Moonfeelings von Skeru_Seven (Vorgeschichte des 'Mondkinder'-Zyklus) ================================================================================ Herbst 2003 ----------- Natürlich hatte Esko bemerkt, dass sich Steve in letzter Zeit anders benahm als sonst, so etwas musste man als bester Freund einfach entdecken, nur hatte er den Fehler begangen und ihn nicht darauf angesprochen. Hatte gedacht, es würde nur eine kurze Phase sein, die sich bald legte und hatte deshalb nicht sofort etwas unternommen. Aus der kurzen Phase wurden fast sechs Wochen, in denen sich Steve immer mehr zurückzog, und wenn er unter Menschen kam, verhielt er sich auffällig gereizt und aggressiv, besonders in der Schule, sodass selbst Esko nicht mehr weiter wusste und hilflos daneben stand. Einerseits hätte er ihn gerne darauf angesprochen, andererseits fürchtete er sich sogar etwas vor Steves Reaktion, die er seitdem nicht mehr genau beurteilen konnte. Würde er ihm überhaupt zuhören oder ihn gleich anfahren, dass er sich aus seinem Leben heraushalten sollte, weil er nämlich gar keine Ahnung davon hatte? Esko wollte es gar nicht herausfinden. Den genauen Auslöser für Steves seltsames und untypisches Benehmen konnte er ebenfalls nicht benennen, dafür hatte es sich zu schleichend entwickelt, aber so weit er sich erinnerte, hatte es erst nach dem Abend im Park eingesetzt, der so ganz anders verlaufen war, als es sich Esko und wahrscheinlich auch Steve vorgestellt hatten. Trotz der kühlen Temperaturen unter den Bäumen im Park war die Stimmung der Jugendlich ausgelassen, wovon Esko sich schnell anstecken ließ. Seit Wochen hatte er sich auf diesen Abend gefreut, obwohl er schon vorher wusste, dass er nur die Hälfte der Leute kennen würde, und normalerweise fand er es nicht allzu verlockend, nachts draußen herumzusitzen, aber die Hauptsache war sowieso, endlich Herbstferien zu haben und sich in der nächsten Zeit nicht mit lästigem Schulzeug herumschlagen zu müssen. Genau das feierten sie alle zusammen heute Abend. Steven neben ihm hatte wohl schon etwas zu viel von den Mixgetränken getrunken, denn er versuchte vergeblich, einen vor ihm flatternden Falter zu fangen, weil dieser ihn angeblich in die Seite geschlagen hatte. In Wirklichkeit war es Toni, der Typ neben ihnen, gewesen, aber egal wie oft Esko versuchte, das Steve weiszumachen, es brachte nichts, dieser hatte immer noch das fliegende Insekt als gefährlichen Übeltäter in Verdacht. Schulterzuckend über so viel Uneinsicht widmete sich Esko wieder seinem eigenen Becher, dessen Inhalt wirklich besser schmeckte als aussah. Normalerweise trank er keinen bis sehr wenig Alkohol, aber heute durfte man seiner Meinung nach auch einmal eine Ausnahme machen, hatte er sich erfolgreich eingeredet. Irgendwann wollte er auch einfach nur herumsitzen, mit jemandem reden und an nichts denken. Und heute war der richtige Zeitpunkt dafür. Außerdem herrschte hier doch ein kleiner Gruppenzwang, dem Esko nicht entgehen konnte, dafür hatten Toni und einige andere gesorgt, die jedem ohne Gnade Alkohol in die Hand drückten. Solange sich keiner so massiv die Kante gab, dass nachher der Krankenwagen vorfahren musste, wäre es auch nicht so schlimm. „Mir ist schlecht“, verkündete Steve irgendwann und stand deutlich schwankend von seinem Platz auf. „Was machst du?“ Eigentlich wollte Esko seinen besten Freund nicht allein in diesem Zustand durch den Park laufen lassen. Wenn etwas passierte, konnte er sich vielleicht nicht selbstständig helfen. „Muss kotzen“, informierte ihn Steve auch sofort. An Direktheit mangelte es ihn nur in den seltensten Fällen. „Komm gleich wieder.“ Mit diesen Worten verschwand er aus Eskos Sichtweite zwischen ein paar Holunderbüschen. „Sein Problem, wenn er nicht weiß, wann er genug hat.“ Sorgen um Steve schien sich Toni definitiv nicht zu machen und unbekümmert wollte er Esko schon einen neuen, vollen Becher in die Hand drücken, doch das lehnte dieser ab. Wenigstens einer von ihnen sollte sich etwas zurückhalten, sonst folgte er Steven schneller, als er es sich vorstellen konnte. Zehn Minuten später war Steve immer noch nicht zurückgekehrt und langsam begann Esko sich wieder Gedanken zu machen und entschied sich, nach ihm zu suchen. Vielleicht war ihm einfach nur schlechter gewesen, als er es zuerst angenommen hatte. Kurz gab Esko Toni über sein Vorhaben Bescheid und fing die Suche in der Richtung an, in die Steve vorhin verschwunden war, aber er entdeckte ihn nicht und auch als er nach ihm rief, erhielt Esko keine Antwort von seinem Freund. War er überhaupt hier? Zweifel stiegen in Esko auf, ob er möglicherwiese an einer anderen Stelle suchen musste, aber ein Rascheln links von ihm ließ ihn eine neue Hoffnung schöpfen; es sprach nichts dagegen, dass sich dort Steve befand. Tatsächlich entdeckte er seinen Freund neben einem kleinen Baum sitzen; soweit Esko es erkannte, drückte er seine Handfläche auf eine Stelle an seinem Hals und schien ziemliche Schmerzen zu haben, zumindest konnte man ein verdächtiges Glitzern auf seiner Wange feststellen. Normalerweise gehörte Steve nicht zu den Menschen, die besonders schnell weinten, also musste es wirklich weh tun. „He, Steve, was ist denn passiert?“ Vorsichtig streckte Esko seinen Arm aus und berührte ihn an der Schulter, worauf Steve erschrocken zusammenzuckte und versuchte, wie immer die Hand seines besten Freunds abzuschütteln und wie immer traf es Esko sehr, dass Steve sich nicht von ihm anfassen lassen wollte, aber er akzeptierte es. „Was hast du?“ „Nichts“; behauptete der Angesprochene eindeutig zu hastig und wollte sich aufrichten, nur spielte da sein Körper nicht mit und er wäre fast gestürzt, wenn Esko ihn nicht geistesgegenwärtig aufgefangen hätte. „Es ist gut, lass los.“ Steve zappelte in Eskos Umklammerung, aber dieses Mal wurde nicht auf ihn geachtet, da Esko vermutete, dass er sonst ein weiteres Mal ohne Erfolg aufstehen wollte. Entgegen seiner normalen Art ging er also der Aufforderung nicht nach, sondern ließ sich zusammen mit Steve auf dem feuchten, mit Gras bewachsenen Boden nieder und probierte ihn zu überreden, endlich die Hand wegzunehmen, damit er wenigstens ansatzweise sehen konnte, was ihn solche Schmerzen bereitete. Zwar schien der Mond nicht hell genug, um Einzelheiten zu erkenne, aber er könnte sehen, ob Steve etwas gestochen hatte oder ob er auf eine Pflanze allergisch reagierte. Durch gutes, geduldiges Zureden bewegte Esko seinen Freund soweit, dass er sich die Stelle am Hals anschauen durfte, nur anfassen blieb ihm strengstens untersagt, weil Steve ihn dann immer heftig wegstieß. Wegen der Schmerzen oder ob er es wirklich so schlimm fand, von Esko berührt zu werden, ließ sich nicht genau sagen. „Was hast du da gemacht? Das sieht echt übel aus.“ Ein normales Insekt war das sicher nicht, es sah schon eher nach einer Bisswunde oder Abschürfung aus. „Ich bin hingefallen.“Steve biss die Zähne zusammen, als Esko auch nur die Haut einige Zentimeter von der verkrusteten Stelle entfernt streifte. „Mir war so schlecht... da hab ich den Baum total übersehen und bin dagegen gelaufen.“ Dass man sich eine solche Verletzung nicht durch den Zusammenprall mit einem Stück Baumrinde zuzog, wusste Esko auch ohne medizinische Kenntnisse, aber weil er merkte, wie blass Steve inzwischen geworden war, beschloss er, sich nicht darüber zu streiten, sondern ihn lieber nach Hause zu bringen und dort zu verarzten. Da Steve schon gar nicht mehr aufstehen konnte, trug er ihn erst allein zu den anderen zurück, die gar nicht bemerkt hatten, dass sie nicht mehr vollzählig gewesen waren, und zwang schließlich Toni fast dazu, ihn zu unterstützen, seinen Freund nach Hause zu befördern. „Was macht ihr auch immer für eine Scheiße“; knurrte Toni genervt, der es gerade geschafft hatte, ein Gespräch mit seiner Traumfrau zu beginnen und sich nun bis auf weiteres hatte verabschieden müssen. „Ich lass euch nicht mehr allein da hin, wenn wieder einer kotzen oder aufs Klo muss.“ „Dummschwätzer“; murmelte Steve leise und nuschelte noch ein paar andere, wesentlich unfreundlichere Sachen über Toni, damit nur Esko sie verstand. Der Kerl konnte aber manchmal auch wirklich unpassende Dinge erzählen. „Au, hör auf!“ Mit aller Kraft schlug Steve um sich, als Esko ihm die Wunde mit Desinfektionsspray reinigen wollte. „Das brennt wie Sau.“ „Dafür kann ich doch nichts“; verteidigte sich Esko verzweifelt. Seit einer knappen Viertelstunde saßen sie in Steves Zimmer – dieser lag auf dem Bett während Esko davor hockte – und kamen kein Stück weiter. Jedes Mal, wenn Esko glaubte, dass Steve sich daran gewöhnt hatte, fing dieser an zu schreien und sich zu wehren und hatte ihn schon einmal ausversehen mit der Hand im Gesicht erwischt. „Hör einfach auf damit, morgen geh ich zum Arzt“; versprach Steve, aber auch ohne das Spray schien ihm die Verletzung zuzusetzen. Esko konnte es fast nicht mit ansehen, wie sein bester Freund litt und das schlimmste war eigentlich, dass er nichts Konkret dagegen unternehmen konnte. „Nein, vielleicht ist es bis morgen noch schlimmer und der Arzt kann es dir auch nicht wegzaubern, da wird es genauso wehtun“, argumentierte Esko dagegen an. „Der hat aber wenigstens Ahnung, was er tut!“ „Aber vielleicht... ist es bis morgen zu spät.“ Wer wusste, was sich Steve da eingefangen hatte, damit er so fürchterlich empfindlich wurde. Diese Voraussicht hatte endlich Wirkung auf Steve, denn er ließ Esko gewähren, obwohl er es kaum aushielt und ihm immer mehr Tränen über das Gesicht liefen, egal wie oft er sie wieder wegwischte. Schließlich war Esko fertig und klebte noch ganz behutsam ein Pflaster auf die Stelle, was er sofort bereute, da Steve sich so fest in sein Oberteil verkrallte, um ihm nicht noch einmal zu attackieren und sich von seinen Schmerzen abzulenken. „Steve? Geht es wieder?“ Vorsichtig nahm Esko ihn in den Arm und wartete eigentlich nur auf Proteste, doch stattdessen drängte sich Steve so nah an ihn, als wollte er sich nie wieder von ihm trennen. Esko hatte nichts dagegen, insgeheim hatte er sich das schließlich immer gewünscht. Zufrieden sank er mit ihm auf sein Bett und hielt ihn weiter fest. Von diesem Tag an hatte sich Steve zuerst von den anderen aus der Klasse und seinem Bekanntenkreis und schließlich auch von Esko abgekapselt, ohne auch nur einen Grund genannt zu haben, weshalb er nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollte. Dass setzte Esko eigentlich mehr zu als die Tatsache, dass sein bester Freund sich so zum Negativen entwickelt hatte, schließlich kannten sie sich schon mindestens acht Jahre, die natürlich nicht problemlos verlaufen waren. Manchmal hatte Esko tagelang bei Steve übernachtet, wenn er sich wieder ziemlich mit seiner Stiefmutter wegen unwichtigen Dingen gestritten hatte, manchmal verlief es auch umgekehrt, weil Steve die Streitereien seiner Eltern nicht mehr mit anhören konnte und deshalb lieber zu Esko flüchtete. Untereinander hatten sie auch öfter Meinungsverschiedenheiten gehabt, die nicht immer einfach zu beheben gewesen waren, aber immerhin hatten sie dann miteinander geredet, wenn es sich wirklich nicht vermeiden ließ. Das schlimmste, was Steve in der letzten zeit getan hatte, war eigentlich gewesen, als Esko ihn vor drei Tagen unbeabsichtigt berührt hatte; Steve war völlig ausgerastet, hatte nach ihm geschlagen und ihn angeschrien, dass er ihm nie wieder so nahe kommen sollte, sonst könnte er etwas erleben. Und diese Szene hatte nicht irgendwo bei einem von ihnen zuhause stattgefunden, sondern auf dem belebten Schulhof, vor der halben Schule, die mindestens genau entsetzt über Steves Wandel gewesen war wie Esko selbst. Steve war nie gewalttätig gewesen, er hatte es zwar in letzter Zeit immer weniger gemocht, wenn Esko ihm zu nahe kam, aber sich deswegen so aufzuführen, das hätte ihn wirklich keiner zugetraut. Das war der Moment gewesen, in dem Esko endgültig eingesehen hatte, dass es so nicht weiterging und er als eigentlich bester Freund schon längst hätte eingreifen müssen, was er nun mit etwas Verspätung auch vorhatte. Das Problem war nur, dass Steve seit dem Vorfall nicht mehr in die Schule gekommen war und Esko ihn nur ungerne zuhause aufsuchen wollte. Wer wusste, wie Steve auf sein Erscheinung und das Thema reagierte. Früher hätte Esko es gewusst, heute vertraute er auf sein Wissen nicht mehr. Trotzdem hatte er sich durchgerungen, nach dem Handballtraining, zu dem Steve genauso wenig aufgetaucht war, direkt bei ihm vorbeizuschauen. Vielleicht hielt er sich in der Anwesenheit seiner Eltern, die sicher auch schon Bekanntschaft mit seinen neuen Launen und ziellosen Aggressionen gemacht haben mussten, ein bisschen zurück. Er merkte, dass der Herbst immer mehr in den Winter überging, als er die fast leeren Straßen entlangging, da es Abend immer früh dunkel und morgens später hell wurde. Das gefiel Esko gar nicht, er mochte die Dunkelheit nicht und hatte erst gezögert, noch heute Abend sein Vorhaben in die Tat umzusetzen und nicht morgen Nachmittag, wenn noch die Sonne schien. Kurz vor Steves Haus' stockte er und spielte mit dem Gedanken, unverrichteter Dinge umzukehren, sich ins Bett zu legen und sich den alten Steve herbeizuwünschen, nur brachte das leider genauso viel wie weiter untätig im Kalten herumzustehen und zu überlegen, wie schön alles hätte sein können. Nervös drückte Esko auf die Klingel, trat von einem Fuß auf den anderen und stellte flüchtig fest, dass sich seit seinem letzten Besuch hier kaum etwas am Äußeren des Hauses verändert hatte, obwohl das schon über einen Monat zurücklag. Steves Mutter öffnete ihm die Tür. „Hallo Esko, du warst schon lange nicht mehr da.“ Ihr Gesichtsausdruck verriet ihm, dass sie genau wusste, weshalb er um das Haus einen großen Bogen gemacht hatte. „Ja.“ Näher mussten sie nicht auf das Thema eingehen. „Ist Steve da? Ich... müsste mal mit ihm reden.“ Und ihn bei dieser Gelegenheit heftig durchschütteln und anschreien, was er sich eigentlich dachte, alle und besonders ihn so verletzend zu behandeln. Hatten sie ihm etwas getan? Er konnte sich zumindest nicht erinnern, anders mit ihm umgegangen zu sein als vorher. „Nein, leider nicht.“ Steves Mutter machte einen besorgten Eindruck. „In letzter Zeit ist er kaum zuhause, vor allem abends und wenn er mal da ist, ist er richtig aggressiv und schließt sich in seinem Zimmer ein.“ Man sah ihr an, dass ihr das große Sorgen bereitete, vor allem weil sie ebenfalls keine Ursache dafür finden konnte. „Dann geh ich besser wieder:“ Zwar fiel es Esko schwer, Steves Mutter mit ihren Sorgen und Ängsten allein zu lassen, dafür kannte er sie zu lange, andererseits wollte er nicht ewig diskutieren, wieso alles so war, wie es war. Dafür fehlten ihm die Nerven. Auf dem Nachhauseweg, als er eine Reihe Kleingärten hinter sich gelassen hatte, kam ihm schlagartig eine unangenehme Überlegung: Was, wenn Steve es gemerkt hatte, was er versucht hatte, seit Jahren so gut es ging zu verschleiern? Es wäre eine logische Schlussfolgerung und auch der Grund, weshalb er nicht wollte, dass er ihn anfasste oder ihm sonst irgendwie zu nah kam. Welcher Junge wollte denn auch gerne erfahren, dass der beste Freund mehr sein wollte als nur bester Freund? Und welcher Jungs konnte damit locker umgehen? Wahrscheinlich die wenigstens und Steve gehörte wohl leider nicht dazu. Ohne Vorwarnung packte ihn jemand an der Jacke und riss ihn nach hinten, sodass Esko vor Überraschung gar nicht reagieren konnte und rückwärts auf dem Boden aufschlug, wo er völlig benommen und mit grässlichen Kopfschmerzen liegen blieb. Was sollte das werden? Ein Schatten sprang über ihn und platzierte sich schließlich so auf seinem Oberkörper, dass sich Esko nicht aufrichten und auch nicht die Arme bewegen konnte. Zuerst erkannte er wegen der Dunkelheit nicht, um wen es sich handelte, aber als er begriff, wer hier so unsanft mit ihm umging, war der Schock umso größer. Steve, sein Steve, um es etwas provokant zu formulieren, drückte ihn alles andere als rücksichtsvoll auf die Steine unter ihm und blickte ihn wütend an. Die Verletzung an seinem Hals war immer noch nicht verheilt, sie schien sich kein Stück verbessert zu haben; außerdem war Steve, soweit Esko es erkannte, noch blasser als sonst und in seinen Augen funkelte ein seltsamer Glanz, der auf ihn ziemlich unheimlich wirkte. „Steve...“ Esko wusste gar nicht, was hier vor sich ging. „Was soll das? Lass mich los.“ Der Boden war unbequem, kalt und sicher unglaublich schmutzig, da wollte er sich nicht länger in dieser Position aufhalten. „Vergiss es“, fauchte Steve ihn wütend an und hielt ihm einfach den Mund zu, um weiteren Widerstand im Keim zu ersticken. „Du hörst mir jetzt zu, kapiert?“ Ängstlich starrte Esko zu seinem Freund hinauf und traute sich nicht, auch nur den Kopf zu bewegen. Steve wirkte so anders, so fremd, allein dieser Überfall auf ihn passte gar nicht zu ihm, und er hatte immer noch nur wage Ideen, welcher Grund dahinter steckte. „Die ganze Zeit hat es dich ja auch nicht interessiert, was mit mir war, oder hast du mal nachgefragt? Wahrscheinlich tust du nur auf besorgten Freund, um jemanden zu haben, bei dem du dich später wider ausheulen kannst, wenn deine dumme Stiefmutter wieder austickt.“ Zwar nahm Steve seine Hand von Eskos Mund, dafür packte er ihn an den Schultern und schüttelte ihn heftig durch, sodass sich Esko einige Male den Kopf auf dem Pflaster anschlug und nur ein schwaches Jammern von sich geben konnte. „Willst du wissen, warum ich plötzlich so gereizt und aggressiv bin, Esko?“ Schlagartig ließ Steve von ihm ab, beugte sich über ihn und schob seine Oberlippe ein wenig nah oben. Im ersten Augenblick erkannte Esko gar nichts außer einer Reihe Zähne, aber für ein menschliches Gebiss erschienen sie ihm irgendwie nicht richtig, vor allem der Eckzahn war zu spitz. „Was... was hast du gemacht?“ Panik ergriff ihn ungewollt. „Ich hab gar nichts gemacht“, fuhr Steve ihn an. „Ich hatte einfach nur Pech, ich kann gar nichts dafür.“ Grob zerrte er Eskos linken Arm zu sich, streifte den Ärmel der Jacke ein Stück nach oben und biss ihn in das Handgelenk. Ein heftiges Stechen durchzuckte Esko und reflexartig wollte er sich aus Steves Griff losreißen, aber dieser war stärker und saugte mit einer Hingabe ihm das Blut aus der Stelle, dass ihm fast schlecht wurde. „Weißt du jetzt, was los ist?“, erkundigte sich Steve schließlich leise. „Oder lebst du immer noch in deiner kleinen, dummen Illusionswelt, die dir vorspielt, dass alles wieder normal wird?“ Darauf konnte Esko ihm nicht antworten, die Vermutung klang zu abwegig, um zutreffend zu sein. Was auch immer Steve ihm hatte damit demonstrieren wollen, es konnte nicht da sein, was ihm gerade durch den Kopf geisterte und sich nicht vertreiben ließ. „Du bist kein Vampir“, flüsterte Esko ängstlich vor sich hin, „das ist unmöglich.“ „Ist es nicht. Im Park, da hat mich dieser verdammte Idiot gebissen und ist abgehauen, als er dich gehört hat. Ich dachte erst, dass wäre nur einer von diesen Verrückten, die glauben ein Vampir zu sein und sich deswegen cool fühlen, aber als ich irgendwann keinen Hunger mehr hatte und nicht mehr schlafen konnte, war ich mir da nicht so sicher.“ „Aber du warst draußen, an der Sonne“, rief Esko ihm verzweifelt in Erinnerung. „Und du bist nicht verbrannt.“ „Noch nicht, es hat aber scheiße weh getan, wenn ich in die Sonne gesehen habe, sogar wenn das dumme Licht nur in mein Zimmer geschienen hat.“ Steves Finger krallten sich um Eskos Arm. „Weißt du eigentlich, wie es ist, genau zu wissen, dass du eigentlich tot bist und jeden Moment umfallen könntest, weil man gar nicht mehr lebt?“ Seine freie Hand strich durch das Blut, das auf Eskos Jacke tropfte. „Wie es ist, wenn du weißt, wenn der Mensch, der dir am wichtigsten ist, irgendwann sterben wird und du in tausend Jahren immer noch auf diesem Planeten hockst und dich allein fühlst?“ Nein, das konnte sich Esko nicht vorstellen; er war nur ein Mensch und würde irgendwann sterben, was man von Steve wohl nun nicht mehr behaupten konnte. „Das ist richtig mies.“ Ohne Vorwarnung beugte sich Steve ganz nah zu ihm und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf den Mund. „Ich will nicht, dass du erwachsen wirst und ich nicht. Ich will nicht, dass du alt wirst und ich nicht. Ich will nicht, dass du stirbst und ich an deinem Grab stehe, aussehe wie heute und Brandon verfluche, weil er keinen anderen Dummen gefunden hat, den er zum Vampir machen konnte.“ Von diesem Geständnis fühlte sich Esko wie gelähmt, er konnte weder den Kuss erwidern, etwas dazu sagen noch Steve mitteilen, dass es ihm Leid tat, wie sich alles entwickelt hatte, obwohl er nichts davon beeinflusst hatte. „Deshalb habe ich nur eine Möglichkeit. Wahrscheinlich wird sie dir gar nicht gefallen, aber weil dir das Ganze hier sicher auch nicht gefällt, macht es ja keinen großen Unterschied“, erklärte Steve sachlich, der wohl annahm, dass Esko nie im Leben seine Gefühle erwidern würde. „Tut mir Leid, dass ich dir gleich weh tun werde, aber du wirst es hoffentlich verstehen. Das leben ist halt hart.“ Seine Hand griff in seine Hosentasche und beförderte ein Taschenmesser heraus, das er aufklappte und Esko an den Hals drückte. „Besser im Tod vereint als durch die Ewigkeit getrennt, findest du nicht auch?“ „Nein, Steve, hör auf“, versuchte Esko ihn mit vor Angst versagender Stimme zu überzeugen. Wieso tat sein Freund so etwas? Wieso wartete er nicht erst einmal seine Reaktion ab, bevor er gleich solchen drastischen Maßnahmen ergriff? Er wollte nicht genau dann sterben, wenn er endlich herausgefunden hatte, dass seine störenden, kleinen Gefühle nicht umsonst gewesen waren. „Ich will das nicht! Ich will mit dir zusammen weiterleben, verdammt noch mal und wenn es sein muss, auch als Vampir.“ Hauptsache, er konnte bei Steve sein. „Warum?“ Völlig verwirrt von dieser Aussage zog Steve das Messer zurück und wartete auf die Antwort. „Rate.“ Er musste einfach merken, dass er das nicht nur als Freundschaftsbeweis meinte, sondern dass sich noch viel mehr dahinter verbarg. „Nein...“ Auf Steves Gesicht spiegelten sich die widersprüchlichen Gefühle deutlich wider. „Du Arschloch! Warum hast du nie etwas gesagt?“ Seine Stimme zitterte verräterisch. „Dann hätten wir uns dieses idiotische Theater sparen können, dann hätte ich nicht jedes Mal so überzogen auf dich reagieren müssen. Du bist ein bescheuerter Egoist, ich hasse dich, damit du es weißt!“ Schluchzend vergrub er sein Gesicht in Eskos Jacke. „Du bist so unbeschreiblich dumm...“ Trotz der harten Worte wusste Esko genau, dass Steve das Gegenteil meinte, seiner angestauten Wut über das sinnlose Versteckspiel allerdings Platz schaffen musste. Es musste auch nicht einfach für ihn gewesen sein, festzustellen, nie mehr ein normales Leben führen zu können und die Person, die man am liebsten hatte, ständig abweisen zu müssen, um sich nicht selbst zu verraten. „Ist schon okay.“ Natürlich nahm er es ihm übel, gebissen und mit einem Messer bedroht worden zu sein, aber er wollte Steve nicht noch zusätzlich ein schlechtes Gewissen machen. Später war immer noch Zeit, ihn deshalb zur Rede zu stellen. „Und du würdest wirklich für mich zum Vampir werden?“, fragte Steve zaghaft, nachdem sich sein Gefühlsausbruch etwas gelegt hatte. „Das hast du nicht nur gesagt, damit ich dich nicht kalt mache?“ Musste er auf diese Frage antworten? Esko fand es jedenfalls nicht nötig, sondern lächelte Steve einfach nur leicht an. „Danke, Esko. ich... liebe dich.“ Ein kurzer Kuss auf die Stirn. Ein starker Stich in der Halsgegend. Der Schmerz und die aufkommende Schwärze um ihn herum machten Esko keine Angst. „Esko, bist du wach?“ Die harten Steine hatten sich in ein weiches Bett gewandelt und ein wenig verwirrt sah sich Esko um. Steve hatte ihn wohl zu sich nach Hause getragen und ihn umgezogen. „Bin ich jetzt auch tot?“ Immerhin hatte Steve ihn gebissen. „Du bist jetzt einer von uns“, erklärte ihm eine fremde Stimme von der anderen Seite des Raums. „Herzlichen Glückwunsch.“ „Brandon, das ist nicht zum Feiern“, kritisierte Steve leise. „Er hat es nur wegen mir getan. Wie fühlst du dich?“ Seine Hand tastete über Eskos Gesicht. „Es geht.“ Eigentlich spürte er im Moment gar nichts, vielleicht ein Zeichen seines neuen Zustands. „Was ist passiert?“ „Du liegst seit zwei Tagen hier und schläfst.“ Brandon kam endlich in Eskos Sichtweite. Sein vampirisches Wesen erkannte man höchstens an der hellen Haut, der Rest sah unerwartet durchschnittlich aus. „Jetzt bist du wach, also ist die Veränderung abgeschlossen und du kannst mit uns kommen.“ „Was?“ Was auch immer Brandon erzählte, Esko konnte es noch nicht ganz nachvollziehen. „Wohin? Ich geh jetzt erst mal nach Hause, meine Eltern werden sich Sorgen machen, weil ich ihnen nicht gesagt habe, wo ich bin.“ Das musste ihm doch einleuchten. „Und dann lebst du dein restliches unendliches Leben bei deinen Eltern, die natürlich nicht merken, dass du nicht mehr der Esko wie vor zwei Tagen bist. Junge, denk doch mal nach!“ Brandon seufzte leise über so viel Gedankenlosigkeit. „Du hast gesehen, wie es bei Steve war und so wird es bei dir auch sein, wenn du weiter hier bleibst. Ihr müsst beide weg, irgendwann fangt ihr außerdem an, Blut zu trinken und dann wird es gefährlich für eure Freunde und Familie. Ich habe ein paar Freunde, die euch sicher aufnehmen könnten.“ „Du meinst, wir sollen einfach abhauen?“ Damit hätte Esko gar nicht gerechnet. „Ja, es ist wirklich besser für euch. Ihr solltet lieber dort sein, wo auch andere Vampire wohnen, das macht es für euch leichter, euch an euer neues Leben zu gewöhnen euch zurechtzufinden, falls etwas ist.“ Brandon schien damit Erfahrung zu haben. „Und ohne uns zu verabschieden verschwinden?“ Das wurde immer besser, warum hatte Steve ihm nichts von diesen Konsequenzen verraten? Sicher, weil er wusste, dass Esko sich dann nicht mehr so spontan für diese Lebensform entschieden hätte. „Sonst würden sie euch zwingen zu bleiben und solche Sachen, hab ich alles schon erlebt. Kommt, ihr habt euch und das ist die Hauptsache. Außerdem bezweifele ich, dass eure Eltern euer neues Verhältnis zueinander besonders toll finden werden“, argumentierte Brandon ungerührt weiter. Ein Zurück war unmöglich, das sah Esko ein, je länger er sich mit dem Gedanken beschäftigte. Natürlich würde es hart für sie sein, nicht mehr mit ihren Eltern, Freunden und Verwandten in Kontakt stehen zu können, aber Brandon hatte Recht, Steve und er hatten sich gegenseitig und da war mehr, als sie jemals gehofft hatten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)