Game over von Silverdarshan (SetoxJoey) ================================================================================ Kapitel 4: Level 3 - Die Dunkelheit hat einen Namen ---------------------------------------------------   ________________________________________________________________________     Level 3 : Die Dunkelheit hat einen Namen     „Sind Sie wahnsinnig?! Er hätte Sie umbringen können!“ Aufgebracht schritt Roland auf und ab. Sein Bart zuckte und seine Blicke huschten immer wieder zu Seto, dessen lebloser Körper nunmehr von weißen Laken bedeckt wurde. „Nun hören Sie auf, Roland! Seto ist kein wildes Tier, verdammt! Er braucht Hilfe!“ Joey hatte die Arme vor der Brust verschränkt und hielt den vorwurfsvollen Blicken des anderen trotzig stand. Er und Joey hatten den Bewusstlosen nach seinem Zusammenbruch mühsam in dessen angrenzendes Schlafzimmer getragen. So ausgemergelt Seto auch wirken mochte, der sehnige Körper beherbergte noch immer ein beachtliches Gewicht. Nicht zuletzt war dies natürlich seiner Körpergröße zu verdanken, der Joey jedoch in nichts nachstand. An Setos Seite saß Dr.Naoto, ein in die Jahre gekommener Mann, dessen grau meliertes Haar allmählich die schwarzen Strähnen dominierte. Roland hatte ihn nach Joeys Notruf unsanft aus dem Bett geklingelt. Übel schien er ihm dies jedoch nicht zu nehmen. Vermutlich hatte er sich all die Jahre an diese ungeplanten Überfälle gewöhnt. Sorgfältig räumte Naoto die Utensilien zusammen, die er während seiner Behandlung auf der Matratze verteilt hatte. Tupfer, Stauschlauch und Kanülen wurden beiseitegelegt, ein letzter Check mit dem Stethoskop über der sich sachte hebenden Brust seines Patienten beendete seine Arbeit vorerst. Aufrichtiges Bedauern stand in seinen Augen geschrieben, als er sich das viel zu blasse Gesicht betrachtete. Zu oft hatte er es in der letzten Zeit sehen müssen. Aufgebend schüttelte er den Kopf, hob die Hand und strich Seto in einer väterlichen Geste über das dunkle Haar.   „Das war unverantwortlich von Ihnen, Joey!“ „Unverantwortlich war es von Ihnen, Seto so lange allein zu lassen!“, verteidigte sich Joey und stemmte entrüstet die Hände an die Hüften. „Er hätte sich alles Mögliche antun können! Nur weil er abblockt, können Sie ihn doch nicht sich selbst überlassen! Das Bett war völlig unberührt, er muss tagelang nicht geschlafen haben. Ich bin hierhergekommen, weil ich ihm helfen will und nicht, um ihm den Gnadenstoß zu verpassen.“ Roland schnaubte. Seine dunklen Augen funkelten aufgebracht. Er machte sich große Sorgen, das spürte Joey. Dennoch wusste er nun mehr denn je, dass der Weg, den sie eingeschlagen hatten, der falsche war. Seto brauchte jemanden, der ihn am Leben hielt, bis Mokuba zu ihm zurückkehren konnte. „Sie kennen ihn nicht“, murmelte Roland mühsam um Beherrschung ringend. „Er lässt niemanden an sich heran, niemand. Ich hatte gehofft, dass Sie zu ihm durchdringen können, aber ich lag falsch. Es hat ihn sogar so sehr in Rage versetzt, dass er Sie verletzen wollte. Verstehen Sie nicht, dass ich ihn nur davor bewahren will, sich weiter sein eigenes Grab zu schaufeln?!“   Joey schluckte. Ein unangenehmer Kloß hatte sich in seinem Hals gebildet und ließ ihn wissen, dass er zu weit gegangen war. Roland war Setos engster Mitarbeiter und ein loyaler Mann. Ihm zu unterstellen, dass er nicht das Beste für seinen Boss im Sinn hatte, war an Unverschämtheit kaum zu überbieten. Scham und das dringende Bedürfnis seine unbedachten Worte rückgängig zu machen, überfiel ihn. Doch noch ehe er besänftigend einschreiten konnte, meldete sich Dr.Naoto zu Wort.   „Bitte, meine Herren. Seto ist zwar nicht bei Bewusstsein, aber ich halte es dennoch für unangebracht in seinem Beisein zu streiten.“ Unangenehm berührt warfen sich die beiden Streithähne einen kurzen Blick zu. Naoto hatte Recht. Joey räusperte sich verlegen und wagte es als Erster jene bange Frage zu stellen, die auch Roland auf der Seele brannte. „Wie geht es ihm?“ Naoto seufzte lautlos, nahm die rundliche Brille von der Nasenspitze und fuhr mit den Fingerspitzen nachdenklich ihre Konturen nach. „Wie Sie bereits vermutet haben, war der Grund für seinen Zusammenbruch der akute Schlafmangel. Das und die Tatsache, dass er seit Monaten nicht mehr richtig isst und der Stress ihm nach wie vor stark zusetzt. Das Sedativum wird einige Stunden wirken, bis dahin sollte ich alle weiteren Schritte in die Wege geleitet haben.“   Joeys Augen weiteten sich alarmiert. Alle weiteren… was?! „Was… von welchen Schritten sprechen wir hier, Doktor?“ Naoto mied Joeys Blick, stattdessen nickte er Roland zu, dessen Schultern augenblicklich herabsanken und ein Häufchen Elend zurückließen. Regelrecht gelähmt sah Joey mit an, wie Naoto ein Handy aus seiner Hosentasche zog und mit verbissener Miene eine Nummer wählte. Joey brauchte mehrere Herzschläge, bis er Begriff. Reflexartig setzten sich seine Beine in Bewegung und seine Hand schnellte vor. Grob riss er dem verblüfften Arzt das Handy aus der Hand. „Was soll das?! Wen wollten Sie da gerade anrufen?!“ Zu Joeys Unmut schwieg Naoto und maß ihn lediglich mit einem langen, bedeutungsschweren Blick. Keine Zweifel. Der letzte fatale Schritt sollte getan werden. „Das dürfen Sie nicht!“ „Joey… Dr.Naoto will nur das Beste für Seto. Er kennt ihn seit Jahren und-“ „Nein, er kennt ihn nicht, wenn er so etwas veranlassen will!“, fuhr Joey aufgebracht dazwischen und zeigte anklagend auf den zu Tode erschöpften Körper, der erschreckend tief in den Kissen zu versinken schien. „Seto ist stolz. Er ist der stolzeste Idiot, den ich je getroffen habe und wenn er ihn wirklich kennen würde, wüsste er, dass er an so einem Ort zerbricht!“ Naotos Mimik wurde streng, seine Stimme konsequent. „Tut mir leid, Mr… Wheeler, aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Sein Zustand hat sich rapide verschlechtert und ich kann es nicht verantworten, ihn länger ohne psychiatrische Beobachtung zu lassen. Um der Gesundheit meines Patienten wegen, muss ich handeln. Es gibt vorerst keinen anderen Weg.“ „Doch, den gibt es. Ich werde mich um ihn kümmern.“ Ungläubig schnappte Roland lautstark nach Luft. „Joey! Wissen Sie was Sie da sagen? Wie soll das funktionieren? Er hat Sie bereits einmal angegriffen.“   Ja, das wusste Joey. Wie könnte er es vergessen… Noch immer glaubte er die kalten Hände an seinem Hals zu spüren… den Hass und die abgrundtiefe Verzweiflung in den eisblauen Augen zu sehen, die schier übermächtig schien…   „Es war meine Schuld“, begann er zögerlich und schloss für einen kurzen Augenblick die Augen. „Ich wusste nicht, wie schlecht es um ihn steht und habe ihn mit meiner Art provoziert. Früher hätte er so etwas locker weggesteckt, aber ich habe seine Kräfte überschätzt. Das wird mir nicht noch einmal passieren.“ Wilde Entschlossenheit zeigte sich, als er den Blick hob und Dr. Naoto fest in die Augen sah. Beinahe glaubte er, ein anerkennendes Funkeln in ihnen zu erkennen. „Es war meine Schuld. Daher bitte ich Sie: lassen Sie mich bei ihm. Ich werde meinen Fehler wieder Gut machen. Geben Sie mir eine Chance. Geben Sie ihm eine Chance! Sie wissen genau was passiert, wenn Sie ihn einweisen lassen… Er wird sich nicht behandeln lassen – dort erst recht nicht! Er wird es nicht verkraften und endgültig zerbrechen! Das können Sie unmöglich wollen!“   „Manchmal muss Altes entfernt werden, um Neues entstehen zu lassen… Verzeihen Sie mir meine Forschheit, aber Sie sind nicht geschult genug, um mit einem labilen Menschen umzugehen.“   Oh nein, so nicht! Mit diesem buddhistisch-medizinischem Geschwafel konnte er ihn nicht beeindrucken! Alles in Joey schrie danach, die Zahnräder, die sich in Bewegung gesetzt hatten, anzuhalten. „Ich kenne Seto seit Jahren! Wir waren nie die besten Freunde, dass stimmt, aber ich kenne seine Macken, seine dämliche Arroganz und den grenzenlosen Stolz, der ihn zu dem macht, was er ist: der rechtmäßige CEO der Kaiba Corporation! Ich kenne quasi nur seine schlechten Seiten! Er kann mich nicht mal leiden! Wenn er Ihnen gegenüber immer respektvoll gewesen ist, dann sind Sie es, die nicht wissen, wozu er fähig ist, wenn man ihn aus der Reserve lockt! Lassen Sie es mich versuchen! Kommen Sie regelmäßig vorbei und sehen Sie nach ihm. Ich werde ihn dazu bringen, seine Medikamente zu nehmen, ich werde alles tun, damit es ihm besser geht. Sie können ihn im Notfall immer noch einweisen lassen. Aber geben Sie mir die Möglichkeit es noch einmal zu versuchen. Ich weiß, dass ich – dass er es für Mokuba schaffen kann.“   „Ich bewundere ihren Mut und ihre Selbstlosigkeit, Mr. Wheeler. Aber sie wissen nicht, worauf Sie sich da einlassen.“ Joeys Entschlossenheit brannte als lodernde Flamme in seiner Brust, als er sich dazu zwang sein Temperament zu zügeln und nach Argumenten suchte, die bewiesen, dass der alte Mann ihn schlichtweg unterschätzte. „Seto hat mir vor vielen Jahren das Leben gerettet und mich medizinisch versorgt, als es mir sehr schlecht ging. Roland, Sie wissen das! Jetzt kann ich mich bei ihm revanchieren. Er hat eine letzte Chance verdient. Niemand hat sich seiner annehmen können. Ich aber möchte es versuchen. Rauben Sie ihm nicht diesen letzten Ausweg, ich bitte Sie!“   Naoto schwieg lange und musterte Joey intensiv über die Gläser seiner Brille hinweg. Sein Blick durchbohrte ihn mit der Härte eines Raubvogels auf der Jagd. Nach kurzer Bedenkzeit schien er gefunden zu haben, wonach er suchte: jener eiserne Wille, den Joey wie ein Schild vehement vor sich trug. Der alte Mann seufzte schwer, hob seine Hand und bat wortlos aber nachdrücklich um die Rückgabe seines Handys, welches Joey ihm nach kurzem Zögern gehorsam in die Hände drückte. „Gut. Ich gebe Ihrem Wunsch nach. Aber ich muss Sie warnen und Ihnen zunächst einiges erklären. Sollten Sie glauben, sich der Situation dann noch immer gewachsen zu fühlen, werde ich Sie nicht aufhalten. Bitte folgen Sie mir, damit wir ungestört reden können. Roland, würden Sie bitte in dieser Zeit bei Seto bleiben?“ „N-Natürlich.“ Die Überraschung, die Roland nahezu sprichwörtlich ins Gesicht geschrieben stand, ließ Joey einen innerlichen Triumphschrei ausstoßen. Er lächelte erleichtert und heftete sich an die Fersen des Arztes, noch ehe Roland wusste, wie ihm geschah. Sein letzter Blick galt Setos reglosem Körper, der in den hellen Kissen ruhte, wie ein Sterbenskranker, dessen Verbleib auf diese Welt nicht von Dauer sein konnte.     *******     „Sie kennen Setos Vergangenheit nicht.“   Dr. Naoto glitten jene Worte mit solcher Bitterkeit von den Lippen, dass es Joey einen herben Schlag lähmender Unruhe versetzte. Diese Tatsache schien unumwunden und Gräben aufwerfend zwischen ihm und seinem Vorhaben zu stehen. Naoto hatte ihn in das angrenzende Büro geführt und stand noch immer an der Tür, die er soeben hinter sich geschlossen hatte, damit Roland dem folgenden Gespräch nicht lauschen konnte. Jenes Büro, in welchem Joey vor wenigen Stunden röchelnd mit einem wildgewordenen Kaiba um den Hals geschlungen, um Luft und Leben gerungen hatte.   „Wovon sprechen Sie?“ „Seto hat mit niemandem darüber gesprochen. Ich glaube nicht einmal Mokuba weiß bis heute darüber bescheid. Wenn Sie ihm helfen wollen, müssen Sie wissen, was dazu geführt hat, dass Seto so geworden ist.“   Joey runzelte die Stirn und lehnte dankend aber bestimmend das Angebot des anderen ab, sich auf einen der Sessel zu setzen. Er hatte schon jetzt das Bedürfnis, wie ein Tiger auf und ab zu streifen. Er würde niemals ruhig dasitzen können. Nicht unter diesen Umständen, nicht unter dieser… brodelnden Atmosphäre, die sich wie ein Sturm über ihnen zusammenbraute. Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit den Hüften an Setos Schreibtisch. Das musste reichen. Naoto nickte verstehend, ließ sich selbst jedoch mit einem schwermütigen Stöhnen auf dem nächstbesten Platz nieder und schien all seine Kräfte für das Kommende zu brauchen. Die grauen Haare, die er mit einer routinierten Geste zurückstrich, bildeten dabei einen unglaublich harten Kontrast zu dem schwarzen Stoff in seinem Rücken. „Sie sollten sich wirklich setzen… es wird dauern und… nicht angenehm werden.“ „Danke, aber nein danke, Doktor.“ Naoto legte die Hände in den Schoß und lächelte freudlos.   „Ich muss weit ausholen, damit Sie es verstehen. Gozaburo Kaiba ist der Schlüssel zu allem. Er hat Seto und Mokuba früh adoptiert. Seine Mitarbeiter mussten monatelang sämtliche Waisenhäuser nach potenziellen Erben absuchen. Als er die beiden schließlich fand, war für einen Mann in seiner Position alles weitere reine Formalität. Er hat Setos Intelligenz rasch erkannt und keine Zeit damit verschwendet, ihn als ‚würdigen Nachfolger’ seines Imperiums aufzuziehen. Die Methoden, die er dafür jedoch angewendet hat, waren… nun… mehr als fraglich.“ Reue schwang mit einem Mal so klar in seiner Stimme mit, dass Joey den eisigen Schauer, der ihn überwältigte, wie einen Schlag in seinem Rücken spürte. „Es beschämt mich, dass ich damals nichts gegen ihn unternommen habe. Ein Verbrechen, für dass ich nun büßen muss, indem ich mit ansehe, wie Seto grade an den Folgen seiner Vergangenheit zerbricht. Und glauben Sie mir, es schmerzt mich sehr, dies mit ansehen zu müssen. Seto ist wie ein Sohn für mich.“   „Was ist passiert?“   „Gozaburo war ein grausam methodischer Mann. Er hielt nichts von Schwäche, er verabscheute sie. Er sah in ihr eine Gefahr für sein Lebenswerk. Nur jemand, der kaltblütig und emotionslos jedwede Art von Schmerz ertragen konnte, war in seinen Augen dazu berechtigt, sein Erbe anzutreten. Um dieses Ziel zu erreichen hat er Seto… einem harten Training unterzogen.“   Joeys Hände begannen zu beben. Mit Nachdruck zwängte er sie unter seine Arme, verkrallte seine Finger angespannt in dem Stoff seines Hemdes.   „Seto ist hochbegabt und zielstrebig. Sein Schwachpunkt war jedoch seine liebenswürdige Art, die ihn zunächst unbrauchbar machte. Ohne Skrupel bringt man es in gewissen Kreisen nicht weit. Wenn man ganz oben dabei sein möchte, gehört eine gewisse Härte zum Alltagsgeschäft. So lauteten Gozaburos Prinzipien. Er zwang Seto dazu Tag und Nacht zu lernen. Strenge Privatlehrer zogen unmenschliche Pensen mit ihm durch, die für ein Kind in seinem Alter viel zu hoch waren. Seto zeigte schnell starke Erschöpfungssymptome, aber er fing sich wieder und gewöhnte sich an den Druck. Nicht zuletzt, weil ich ihm aufputschende Mittel und zusätzliche Nährstoffe verabreichte. Seto war für Gozaburo nichts weiter als ein Rennpferd, welches nur hartes Training und eine feste Hand brauchte, um Leistung zu zeigen. Und Seto war stark. Stärker als alle, die an Gozaburo zuvor gescheitert waren. Er kämpfte und gewann. Nicht zuletzt, weil Gozaburo ihn erpresste. Er drohte ihm Mokuba wegzunehmen, falls er versagte. Die Angst um seinen kleinen Bruder sitzt seitdem tief in ihm. Es muss unvorstellbar für ihn sein, Mokuba nun – nach all den Jahren grausamer Drohungen- ihn auf diese Weise verloren zu haben. Es hat das Trauma seiner Kindheit wieder aufbrechen lassen, über welches er all die Jahre über mit niemandem gesprochen hat.“   Naotos Lippen verzogen sich zu einer Grimasse, die kein Raum für Interpretationen ließ. Die Finger seiner rechten Hand strichen verhalten über seinen Mund.   „Der Drill zeigte nach fünf Jahren Früchte. Seto hatte sich mit dreizehn Jahren so viel Wissen angeeignet, dass er bereits unter Aufsicht aus der Villa heraus Einblicke in die Firmengeschäfte bekam. Natürlich ohne Einfluss. Aber Gozaburo prüfte damit seine Fähigkeiten. Er stellte ihm Aufgaben und erwartete nichts geringeres als Perfektion. Doch seine Ausbildung war noch nicht zu Ende. Seto hatte endlich das Alter erreicht, in dem Gozaburo ihn…“   Er schluckte hart und schloss die Augen. „… gefügig machen konnte.“   Joey fühlte den Boden unter seinen Füßen in endlose Teile zerspringen. Entsetzen in Reinform kroch durch seine Adern, ließ ihn frieren und an dem Sinn, der Bedeutung der Worte zweifeln, die ihm so gnadenlos um die Ohren geschlagen wurden. Naoto fuhr eisern fort. Kannte keine Gnade. Denn Seto hatte auch keine erfahren. „Um seinen Charakter zu stählen, wie er es nannte, isolierte er ihn. Es… war der letzte Schliff, den Seto brauchte, um geeignet zu sein. Kein Kind, kein Jugendlicher hatte zuvor diese Prozedur unbeschadet überstanden. Ich beging ein Verbrechen… und ich bin mitschuldig an seinem Zustand. Ich werde diese abscheuliche Tat nie ungeschehen machen können. Wurde ich zuvor wöchentlich gerufen, um Setos Gesundheit zu erhalten, forderte Gozaburo nun, dass ich Dauerhaft zur Verfügung stehe. Ich begriff zunächst nicht weshalb, bis ich sah, was man ihm antat.“   Er unterbrach sich. Tränen standen in den alten Augen und drohten den Weg über die Wangen anzutreten. Doch Naoto verbat sich Tränen zu vergießen. Er war kein Opfer. Nicht er. Energisch räusperte er sich, schüttelte den Kopf und strich sich über das bebende Gesicht. „Verzeihen Sie bitte… ich brauche einen Moment.“ Er sah nicht, wie sämtliche Farbe aus Joeys Gesicht gewichen war… wie sehr die Worte den blonden Mann trafen und mitnahmen.   „Er weckte Seto mitten in der Nacht und testete sein Wissen. Er stellte Fragen, die Seto unmöglich beantworten konnte, damit er ihn schlagen konnte. Es sollte ihn lehren, trotz Unwissenheit standhaft zu bleiben. Keine Schwäche zu zeigen. Schwäche bedeutete seinen Untergang. Wurde er schwach, würde er Mokuba nie wiedersehen. Sein Bruder war das ultimative Druckmittel. Seto hatte nur ihn. Mokuba war alles für ihn. Er ging dazu über ihn in unerwarteten Momenten zu sich zu rufen. In seinem Büro misshandelte er ihn, indem er ihn prügelte. Er… bevorzugte einen Gürtel, mit dem er ihm den Rücken blutig schlug. Noch heute trägt er die Narben… Gozaburo stoppte erst, wenn Seto zusammenbrach oder apathisch vor sich hinstarrte und keinen Laut mehr von sich gab. Damals dachte ich, dass Seto diese Tortur nicht überleben würde. Er aß nicht mehr und schlief nicht. Ich musste ihn sedieren, damit er ein wenig zur Ruhe kommen konnte. Er war ein Schatten seiner selbst. Bis zu jenem Tag, an dem er das erste Mal zerbrach.“   Die kurze Stille zwischen ihnen schien mit einem Mal ohrenbetäubend laut.   „Ich war bei ihm. Hatte ihn aus seinem Zimmer geholt und sollte ihn zu ihm bringen. Seto betrat nicht sein Büro. Er schrie vor Angst und sträubte sich, die Panik vor neuem Schmerz machte ihn fast wahnsinnig. Er hatte Mokuba seit drei Monaten nicht mehr zu Gesicht bekommen, musste sich gänzlich darauf verlassen, dass meine Worte der Wahrheit entsprachen, wenn ich ihn versorgte und ihm versicherte, dass es seinem kleinen Bruder gut ging. Gozaburo hatte auf diesen Augenblick gewartet. Er hatte ihn an den Rand des erträglichen getrieben und ihn so verletzlich werden lassen, dass er leichtes Spiel haben würde. Er nahm Seto mit sich und sperrte ihn in einem der Kellerräume ein, mit dem Versprechen, ihn erst zu befreien, wenn er sämtliche Emotionen, die ihm im Weg standen, abgelegt hätte. Kennst du den Begriff ‚weiße Folter’? Man zerstört einen Menschen von innen heraus, um ihn gefügig zu machen. Genau das tat Gozaburo. Ich überwachte den Vorgang. Seto tobte und schrie allein in der Dunkelheit, verfiel in Hysterie und schließlich in Apathie. Ich versuchte Gozaburo davon abzubringen, diese kranke Prozedur durchzuziehen. Er erpresste mich und drohte meine Familie zu ermorden, wenn ich nicht loyal bliebe… das Geschäft mit dem Krieg und dem Leid anderer hatte ihn zu einem Monster werden lassen. Aus Angst tat ich, was er mir befahl. Alles was ich tun konnte, war Seto mit all meinen Fähigkeiten zu unterstützen… ihn aufzufangen, soweit es mir möglich war. Aber Seto litt. Er riss sich die Haare aus und schlug sich die Hände an der Tür blutig. Gozaburo blieb eisern. Erst nach acht Tagen Isolation entließ er ihn. Als ich sein Gefängnis betrat, rührte er sich nicht und war nicht ansprechbar. Gozaburo ließ mich ihn aufpäppeln. Einige Tage danach rief er mich in sein Büro. Ich wartete dort auf ihn. Als er eintrat folgte ihm ein Mensch, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Seto hatte sich verändert. Seine Augen waren kalt und leer. Er sprach nur, wenn Gozaburo ihn direkt dazu aufforderte… rezitierte alles, was man ihm eingebläut hatte. Seto funktionierte. Einwandfrei. Skrupellos, kalt, emotionslos. Gozaburo hatte bekommen, was er wollte.“   Joey schmeckte Blut auf seiner Zunge. Den brennenden Schmerz jedoch spürte er nicht.   „Seto gelang es für Mokuba, die Dunkelheit in seinem Inneren zu verbergen und den alten Seto am Leben zu erhalten... eine Fassade, die er seinem Bruder zuliebe mit ganzer Kraft aufrecht hielt. Über all die Jahre hinweg. Nach außen hin gab er sich dafür umso kälter und arrogant – so, wie Gozaburo es ihm eingeprügelt hatte. Nur Mokuba schaffte es, den winzigen Rest seines alten Ichs nicht sterben zu lassen. Ein Drahtseilakt für Seto, der ihn in unbeobachteten Momenten immer wieder zusammenbrechen ließ. Er rief mich oft an und bat um Hilfe, wenn er es nicht ertrug… wie damals, wenn ich ihn versorgen musste: Kurz wirksame Injektionen, die ihm halfen, sich zu beruhigen, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. Gozaburos Tod war für ihn einschneidender, als ich befürchtet hatte. Ohne die drohende Hand in seinem Rücken verfiel Seto wieder in alte Muster. Sein Trauma blühte erstmals vollständig auf und bahnte sich mit aller Kraft einen Weg zurück. Er hatte es all die Jahre über bekämpft und verdrängt. Aber es nie verarbeitet. Nie. Panikattacken stellten sich ein, aber er verweigerte jedwede Behandlung. Er hat die Firma, die sein verhasster Stiefvater für den Krieg mächtig gemacht hatte, in ein erfolgreiches Spielimperium verwandelt. Er hat Hass und Tod durch Freude und Ehrgeiz ersetzt und Millionen weltweit in den Bann gezogen. Aber er konnte sich selbst nicht retten. Mehr als einmal fand ich ihn hyperventilierend und erbärmlich zitternd in seinem Büro vor. Er konnte die Anfälle nicht kontrollieren, weshalb er sich immer weiter zurückzog und öffentliche Termine absagte. Ich musste schweigen und durfte ihm zuletzt auch nichts mehr verabreichen. Er schmiss mich raus und drohte mir, dass er mich umbringt, wenn ich Mokuba davon erzählen würde. Keine Drohung, die ich ernst genommen hätte, Mr. Andrews. Seto ist nicht wie sein Ziehvater. Aber es zeigte mir deutlich, wie weit er ihn getrieben hatte. Er durfte keine Schwäche zeigen. Und so verstellte er sich. Zynismus und die Ablenkung durch dauerhafte Arbeit bewahrten ihn vor seinen Ängsten. Es gelang ihm tatsächlich sie von sich aus eine gewisse Zeit zu kontrollieren. Mokuba war nicht unschuldig daran. Er war er einzige, den Seto an seine verwundete Seele heran lies, auch wenn er ihm gegenüber nie erzählte, was damals wirklich geschehen war. Niemand wusste es. Niemand außer mir… und ich bin einer der Mitschuldigen an seinem Elend, ein Täter… auch wenn er es abstreitet. Es gelang ihm in einer konstruierten Welt zu Leben, in dem er als ein perfekt geschliffenes Instrument funktionierte. Nicht einmal dem Vorstand gelang es, ihn nach Gozaburos Tod zu kontrollieren. Sie hatten sich erhofft Seto als Marionette gebrauchen zu können – ihn zu übernehmen und zu lenken, wie Gozaburo es getan hatte. Stattdessen setzte er sie vor die Tür und übernahm das Imperium allein. Ich vermute Sie ahnen, wohin das geführt hat. Jetzt wo seine Welt durch einen Racheakt zerbrochen wurde, man ihm buchstäblich alles genommen hat, was in seinen Augen seine Existenz begründete, bricht das Kartenhaus in sich zusammen, in welchem er sich verschanzt hat. Roland weiß nicht warum Seto sich benimmt wie er es tut, er mutmaßt nur. Ich dagegen weiß es. Es ist die stürmische Brise, die einen gewaltigen Sturm ankündigt, der alles zerstört, was Kaiba ausmacht. Die Fassade, mit der er all die Jahre über sein Trauma bezwungen hat, fällt. Und er ist allein damit. Daher bitte ich Sie… wenn sie aufrichtig versuchen wollen ihm zu helfen… und sie wirklich glauben, dass Sie es können… tun Sie es! Heilen Sie ihn! Geben Sie ihm einen Sinn im Leben, an dem er sich festhalten kann, auf welche Weise auch immer! Er muss seine Schwäche zulassen, ohne dieses Eingeständnis kann ihm keine Therapie helfen. Ihn einzuweisen wird ihm nicht helfen, das weiß ich. Aber es ist aus meiner Sicht meine letzte Option. Daher bitte: Retten Sie ihn, bevor es zu spät ist und es ihn umbringt und Gozaburos Vermächtnis ihn mit in die Finsternis zieht, aus der er sich so hart kämpfend befreit hat!“     *******   Das Ticken einer schnöden Wanduhr blieb neben der leichten Brise, die durch das geöffnete Fenster eindrang, das einzige Geräusch, das Joey ertrug. Umgeben von den leisen Atemzügen des stolzesten Mannes der Welt, saß er an dessen Seite auf der Kante des großen Bettes und schwieg. Er schwieg, weil er Seto nicht wecken wollte. Er wusste, dass er es nicht konnte, dass das Mittel, dass ihm Dr.Naoto verabreicht hatte, ihn in der Tiefe der Bewusstlosigkeit halten würde aber gottverdammt! Er wollte ihm jegliche Ruhe gewähren, zu der er beitragen konnte!   Setos kreidebleiche Hand lag nur Zentimeter von seiner entfernt auf den Laken. Blass, zerbrechlich, reglos. Er wusste, dass sie kalt sein musste. Seine Hautfarbe sprach Bände. Es wäre so leicht, sie einfach in die Hand zu nehmen und mit der eigenen zu wärmen. Doch er konnte es nicht. Er würde es nicht tun. Es war nicht richtig. Es war nicht das, was Seto zulassen würde, wäre er in der Lage gewesen, auf ihn zu reagieren. Joey wusste das. Daher blieben seine Hände untätig im eigenen Schoß gefangen… hielten lediglich sein Handy fest und starrten auf das Display, auf dem zu erkennen war, dass Mokuba nun schon zum dritten Mal in Folge versuchte, ihn zu erreichen. Joeys Sicht verschwamm. Er spürte die Hitze, die in seine Wangen stieg, weil er die Tränen zurückkämpfte, gegen die Naoto am Ende ihres Gesprächs doch noch so kläglich verloren hatte.   Aber er würde sie nicht zulassen. Er hatte eine Aufgabe. Er musste auf ein Wunder hinarbeiten. Er hatte es Mokuba versprochen. Er würde sein Versprechen halten.   Für Moki. Für Seto. Für sie beide.   Eine einzelne feuchte Perle löste sich, hing geradezu verhöhnend an langen Wimpern und landete auf dem gläsernen Display, welches stumm vor sich hin klingelte. Sie zersprang vor Joeys Augen in tausend salzige Bestandteile, noch ehe das Licht erlosch.       ________________________________________________________________________       Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)