Beseelt von Voidwalker ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Da saß er nun. Ein einsamer Junge, der bereits in solch jungen Jahren anfing, der Verbitterung anheim zu fallen. Zweisamkeit? Ein Fremdwort! Niemand hatte sich je für ihn interessiert. Weder die Mädchen, die er hübsch fand, noch die, die er hässlich fand. Freunde hatte er auch keine. Jedenfalls keine, die auch in harten Zeiten zu ihm halten würden. Freunde hatte er, solange er sein Taschengeld darauf versetzte, andere einzuladen. Und das Taschengeld hatten ihm seine Eltern ja nun gestrichen. Überhaupt, wer waren seine Eltern eigentlich? Sicher nicht seine Eltern. Irgendwer sonst. Fremde. Wie all die anderen. Sie behandelten ihn genauso wie alle anderen. Wie Luft. Wie einen Geist. Wie nichts. Und als er nun so dort saß und sich über sein bisheriges Leben von stolzen 14 Jahren Gedanken machte, fiel ihm auf, das er einen Scherbenhaufen gelebt hatte. Und genau diese Scherben stachen ihn immer und immer wieder, um ihn daran zu erinnern, wie bescheiden sein Leben doch war. Als wenn er das nicht auch allein gewusst hätte, als wenn er das jemals hätte vergessen können. Was hatte er eigentlich außer seinem Leben? Sein Haustier? Nein. Er hatte nie eines. Die Eltern hatten es nicht zugelassen. Zu dreckig und zu teuer. Sein Zimmer! Aber das wurde von seiner Mutter ständig durchsucht, umgeräumt, neu sortiert. Manchmal fand er sich selbst darin nicht mehr zurecht. Er hatte eigene Bilder, Poster und Dekoration, aber die musste er gut verstecken. Wenn seine Mutter sie finden würde, wären sie wohl schnell im Müll. Sie hingegen dekorierte sein Zimmer immer so, wie sie es für RICHTIG hielt. Mit derzeit aktuellen Stars und seinem Alter angemessenem Spielzeug, fein säuberlich und dekorativ aufgestellt. Sein Zimmer gehörte ihm auch nicht. Da saß er nun immer noch, und nach und nach fanden die Tränen ihren Weg zu seinen Augen und darüber hinaus in sein Gesicht. Die Kerze brannte vor seinem Schreibtisch. „Jetzt oder nie!“ murmelte er leise vor sich hin. Vor ihm lag ein Stapel Blätter. Er schrieb wild darauf los. Es waren Notenblätter. Von Musik verstand er nichts, trotz allem flog seine Hand wie fremd geführt über die Zeilen. Note um Note, Notenschlüssel um Notenschlüssel, Zeile um Zeile, Blatt um Blatt. Die Noten waren für ihn keine Noten mehr, es waren Pfeile, die er auf die Ziele seiner Umgebung abschoss. Er reagierte sich an diesen Blättern ab. Schließlich war er fertig. Kein Blatt war übrig, alle vollständig ausgefüllt, bis zur letzten Zeile, bis zur letzten Note. Kein Taktstrich zuviel. Er gab die lose Blättersammlung eine Woche später seinem Musiklehrer. Dieser besah kritisch die Schrift, daraufhin den Schüler, wieder die Schrift, und schließlich sein Klavier. „Nun gut, schauen wir mal, was das ist! Ist das von dir?“ fragte der Lehrer nach. „Nein.“ antwortete er schnell. „Gut.“ Es war Pause. Noch waren kaum Schüler in dem gewaltigen Musikraum. Der Lehrer begann zu spielen. Seine Finger glitten immer schneller über die Tasten, immer mehr packte ihn die Leidenschaft beim Spielen. Die Schüler horchten auf. Andere Leute auf den Gängen, sowohl Lehrer, Schüler, als auch Fremde, vernahmen die Musik, folgten ihrem Klang in den Musikraum und blieben völlig stumm stehen. Nach und nach füllte sich der gesamte Raum. Die Musik riss sie alle in ihren Bann. Man konnte nicht anders, als ihr zu folgen, sich völlig diesen Noten zu übergeben, darin aufzugehen. Diese Musik belebte. Es war ein langes Stück. Als es zu Ende war, standen alle Schüler und Lehrer der Schule im Raum, oder aber angespannt lauschend davor. „Es ist genial!“ bemerkte der Musiklehrer entzückt. „Man spürt das Leben darin!“ rief ein Schüler. „Mehr!“ rief ein anderer. Er stand nur da, hörte den Nachklang seines Stückes und freute sich. Freute sich nicht über die Reaktionen, sondern über die Musik selbst. Freute sich über die Noten, über die Wohltat, dies gehört zu haben. Wie war ihm das nur gelungen? Die kommenden Tage waren unheimlich turbulent. Die Noten wurden herumgereicht. Zwischen den Hochschulen, zu den Realschulen, zu allen anderen Schulen der Stadt. Dann außerhalb der Stadt. Im ganzen Land. Dieses Stück verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Plötzlich tauchte ein dazugehöriger Text auf. Auch er war voller Leben. Wer ihn hörte, las, konnte nicht anders, selbst gegen seinen Willen, sie alle mussten mitsingen. Es war wie ein Feuer im Herzen. Wenn man ihm nachgab und mitsang, so wurde man dafür mit unendlicher Wonne belohnt, doch sich ihm zu versperren, brachte Schmerz, solange bis man ihm doch nachgab. Jenes Feuer griff bald auf andere Menschen über. Es wurde im Radio gespielt, doch keine passende Stimme fand sich dafür. Es war kein Stück für einen Solisten. Nur die Masse konnte diesen Text zur Geltung bringen. Ein wahrer Fanatismus rankte sich um das Lied und der Trubel wollte und wollte einfach nicht abschwächen. Egal, wie oft man es hörte, egal, wie oft man es sang, es war nie zuviel, im Gegenteil. Mit jedem weiteren Mal erhob sich das eigene Herz erneut, in einer noch größeren Euphorie, und solch ungebändigtem Leben. Was war das nur für ein Lied? Bald schon wurden Fragen gestellt. Nach dem Schöpfer dieses Werkes. Das Lied selbst wurde nie geprüft, nie angezweifelt, nie in Frage gestellt. Doch sein Schöpfer blieb verborgen. Nach einigen Wochen zeichneten sich merkwürdige Änderungen ab. Die Menschen erwachten, gingen häufiger auf die Straßen, um ihre Meinung kund zu tun, trafen sich wieder in Kaffees, um Zeitung zu lesen und Politik zu diskutieren, die Hilfsorganisationen erhielten mehr Spenden als jemals zuvor. Das Lied zog immer weitere Kreise. Große Ereignisse wurden völlig aus der Bahn befördert, und schließlich griff das Lied sogar im Kleinen. Die Menschen erwachten, wurden freundlicher zueinander, fanden ihren Zusammenhalt wieder, ihre Vernunft. Das Leben kehrte in die kalte Welt der Hektik zurück. Was war das nur für ein Lied? Er selbst saß immer und immer wieder vor dem Radio, hörte sein Lied, genoß die Noten, genoß den Gesang gewaltiger, von Leidenschaft erfüllter Chöre. Beim Singen dieses Liedes ging es nicht um Geld oder Arbeit, es ging um Leidenschaft, um Lust am Leben. Schließlich tauchten die Schlüsselbegriffe in den Medien auf. Es war die Rede von einem „vor Leben trotzendem Lied“, sogar vom „beseelten Lied“. Ein Lied, das eine eigene Seele hatte. Eine Seele voller Feuer und Freude, das ansteckend um sich griff. Nie wieder gelang ihm ein solches Lied, aber er hatte auch nie versucht, ein weiteres Lied zu schreiben. Er spürte, das DIES sein Werk war, sein Lebenswerk. Sein Vermächtnis an die Welt, bevor er wie so viele andere vor ihm als kleines Lichtlein in der großen Dunkelheit verlischt. Doch er hatte etwas gesetzt, ein Zeichen, wie man es nie vergessen würde: Er gab in tiefster, kältester Dunkelheit ein gewaltiges Feuerwerk! Hätte dieses Lied nicht auch ein Gemälde sein können? Hätte dieses Lied nicht auch ein Roman sein können? Die Künste existieren, um uns daran zu erinnern, das es mehr als nur Arbeit und Wissensdurst gibt: Das Leben selbst. Der Genuß daran. Kunst bedeutet Leben, und nur die Kunst kann uns unsterblich machen... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)