Alte und neue Bräuche zum Valentinstag von Aya_Q (überprüft im Hinblick auf Durchführungspraxis und mögliche Ergebnisse.) ================================================================================ Kapitel 1: one shot ------------------- Abgesehen von dem Zitat war ein Anstoß zu der Geschichte folgende facebook.com-Wahrsagung: Was passiert dir am Valentinstag? Aya_Q passiert folgendes am Valentinstag: Du bist einsam, zündest dir Kerzen an, schläfst ein und fackelst deine Bude ab. Ich hoffe, es ist etwas Anständiges dabei herausgekommen. Alte und neue Bräuche zum Valentinstag, überprüft im Hinblick auf Durchführungspraxis und mögliche Ergebnisse. Liebe ist wie ein Krieg: Leicht zu beginnen, schwer zu beenden, und nie zu vergessen. Melissa zog die Jacke fester um sich. Die Kälte war jetzt, Mitte Februar, immer noch eisig und auch nicht von sämtlichen Klamottenschichten aufzuhalten. Sie stapfte durch den Schneematsch, der schon halb geschmolzen war und sich mit der aufgewühlten Erde im Park zu einer schleimigen Masseverbunden hatte, dessen einzige Aufgabe wohl darin bestand, die Schuhe von unschuldigen Passanten völlig einzusauen. Melissa vermutete ein größeres Komplott mit der Schuhindustrie, beschloss aber, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Es war von Anfang an eine dumme Idee gewesen, sich bei diesem Wetter aus dem Haus zu wagen, das musste sie sich eingestehen. Normalerweise verbrachte sie die Wintermonate in einem tranceartigen Zwischenzustand, in dessen erlauf sie sich nur dann aus dem Haus wagte, wenn es sein musste, und wartete auf den Frühling. Aber sie wusste, dass sie dies tun musste. Und dafür musste sie auch Opfer bringen. #-#-#-#-#-#-#-- Mit Neun hatte Melissa ihren ersten Liebesbrief geschrieben. Das Objekt ihrer Begierde besuchte ihre Parallelklasse, die 3c. Leider war eine Verbindung über die Klassen-, und auch über die Geschlechtergrenze hinweg in der Grundschule gesellschaftlich geächtet; So konnte sie ihre leidenschaftlichen Gefühle David gegenüber nur dann ausleben, wenn er sie beim Fangen erwischte und in den Dreck warf. Obwohl ihre augenscheinliche Langsamkeit zu einigen Spottattacken führte, wusste sie selber nur zu gut, dass sie eigentlich eine der Schnellsten war. Der Liebesbrief, den sie David am 14. Februar ins Fach legte, beendete ihre kleine, dreckige Affäre relativ drastisch - denn Tobi fand ihn und hatte nichts Besseres zu tun, als das wertvolle Stück, für dessen Erzeugung Melissa nicht nur Unmengen an Kleber, Papier und Stickern, sondern auch einen ganzen wunderschönen Nachmittag verschwendet hatte, sämtlichen Klassenkameraden der 3c zu zeigen. David hielt dem sozialen Druck der Anderen nicht stand und musste sich ins Kollektiv einfügen, von dem Melissa jetzt verachtet wurde, da sie ja schließlich "verliiiiiebt" war. Geächtet und enttäuscht verging ihr erster Versuch, am Valentinstag ihren Gefühlen eine Form zu verleihen. #-#-#-#-#-#-#-- An der Ecke Klingelpütz/Viktoriastraße bekam sie wieder schneefreien Grund unter die Füße und atmete erleichtert auf. Es war keine gute Idee gewesen, vom Hansering zur Brücke laufen zu wollen, aber sie hätte sehr lange auf die nächste Bahn zum Dom warten müssen. Und bevor sie festfror, so dachte sie, war es doch besser, die paar hundert Meter schnell zu laufen. Es waren viele hundert Meter und schnell voran kam sie auch nicht. Sie folgte der Viktoriastraße, bog in die Turisstraße ab, hastete sie entlang und betrat nach kurzem Zögern die Komödienstraße. Normalerweise vermied sie dieses Gebiet und umging es weitläufig. Aber heute, dachte sich Melissa grimmig, mache ich diesen ganzen bösen Dämonen ein Ende. Sie war unterwegs, um sich ihren Ängsten zu stellen, nicht, um sie totzuschweigen. Noch einmal atmete sie tief durch, dann schritt sie kräftig aus, vorbei an der St. Andreas Kirche. Es war ja irgendwie auch lächerlich, ein Gebäude zu meiden, das – rein rational gesehen – überhaupt nichts für die Erinnerungen konnte, die sie damit verknüpfte. #-#-#-#-#-#-#-- „Denkst du eigentlich manchmal an einen anderen Menschen, und nicht nur an dich?“, schrie Melissa Felix an, der im Flur stand, den einen Schuh noch an, den anderen schon ausgezogen. Er kümmerte sich aber nicht weiter darum, sondern richtete sich auf, um mit Melissa auf einer Augenhöhe zu streiten. Also, Augenhöhe zumindest theoretisch, da er gut 20 Zentimeter größer war als seine Freundin. Melissa glich den Unterschied durch die lautere Stimme gekonnt wieder aus. „Entschuldige mal, aber nur, weil ich keine Rose mitgebracht habe... Die sind teuer, verdammt!“ „Ich habe tausendmal gesagt, dass ich eine Rose haben will, und trotzdem hast du es vergessen. Aber es geht hier doch nicht um irgendwelche Rosen, Felix, es geht darum, dass du mir nicht zuhörst!“ „Wenn es nicht um irgendwelche Rosen geht, wo liegt dann das Problem, Schatz?“ Felix zischte das letzte Wort mit so einem Hass, dass sich ein Kloß in Melissas Kehle bildete. Sie wollte nicht weinen, nicht vor Felix. Sie war sich nicht sicher, wo sie in der Beziehung gescheitert waren, oder ob man das tatsächlich an einem bestimmten Punkt festmachen konnte. Es sah immer so aus, als ob das hier für ewig halten würde. Niemand hatte es wirklich ausgesprochen, aber niemand hatte daran gezweifelt, dass die beiden, immerhin schon Mitte Zwanzig, das unstete Studentenleben hinter sich lassen und zusammen bleiben würden auf unbestimmte Zeit. Es war Felix gewesen, der noch vor ein paar Tagen – es war eine ihrer guten Zeiten, an denen sie sich verstanden und verliebt waren wie am Anfang – gescherzt hatte über eine Heirat in der St.Andreas-Kirche. „Warum da und nicht im Dom?“, fragte Melissa zurück, ohne wie sonst die Heirat rundheraus abzulehnen. Felix erklärte etwas von mangelndem Stil, und davon, dass ja alle im Dom heirateten und sie schließlich nicht alle waren und fabulierte etwas von bösen Geistern und kam schließlich zu dem Punkt, dass er in der Andreaskirche getauft und dort auch heiraten wollte. Es war nicht so, dass er einen Antrag gemacht hatte. Aber doch war Melissa irgendwie von der Annahme ausgegangen, dass sie dann doch... um das schlimme Wort „heiraten“, das sie verabscheute, zu umgehen, nun ja, zusammen bleiben würden. Aber dann kamen die schlechten Tage, die alltäglichen kleinen Probleme, die mit der Zeit immer größer wurden und zwischen ihnen eine Mauer errichteten, die sie nur hin und wieder mit Mühe und Not durchbrechen konnten. Wenn sie sagten, wie sehr sie sich liebten, und das dann auch glaubten. Aber solche Momente waren seltener geworden, immer seltener. „Das Problem bist du. Das Problem bin ich“, erklärte Melissa schließlich leise, resignierend. Die Schlacht war vorbei. Felix bemerkte die neue Gesprächsebene sofort und ein letztes Mal war da dieses tiefe, nonverbale Verständnis, das sie miteinander verband. „Du hast recht“, stimmte Felix ihr zu. „Es ist wohl besser, wenn wir es bleiben lassen.“ Er streckte die Hand aus und strich ihr über die Schulter, eine bis vor Sekunden völlig natürliche Geste, die es nun plötzlich nicht mehr sein sollte. Melissas Widerstand brach fast, doch sie bewegte sich nicht. Hätte sie es getan, dann wäre sie Felix um den Hals gefallen, hätte um Verzeihung gefleht und geweint, und das wollte sie nicht. Also blieb sie stehen. Felix ließ die Hand sinken, bückte sich und zog den einen Schuh wieder an, den er schon ausgezogen hatte. Melissa beobachtete ihn, weil sie ihn nie wieder beobachten würde. Mit jeder Sekunde wurde das Warten schwieriger, und am liebsten hätte sie ihn hinausgeworfen. Aber sie war erwachsen. Sie blieb stehen und ertrug die Schmerzen. Felix ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Als die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss fiel, sank Melissa auf den Boden und schrie und weinte. Das bloße Alleinsein machte ihr Angst. Ihre Katze Fellow strich ihr aufgelöst um die Beine und miaute klagend. Sie wusste vielleicht nicht, was passiert war, aber ihr war klar, dass Melissa so furchtbar litt wie sie selbst das eine Mal, als sie auf dem Balkon ausgesperrt worden war. #-#-#-#-#-#-#-- Melissa war nicht wirklich überrascht, dass absolut nichts passierte, als sie an der Kirche vorbeiging. Weder fuhr ein Blitz vom Himmel, noch sah sie ein bekanntes Gesicht, noch sahen die Leute ihr ihre Erinnerungen an und lachten sie aus ob der Schande. Und vielleicht war genau dieses Gewöhnliche das, was sie so enttäuschte und schockte und diese Gegend meiden ließ. Es war ihr nicht verständlich, wie die Leute einfach weitergehen, die Kirche einfach unverändert stehen bleiben konnte, nach dem, was sie in ihrem Zusammenhang erlebt hatte.. Diese Gleichgültigkeit machte ihr klar, wie unbedeutend ihr Verlust sein musste. Aber er war es nicht. Dann ließ sie die unheilvolle Kirche hinter sich und eilte weiter. Sie umrundete die Ecke des Kölner Doms, nicht ohne, wie immer, den Blick zu heben zu den verzierten, hohen Türmen des Gebäudes, beeindruckt, jedes Mal aufs Neue, dass so etwas von Menschenhand geschaffen werden konnte. Für einen Sonntag waren viele Leute unterwegs. Manchmal fragte sich Melissa, warum all diese Leute hier waren, wohin sie gingen, woher sie kamen. Sie alle hatten ihre ganz eigenen, egoistischen Gründe, und trotzdem waren sie alle zur selben Zeit am selben Ort. Einige Straßenmusiker hatten sich ihre Bühne hier eingerichtet. Ein Mann bot den Vorübergehenden Rosen an. Als Melissa in seiner Nähe war, hatte er gerade ein junges Paar angesprochen, und die Frau erwiderte auf sein Angebot trocken: „Hätte er mir jetzt noch keine Rosen besorgt, dann würd ich's ihm sicher auch nicht mehr besorgen.“ Melissa versteckte ihr Grinsen im Schal und eilte weiter, als ob sie, wenn sie nur schnell genug wäre, der eisigen Kälte entkommen könne. #-#-#-#-#-#-#-- Valentinstag sollte offiziell eigentlich eher als „Der Tag, an dem du siehst, wer das wirkliche Opfer ist“ oder so bezeichnet werden. Dank dieser netten, kleinen, lieb gemeinten „Send a rose“-Aktion, deren englischer Titel bei normal denkende Menschen schon gewisses Unbehagen auslöste. Leider artete das Ganze ein wenig aus: Es ging nicht mehr darum, Gefühle zu zeigen, sondern darum, so viele Rosen zu ergattern wie nur irgend möglich. Denn wer die meisten Rosen bekam, war am beliebtesten und somit am besten. Später, als sie die gymnasiale Mittelstufe hinter sich gelassen hatte, wurde Melissa erst die volle Bedeutung dieser Aktion bewusst: Hier wurden pubertierende Kinder zu kapitalistischen Schweinen erzogen: So konnte die Schule auf der einen Seite ihre Kasse aufbessern, indem sie die Rosen zu einem völlig überzogenen Preis anbot, und auf der anderen Seite lernten die Schüler auch schon früh den Wettbewerbsgedanken des Kapitalismus zu schätzen: Weniger als eine Rose? Glaub bloß nicht, dass dir irgendjemand noch die Hausaufgaben zum Abschreiben gibt. Oder auch nur ein Wort mit dir wechselt im nächsten Halbjahr. Melissa zog sich damals elegant aus der Affäre, indem sie einen Deal mit ihren zwei kleinen Brüdern aushandelte, die ihr dann immer Rosen schickten. Dafür musste sie zwar den Abwasch erledigen, aber das war es wert: Mit drei Rosen befand sie sich in der goldenen Mitte der Klassenhierarchie. Melissa lernte dabei: sich selber Rosen zu schenken war noch viel demütigender als keine einzige zu bekommen. #-#-#-#-#-#-#-- Über den Platz eilte sie an dem Museum und der Philharmonie vorbei. In ihrem Rücken befand sich nun der Bahnhof. War klar, dass in dem Augenblick, in dem sie an den Gleisen ankam, ein ICE an ihr vorbei rauschte und der ganzen Aktion auch noch die letzte Pathetik und Romantik nahm. Sie erreichte die Hohenzollernbrücke. Als sie an Fußweg entlang ging, langsamer nun, da sie ihr Ziel erreicht hatte, ließ sie den Blick über das Geländer streifen, an dem hier und da Vorhängeschlösser ohne einen erkennbaren Sinn hingen. #-#-#-#-#-#-#-- „Es wird lustig werden.“ „Sorry, aber das Argument hat mich jetzt doch nicht ganz überzeugt. Bei der Kälte gehe ich nicht vor die Tür, um irgendwelche Schlösser zu schließen.“ „Es ist ein italienischer Brauch“, drängte Custos weiter, inzwischen wohl etwas verzweifelt, seiner Argumentation nach. Einmal in ihrem Leben war Melissa in Italien gewesen, und die kulinarischen Vorlieben des Landes hatten sie genötigt, 2/3 ihres Urlaubs über der Kloschüssel zu verbringen. Allerdings war es in Italien warm... „Na gut“, stimmte sie Custos schließlich zu, „Aber nur, weil du mein bester Freund bist. Auch wenn ich nicht glaube, dass eine Freundschaft durch ein hässliches Vorhängeschloss beglaubigt werden muss.“ Custos machte einen Luftsprung – er zählte zu den wenigen Menschen, die das tatsächlich taten, wenn man es sagte - umarmte Melissa kurz, bevor er zur Wohnungstür stürmte und unruhig auf dem Fußabstreifer herumtrippelte, während Melissa sich ausgehfertig machte. Fellow,, lugte aus der Küche heraus skeptisch Richtung Tür. Ihr war Custos ob seiner hektischen und schnellen Bewegungen, die sie einmal vom Tische gefegt hatten, unsympathisch. Mit der Zeit gewöhnte man sich aber an sein hibbeliges Gebärden; und bekam in seiner Gegenwart immer das Gefühl, ein ruhiges und ausgeglichenes Gegenstück zu seiner Unruhe zu werden. Melissa mochte es, an seiner Seite durch die Straßen zu laufen. Bald hatten sie die Hohenzollernbrücke erreicht. Custos sprang voraus, maß das Geländer mit einem kritischen Blick und schien etwas zu suchen. Melissa folgte langsamer. Plötzlich blieb Custos stehen, und rief Melissa zu : „Hier ist es!“ Melissa trat neben ihn und schaute sich das Geländerstück an, konnte aber partout nichts Ungewöhnliches erkennen. „Was ist hier?“, fragte Melissa zurück. „Die Stelle“, hauchte Custos andächtig. Melissa war nicht ganz klar, ob sie diejenige war, die seinem Gedankengang nicht ganz folgen konnte, oder ob es gar keinen Gedankengang gab, dem man folgen konnte. „Welche Stelle?“, hauchte Melissa zurück, versuchte, Custos' andächtigen Ton zu imitieren, doch der bekam nichts von ihren Bemühungen mit, zu sehr war er in den Anblick der Stelle vertieft. Die sich, im Übrigen, in keinster Weise vom Rest des Geländers unterschied. „Unsere.“ Custos drehte sich um und strahlte, als ob er einen wertvollen Schatz gefunden hätte. Melissa fühlte für Sekunden ein schlechtes Gewissen aufblitzen, weil sie Custos' Freude über dieses indifferente, extrem hässliche und langweilige Geländerstück nicht teilen konnte. „Und wie funktioniert das jetzt?“, lenkte Melissa vom Thema ab und betrachtete das 2-Euro-Vorhängeschloss vom Obi. Custos hob es hoch, als wäre es eine heilige Reliquie. „Wir hängen das Vorhängeschloss an einen der Pfeiler und schließen es gemeinsam ab. Dann werfen wir den Schlüssel in die Fluten, dass es niemand mehr abmachen kann...“, außer der Stadtarbeiter mit den Stahlschneidern, ergänzte Melissa, „und damit besiegeln wir unsere ewige...“, Custos zögerte kurz, was umso mehr auffiel, da er sonst sprach wie ein Wasserfall, „...Freundschaft.“ „Na gut“, seufzte Melissa, ob dem zögern ihres Freundes kurz die Stirn runzelnd, „dann mal los.“ Das alles klag ja ganz einleuchtend. So einleuchtend, wie ein völlig bescheuerter italienischer Brauch eben klingen konnte. Sie knieten sich nieder und wurschtelten Schloss um Geländer und Schlüssel in Schloss. Melissa umfasste – völlig naiv, wenn sie jetzt darüber nachdachte, Custos' Hand, um den Schlüssel gemeinsam herumzudrehen. Das Schloss sollte nie geschlossen werden, denn in diesem Augenblick bemerkte Melissa, dass Custos sich nicht für das Schloss, sondern ausschließlich für sie, genauer gesagt für ihre Lippen interessierte und mit einem Mal wurde aus der bangen Ahnung unerschütterliche Gewissheit: Custos entpuppte sich gerade als Meister alter Schule, der sie auf diese – weiß Gott - nicht romantische Art verführen wollte! Sie schluckte schwer und suchte panisch nach einem Ausweg, aber es gab keinen, und schon berührten sich ihre Lippen und Custos Zunge wedelte in ihrem Mund herum wie der Schwanz eines aufgeregten Hundes. Sie versuchte sich in einer sanften aber bestimmten Art zu befreien, denn allein der Gedanke, Custos zu küssen, ließ ihr die Galle hochkommen. Nie hatte sie für einen Kerl weniger empfunden, und – Überraschung – auch sein nasses Zugengewedel änderte nichts an ihrer rein freundschaftlichen Einstellung, tausenden Liebesfilmen und Büchern zum Trotz, die das Gegenteil behaupteten. Mit einem Ruck stieß sie Custos von sich, der rückwärts auf den vereisten Asphalt fiel und sie ungläubig anstarrte. Sein Blick schmerzte, wie ein Messer in der Brust, war er so voll Schmerz. Doch sie wusste, dass sie nicht anders hätte reagieren können. „'tschudlige“, murmelte sie in ihren Schal. Custos seufzte, entschuldigte sich ebenfalls, bemerkte kurz, dass es ja ein Versuch wert gewesen sei, was Melissa mit einem müden Lächeln quittierte. Er richtete sich auf und sie versuchten, so viel von ihrer Freundschaft zu retten, wie sie konnten. #-#-#-#-#-#-#-- Dann hatte sie ihre Stelle gefunden; nun, um ehrlich zu sein, war ihr jede Stelle recht, sie waren wirklich alle gleich. Sie blieb stehen und kramte die vier Kerzen und das Feuerzeug aus der Umhängetasche. Sie war zwar schon seit ein paar Monaten Nichtraucher, aber die Feuerzeuge waren etwas, das wie die mit Teer verstopfte Lunge von ihrer Sucht geblieben war. Sie war sich nicht sicher, ob ihr Plan aufgehen würde, und war deshalb einigermaßen erleichtert, als die erste Kerze, trotz leichtem Wind, brannte und mit Hilfe von ein paar Tropfen heißen Wachses sogar auf dem runden Geländer stehen blieb. Die drei anderen Kerzen befestigte sie nach genau dem gleichen Prinzip, immer im selben Abstand voneinander. Dann betrachtete sie ihr Werk kritisch. Sie war nicht die Einzige, die das tat, ein paar Passanten verzögerten ihren Schritt, doch letztendlich war es ihnen egal, wer wo welche Kerzen anzündete. Als sie ihre täuschend echte Softairwaffe aus der Tasche holte, waren sie dann doch etwas beunruhigter und gingen weiter. Melissa dankte der Gesellschaft für die mangelnde Zivilcourage, trat ein paar Schritt vom Geländer zurück – die Gefahr, dass ihr jemand in die Schussbahn laufen würde, war ziemlich gering – hob die Waffe und zielte auf die erste Kerze. „Auf Wiedersehen, ihr Liebesbriefe. In einem Zeitalter von ICQ und youporn.com werdet ihr nicht mehr gebraucht.“ Melissa schoss. Sie war selbst fast noch überraschter als einige neugierige Passanten, als die erste Kerze langsam über den Rand kippte und in den Rhein stürzte. Sie eilte schnell die zwei Schritte zum Geländer vor und blickte der Kerze nach, sah sie aber natürlich nicht mehr. Sie nahm wieder ihre Ausgangsposition ein und zielte auf die Zweite. Aber dann zögerte sie. Das war die Felix-Kerze. Melissa ließ sie vorerst unberührt. Den hob sie sich lieber für den Schluss auf. Sie nahm also die dritte Kerze ins Visier. „Adieu, ihr kapitalistischen Blumenmafia-Schweine.“ Die Kerze fiel. Und weiter ging es in ihrer Reihe. „Tschüss, italienische Vorhängeschlösser an Brücken. Auf dass nicht nur Schlüssel, sondern auch alle Paare, deren Liebe so schwach ist, dass sie ein Vorhängeschloss brauchen, um sie zu bestätigen, ihren Tod in den Fluten sterben.“ Kerze vier stürzte. Ihr Blick glitt zurück zur zweiten Kerze, wie die letzte Überlebende einer langen Schlacht, für ein paar Sekunden ein Held. „Und mach's gut, Felix.“ Sie hob die Pistole ein letztes Mal, und schoss. Die Kerze rührte sich nicht. Langsam senkte Melissa die Hand mit der Waffe und unterstellte der Kerze böse Absichten. Sie riskierte es nicht, ein zweites Mal zu verlieren, ging zum Geländer und stieß die Kerze mit dem Schaft der Pistole, als wäre sie etwas Widerwärtiges, das sie nicht anfassen wollte, hinab. Dann beugte sie sich vor und sah ihr nach, wie sie im Rhein verschwand. Noch lange stand sie da und starrte in das Wasser hinunter, das ihr persönliches Liebesfiasko hoffentlich weit, weit fort tragen würde. Es war der 14. Februar, Valentinstag. Der Tag, der durch eine Mischung aus Legende, Aberglaube, Traditionen und Gewinngedanken der Blumenindustrie zu dem Tag wurde, an dem Menschen sich ihre Liebe zeigen. Ein Tag, der eigentlich genauso gut oder schlecht für diesen Zweck geeignet ist wie 364 andere Tage im Jahr. Oder 365 Tage, in einem Schaltjahr. Melissa beschloss für sich, sämtliche Liebesangelegenheiten in Zukunft schön über diese verbleibenden Tage zu verteilen, den Valentinstag aber tunlichst zu vermeiden. Nach einer Weile, als es langweilig wurde, in die Fluten zu starren, die stoisch ihren Weg zum Meer fortsetzten, ohne sich um die Belange derjenigen zu kümmern, die sich auf und über ihnen tummelten, wandte Melissa sich ab und trat den Heimweg an. Obwohl auch jetzt noch ein eisiger Wind pfiff, war ihr nicht mehr kalt. ------Fin ----- Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)