Aus einem ewigen Leben von Alix ================================================================================ Kapitel 5: Schrift Fünf: Entscheidung ------------------------------------- Der darauf folgende Tag verlief ruhig. Wir wanderten nicht mehr weiter, da Lira der Meinung war, dass es wir nah genug an dem Dorf lagerten. Niemand hatte dagegen Einwände. Das einzige was uns allen zu schaffen machte, besonders Kelly und mir, war das es Lira immer schlechter ging. Sie musste sich viel öfter hinlegen und spuckte beim Husten Blut. Sie klagte und jammerte nicht. Nahm es hin so wie es war. Auch Ebony war erstaunlich ruhig. Ich bezweifelte, dass Lira überhaupt die notwendige Kraft aufbringen konnte um zu kämpfen. Gegen Mittag, Lira hatte sich wieder hinlegen müssen, kam Kelly zu mir und setzte sich neben mich. Wir schwiegen uns lange an und erst als Lira plötzlich wieder einen kurzen Hustenanfall bekam, sich aber schnell wieder beruhigte, sprach sie. „Weißt du Chiyo, am Anfang mochte ich dich nicht. Ich wusste nicht, ob ich dir vertrauen konnte. Das war sehr nervenaufreibend. Aber jetzt schätze ich dich sehr, so wie Lira und Ebony.“. Das freute mich. Ich hatte zwar keine Ahnung, was man an mir schätzen konnte, aber es freute mich, dass sie es tat. „Lira wird morgen sterben. Das weiß sie. Das weiß Ebony. Wir alle wissen es. Auch wenn du uns doch wider erwarten helfen solltest. Sie ist einfach nicht mehr stark genug um zu kämpfen.“. Tief in mir hatte ich es gewusst. Ich hatte gewusst, dass Lira sterben würde. Aber niemanden schien das hier traurig zu machen. Warum? War ihnen Lira doch egal? Und warum machte es Lira nichts aus, dass alle sich einen Dreck darum kümmerten, dass sie starb? Ich wollte länger in ihrer Gegenwart bleiben. Ich wollte weiterhin in diese Gruppe gehören und auch weiterhin mit ihnen reisen, essen und Spaß haben. Kelly sah kurz zu Lira und Ebony hinüber. „Lira war immer wie eine kleine Schwester für mich. Es hat wahnsinnigen Spaß gemacht mit ihr herumzureisen. Sie hatte immer gute Laune, egal wo wir gerade waren, egal was uns gerade passiert war, Sie hat uns alle immer wieder hochgezogen wenn wir gefallen waren.“. Vielleicht war Lira ihnen doch nicht so egal. Ich hörte weiter zu und spielte dabei ein bisschen mit einem Grashalm. „Vor ein paar Jahren, haben wir ein kleines Mädchen gefunden. Jäger hatten ihre Eltern und Geschwister getötet und sie wanderte alleine in der Weltgeschichte herum. Von den Stadtbewohnern wurde sie gemieden und auch die anderen Kinder wollten nichts mit ihr zu tun haben. Sie war ganz auf sich gestellt. War verbittert und viel zu zynisch für ihr Alter. Lira hat sie mitgenommen.“. „Wo ist sie denn jetzt?“. Neugierig sah ich Kelly an. Die lächelte leicht. „Wir haben sie bei einem Ehepaar gelassen, das sich schon immer ein Kind gewünscht hatte, aber keins bekommen konnte. Sie haben sich sehr gefreut.“. Sie verstummte wieder. Eine Weile blieb alles still. „Sie hat mir mal gesagt, dass Lira Steine auffängt die einen treffen könnten.“. Gedankenvoll sah ich sie an. Das waren große Worte für ein kleines Mädchen. „Sie war bestimmt ein liebes Kind.“. Kelly nickte zustimmend. „Ich verurteile dich nicht dafür, dass du uns nicht helfen willst. Das würde ich an deiner Stelle auch nicht tun. Menschen haben dir viel angetan, aber ich will auch nicht, dass du verbitterst. Menschen sind nicht alle gleich. Es gibt wenige die so sind wie Lira, aber es gibt immer wieder welche, die versuchen so zu sein. Die sich anstrengen nett zu sein und es auch irgendwann mal werden. Sie versuchen nicht voreingenommen zu urteilen. Nach solchen Menschen solltest du suchen. Sieh nicht nur die Schlechten. Suche die, die versuchen zu verstehen.“. Ich nickte. So hatte sich das noch nie gesehen. Klar, es gab schlechte Menschen, wahrscheinlich eine ganze Menge, aber es gab auch nette. Es gab Menschen wie Lira und Dee. Man musste nur die Augen offen halten. Ich sah zu Lira. Sie wälzte sich unruhig hin und her. Ihr Fieber musste wieder gestiegen sein. „Was hat sie denn?“. „Das wissen wir nicht. Wahrscheinlich eine Grippe. Sicher sind wir uns nicht.“. Kelly stand wieder auf. „Wenn Lira stirbt, dann verschwindet auch Ebony. Sie ist ja an Liras Energie gebunden. Etu wird wahrscheinlich wieder abhauen, genau wie ich. Ich war nur hier, wegen Lira. Wenn sie geht, gibt es für mich keinen Grund mehr hier zu bleiben.“. Ich nickte. Die Gruppe, diese kleine Familie, würde mit Lira sterben. Es gab sie nicht ohne sie. Das konnte ich nachvollziehen und verstehen. Lira war ein beeindruckender Mensch mit einer beeindruckenden Ausstrahlung. „Was wirst du machen?“. Kelly sah zu mir hinunter. „Ich weiß es nicht.“. Das wurde mir bewusst. Ich hatte keine Ahnung was ich machen sollte. Sollte ich vielleicht doch helfen? Dann hätte Lira vielleicht, aber auch nur vielleicht eine Chance zu überleben. Aber Menschen wollte ich nicht helfen. Fast verzweifelt rieb ich mir die Schläfen. Mein Kopf tat weh und alles drehte sich. Ich musste wieder ruhiger werden. Musste alles in Ruhe überdenken. Ich stand ruckartig auf und entfernte mich ein wenig von den Anderen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Kelly mich lächelnd nachwinkte. Sie verabschiedete sich von mir. Wusste, dass ich nicht wieder kommen würde. In Gedanken versunken, rannte ich durch die Gegend ohne auf mein Umfeld zu achten. Rannte über Felder und Wiesen, überquerte sogar einige kleine Bäche. Erst als es langsam dämmerte blieb ich stehen. Vampire waren übermenschliche Wesen. Sie waren stärker als diese, lebten länger und waren fast resistent gegen Viren und Bakterien. Der einzige Nachteil: um so zu werden, musste sie regelmäßig Blut zu sich nehmen. Das war eine Grund Vorraussetzung. Ich hatte Jahre lang kein Blut zu mir genommen und später dann nur sehr unregelmäßig. Dementsprechend war ich jetzt ausgepowert und am Ende. Ich sah mich um. Nahm den Geruch von Menschenblut war und folgte der Spur. Mein Gehirn war kurz davor von „Leben“ auf „Überleben“ umzuschalten und bevor das passierte, musste ich Blut kriegen. Schnell hatte sich ein kleines Dorf erreicht und beobachtete eine junge Frau, die sich gerade um ihre Wäsche kümmerte. Ich bleckte meine Zähne und schlich mich an sie heran. Alles um mich herum wurde ausgeblendet und meine gesamten Sinne konzentrierten sich ausschließlich auf die Frau vor mir. Bevor sie zurück ins Haus ging, packte ich sie an den Schultern und vergrub meine Zähne in ihrem Hals. Ich sah mich in der kleinen Küche um und musste zugeben, dass sie sehr schön war. Vorsichtig ging ich ins Wohnzimmer und legte die Frau auf das Sofa. Auch wenn ich keine Menschen mochte, für einen Mord wollte ich nicht verantwortlich gemacht werden. Dann löschte ich noch schnell ihr Gedächtnis und verließ im Anschluss sofort das Haus. Ich verzog mich wieder in die Felder und wanderte langsam wieder in Richtung aus der ich gekommen war. Mir ging es jetzt wieder besser und ich spürte, wie meine Kräfte wieder zunahmen. Ich blieb stehen, als mir bewusst wurde, wohin ich überhaupt ging. Ich machte mich wieder auf den Weg zu Lira. Aber ich konnte nicht helfen. Ich konnte nur zusehen und dann müsste ich mit ansehen, wie Lira stirbt und das konnte ich auch nicht. Ich war nutzlos. Nutzlos und hilflos. Denn wehren gegen meine Innere Stimme konnte ich mich auch nicht. Ich war einfach nur nutzlos. Ich konnte meine Mutter nicht beschützen, ich konnte Dee nicht beschützen und jetzt würde ich Lira nicht beschützen können und daran waren nicht die Menschen schuld. Daran war nur ich selbst schuld. Ich, weil ich nicht in der Lage war, zu kämpfen, obwohl ich es doch könnte. Ich, weil ich zu dumm und zu schwach war mich selbst zu besiegen. Verzweifelt ließ ich mich auf den Boden fallen und rollte mich zu einer Kugel zusammen. Ich wollte wieder zu Lira. Ich wollte wieder zu Dee und ich wollte wieder zu meiner Mutter. Alle sind gestorben und würden sterben, weil ich nicht in der Lage war sie zu beschützen. Leise schluchzte ich. Niemand würde sich dafür interessieren, wenn ich sterben würde. Vielleicht hätte Dee mich vermisst und meine Mutter sicher auch. Aber was war mit Kelly? Sie konnte nicht sterben und würde es auch nie können. Leise weinte ich mich in den Schlaf. Weinte, weil ich schon wieder einen wichtigen Menschen verloren hatte. Am nächsten Morgen schleppte ich mich wieder in das Dorf und nahm noch einmal Blut zu mir. Ich fragte mich, was Lira und die Anderen gerade machten. Bestimmt hatten sie schon um das Dorf ihre Positionen eingenommen und warteten. Kelly hatte mir mal erzählt, dass das schlimmste an einem Kampf nicht der Kampf selber war. Es war das Warten auf den Kampf. Im Dorf selbst wurden wir misstrauische Blicke zugeworfen und die meisten gingen mir aus dem Weg. Ich bemerkte das alles gar nicht. Wenn man sich selbst noch respektiert hat man das Recht auf ein anständiges Leben! Mir kam dieser Gedanke ganz plötzlich. Das hatte Dee mal zu mir gesagt, als ich sie fragte, warum sie sich denn die Mühe mit mir mache. Damals hatte ich es nicht wirklich verstanden und auch in diesem Moment verstand ich es nicht. Wieder musste ich an Lira denken. Sie kämpfte nicht alleine. Ebony und Kelly waren bei ihr und auch Etu war bestimmt ein guter Kämpfer. Von Daria wollte ich gar nicht erst anfangen. Mir lief immer noch ein kalter Schauer über den Rücken, als ich an die Stärke dachte, die ich selbst zu spüren bekommen hatte. Aber siegen? Konnten sie das? Sie waren alle stark, aber diese Jäger waren es doch auch. Nachdenklich ging ich bog ich um eine Ecke und blieb stehen. Es war eine kleine Nebengasse die am Ende zugemauert war. Eine Sackgasse. Gerade als ich gehen wollte, hörte ich ein Wimmern. Das Wimmern von einem kleinen Mädchen. Vorsichtig kam ich näher. Sie hockte ganz hinten in der Ecke, hinter einer Mülltonne. Sie hatte ihre viel zu dünnen Arme um ihre ebenfalls viel zu dünne Beinchen geschlungen. Ihre Haare waren verfilzt und steif vor Dreck und Fett. Sie war total verschmutzt und als sie mich hörte, sah sie mich mit geweiteten, verweinten Augen an. In ihnen spiegelte sich Angst und doch auch Trotz. Außerdem war in ihnen etwas, was ich nicht verstand. Etwas was ich nicht deuten konnte. Vorsichtig legte ich ihr eine Hand auf den Kopf. Bei der Berührung zuckte sie zusammen. Der Trotz in ihren Augen verschwand. Die Angst wandelte sich in Panik. „Bitte…bitte tun Sie mich nichts!“. Leise drang ihre Stimme an mein Ohr. Ihre Stimme war heiser und auch in ihr hörte ich Angst. Aber es war nicht die Angst die andere Menschen mir gegenüber empfanden. Sie hatte keine Angst vor mir weil ich ein Vampir war, sie hatte Angst vor mir weil ich größer war als sie. Weil ich ihr wehtun konnte und sie sich nicht wehren konnte. Sie war schwach. Sie hatte nichts. Nicht einmal richtige Klamotten hatte sie an. Nur alte Lumpen. Ich nahm die Hand von ihrem Kopf und legte meinen schief. Menschenkinder waren nicht alle schlecht. Vor allem die ganz kleinen. Sie waren noch nicht verdorben. Einige von ihnen mussten genau wie ich unter anderen Menschen leiden. Lira musste es ganz sicher auch. Doch ihr war es egal. Sie kämpfte trotzdem weiter. Da begriff ich etwas entscheidendes: ich musste nicht für die Menschen in dem Dorf kämpfen. Lira tat es auch nicht. Lira kämpfte nicht für ganz normale Menschen. Sie kämpfte für Menschen, die immer weiter machten, egal wie aussichtslos ihre Situation war. Ich konnte ja auch für die ganz kleinen Kinder kämpfen und für Lira. Die Menschen waren nebensächlich. Ich zog meine Jacke aus und legte sie dem Kind über die Schultern. „Warte hier eine kleine Weile, ja? Ich komme bald wieder und nehme dich mit.“. Die Angst blieb, wurde aber schwächer, und ich sah so etwas wie Hoffnung. Hoffnung auf Besserung. „Wirklich?“. Ich nickte. Ja ich würde wieder kommen. Mit Lira oder ohne sie, aber ich würde wieder kommen. Ich wandte mich ab und ging. Hörte noch, wie sich das Mädchen in meine Jacke kuschelte. So schnell ich konnte rannte ich den ganzen Weg des Vortages zurück. Ich brauchte nicht lange um den Lagerplatz zu erreichen. Viel länger brauchte ich um in das Dorf zu kommen. Schon von weitem konnte ich die schweren , nachtschwarzen Rauchwolken ausmachen. Das was fehlte waren die Kampfgeräusche. Es war still. Bis auf ein paar weinende Kinder war nichts zu hören. War ich etwa zu spät? Konnte das sein? Ich rannte noch schneller und hatte dann fast augenblicklich das Dorf erreicht. Hektisch sah ich mich um. Beinahe das gesamte Dorf war zerstört worden und die Menschen sahen alle verzweifelt aus. Mann hatte ihnen alles genommen. Schnell ging ich durch das Dorf, durchquerte es um wieder in einem Wald zu landen. Ich konnte Liras Blut riechen und folgte der Spur wie bei einer normalen Jagd. Auf einer Lichtung blieb ich stehen. Etu und Kelly standen vor einem kleinen Erdhügel. Er war frisch und mir fiel auf, dass sich der Geruch von Liras Blut mit dem der Erde vermischt hatte. Sie war tot. Kelly wandte sich um, als sie mich hörte. Ich konnte Tränen in ihren Augen ausmachen. spürte wie welche meine Wange hinunter rannen. Ich hatte versagt. Etu wandte sich auch mir zu und musterte mich mitfühlend. „Es ist nicht eure Schuld.“. Dann schlich er zum Rand der Lichtung. „Niemand hat schuld.“. Dann war er weg. Ich hockte mich vor Liras Grab. Nach einer Weile stand ich auf und markierte den Baum der hinter dem Grab stand. Kelly beobachtete mich dabei. Ohne meine Position zu verändern sprach ich: „Ich habe ein kleines Mädchen gefunden. Ein Straßenkind ganz alleine. Ich werde mich um sie kümmern. Hilfst du mir?“. „Ja.“. Wir verließen die Lichtung und kehrten zu dem kleinen Mädchen zurück. Lira war tot, aber sie würde immer in uns weiter leben und dadurch wurde sie unsterblich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)