Vertrauen und Verrat von Seira-sempai ================================================================================ Kapitel 32: Eine Frage des Gewissens ------------------------------------ „Livi will deinen Vater umbringen.“, flüsterte Kian mit schwacher Stimme. Ich erstarrte. Mein gesamter Körper verkrampfte sich und meine Atmung ging Stoßweise als ich das nasse Tuch von meiner Stirn riss und mich aufsetzte. „S- sag dass das nicht wahr ist.“ Mein bester Freund schüttelte seinen Kopf. „Ich wünschte, ich könnte.“ „D- dann halte sie auf.“, verlangte ich und meine Stimme klang leicht panisch. Ich wollte nicht, dass meinem Vater etwas passierte. Den Grund verstand ich selber nicht. Vielleicht hatte ich noch nicht ganz mit ihm abgeschlossen und er war noch eine wichtige Person für mich, zumindest vermutete ich das. Aber ich verstand das nicht. Soweit ich wusste, hasste ich meinen Vater, für das was er Kian an getan hatte. Erst als ich den geschockten und verletzten Blick meines besten Freundes sah, begriff ich, was ich gerade von ihm forderte. Schuldbewusst starrte ich auf den Boden, unfähig ihm noch länger in die Augen zu sehen. „Es tut mir Leid....“ „Das muss es nicht.“, antwortete Kian mit zitternder Stimme. Hatte er Angst? Unterdrückte er seine Wut? Oder hatte ich ihn mit meinen Worten verletzt? Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht, wie ich mich jetzt verhalten sollte. Fast instinktiv legte ich meine Hand auf die Schulter meines besten Freundes. „Du musst das nicht tun, wirklich. Ich weiß, wie schwer es dir fällt, du-“ Er unterbrach mich. „Alec! Dein Vater ist dir nicht gleichgültig. Du kannst es nicht von mir verbergen. Ich weiß es. Du wünschst ihn dir zurück, du vermisst ihn. Und genau aus diesem Grund werde ich nicht zulassen, dass ihm die anderen etwas tun. Ich würde alles tun, wenn du mich darum bittest.“ „Ich weiß...“, murmelte ich, „Und genau aus diesem Grund will ich das nicht. Du musst das nicht tun. Ich weiß, wie sehr du darunter leidest. Deshalb kann ich das nicht von dir verlangen, egal wie sehr ich es mir wünschte. Es wäre dir gegenüber nicht fair. Ich habe schon zu viel von dir verlangst, viel zu viel. Wegen mir hast du dich gegen deine Familie und deine Freunde gestellt und kannst jetzt nicht mehr zurück. Es wird Zeit, dass ich die Verantwortung für mein egoistisches und selbstsüchtiges Handeln übernehme.“ Kian schüttelte seinen Kopf. „Du hast egoistisch gehandelt, das kann ich nicht abstreiten und ich habe wirklich darunter gelitten. Aber das hätte ich auch, wenn du mich hättest gehen lassen. Dann wahrscheinlich noch mehr. Hier geht es mir viel besser als es im Rudel der Fall war. Für mich ist es also ein Vorteil, dass du mich quasi gezwungen hast, dein Freund zu bleiben. So schlecht das vielleicht auch klingen mag. Nur durch dich habe ich die Wahrheit über den Tod meiner Eltern erfahren und weiß jetzt endlich, dass ich mich von meinem Großvater nicht herumkommandieren lassen muss.“ Ich verstand nicht, was Kian damit meinte. Ging es ihm im Rudel wirklich so dreckig? Ich hob langsam meinen Blick und fixierte Kians Gesichtszüge, um zu sehen, wann er log. „Du hast tagelang das Bett nicht mehr verlassen und kaum geredet. Dir ging es wirklich miserabel. Und jetzt sagst du mir allen Ernstes, dass es vorher noch schlimmer gewesen war?“ Mein bester Freund nickte, bevor er zögerlich lächelte. „Du hast keine Ahnung. Ständig hat mein Großvater seine Wut nach Lust und Laune an mir ausgelassen und ich konnte mich nicht wehren. Er hätte dir sonst etwas angetan oder dich sogar umgebracht. Jahrelang hatte ich Angst, dass er sein Wort hinter meinem Rücken brechen würde oder es schon gebrochen hatte. Du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert ich war, als ich dir an diesem Abend über den Weg gelaufen bin, als ich gesehen habe, dass du noch lebst und dass es dir gut geht. Am liebsten wäre ich dir um den Hals gefallen.“ „Du hast mich eiskalt abgewiesen!“, warf ich schwach lächelnd ein, „Ich dachte echt, dass dir unsere Freundschaft nichts mehr bedeutet.“ „Ich weiß. Aber das solltest du auch.“, kam es ruhig von Kian. „Idiot.“ Ich seufzte. „Mach nie wieder so einen Blödsinn. Sonst hasse ich dich am Ende wirklich noch. Viel hat nicht mehr gefehlt. Wärst du gegangen, ohne die Kette weiter zu beachten, hätte ich das garantiert.“ „Ja.“ Jetzt lachte Kian. „Aber keine vierundzwanzig Stunden später wärst du tot gewesen.“ „Wie lange willst du mir das noch vorhalten? Das war eine bescheuerte Idee. Ich habe es kapiert! Wirklich, du brauchst nicht länger darauf herumzureiten.“ „Noch eine Weile.“, zog mein bester Freund mich auf, bevor sein Gesichtsausdruck wieder ernst wurde, „Und keine Angst, ich passe schon auf, dass deinem Vater nichts passiert.“ „Danke.“, sagte ich und meinte es auch so. Die nächsten Tage zogen sich in die Länge. Die ganze Zeit über musste ich im Bett liegen und abwarten, dass meine Grippe wieder besser wurde. Doch diese wollte mir den Gefallen scheinbar nicht tun. Jedenfalls verschwand sie nicht einfach wieder und meine Genesung zog sich fast zwei Wochen in die Länge. Aber es war nicht so, dass ich nach den zwei Wochen wieder in die Schule gehen konnte. Nein, Deans Bruder hatte mich noch eine dritte krank geschrieben, da er der Meinung war, ich wäre noch nicht wieder völlig gesund. Also im Klartext: Ich würde die Schule dieses Jahr nicht wieder betreten, da wir in drei Wochen Weihnachtsferien hatten und eine Woche später schon Silvester war. Na toll. Hoffentlich war ich bis dahin wieder gesund. Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Es schneite, schon wieder. Inzwischen lag das weiße Zeug sicher schon zwanzig Zentimeter hoch. Nicht dass mich das besonders interessierte, aber wenn ich daran dachte, wie viel Schnee ich schippen musste, wenn es so weiterging, wurde mir schlecht. Zum Glück hatte Kian das für mich in den letzten Tagen übernommen. Ich konnte es ja nicht einfach so ausfallen lassen. Dann bekam ich Ärger mit meinen Nachbarn und dem Mieter. Im schlimmsten Fall warf er und aus der Wohnung. Während meiner Krankheit hatten Kian und Livi sich fast schon zu gut um mich gekümmert. Alice war fast jeden Nachmittag, Wochenende auch vormittags, vorbeigekommen und hatte den beiden beigebracht, wie man Tee kochte und Essen zubereitete. Jetzt brachte Kian schon einmal Nudeln, Reis, gebratenes Gemüse und Fertiggerichte zustande. Olivia hatte sogar noch ein wenig mehr gelernt. Außerdem hatte Alice ihrem Cousin ein wenig Nachhilfe im Lesen gegeben. Gleich am zweiten Tag war sie mit ihrem Lesebuch aus der ersten Klasse aufgetaucht und hatte ihn quasi gezwungen, ihr daraus vorzulesen. Und auch wenn es ihm nicht aufzufallen schien, er machte Fortschritte. Gerade las er den beiden Mädchen eine kurze Geschichte aus dem Buch vor. Ich starrte an die Decke, bevor ich mich langsam aufsetzte und das Bett verließ. Zwar hatte Kian es mit verboten, doch das ignorierte ich. Vorsichtig ging ich zu meinem Schrank, bevor ich mir eine dünne Jacke herauszog, in meine Hausschuhe fuhr und in die Küche lief, mich mit einem Arm an der Wand abstützend. Sofort unterbrach mein bester Freund seine momentane Aktivität und sah besorgt in meine Richtung. Die Mädchen folgten seinem Beispiel. Darauf achtend, dass ich mich nicht überanstrengte, ging ich auf sie zu und setzte mich auf den einzigen noch unbesetzten Küchenstuhl, gegenüber von Kian, zwischen Alice und Olivia. „Lasst euch nicht stören. Macht einfach weiter.“ Zu meiner Überraschung nickten die drei nur, bevor sie tatsächlich fortfuhren. Keiner beschwerte er sich über mein leichtsinniges Handeln. Sie nahmen es einfach als Tatsache hin, oder aber sie vertrauten mir, dass ich mich nach einer Weile ohne Aufforderung wieder ins Bett legte. Nun, das hatte ich nicht vor, außer meine Gesundheit streikte so lange, bis ich nachgab. Aber so lange mein zustand sich nicht verschlechterte, sah ich keinen Grund mehr darin, weiterhin ans Bett gefesselt zu sein. Ich hörte Kian zu, während er vorlas, ohne wirklich darauf zu achten, fast als wäre es nur ein Hintergrundgeräusch. Unauffällig beobachtete ich Kian und Alice, um feststellen zu können, ob die zwei sich inzwischen näher gekommen waren. Doch ich wurde enttäuscht. Sie schienen nur noch gute Freunde zu sein. Olivia schien mein Blick aufgefallen zu sein. Sie grinste mich wissend an. „Ich glaube, aus den beiden wir nichts mehr.“, flüsterte sie und fing sich einen wütenden Blick von ihrem Cousin ein, der sie aber sofort danach wieder ignorierte. Seufzend griff ich mir an den Kopf, bevor ich in gleicher Lautstärke antwortete. „Das habe ich bemerkt. Fragt sich nur, wie lange die beiden das durchhalten.“ Der nächste wütende Blick meines besten Freundes folgte, den ich kurzerhand ausblendete. Ich wusste, Kian war nicht wirklich wütend, ihm gefiel nur unser Gesprächsthema nicht so gut. Manchmal war er echt ein mieser Schauspieler. Doch darüber war ich oft sehr froh. Denn dann wusste ich wenigstens, was gerade in ihm vorging, da er nur selten darüber sprach. Livis Grinsen wurde noch breiter, als sie sich in meine Richtung beugte und mir ins Ohr flüsterte: „Was meinst du, sollten wir die zwei mal wieder zu einem Date zwingen?“ Ich nickte. „Keine schlechte Idee.“ „Das habe ich gehört!“, kam es in einem gereizten Ton von Kian, woraufhin wir nur lachten. „Sinn und Zweck der Sache.“, entgegnete ich locker, woraufhin er schnaubte und das Lesebuch zuschlug, „So macht das keinen Sinn. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren.“ Alice kicherte leise, sagte jedoch nichts dazu. Wahrscheinlich hielt sie es für besser, zu schweigen, oder aber sie traute sich einfach nicht. Jedenfalls nahm sie meinem besten Freund das Buch ab und legte es auf den Schrank, bevor sie sich dem Herd widmete und zu meiner Überraschung begann, zu kochen. Olivia sprang auf, um ihr zu helfen. Kian lächelte schwach, bevor er in meine Richtung sah. „Geht es dir wieder besser?“ Ich nickte. „Eigentlich könnte ich morgen wieder in die Schule gehen. Aber leider hat mich Deans Bruder noch bis Weihnachten krank geschrieben. Na ja, verpassen werde ich dadurch nicht so viel. In der letzten Stunde vor Weihnachten schauen wir in den meisten Fächern eh einen Film an oder machen irgendwelche dummen Spiele. Und auf das kann ich auch verzichten.“ Mein bester Freund lachte. „Bin ganz deiner Meinung. Außerdem ist es nicht so langweilig. Ich mag es nicht besonders, den ganzen Tag allein in deiner Wohnung zu sein.“ Seufzend sah ich meinen Gesprächspartner an. „Das weiß ich. Aber ich kann deswegen auch nicht einfach die Schule schwänzen. Das würde Ärger mit den Lehrern geben.“ „Ich weiß.“ Kian sah mich verstehen an. „Und umso schöner ist es, dass du jetzt Ferien hast.“ Diesen Satz ignorierend bildete sich ein hinterhältiges Grinsen in meinem Gesicht. „Weißt du, wenn dir während meiner Abwesenheit so langweilig ist, dann kannst du gerne meine Aufgaben im Haus übernehmen und Schnee schippen, die Flure kehren und wischen und die Fenster im Flur putzen. Und wenn du damit fertig bist, dann bring doch bitte meine Wohnung in Ordnung. Das sollte dich den ganzen Vormittag beschäftigen und wenn du danach immer noch Langeweile hast, dann koch doch einfach das Mittagessen. Wann ich nach Hause komme, müsstest du inzwischen wissen und fall nicht: Mein Stundenplan hängt am Kühlschrank. DU brauchst also nur nachzusehen.“ Kian klappte der Mund auf und er starrte mich fassungslos an. „I- Ist das dein Ernst?“, fragte er ungläubig, bevor er wütend wurde. „Ich bin doch nicht deine Putze.“ „Aber dir ist langweilig.“, entgegnete ich ruhig, „Ich versuche nur, dich während meiner Abwesenheit zu beschäftigen…“ „Nein. Du versuchst, dich vor deinen Aufgaben zu drücken.“, warf mir Kian an den Kopf. Ich lachte. „Das zusätzlich. Aber dann müsste ich das nicht mehr machen, wenn ich aus der Schule komme und hätte demzufolge mehr Zeit für dich.“ Mein bester Freund sah mich beleidigt an. „Alles Ausreden. Du bist nur zu faul, es selbst zu machen. Und weil kein anderer da ist, der dir die Arbeit abnimmt, muss ich herhalten.“ Anstatt auf die Anspielung einzugehen, nickte ich einfach nur. „Schlau kombiniert. Nur leider wird dir das nichts nutzen. Ab heute lerne ich dich für meine Aufgaben an und wenn nächstes Jahr die Schule wieder losgeht, dann kannst du sie ohne meine Hilfe.“ „Und was, wenn ich nicht will?“, kam es leicht wütend von Kian. Ein überlegenes Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. „Du hast schon lange genug als Schmarotzer in dieser Wohnung gelebt. Wird Zeit, dass du mir endlich mal hilfst.“ Darauf sagte Kian nichts mehr. Ich hatte einen wunden Punkt getroffen. Er wusste, ich hatte Recht. Über drei Monate lebte er jetzt schon hier, ohne etwas dafür zu tun. Es war nur fair, wenn er einige von meinen Aufgaben übernahm. Außerdem waren es nicht zu viele. Sie würden maximal ein bis zwei Stunden pro Tag beanspruchen. Und diese Zeit konnte Kian sicher locker entbehren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)