Seelensplitter von Moonprincess ================================================================================ 9. Kapitel: Schicksal --------------------- Anzu hob zögernd ihre Hand, dann nahm sie all ihren Mut zusammen und drückte auf den Klingelknopf unter dem Namensschild, auf dem „Kawai“ stand. Die Tür des vierstöckigen Mietshauses war offengestanden, also war Anzu gleich hinein und in den zweiten Stock gelaufen. Einen Fahrstuhl gab es hier nicht. Ungeduldig trat sie von einem Bein aufs andere während sie abwartete. Hoffentlich war Shizuka daheim und nicht, wie so oft in letzter Zeit, abends noch zum Lernen zu einer Kommilitonin gegangen. Anzu ärgerte sich, daß sie ihr Handy in der Eile im Krankenhaus hatte liegen lassen und sie hatte vergessen, Honda zu bitten, ihr doch kurz seins zu leihen, damit sie Shizuka anrufen könnte. Krankenhaus... Das Wort klang bitter. Wieder einmal würde sich ihrer aller Leben in einen Kampf ums Überleben verwandeln. Erneut drückte Anzu auf die Klingel als sich nichts tat. „Shizuka?“ rief sie durch die grüngestrichene Tür. „Ich bin’s, Anzu. Es ist dringend!“ Sie lauschte angestrengt und tatsächlich! Sie war sich sicher, Stimmen gehört zu haben. Hatte Shizuka Besuch? „Shizuka?“ versuchte Anzu es erneut, aber wieder kam niemand zur Tür oder antwortete wenigstens. Ihr wurde flau im Magen. Was, wenn Tenghe oder einer ihrer Helfershelfer sich auch noch Shizukas Seele holen wollte? Soweit Anzu wußte, war Shizuka nicht gerade die beste Duellantin. Hastig kramte Anzu in ihrer Handtasche nach dem Notfallschlüssel für Shizukas Wohnung, den sie Jonouchi abgenommen hatte, bevor er ins Krankenhaus gefahren worden war. Sie hatte daran gedacht, falls Shizuka nicht da war, kurz in die Wohnung zu gehen und dieser einen Zettel zu hinterlassen. Jetzt schien der Schlüssel ihr die letzte Möglichkeit, Unheil von Shizuka abzuwenden. Zweimal verfehlte Anzu vor lauter Zittern das Schlüsselloch, beim dritten Mal gelang es ihr, ihn hineinzuschieben, und sie drehte ihn im Schloß herum. Langsam und mit klopfendem Herzen öffnete sie die Tür und spähte in das Halbdunkel des Flurs der kleinen Zweizimmer-Wohnung. „Shizuka?“ wisperte Anzu so leise, daß sie selbst es nicht hören konnte. Sie schloß leise und vorsichtig die Tür hinter sich, dann schlich sie zum Wohnzimmer. Daraus hörte sie nämlich ein leises Gemurmel. Von der Angst geleitet, jemand könne in diesem Moment Shizuka etwas antun, riß Anzu einfach die Wohnzimmertür auf. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, fiel ihr die Kinnlade hinunter. *** „Paps? Bist du hier drin?“ Itoe schob zuerst ihren Wuschelkopf in blond, schwarz und magenta durch die Tür des Lagers, dann folgte ihr stark gerundeter Bauch. „Ja!“ rief Sugoroku und stand mit einem leise Ächzen auf. „Ich sortiere gerade die neue Ware. Was gibt es denn, mein Mädchen?“ Itoe kam zu ihm und grinste. „Ist das neue...“ „Nein, ist es nicht.“ Sugoroku lachte. „Du bist immer so ungeduldig, wenn du auf ein neues Spiel wartest.“ „Hab ich von dir geerbt“, erwiderte Itoe augenzwinkernd und musterte die gut bestückten Lagerregale. Ein goldener Glanz stach ihr plötzlich in die Augen. Neugierig wie eh und je schob sie ein paar Packungen Reisespiele beiseite, bis sie ein goldenes Kästchen sehen konnte. Vorsichtig hob Itoe es aus dem Regal und musterte das mit vielen Hieroglyphen und dem Auge des Horus verzierte Gold bewundernd. „Das hier kenne ich ja gar nicht! Was ist das?“ „Das habe ich von einer meiner Ägyptenreisen mitgebracht. Ich habe es aus dem Grab eines Pharaos der achtzehnten Dynastie“, vertraute Sugoroku seiner Tochter an. „Das ist ja aufregend.“ Itoe öffnete das Kästchen und nahm ein ebenfalls mit dem Auge des Horus verziertes Goldstück von merkwürdiger Form heraus. „Es sieht aus... wie ein Puzzle!“ „Es ist auch eins. Wer es zusammenfügt, der soll danach über magische Kräfte gebieten können und ihm wird ein Herzenswunsch erfüllt.“ Sugoroku nahm Itoe das Kästchen ab, damit sie sich das Puzzleteil in ihrer Hand besser ansehen konnte. „Schade, daß ich mit Puzzles schon immer auf Kriegsfuß stehe“, erwiderte Itoe und lachte. Dann hielt sie das Puzzleteil an ihren Bauch. „Schau mal, mein Kleiner! Ist das nicht hübsch?“ „Sag mal, haben du und Masao eigentlich schon einen Namen für ihn ausgesucht?“ erkundigte Sugoroku sich. Schließlich würde es bald soweit sein. „Wir schwanken noch. Bis jetzt habe ich noch keinen Namen gefunden, der paßt“, entgegnete Itoe. „Aber wir finden schon was, nicht wahr, mein Kleiner?“ Sugoroku könnte schwören, daß das eng an Itoes Leib gepreßte Puzzleteil golden aufleuchtete, aber als er blinzelte und wieder hinsah, war das Leuchten verschwunden. Er mußte es sich eingebildet haben. Itoe runzelte dafür auf einmal nachdenklich die Stirn. „Obwohl... Warum habe ich daran nicht früher gedacht? Ich glaube, ich nenne den Kleinen Yugi. Das ist doch ein schöner Name für einen Muto. Oder was meinst du, Paps?“ „Stimmt, das wäre ein guter Name.“ Sugoroku grinste. „Wenn er Masao gefällt...“ „Ich mach ihn ihm schon schmackhaft“, versicherte Itoe und beide lachten, war es doch ein offenes Geheimnis, daß Masao seiner Zukünftigen nichts abschlagen konnte. Man mußte aber auch hinzufügen, daß sie das nicht ausnutzte. Dann sah Itoe auf die Uhr. „Ich muß losfahren. Ich wollte Masao vom Krankenhaus abholen. Er hat zwei Schichten nacheinander geschoben und muß hundemüde sein.“ Sie ließ das Puzzleteil zurück in das Kästchen fallen. „Was lassen sie ihre Assistenzärzte auch so schuften? Ich weiß wirklich nicht, wie ihr zwei euch das antun könnt.“ Itoe lachte. „Weil wir Menschen helfen wollen, darum. Mach es gut, Paps. Bis später!“ Sugoroku betrachtete sinnend die Lagerregale. Die Unterhaltung hatte er vor ungefähr einundzwanzig Jahren mit Itoe geführt. Eine fast endlos lange Zeit. Er konnte sich noch so gut daran erinnern, weil Yugi nur drei Tage später das Licht der Welt erblickt hatte, ein winziges Kerlchen mit den Haaren seiner Mutter und den Augen seines Großvaters. Nachdem Itoe und Masao den Autounfall gehabt hatten, der ihnen das Leben gekostet und den Yugi selbst nur wie durch ein Wunder überlebt hatte, hatte Sugoroku seinem Enkel das Millenniumspuzzle geschenkt. Er hatte gehofft, die Herausforderung würde Yugis Schmerz wenigstens etwas lindern und wie es aussah, hatte er damit auch Recht behalten. Zwar hatte Yugi acht Jahre gebraucht, um das Rätsel zu lösen, aber sein Schatz, wie er das Puzzle beharrlich genannt hatte, hatte sich wirklich als Schatz herausgestellt. Sugoroku kannte das Herz seines Enkels nur zu gut und ihm war das Strahlen in Yugis Augen nicht entgangen, wenn der von seinem anderen Ich erzählt hatte. Als jemand, der viel gesehen und erlebt hatte, gab es kaum noch etwas, das Sugoroku erschüttern konnte und daß sein Enkelsohn sich in einen männlichen Geist verliebt hatte, war eine der Sachen, die ihn bestimmt nicht aus der Ruhe bringen würden. Nein, wenn er daran dachte, was Yugi nach dem Autounfall hatte durchmachen müssen, war er für jedes bißchen Glück, das seinem Enkel zuteil geworden war, dankbar gewesen. Das Läuten der Ladenglocke schreckte Sugoroku aus seinen Gedanken. Der Laden hatte schon seit Stunden zu und außer ihm hatten nur Yugi und Honda, der ab und an aushalf, einen Schlüssel. Er ging zur Tür und sah in den Laden. „Ah, Honda!“ Er ging zu diesem und lächelte. „Was machst du denn noch hier?“ Honda sah fertig aus und seine Lippen hatte er zu einem dünnen Strich zusammengepreßt. „Jonouchi ist im Krankenhaus“, antwortete er schließlich. Sugoroku ergriff sanft Hondas Arm und führte diesen zu dem Stuhl, auf dem er sich sonst während der Geschäftszeiten ein Päuschen gönnte. „Was ist passiert?“ erkundigte er sich besorgt. „Seine Seele wurde gestohlen.“ Und Honda verbarg seine Augen hinter einer zitternden Hand. *** Anzu traute ihren Augen nicht, aber auch nach mehrmaligem Blinzeln verschwand die äußerst ungewöhnliche Szene nicht. Auf dem zweisitzigen blauen Sofa saß ein Mann und Shizuka saß, inzwischen rot angelaufen und ebenso erstarrt wie Anzu, auf seinem Schoß. Aber es war nicht der Fakt, daß Shizuka einen Freund hatte, schließlich war sie neunzehn Jahre alt, nein, es war die Identität des Freundes, die Anzu die Sprache verschlagen hatte. „K-kaiba!“ brachte sie schließlich hervor und starrte ebendiesen fassungslos an, während er sie lediglich verächtlich musterte. „Schon mal von Privatsphäre gehört?“ zischte er verärgert. „Oder merkt ihr Hirnis einfach nie, wenn ihr stört?“ „Anzu, was... was machst du hier?“ Shizuka rutschte von Kaibas Schoß. „Shizuka, es geht um Jonouchi“, erklärte Anzu, nachdem sie sich einigermaßen gefaßt hatte. „Was hat er jetzt wieder angestellt?“ Kaiba verschränkte beide Arme vor der Brust und erdolchte Anzu mit seinen Blicken. „Seto, bitte! Er ist mein Bruder. Ich weiß gar nicht, warum ihr beide euch immer streiten müßt“, rügte Shizuka ihn, dann sah sie erneut abwartend zu Anzu. Anzu trat zu Shizuka und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. „Er ist im Krankenhaus“, erwiderte sie leise. Blässe überzog Shizukas eben noch so rosiges Gesicht. „Hatte er einen Unfall?“ Schnell sprang sie auf und begann, Schlüssel, Handy und Geldbörse in eine kleine Handtasche zu stecken. „Nein, es ist...“ Anzu suchte nach den richtigen Worten, doch zu ihrer Überraschung half ausgerechnet Kaiba ihr. „Es war ein Spiel der Schatten“, erklärte er düster bevor er aufstand. „Ich fahr dich zum Krankenhaus, Shizuka“, fügte er hinzu. Anzu war viel zu verblüfft, um noch ein Wort hinauszubringen und so saß sie wenig später mit Shizuka und Kaiba im Fond einer Limousine. Es hätte sie brennend interessiert, wie ausgerechnet Kaiba und Shizuka zueinandergefunden hatten oder warum Kaiba plötzlich an die Spiele der Schatten glaubte, wo er doch früher über diesen Hokuspokus, wie er Magie genannt hatte, nur die Nase gerümpft hatte. Aber jetzt war keine Zeit für diese Fragen. Kaiba starrte stur geradeaus und Shizuka hatte sich zitternd an seinen Arm geklammert. *** Yugi starrte mit hinter dem Kopf verschränkten Armen an die Decke über seinem Bett. Atems Geschichte hatte ihn bis in den Schlaf verfolgt und ihn schließlich wieder aufgeweckt. „Alles in Ordnung?“ erklang Atems verschlafene Stimme neben Yugis Ohr. Mit einem Atem halb zugedrehten Gesicht erwiderte Yugi: „Ich kann nur nicht schlafen. Und du?“ „Dasselbe.“ Atem rutschte näher zu Yugi und legte einen Arm über dessen bloßen Bauch. „Zu viele Erinnerungen.“ „Das dachte ich mir“, entgegnete Yugi leise und nahm Atems Hand in die seine. „Wolltest du nicht an dem Zauber weiterarbeiten?“ „Ich habe soviel geredet, daß mir jetzt der Schädel brummt. Aber ich konnte trotzdem nicht aufhören. Kennst du das Gefühl, daß du etwas unbedingt erzählen mußt, weil du sonst platzt?“ „Ja. Hat der Druck jetzt nachgelassen?“ Atem nickte nachdenklich. „Sag mal, wie lange brauchst du eigentlich für so einen Zauber? Du arbeitest schon eine ganze Weile an diesem und...“ „Diese Art von Zauber muß so gut es geht auf die Person zugeschnitten sein, auf die er wirken soll. Das heißt, ich muß bei Maliks Suchzauber wieder von vorne anfangen. Dazu kommt noch, daß Tenghe sicher Schutzzauber hat, damit man sie eben nicht aufspüren kann, und die muß ich auch erstmal knacken.“ „Du hörst dich an wie ein Computerhacker“, erwiderte Yugi und mußte leise lachen. „Ich bin ziemlich gut mit Computern, aber so gut auch wieder nicht.“ Atem richtete sich etwas auf und betrachtete Yugi mit einem Lächeln. Er hob die Hand von Yugis Bauch, um damit über Yugis Wangen zu streicheln. „Ich hatte immer das Gefühl, mir würde etwas Essentielles fehlen, während ich im Puzzle versiegelt war.“ Yugi wurde rot. „Hast du mit mir gesprochen, während du im Puzzle saßt? Ich könnte nämlich schwören, daß ich eine Stimme aus den Puzzleteilen gehört habe, als ich noch klein war.“ „Ich habe tatsächlich versucht, mit dir zu reden“, gab Atem zu. „Aber nach einer Weile gab ich es auf, da ich dachte, du könntest mich nicht hören.“ Er küßte Yugis warme Wangen und stützte seine Stirn auf Yugis, während er seinem Liebsten tief in die Augen sah. Yugi konnte seinen Blick nicht von Atems emotionsgeladenen Augen wenden. Sein Herz klopfte und sein Mund war trocken. Wie konnte es sein, daß Atem ihn so lieben konnte? Wie konnte er selbst Atem nur so lieben? Manchmal war ihm, als würde er träumen und er wurde von der Angst geplagt, irgendwann einmal aufwachen zu müssen, nur um festzustellen, daß er noch in Edfu war und daß Atem nicht zurückgekommen war. „Ich habe dich gehört“, antwortete er schließlich leise. „So langsam glaube ich, daß ich weiß, warum nur ich das Puzzle lösen konnte.“ „Weil du es mir versprochen hattest und weil ich so sehr darauf gehofft hatte.“ Atem lächelte und küßte Yugi zärtlich und lange. Zumindest solange bis ein helles Licht von Yugis Nachttisch aufstrahlte. Atem setzte sich auf und starrte auf den Handspiegel, den Yugi dort deponiert hatte. „Jemand versucht uns zu erreichen.“ Yugi war mindestens ebenso überrascht und stemmte sich hoch. „Wer kann das sein?“ Vielleicht war es ja Isis. Atem zuckte mit den Achseln und nahm den Spiegel. Das Gesicht, das ihm und Yugi daraus entgegen blickte, hätte keiner von beiden erwartet. *** „Hier, trink erstmal einen Schluck Tee!“ Anzu reichte Shizuka einen dampfenden Becher, den diese mit einem dankbaren Nicken annahm. „Und sie haben euch nicht zu ihm gelassen?“ fragte Honda, der es sich auf der grünen Couch im Wohnzimmer der Mutos gemütlich gemacht hatte. „Das ist schon ein starkes Stück.“ „Es ist spät“, erklärte Sugoroku. „Die Besuchszeiten sind doch längst vorüber. Du kannst Jonouchi sicher gleich morgen früh besuchen, Shizuka.“ „Das hoffe ich“, erwiderte sie leise und umklammerte den Teebecher, bis ihre Handflächen sich gefährlich röteten. Kaiba, der neben ihr saß, nahm ihr den Becher ab und stellte ihn auf den Couchtisch. „Ich werde ihn in mein MediZentrum bringen lassen“, erklärte er kühl. „Meine Leute haben mit so etwas mehr Erfahrung als die Ärzte des Domino Hospitals.“ „Danke.“ Shizuka lächelte ihn an. Kaiba winkte ab. „Ich brauche ihn ja noch als schlechtes Beispiel“, erwiderte er kurz. Shizuka rollte mit den Augen. Anzu verstand diese Beziehung wirklich nicht, aber einmischen würde sie sich nicht. Es war Shizukas Sache, ebenso wann sie ihren Bruder darüber aufklären wollte. In Anzus lebhafter Vorstellung war Jonouchi bereits dabei, Kaiba anzuschreien und ihm Prügel anzudrohen. Und das war noch das beste Szenario. Shizuka war indessen aufgestanden und wanderte nervös auf und ab. „Was ist passiert? Warum hat mein Bruder ein Spiel der Schatten gespielt? Wo sind die anderen?“ Sie machte eine ausschweifende Geste und warf dabei einen Stapel Papiere vom Couchtisch. „Oh, Verzeihung, Herr Muto!“ „Ach, nicht so schlimm, mein Kind. Ich habe die Sachen heute morgen geschickt bekommen, hatte aber noch keine Gelegenheit, sie mir anzusehen, deshalb liegen sie noch so ungünstig in der Gegend herum“, erklärte Sugoroku gutmütig. „Ich heb sie schon auf“, entgegnete Shizuka höflich und kniete sich hin, um die verstreuten Papiere wieder einzusammeln. Anzu und Honda derweil erzählten Shizuka und Kaiba, was in den letzten Stunden vorgefallen war. Als sie geendet hatten, sahen sie abwartend zu Shizuka, die noch immer auf dem Boden kniete, die Blätter auf ihrem Schoß. „Shizuka?“ Kaibas Stimme hörte sich erstaunlich sanft an. „Es geht schon, Seto“, erwiderte sie leise und wischte sich Tränen aus den Augen. „Das ist mein großer Bruder. Immer für andere da.“ „Wir werden ihn retten.“ Hondas Gesichtsausdruck war entschlossen. „Sobald Atem und Yugi sich wieder melden, sagen wir ihnen, was passiert sind und bitten sie, sofort zurückzukommen.“ „Gut“, erwiderte Shizuka hoffnungsvoll und stand auf. „Wie funktioniert das eigentlich, wenn sie sich melden?“ „Also wir sehen sie dann in dem Spiegel da“, erwiderte Honda und deutete mit dem Daumen darauf. „Irgendwas war da, daß man an die andere Person, die man quasi anrufen will, denken muß.“ „Verstehe. Sagt mal... Habt ihr eine Erklärung dafür?“ Damit hielt sie ein großes Hochglanzfoto hoch, das sie vom Boden aufgesammelt hatte. Sie sah verwirrt aus. „Das... das ist doch...“ Anzu mußte sich auf die Couch setzen. „Nicht noch so ein Bild meines angeblichen früheren altägyptischen Lebens!“ stöhnte Kaiba. „Schau genauer hin! Das Mädchen, das hinter dir sitzt, sieht genauso aus wie Shizuka“, rief Honda verwundert. Sugoroku nahm Shizuka das Bild ab und studierte es. „Wer hat dir das geschickt, Großvater?“ fragte Anzu. „Das war Arthur! Also Professor Hopkins.“ Sugoroku nahm Shizuka noch die restlichen Papiere ab und sah sie sich ebenfalls genau an. „Er hat mit seinem Team einen Tempel, der der Göttin Sachmet geweiht ist, unter Wüstensand in der Nähe Luxors, also des damaligen Thebens, ausgegraben.“ „Und was haben Shizuka oder ich damit zu tun?“ Kaiba zog Shizuka neben sich und legte einen Arm um ihre Schultern. „Das Bild zeigt einen der Bauherren des Tempels“, fuhr Sugoroku unbeirrt von Kaibas giftigem Tonfall fort. „Laut der Hieroglyphen-Inschrift handelt es sich um Pharao Set I. und seine Große Königsgemahlin Mert, geliebt von Set, gesegnet mit Sanftmut und Güte, wärmende Sonne des Palastes.“ „Soll das heißen, daß ich und Mert... dieselbe Person sind?“ „Shizuka... Du solltest dich lieber ausruhen. Was mit Jonouchi passiert ist...“ Shizuka unterbrach Kaiba einfach: „... hat damit zu tun, ist es nicht so? Damit, was damals in Ägypten geschehen ist.“ „Das ist doch alles nicht rational!“ argumentierte Kaiba. „Glaubst du jeden Mist, den du siehst?“ „Du solltest wissen, daß dem nicht so ist“, erwiderte Shizuka kühl und verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber dein Verhalten ist kindisch! Vorhin hast du zugegeben, daß es Spiele der Schatten gibt und jetzt machst du wieder eine Kehrtwende?“ „Nur weil diese Frau dir ähnlich sieht, heißt das noch lange nicht, daß du ihre Wiedergeburt bist oder sonst so einen metaphysisch-esoterischen Quark.“ Kaibas Stimme war kalt. „Der Mann sieht dir aber auch ähnlich. Das ist doch schon ein sehr großer Zufall, das es zwei Liebespaare gibt, die einander so ähnlich sehen“, schoß Shizuka zurück. „Für mich bist du Shizuka Kawai, Medizinstudentin, und nicht Mert, eine Große Königsgemahlin aus der Pharaonenzeit.“ Nun verschränkte Kaiba mit einem verächtlichen Schnauben die Arme vor der Brust. „Darum geht es doch gar nicht!“ warf Honda ein, dem der Hickhack zuviel wurde. „Shizuka will nur wissen, ob das mit den aktuellen Geschehnissen mit Tenghe zusammenhängt.“ „Das stimmt“, pflichtete Shizuka erleichtert bei. „Nicht, daß wir wüßten“, antwortete Anzu. „Aber wenn, dann müßte Atem es wissen.“ „Das sollte er wohl“, warf Sugoroku ernst ein. „Laut den Hieroglyphen war Mert nämlich eine seiner Nebenfrauen, bevor er starb.“ Vier Paar Augenbrauen schossen in die Höhe. „Ich oder Mert oder wie auch immer... war mit ihm verheiratet?“ quiekte Shizuka fassungslos und sah zu Kaiba, der auf einmal noch mürrischer aussah. Anzu sah, daß Shizuka zitterte. Das alles war zuviel für diese. „Shizuka, du solltest...“ „Nein, ich will wissen... Wenn ich einmal in einem früheren Leben mit Atem verheiratet war...“ Shizuka faßte sich an die Schläfen, während Tränen über ihre Wangen rollten. „Haben sie dann Jonouchi wegen mir geholt?“ Sie sprang auf und rannte zu dem Spiegel. Verzweifelt starrte sie auf die glänzende Oberfläche, die ihr nur ihr eigenes Gesicht zeigte. „Atem!“ rief sie und preßte eine Hand gegen das Glas. „Atem, hörst du mich?“ Bevor noch irgend jemand etwas sagen konnte, erglühte Shizukas Hand auf dem Spiegel in weißem Licht und das Bild zeigte plötzlich eine mit Hieroglyphen bemalte Wand. Kaiba stand vor Überraschung senkrecht und beobachtete, wie das Bild, das sie alle sahen, sich verlagerte, bis zuerst Atems und dann Yugis Gesicht im Spiegel erschien. Shizuka nahm überrascht die Hand vom Spiegel. Es war klar, daß sie auf dieses Ergebnis gehofft, aber es nicht erwartet hatte. „Yugi? Atem? Seid das wirklich ihr?“ „Ja, Shizuka“, erwiderte Yugi verwirrt. „Aber wie hast du uns erreicht?“ „Ich... ich hab es einfach probiert.“ Shizuka schniefte. „Jonouchi wurde überfallen und... und...“ „Er verlor seine Seele in einem Duell“, unterstützte Anzu, die hinzugetreten war, ihre Freundin. „Was?“ riefen Yugi und Atem entsetzt im Chor. „Ein Kerl, der sich Snake nannte, hat sie... verschlungen.“ Anzu erklärte kurz, was diesen Abend geschehen war und schloß auch die Entdeckung von Shizukas Doppelgängerin mit ein. „Warst du wirklich mit dieser Mert verheiratet, Atem?“ mischte Kaiba sich ein. „Es ist auch schön, dich wiederzusehen“, erwiderte Atem kühl. „Wir werden sofort zurückkommen.“ „Das ist keine Antwort auf meine Frage!“ „Ich bin schwul. Noch Fragen?“ Atem hatte eine Augenbraue gehoben und musterte Kaiba durchdringend. Als dieser schwieg und den Kopf fortdrehte, blickte er zu den anderen. „Wir beeilen uns. Und wenn ihr Mai seht, haltet sie unbedingt auf!“ Shizuka sah Atem verweint an. „Sag mir, haben sie Jonouchi geholt, weil du... weil du mal mein Mann warst?“ Honda mischte sich ein: „Das denke ich nicht. Dieser Snake klang viel eher so als wäre er an dir, Atem, und an Mai interessiert.“ „Da ist ja noch eine Sache...“ Anzu sah Honda an. „Mai hat doch auf einmal in einer anderen Sprache gesprochen und Snake nannte sie... ich glaube es war Marilita. Jedenfalls sehr fremdländisch.“ Atem hörte aufmerksam zu. „Wer auch immer Snake ist, er weiß, daß Mai Marilitas Wiedergeburt ist. Ich werde es euch erklären, wenn wir bei euch sind.“ Sein Bild im Spiegel verlosch und ließ die Gruppe im Wohnzimmer der Mutos ebenso verwirrt zurück wie zu Anfang des Gesprächs. „Ich... ich muß was trinken“, erklärte Shizuka und flüchtete sich in die Küche. Ein gräßliches Knacken ertönte und der Strom war weg. Alle standen plötzlich mit pochendem Herzen im Dunkeln. „Shizuka?“ Seto stürmte mit wehendem Mantel in die Küche und stieß sich dabei am Küchentisch die Hüfte. „Ah!“ „Ich bin hier, Seto.“ Mit einer Hand am Hals und ängstlichem Gesichtsausdruck trat Shizuka zu ihm aus dem Dunkeln. „Gehen wir besser ins Wohnzimmer.“ Sie nickte und folgte ihm. „Hoffentlich kommen Yugi und Atem bald.“ Anzu stellte Kerzen auf und zündete sie an. Sugoroku war derweil in den Keller gegangen, um nach den Sicherungen zu sehen. „Ich hätte wirklich gerne eine Erklärung, schließlich... Shizuka?“ Honda sah verwirrt zu ihr. Shizuka stand mit gesenktem Kopf im Wohnzimmer und krallte ihre Hände in ihren Strickpullover. Dann hob sie den Kopf. Ein böses Lächeln spielte um ihre Lippen. Dann öffnete sie ihre Hand und heraus fiel ein kleines Säckchen, das einen penetranten Weihrauchgeruch verbreitete. „Gute Nacht, ihr Idioten!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)