschte, bewegte sie sich mit kraftvoller Entschlossenheit diesem Ziel entgegen. Hin und wieder verlangsamte sie ihre Schritte und blickte auf ihren Escutcheon, der die Richtung wies. Sie schwenkte dann den Arm in ihre Laufrichtung, und in jener, in der die Scheiben aufleuchteten, beschleunigte sie ihre Schritte. Dabei achtete sie auf Geräusche, die weder von ihr noch von den Tieren des Waldes stammten. Bis sie welche hörte. Brynja Peinhild blieb abrupt stehen. Sie hielt den Atem an und horchte mit offenem Mund. Ihre Augen bewegten sich dem gedachten Horizont entlang, wo Bäume, dichtstehende Gebüsche und niedrige Farnsträucher die Sicht einschränkten. Sie achtete auf alle Bewegungen und Unregelmäßigkeiten, die nicht aus dem angestammten Leben des Waldes entstanden. Schließlich wurde sie fündig. In geduckter Haltung lief sie zu einem Baum, den sie als geeignet erachtete, und erklomm ihn. Mit geschmeidigen Bewegungen kletterte sie an der rauen Borke empor, bis sie den Bereich dichterer Äste erreichte. Von dort an ging es leichter, und auf einem armdicken Ast bezog sie Position, um ihre möglichen Feinde herankommen zu lassen. Von ihrer Warte aus beobachtete sie die kleine Gruppe. Ihr gefleckter Mantel verwischte ihre Umrisse zwischen den belaubten Ästen, und sie konzentrierte sich ganz auf ihre Beobachtung. Als sie erkannte, dass dies allein schon von der Anzahl keine kaiserlichen Soldaten sein konnten, spürte sie Erleichterung. Als sie aber erkannte, dass dies keine harmlosen Wanderer waren, schwand die Erleichterung wieder. Sie erkannte den einäugigen Mann wieder, der ihr in der Schatzkammer des Kaiserpalastes begegnet war, und in seiner Begleitung die halbwüchsigen Diebe, die damals ebenfalls dabei gewesen waren. In Gedanken ging sie ihre Möglichkeiten durch. Einen offenen Kampf hielt sie für töricht. Dieser Mann mit dem einzelnen gesunden Auge war ihr bei ihrer kurzen Begegnung in der Schatzkammer und danach im Kanal noch am Vernünftigsten vorgekommen. Zumindest im Vergleich zum Sohn des Herzogs von Lichtenfels, der offenbar seinen Verstand verloren hatte. Sie sah die Gruppe vorüberziehen, und die Entscheidung stand immer noch aus. Unwillkürlich verzog sie das Gesicht. Entgegen ihrer Angewohnheit, jede ihrer Entscheidungen innerhalb von längstens sieben Atemzügen zu treffen, war sie immer noch unschlüssig. Diese selbstgesetzte Frist war bereits verstrichen, und sie sah, wie die Gruppe in geringer Entfernung den Baum, der ihr als Versteck diente, passierte. Sie atmete entspannt durch und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass keine Entscheidung letztendlich auch eine Entscheidung war. „Dann ist es gut…“, flüsterte er leise. Das ungewohnte Gewicht drückte ihn nach kurzer Zeit auf der anderen Schulter ebenso. Dorian fragte sich, wie die Soldaten des Kaisers mit diesem Gewicht zurechtkamen, zu dem sie zusätzlich noch ihre massive Rüstung trugen. Bei all den Paraden und Anlässen, denen er beigewohnt hatte, um ihre stolzen Umzüge zu bewundern, hatte er die Leichtigkeit ihres Marsches bewundert. Er hingegen hatte keine Rüstung, nur ein Schwert; und dies kam ihm nach der kurzen Zeit schon als unzumutbare Belastung vor. Und er begann zu ahnen, dass sich hinter der eindrucksvollen Fassade des Soldatentums ein langwieriger und nicht immer prachtvoller Weg verbarg. Sein Blick streifte durch die dichten Baumkronen, von denen das Sonnenlicht gefiltert wurde, verlor sich im Unterholz und den Farnsträuchern, die den Waldboden bedeckten, und er fragte sich, ob so ein Abenteuer aussah. Die Flucht war ihnen geglückt, und fürs Erste waren sie in Sicherheit, auch wenn es vielleicht eine Trügerische war. Der Wald war ruhig, durch den sie schritten, und bis auf die Geräusche flüchtender Tiere und dem Wind in den Baumkronen hörten sie keinen Ton. Nichts deutete darauf hin, dass die Palastwachen ihre Spur schon aufgenommen hatten, und er fühlte sich wohl in der Vorstellung, man würde sie für ertrunken halten. Zugleich rührten unangenehme Erinnerungen an der Oberfläche seiner Gedanken. Letztendlich sehnte er sich nach einem Ort der Zuflucht, wo er in aller Ruhe darüber befinden konnte, ob er heute ein sogenanntes Abenteuer erlebt hatte, oder ob das einfach der schlimmste Tag in seinem Leben gewesen war. Wie er so in Gedanken dahin schritt, ebenso wortkarg wie Iria und Nadim, spürte er die Müdigkeit in seinen Knochen deutlicher, jetzt, wo keine Anspannung und direkte Gefahr mehr vorherrschte. Auch sein Magen fühlte sich bedenklich leer an, und er dachte daran, die Frage nach ihrem Zielort an ihren schweigsamen Führer zu richten- als dieser unvermittelt kehrtmachte und sein Schwert zog. „He!“ schrie Dorian überrascht und stolperte rückwärts. Nadim ließ sich instinktiv zu Boden fallen, und Iria suchte Schutz hinter einem Baumstamm, wie er aus dem Augenwinkel flüchtig erkannte. Sein Schwert hielt er vor sich, doch seine Hände zitterten. Die bloße Kraft, es zu halten, schien aus ihnen zu weichen, und schließlich stolperte Dorian über eine Wurzel. Sarik stand mit gezogenem Schwert über ihm. Dorian kroch auf dem Hosenboden rückwärts, doch der Mann schritt an ihm vorbei. Erleichtert und auch verwirrt sah er, wie Sarik an einen Baum trat, an dem sie gerade vorüber gegangen waren. Mit dem Schwert in der Rechten trat er an dem Baumstamm heran, lehnte sich mit einer Hand dagegen, und blickte empor in die dicht belaubten Äste. „Sie können runterkommen“, sagte er zu irgendjemand. Dorian kam auf die Beine und blickte sich verwirrt um. „Wen meinen sie?“ Nadim und Iria standen jetzt in seinem Rücken, als könnte er ihnen Schutz bieten, und sahen sich mit fragenden Blicken um. Sariks gesundes Auge tastete immer noch durch die Baumkrone. „Es ist zu spät für einen Angriff von Hinterrücks“, sagte er mit einer Spur von Bedauern, als hätte er jemandes Plan vereitelt. Dorian, Iria und Nadim sahen sich an. Dann hörten sie ein Rascheln, das aus der Baumkrone kam. Sarik ging mehrere Schritte zurück. Eine Gestalt in einem gefleckten Mantel fiel aus den Ästen, um mit einer geschmeidigen Bewegung den Sturz abzufangen. Dorian starrte mit großen Augen auf die Gestalt. Iria wie auch Nadim hielten sich an seinen Schultern fest und blickten ebenso erstaunt die Frau an, die nun vor ihnen stand. Sie war in einen gefleckten Mantel gehüllt, der zur besseren Beweglichkeit gerafft war. Darunter erkannten sie weiche Lederstiefel, einen breiten Ledergurt um ihre Hüfte, sowie mit Leder umhüllte Armschienen an beiden Armen. Das Gesicht der dunkelhaarigen Frau wurde von ihrer wettergegerbten Haut sowie ihrem durchdringenden Blick geprägt. Dieser traf Sarik, der mit gesenkter Klinge, aber kampfbereiter Haltung, vor ihr stand. „Wie haben Sie mich entdeckt?“ fragte sie mit mehr interessierter denn feindseliger Stimme. „Die Rinde. Sie ist abgetreten, wo sie hinaufgeklettert sind.“ „So, so…“, erwiderte sie und kniff ihre Augen zusammen. Dorian sah, wie sie die Faust ihrer linken Hand ballte. Dahinter erkannte er den ein kurzes Stück aus der Armschiene ragenden Stachel. Jetzt erinnerte er sich an ihre Begegnung im Kaiserpalast. „Wenn ich sie hinterrücks töten hätte wollen, dann wäre dafür Gelegenheit genug gewesen“, äußerte sie als Anspielung auf seinen Ruf zuvor. „Und wer sagt, dass ich Sie nicht auch im offenen Kampf besiegen könnte?“ Dorians Blick wechselte zwischen der Frau und Sarik hin und her, und seine Faszination über ihr bis jetzt gewaltloses Kräftemessen verdrängte sogar seine Furcht vor ihr. „Die Gelegenheit hätten Sie vielleicht nutzen sollen“, erwiderte Sarik ungerührt. „Denn in einem offenen Kampf ist es Ihnen sicher nicht möglich.“ Er verschränkte die Arme, und die Frau lachte laut auf. Ihr Lachen kam Dorian in dem bis jetzt stillen Wald ungehörig vor. Unwillkürlich wandte er sich um. Einen Moment lang fürchtete er, sie könnten sich alleine durch dieses Geräusch ihren vielleicht schon nahen Verfolgern verraten. „Typisch Mann, typisch Soldat“, hörte er aus ihrem ausklingenden Lachen heraus. „Ihr Männer glaubt immer, eine Frau könnte euch nichts antun. Dass Sie sich da nur nicht täuschen.“ Wie um ihre unterschwellige Drohung zu unterstreichen, ließ sie den Stachel ihrer Armschiene herausgleiten. Dorian erschrak, und mit ihm Iria und Nadim, die sich nach wie vor an seine Schultern klammerten. „Ich halte es durchaus für möglich, dass mich eine Frau im Kampf schlägt“, begann Sarik, dem keine Reaktion auf diese Drohgebärde anzumerken war. „Aber Sie können mich nicht töten. Nicht in einem direkten Kampf, genauso wenig, wie ich es nun kann.“ Auf dem Gesicht der Frau wich die Erheiterung einem argwöhnischem Ausdruck, der zeigte, dass sie in den rätselhaften Worten ihres Gegenübers eine List vermutete. „Was wollen Sie damit sagen?“ „Die Escutcheons.“ Bei diesen Worten hob er seinen rechten Arm, an dem die Armschiene mit den in einem unsteten Rhythmus aufglühenden Scheiben saß. „Sie sind verändert, auch Ihrer. Sie waren auch in der Schatzkammer, in der unmittelbaren Nähe des Maleficium, als es geöffnet wurde. Es gibt nun eine Verbindung zwischen ihnen. Wir können uns im Kampf von jetzt an nicht mehr töten.“ Aufkeimendes Entsetzen glitt nun hinter die Fassade ihres zur Schau gestellten Selbstbewusstseins. Sie rang mit ihrer Fassung, und eine warnende Erinnerung schien hinter ihrer Stirn vorbeizuziehen. Brynja Peinhild überkam eine erschreckende Machtlosigkeit gegenüber diesem Mann. Schon sehr lange hatte sie so etwas nicht mehr gespürt, und sie hatte es nicht im Geringsten vermisst. Aber sie spürte, dass er recht hatte, und die Erinnerung an den Kampf mit dem wahnsinnigen Sohn des Herzogs kam in ihr Bewusstsein. Ebenso das beklemmende Gefühl der Unfähigkeit, tödlich zuzuschlagen, jene Eigenschaft, die ihr schon so oft das Leben gerettet hatte, und auf die sie so stolz war. Damals, im Kampf mit Hargfried von Lichtenfels, hatte diese Eigenschaft sie verlassen, und nun begann sie zu verstehen, warum. Ihr Blick löste sich einen kurzen Moment von dem Mann und traf ihren Escutcheon, der dasselbe rätselhafte Verhalten zeigte wie der des Mannes ihr gegenüber. Die Dinge fügten sich zusammen, ihr Zweifel schwand. Einen Moment lang verfluchte sie das Maleficium, das sie um einen Teil ihrer Selbstbestimmung, eine ihrer wichtigsten Fähigkeiten, beraubt hatte. Dann traf sie zähneknirschend eine Entscheidung. „Ihr Name war Sarik Metharom, richtig?“ Sarik nickte, wie Dorian sah, dessen Blick immer noch zwischen den Beteiligten dieser angespannten Situation hin und her wechselte. Er erinnerte sich der Waffe in seiner Hand, die er nun achtlos zu Boden hielt. Seine Gedanken gerieten durcheinander, als er für sich die Möglichkeit anriss, in einen Kampf verwickelt zu werden, und es war ihm nicht einmal gänzlich klar, auf wessen Seite er sich dann stellen sollte. So schob er diesen Gedanken wieder zur Seite und gab sich dem Vertrauen hin, dass Sarik eine unblutige Lösung finden würde. „Das ist wahr. Sarik Metharom, Offizier von Mosarria. Sagen Sie…“ Er musterte sie von Kopf bis Fuß, doch seine Haltung verlor nichts ihrer Anspannung, wie es Dorian auffiel. „Woher wussten Sie, dass ich Soldat bin?“ Die Frau stützte die Hände in die Hüften, wobei sie es geschickt vermied, sich mit ihrer Waffe selbst zu verletzen. Dabei legte sich ein erheiterter Ausdruck über ihr Gesicht. „Ein einfacher Dieb hätte sofort angegriffen. Ein Soldat hingegen… denkt immer strategisch“, sagte sie mit einem geringschätzigen Ausdruck, der sich im Wort ‚strategisch‘ ballte. Dann klarte sich ihre Miene wieder auf. „Ich bin Brynja Peinhild aus dem Herzogtum Lichtenfels. Und wer sind die drei Kinder, auf die Sie da aufpassen?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)