Das Maleficium von Rahir ================================================================================ Kapitel 34: ------------ „Aaaah!“ Mit einem blechernen Geräusch schlug sein Körper auf der Dachschräge auf. Eine Hand krallte sich um sein Handgelenk. Dieser eiserne Griff sandte einen stechenden Schmerz durch seinen Arm, doch noch schwerer wog die nun schlagartig erwachende Furcht vor dem Absturz. Seine Beine baumelten hilflos über der Waggonkante, die Hand aber zerrte ihn zurück auf das Dach. Brynja stand bei ihm und blickte auf ihn herab. Dorian saß mit an den Körper gezogenen Beinen in der Dachmitte. Jeglicher Mut hatte ihn nach diesem Ereignis verlassen, und er fühlte ihren Blick auf sich, der zu sagen schien ‚Typisch Mann‘. „Da-danke“, stammelte er. Der Schock verebbte nur langsam, ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. „Keine Ursache“, erwiderte Brynja und bedachte ihn mit einem Blick, der vermuten ließ, dass sie ihre Hilfeleistung schon wieder zu bereuen begann. Dann wandte sie sich ab und ging auf das näherliegende Waggonende zu. „Bitte warten Sie!“ Im selben Moment wunderte er sich über seine eigenen Worte. Brynja drehte sich um und sah ihn fragend an. „Danke, dass Sie mich nicht runterfallen haben lassen…“, wiederholte Dorian, dem nun nichts anderes einfiel, was er ihr sagen könnte. „Lauf hier oben lieber nicht so übermütig rum“, entgegnete sie ernst. „Es ist nicht immer jemand da, der dich dann rettet.“ „Habe ich Sie gestört? Hier oben, meine ich…“, fragte er zögernd. „Wenn du so fragst: Ja.“ „Das… Das tut mir leid.“ Brynja, dem seine aufgewühlten Äußerungen offensichtlich zu nerven begannen, verdrehte die Augen. „Ja, ja, ist ja schon gut. In dem Zug ist nun mal nicht so viel Platz, um sich immer auszuweichen.“ Sie sah sich um, als wäre ihr Zweifel gekommen, ob sie immer noch gehen wollte. Dorian, dessen Schock langsam abklang, überlegte fieberhaft, bis ihm etwas einfiel. „Sie sind gern auf Dächern, stimmt’s? Wie schon in dieser Stadt, in Brimora… Ich weiß übrigens gar nicht, warum Sie- na ja, warum Sie das hier tun.“ „Schön langsam frage ich mich auch, warum ich dich nicht einfach fallen gelassen habe“, entgegnete sie. Der Ernst auf ihrem Gesicht war nun aufgeweicht von einem schelmischen Lächeln, das selbst im Dunkeln kaum zu übersehen war. „Nein, das meine ich nicht. Ich frage mich, warum sie das Maleficium suchen“, sprach Dorian weiter, der sein früheres Selbstbewusstsein zurückerrang. „Ich meine, dieser Sarik will es für sein Land zurückholen, und dieser verrückte Hargfried redet immer von irgendwelchen Mördern, die angeblich etwas damit zu tun haben… Iria will ihre Heimatstadt damit beschützen, und, und…“ Dorian begann zu lachen. „Und Nadim ist einfach irgendwie reingerutscht. Und Sie?“ Er lächelte sie aus vollem Herzen an, und tatsächlich erweichten sich Brynjas Züge für einen Moment. „Sie müssen es mir natürlich nicht sagen…“, fügte er kleinlaut hinzu. „Und ob ich das nicht muss“, erwiderte sie streng. Doch dann lockerten sich ihre Züge wieder. Sie sah sich um, und nach einem Moment des Überlegens setzte sie sich zwei Schritte von ihm entfernt aufs Waggondach. „Wenn du es denn hören willst…“ „Klar will ich das! Schließlich sitzen wir alle im selben Boot!“ erwiderte er fröhlich. Brynjas Miene verfinsterte sich ob dieser Nonchalance, und Dorian räusperte sich. Dann blickte sie wieder über die Ebene, die an ihnen vorbeizog. „Ich habe jemanden verloren, weißt du? Es hat etwas mit den Leuten zu tun, die das Maleficium aus Mosarria geraubt haben. Sie suchen es ebenso wie wir, und es wird mich zu ihnen führen.“ „Ich verstehe…“, sagte Dorian so leise, so dass man es über das Rattern der Waggons kaum hören konnte. Er spürte, welcher Wunde in ihr sie sich mit diesen Worten näherte, und hatte Hemmungen, nach mehr zu fragen, als sie von selbst erzählen würde. „Und warum bist du hier?“ fragte sie nach einigen Momenten des Schweigens. Dorian lachte verlegen, rieb sich den Nacken und hob schließlich die Schultern. „Na ja… Ich schätze, ich bin einfach reingerutscht. Ähnlich wie Nadim.“ „Warum folgst du uns dann? Es wird noch sehr gefährlich, und es braucht schon einen triftigen Grund, sein Leben aufs Spiel zu setzen.“ „Ich- Ich habe ebenfalls jemand verloren“, erwiderte Dorian. Es kostete ihn einiges an Überwindung, es anzusprechen. „Glaube ich zumindest. Es waren noch einige Freunde mit uns, im Palast… Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist.“ „So, so“, sagte Brynja leise. Im Dunkel erkannte er ihren strengen Blick, und dieser sagte ihm deutlich, dass es ihr schwerfiel, mit einer Bande von vorwitzigen Dieben Mitleid zu empfinden. Dorian erinnerte sich an den Leichtsinn, mit dem sie in diese Tragödie gelaufen waren, und er schmerzte ihn einen Moment. Aber er erinnerte sich auch an die positiven Seiten, an ihren Zusammenhalt und die Zuversicht, die sie daraus immer geschöpft hatten. Gemeinsam waren sie stark gewesen, eine richtige Familie… Nichts hatte sie entzweien können. Bis auf das Schicksal, dessen beklemmende Gegenwart in seinen Gedanken aber nun von den wehmütigen Erinnerungen hinweggeschwemmt wurde. Er sah wieder das Haus am Bucket-Weg, die vertrauten Räume, die er mit seinen Freunden geteilt hatte. Er sah sie über Dächer eilen, vor Wachen fliehen und im Uhrturm die Beute des Tages zählen. Dorian plapperte einfach drauflos; eine Flut schöner und oft auch lustiger Erinnerungen kam in ihm hoch. Brynja blieb nichts anderes übrig, als zuzuhören, und so tat sie es. Er erzählte von den glücklichen Tagen, die er und seine Freunde unter der Obhut von Meister Yannick erlebt hatten, und je lebhafter seine Erzählungen wurden, je bunter er sie ausschmückte, desto klarer sah er sie vor Augen. Dorian nahm nun nicht mehr die von der Nacht bedeckte Ebene wahr, sondern stattdessen seine Heimatstadt, mit all ihren vertrauten Plätzen und Orten, den Gassen und Straßen, in denen er aufgewachsen war. Er sah den Ort, an dem er zurückkehren würde, eines Tages… Dorian erzählte Brynja von seinem Leben und vergaß so bald, dass sie überhaupt anwesend war. Sein Blick ging in eine Ferne, in der sein Zuhause lag, und mit der Kraft seiner Worte versuchte er die Verzweiflung zu vertreiben, dass dies alles womöglich nicht mehr existierte. Er merkte gar nicht mehr, wie die Zeit verging und dass schließlich ein orangeroter Ball langsam den Horizont mit rötlichem Dunst erfüllte und so die Nacht vertrieb. Irgendwann verstummte er und blinzelte in die Morgendämmerung. Dorian sah das Glühen der erwachenden Sonne; für einen Moment, zwischen Wachen und Träumen, sahen seine übermüdeten Augen das Meer unter der Sonne glänzen, und er wähnte sich wieder auf dem Uhrturm in Galdoria, von wo aus er so oft das Meer überblickt hatte. Wo er so oft von Abenteuern geträumt hatte, in denen niemand verletzt wurde, in denen niemand starb, und in denen niemand um einen anderen trauern musste. Er spürte die Sehnsucht, die ihn damals bewegt hatte, und er spürte sie auch jetzt. In diesem Moment, wo er halb döste und halb in den Fahrtwind hinausblickte, der seine Augen tränen ließ, da ahnte er, dass diese Sehnsucht eine Illusion gewesen war. Dorian richtete sich auf und schwankte einen Moment im Fahrtwind. Dann streckte er seine Faust der aufgehenden Sonne entgegen, als könnte er so den Mächten drohen, die auf sein Leben einen bedrohlichen Schatten warfen und denen gegenüber er sich so ohnmächtig fühlte. Brynja blickte zu ihm auf- und sah, wie er auf das Dach stürzte, als ein Treffer den Waggon erschütterte. Die Detonation warf einen blutigen Schein auf Brynjas Gesicht. Der Feuerball loderte in die Nacht hinaus und warf geisterhafte Schatten in die Wüste. Durch den gesamten Zug ging ein metallisches Ächzen, gleich den Klagelauten eines riesigen, tödlich getroffenen Tieres. „Was ist das!?“ schrie Dorian in den Fahrtwind. Auf allen Vieren kroch er über das Waggondach und starrte auf die Stelle, an der der Zug brannte. Es war ganz vorne, an der Lok, wie er sah. Brynja kauerte in der Hocke und stemmte sich gegen die Bewegung, die jetzt durch den Zug ging und das Ächzen noch verstärkte. Das Geräusch veränderte seine Tonlage und ging in ein Kreischen über, das nach langsam zerreißendem Metall klang. Die Lok war mit einem gezielten Schuss außer Gefecht gesetzt worden, ging ihr durch den Kopf, und nun waren sie ihrem Angreifer ausgeliefert. „Bleib, wo du bist!“ rief sie Dorian zu, der Anstalten machte, kopflos zu fliehen. „Aber wir müssen runter, zu den anderen!“ schrie er zurück. Aus seinen Augen leuchtete nackte Furcht. „Du bleibst, wo du bist! Rühr dich nicht vom Fleck, verdammt!“ schrie sie ihn an, und es tat seine Wirkung. Ihre aggressive Gebärde drängte seine Furcht für den Moment zurück, und die Gefahr, dass Dorian aus Panik in sein Verderben lief, war fürs Erste gebannt. Er kauerte sich auf das Waggondach und duckte sich, als müsste er einen Hieb fürchten. Derweil konnte Brynja ihre Angreifer einschätzen. Das Geräusch wurde lauter. Schließlich erkannte sie das Gefährt, das auf gleicher Höhe mit dem Zug fuhr und den Geleisen immer näher kam. Es war ein tuckerndes Ungetüm, das eine Kanone, deren Lauf noch qualmte, auf breiten Rädern durch die Wüste transportierte. Undeutlich erkannte sie Mannschaften, die auf ihr hantierten und einen weiteren Schuss vorbereiteten. Dann sah sie weitere, kleinere Fahrzeuge, die dem Größeren folgten. Auf ihnen erkannte sie die emporragenden Spitzen vielerlei Waffen, und darunter die dazugehörigen Träger, deren entschlossene Blicke sie durch die Dunkelheit hindurch zu spüren glaubte. Der Zug verlor stetig an Tempo. Ihr hin und her springender Blick sagte ihr, dass die Geschäftigkeit auf dem Kanonenwagen nachließ; ihr wurde sofort klar, was das bedeutete. „Leg dich flach hin!“ schrie sie Dorian an. Immer noch eingeschüchtert von ihren Schreien und dem Angriff, leistete er ihr folge. Kaum, dass er mit der Wange am Metall dalag, ertönte eine weitere Detonation. Wieder ging ein Schlag durch den Zug, und im Schein des Feuerballs erkannte Brynja nun die Anzahl der Angreifer. Sie biss die Zähne zusammen und ließ mit einem klirrenden Geräusch ihren Armstachel herausgleiten. Die Detonation hallte in seinen Ohren nach, als Dorian spürte, wie der Zug ruckartig zu einem Halt kam. Es kam ihm vor, als säße er auf dem Rücken eines riesigen Tieres, das von seinem Jäger eine tödliche Wunde empfangen hatte und nun, mitten im Todeskampf, strauchelte und über seine eigenen Beine stolperte. Verwirrt stand er auf und blickte sich um. Der Feuerball der aufgehenden Sonne kam ihm jetzt matt vor im Vergleich zu der Detonation, die der Lok den Rest gegeben hatte. Der Fahrtwind kühlte sein Gesicht nun nicht mehr; es fühlte sich heiß an. Er drehte sich zu Brynja um, die sich wie ein in die Enge getriebenes Tier umsah. Langsam wich die Starre seiner Erschrockenheit, und er wurde sich der Gefahr bewusst. Er hörte das Geräusch, das erklingt, wenn ein Schwert gezogen wird, und das vielfach. Wie als unwillkürliche Antwort tastete er an seiner Seite und spürte sein Schwert im Gurt hängen. „Wer sind diese Leute?“ Er zweifelte, ob sie ihm überhaupt zuhörte, doch sie antwortete mit kurzer Verzögerung. „Das werden wir sehr bald herausfinden.“ In diesen Momenten, in denen die Starre von Dorian abfiel, regte sich wieder der drängende Impuls, etwas zu unternehmen. „Wir müssen hier runter!“ rief er und deutete auf das Ende des Waggons. Aus dem Blickwinkel erkannte er, wie helle Scharen auf den jetzt stehenden Zug zuliefen. Und zwar von beiden Seiten, was seine neu erwachende Panik noch schürte. „Ich habe gesagt, warte!“ Dorian schüttelte ungläubig den Kopf und wedelte mit den Armen. Doch eine Geste von ihr brachte ihn zum Schweigen. Mitten im Zwietracht des ausbrechenden Chaos und den einschüchternden Worten Brynjas blieb ihm nichts anderes übrig, als zuzusehen, wie die kaiserlichen Soldaten aus dem Zug strömten und ihren Angreifern entgegenliefen. Die aufgehende Sonne warf lange Schatten in ihre Richtung. Sie zeichnete die Umrisse dutzender Gestalten auf die stehenden Waggons, deren Glieder Waffen schwenkten. Die Soldaten trafen mit den Angreifern zusammen, und der erste Kampfdom öffnete sich wie eine blaue Blüte. Dann noch einer, und bald war der Platz gefüllt mit rotierenden Kreisen aus blauem Licht, in denen um Leben und Tod gekämpft wurde. Das schrille Gekreische der Frauen und das Weinen ihrer Kinder schmerzte Sarik in den Ohren. Ihre Männer riefen um Hilfe oder schrien angsterfüllt Fragen hinaus, auf die niemand antwortete. Sarik drängte sich durch die Menschenmenge, die alle dem Ausgang entgegen drängten. In ihrer kopflosen Panik merkten sie nicht, dass sie dem entfernteren Ausgang entgegenrannten. Sarik bahnte sich fluchend einen Weg durch die hysterische Menge. Von draußen erklang bereits Kampflärm, aufeinandertreffende Klingen, die Schreie Sterbender. Mit dem Griff seiner Waffe stieß er die Menschen beiseite, die keine Rücksicht mehr kannten und in diesem Tumult die Kinder ihrer Mitreisenden zu zertrampeln drohten. Mehrmals zerrte Sarik ein weinendes Kind auf die Beine, das im Begriff war, unter die Füße der in Panik fliehenden Menschen zu geraten. Er hatte alle Mühe dabei selbst nicht umgerissen zu werden, und mehrmals stieß er Menschen zur Seite, die wie aufgescheuchte Tiere flohen. Endlich erreichte er den Ausgang. Die Tür stand offen, aber alle Menschen in diesem Waggon rannten in die andere Richtung, in die sie der Lärm des Kampfes trieb. Er schüttelte eine Sekunde lang den Kopf über diese Hysterie, die die Reisenden zur Bedrohung für Ihresgleichen werden ließ, und trat ins Freie. In einer ruckartigen Bewegung zog er seine Klinge. Sein gesundes Auge tastete durch das Chaos, das vor den Waggons tobte. Ringsum kämpften die unbekannten Angreifer gegen die Soldaten aus dem Zug. Die Kampfdome drängten sich immer dichter aneinander; er wusste, was gleich passieren würde. „Sie werden uns töten… Sie werden uns töten…“ Nadim kauerte auf dem Boden ihres Abteils, presste die Augenlider zusammen und stammelte immer wieder denselben Satz. Iria kniete bei ihm. „Das werden sie nicht! Und jetzt reiß dich zusammen!“ schrie sie, mit Tränen in den Augen, den völlig aufgelösten Burschen an. Ihr Blick ging immer wieder zum Fenster hinaus, wo der Kampf tobte, um dann Nadim zu treffen, der auf dem Boden kauerte. „Sie werden uns alle- “ Ein Klatschen erklang, und Nadim öffnete die Augen. Sein Gestammel erstarb; er blickte Iria ungläubig an, die ihm gerade eine Ohrfeige verpasst hatte. „Reiß dich zusammen!“ sagte sie nun leise, aber mit gepresster Stimme. Ihre Augen waren rot, eine Träne lief über ihr Gesicht. „Sonst passiert uns noch wirklich was!“ Nadim stand nun auf, und Iria ergriff seine Hand. Wie eine verärgerte Mutter zerrte sie ihn an der Hand aus dem Abteil, solange die Nachwirkung der Ohrfeige seinen Schockzustand unterdrückte. Der Gang war leer, alle Menschen waren schon aus dem Waggon geflohen. Draußen kämpften die Soldaten gegen die Angreifer, und in deren Rücken ging die Sonne auf. Einen Moment blinzelte Iria mit ihren tränennassen Augen in das warme Licht. Dann setzte sie, Nadim an der Hand haltend, den Weg fort, dessen Ziel sie selbst nicht kannte. „Jetzt.“ „Was jetzt?“ fragte Dorian, den immer noch seine Angst gelähmt hielt, mit zitternder Stimme. „Jetzt mischen wir uns ein. Die Soldaten haben die Front der Angreifer zerstreut. Vorher wäre es Selbstmord gewesen, einzugreifen.“ Brynja Peinhild breitete ihre Arme aus. Elegant wie ein Raubvogel schwebte sie in die Tiefe und rollte sich geschickt ab. Im selben Moment sah Dorian mit an, wie sich all die verschiedenen Kampfdome mit einem durchdringenden Geräusch auflösten und zu einem einzigen vereinten. 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