Lumiél Noir von Voidwalker ================================================================================ Kapitel 1: Stein um Stein ------------------------- Die Alten Götter, so heißt es, sind tot. Verdammt und verstoßen aus dem Königreich Lumiél, in die Knie gezwungen vom neuen Gott des Landes, von der einzigen Größe, zu der die Bauern noch beten dürfen, ohne im Morgengrauen am Galgen zu baumeln: Seine göttliche Majestät König Phillipe der Dritte. Die Anmaßung eines Menschen. Im Rest der Welt dreht sich das Rad des Schicksals weiter. Gesandte werden geboren, Leben verwelken, Schlachten werden geschlagen – manche offen und mit dem Gebrüll Tausender Krieger, manche im Stillen hinter den Vorhängen der Weltbühne. Einer aber mischt immer mit, ist immer allgegenwärtig, immer am intrigieren: Ceteus. Erwählt Mermerus einen Champion, so schafft er mit der Übertragung großer Macht auf nur ein einziges sterbliches Wesen einen Avatar. Eine Größe, die Königreiche stürzen kann. Doch stirbt der Avatar, so ist auch seine Mission mit ihm verloren gegangen. Immer schon hielt der Schatten es damit anders als sein Bruder und dessen Kinder und Enkel. Frei von der Notwendigkeit, sich erklären oder rechtfertigen zu müssen und befähigt, seine eigenen Kräfte aus einer ganzen Welt zu ziehen, die er nur für sich selbst besaß, vermag Ceteus seine Kräfte auf mehr als einen Streiter zu verteilen. Gerade deshalb waren die Priester der Spinne schon immer verhasst und gefürchtet: Stand man mit ihnen im Kampf, konnte man nie wissen, ob man einen Gläubiger bekämpfte, oder einen Avatar. Gerade diese Inkarnationen seiner Macht waren oft von der gleichen Gerissenheit und Hinterlist getrieben und beseelt, die auch ihren Meister voran brachte. Parallel zu ihrem Schaffen in der Welt suchten sie sich aus den Tausenden verdorbener Seelen oftmals einen Nachfolger, lehrten ihn die Folgsamkeit, stärkten seine Kräfte und sein Wissen und nutzten ihn als verlängerten Arm seines finsteren Willens – bis der Avatar auf welchem Wege auch immer seinen Untergang fand. Denn dann wäre sein Nachfolger bereit, in die Dienste der Spinne zu treten. Nicht umsonst lautet eine Redensart des Volkes: Das Böse schläft nie. „Herrgott nochmal, sei nicht so verdammt stur!“ „Du weißt nicht im Geringsten, worauf du dich einlässt!“ „Ich bin kein Kind, ich habe Jahre ohne dich zugebracht, stell dir vor!“ Orykenes Ohr wich abrupt von der Tür zurück, als erneut ein lautes Klirren erklang – diesmal direkt auf der anderen Seite des Holzes. Sie seufzte, schüttelte resignierend den Kopf und trat zurück. Ihre Fußklauen klackten leise auf den Steinen des Untergrundes, bevor sie sich neben Delilah auf eine provisorische Bank sinken ließ. Hier, nur einen Meter von der schweren Eichentür entfernt, drangen die Stimmen aus jenem Raum nur noch sehr gedämpft an ihre Ohren – und selbst das Klirren und Scheppern wurde leiser. „Wo Kat?“ erkundigte sich die Dryade bei ihrer Gefährtin. Orykene legte den Kopf in den Nacken, betrachtete einen Moment, wie der Tunnelbogen sich zur Decke hin wölbte. Sie war eine Harpyie, sie war ein Kind der Lüfte – sie gehörte nicht unter Tage. Gut, zugegeben, ihr Hort in Quentloas lag in einer gewaltigen Felsspalte. Aber auch dort konnten sie fliegen. Alles war breit, groß und geräumig genug. Aber Samaras Kanalisation war einfach zu beengt. Sie hatte versucht, sich daran zu gewöhnen, war es doch schließlich eine Notwendigkeit, aber es gelang ihr einfach nicht. Schließlich wandte sie ihren Blick der Dryade zu. Sie wartete auf eine Antwort, das wusste sie auch ohne in ihre Augen zu sehen, denn die Hüterin blickte auf ihre Hand herab, auf den kleinen, grünen Spross, der sich ihrem Finger entgegen reckte. Sie tippte ihn an, 'tätschelte' ihn, wie man einen braven Hund lobte. Es war für die Jägerin ein Wunder, dass sich ihre Gefährtin hier unten nicht ebenso unwohl fühlte. Es fehlte an Sonnenlicht, sie verließen oft nur bei Nacht die Gänge des Kanalsystems. Vermutlich nicht verwunderlich – obwohl Orykene inzwischen leichte Kleidung trug, rein um sich warm zu halten, hatten sie und Delilah beide ihre Gepflogenheit abgelegt, sich beständig verstecken zu wollen. Dies war Samara. Die Stadt gehörte Ashes – und gerade hier unten gab es für sie beide einfach keine Notwendigkeit, zu verstecken, wer oder was sie waren. Viele der Rebellen beäugten sie skeptisch, wieder und wieder. Eine Hüterin, das war eine Gesandte Phylias, eine Vertreterin eines göttlichen Willens auf dieser Welt – aber wie sollte sie über Macht verfügen können, wenn die Alten Gottheiten doch tot und verstoßen waren? Manche hatten Delilahs Wert bezweifelt, hatten sie ausstoßen wollen. Orykene hatte sich nicht eingemischt, hatte ihnen nicht die Kehlen aufgerissen. Das war einfach nicht nötig – Delilah wusste selbst, wie sie solche Großmäuler auf ihren Platz verwies. Inzwischen, dank Kats fortwährender, geduldiger Bemühungen und auch ihrer eigenen Anstrengungen, vermochte die Hüterin zumindest deutlich besser die rasche und ungelenke Sprache der Menschen zu verstehen. Sie selbst zu sprechen, hatte sie noch Probleme – aber sie begriff, wenn jemand ihren Nutzen in Frage stellte. Es war ein durchaus amüsanter Anblick gewesen, als die giftigen Ranken, deren Samen seit Jahrhunderten unter Samara begraben lagen, sich aus dem Boden gruben, seine Arme und Beine packten, sich daran in einer Spirale empor wanden, während die Dornen über Kleider und Haut schabten und das erste Gift in seinen Körper einbrachten. Dieser Narr hatte tagelang zitternd wie Espenlaub unter Fieber, Übelkeit und Schwindel auf dem Bett gelegen und um sein Leben gekeucht. Überlebt hatte er letztlich nur, weil die Dryade es so wünschte – denn auch, wenn solche Holzköpfe nicht unbedingt ihr Gewicht in Gold wert waren, war doch jeder weitere Schwertarm in den Diensten des Untergrundes wichtig und nützlich. Irgendwann, irgendwie. „Kat ist in Sundergrad. Sie versucht dort eine zweite Zelle aufzubauen.“ antwortete die Harpyie nach einer Weile. Sie konnte verstehen, warum Delilah nach ihr fragte. Die Piratin war... angenehme Gesellschaft. Willensstark und eifrig, wenn auch für Orykenes Geschmack etwas zu idealistisch. Sie hatte mit der Hüterin viel Zeit verbracht, um ihr ihre Sprache zu lehren und sie mit dem System des Untergrundes vertraut zu machen – eine Bezugsperson, nach ihrer Rückkehr in die Gefilde der Menschen. Orykene hatte nur am Rande gehört, was geschehen war. Von einem alten, toten Wald war die Rede gewesen, von tollwütigen Tieren und einem großen Streifen... Tod. Mitten in Lumiéls Osten. Kein Feuer, kein Magier und kein Katapult waren diesem Gestrüpp beigekommen. Warum die Dryade wieder hier war, vermochte Orykene nicht zu sagen. Ihr Wiedersehen war zunächst fürchterlich kühl ausgefallen, ehe sie sich langsam wieder einander angenähert hatten. Zweifellos war es der Gesandten schwer gefallen, ihr ihren damaligen 'Verrat' zu verzeihen. Aber hatte Delilah nicht ebenso längst einsehen müssen, dass es kaum einen Weg gab? Der Widerstand war inzwischen die einzige Größe in Lumiél, die vielleicht noch etwas bewegen konnte. Auch der Plan der Jägerin war gescheitert. Als Brutmutter des Hortes die dunkle Zeit aussitzen – vielleicht war es von Anfang an eine schlechte Idee gewesen, aber sie hatte einige Jahre lang funktioniert, ohne dem Hort noch weiter zu schaden. Ihr beider Aufmerksamkeit schwenkte um, als sie das Echo von Schritten hörten. Jemand kam den langen Gang herab, sie hörten das gelegentliche Platschen, wenn die eiligen Schritte auf eine der Pfützen trafen. Die Fackeln waren viel zu unregelmäßig und in zu großen Abständen angebracht, um immer alles sehen zu können. Doch wie sollte man für Eindringlinge sonst einen guten Hinterhalt legen können? Vor ihnen schälte sich ein Bote aus dem Dunkel. Einfache, einstmals weiße Leinen, eine derbe braune Lederweste und erdbraune Hose samt Schuhen – ihm war anzusehen, dass alles darauf ausgelegt war, schnell, zügig und unauffällig voran zu kommen. Orykene nickte ihm zu, war sein jugendliches Gesicht ihm inzwischen doch bekannt. Er besaß, wie die anderen Männer es sagten, eine Silberzunge. Ähnlich wie Kat, hatte er Ashes bisher immer schlechte Nachrichten überbringen können, ohne ihre Kammer mit gebrochenen Knochen zu verlassen. „Wie weit sind sie?“ erkundigte sich der Bote, als er stoppte und einen Moment auf das in seiner Lautstärke erneut anschwellende Stimmengewirr im Inneren lauschte. Als etwas knapp neben der Tür zerschepperte, zuckte er kurz zusammen, ehe er aufseufzte. „Wenn ich richtig mitgezählt habe, müssten das inzwischen die Teller sein.“ erwiderte Orykene und verzog die Lippen zu einem Lächeln. Es war schwierig, die Harpyie einzuschätzen. War sie freundlich? War sie amüsiert? Spottete sie über ihn? Wie wenig Orykene von Menschen im Allgemeinen und von Männern im Speziellen hielt, war inzwischen weitläufig bekannt. Spätestens, seit einer der Rebellen auf die dumme Idee gekommen war, zu glauben, eine im Schlaf überraschte und gefesselte Harpyie könne ihm keinen Widerstand mehr entgegen bringen. Man hatte Teile von ihm gefunden. Nicht alles, aber immerhin Teile. Kleine Andenken, die sie zur Warnung in den Schlafstätten seiner Freunde gelagert hatte. Der Bote hingegen wusste, dass sie durchaus auch anders konnte. Die frühere Brutmutter vermochte freundlich zu sein, wenn sie es denn wollte und ob sie das wollte, das hing – so schätzte der junge Bursche sie ein – sehr davon ab, wie man ihr gegenüber trat. Er zeigte bisher stets Respekt, eine Spur Demut vielleicht sogar. Sicherlich würde er in ihren Augen nie die gleiche Hochachtung erreichen, die sie Ashes entgegen brachte. Eine starke Frau, die mit einem Plan mal mehr, mal weniger gut gegen einen schier übermächtig wirkenden Feind vorging und dabei Männer völlig mühelos und ohne Widerworte zu dulden herum kommandierte. Natürlich musste das der Harpyie imponieren. „Was gibt es denn?“ erkundigte sich die Jägerin. Das stille Angebot, die Nachricht entgegen zu nehmen und selbst zu überbringen, war damit ausgesprochen. Der Bote jedoch schüttelte den schwarzlockigen Kopf und lehnte höflich ab – die Nachrichten waren zu wichtig. Mit eben dieser Bemerkung erweckte er auch Orykenes Aufmerksamkeit, weshalb sie Delilah mit einem einzigen Blick auf ihre Seite zog. Als der Junge schwer an die Tür klopfte, verstummte das Stimmengewirr einen Moment, um wenig später im Chor ein gereiztes „Was?“ erschallen zu lassen. Er trat ein – von der Hüterin und Orykene dicht gefolgt. Wie ein Stier schnaufend stand Ashes an der Kopfseite einer langen Tafel, das Messer, das zum neuen Wurf hatte herhalten sollen, noch fest umklammert und die Haarpracht völlig wirr und konfus. Weit näher beim Eingang wartete Alistair, einen Teller in der Hand, und begutachtete die Eindringlinge ebenso aufgewühlt. „Was ist?“ fuhr die Elbe den Boten an, der daraufhin zusammen zuckte und versuchte, das fürchterliche Chaos aus Scherben, Besteck und den Wachssplittern zerbrochener Kerzen zu ignorieren. „Es ist wichtig.“ „Dann steh da nicht rum, erzähl!“ blaffte die Elbe barsch. „Vor zwei Tagen versuchte jemand, das Stadttor zu passieren. Ein Einreisender. Er kam den Wächtern merkwürdig vor, also wollten sie ihn durchsuchen.“ begann der Bote seinen kleinen Vortrag, doch es war offensichtlich, das Ashes gerade jetzt keine Ausgeburt von Geduld war. Mit einem schlichten „Na und?“ brachte sie den Schwarzhaarigen einen Moment aus dem Konzept, ehe er wieder einsetzte. „Man fand die Leichen der Wächter bei Ereshkigals Rast. Wir haben sie in einer der Kammern gebracht, falls ihr sie euch ansehen wollt. Die Heiler sagen, ihr Blut sei verdorben. Als hätte man es wochenlang in der Sommersonne stehen lassen – ein unnatürlicher Zustand.“ Ab diesem Punkt wurde es sogar für die Anführerin der Rebellen interessant. Nicht nur, dass jemand die Stadtwache offen angriff – was dieser Tage schon selten genug war -, da hatte es jemand auch noch geschafft, ihrem Informationsnetzwerk zu entwischen. Offenkundig auch noch ein Magier oder Hexer, denn dem Wort der Heiler konnte man durchaus glauben. Mit einer sichtlich genervten Handgeste forderte sie den Boten auf, weiter zu reden. „Es gab nur drei Augenzeugen. Einen Händler, Meister Talsin und einen Bauern. Als ich hierher kam, wollte ich euch von drei blauen Laternen berichten, aber... nun... als wir von einem Feuer in der Stadt hörten und sich heraus stellte, dass besagter Händler darin umkam, habe ich mir erlaubt, einen Späher in die äußeren Höfe zu senden. Er kehrte gehetzt und kreidebleich zurück und erzählte, dass alles tot sei. Das Vieh, die gesamte Familie, sogar das Korn sei verwelkt.“ Selbst wenn Ashes zuvor noch der Sinn danach gestanden hatte, ihren Streit mit Alistair fortzusetzen, sobald die Tür erst einmal geschlossen war, ließ sie nunmehr davon ab. Sie legte das Messer auf den Tisch und zog die Stirn in Falten. Die Lage hatte sich damit geändert. Klang es eingangs noch nach einem möglichen neuen Verbündeten, einer weiteren Verstärkung für ihre Truppen, schien es sich plötzlich um einen möglichen Feind zu handeln. Da griff jemand ihre Informanten an. Die Wächter am Tor zu töten und zu verstecken, war sicherlich nicht der Aspekt, der Ashes störte. Auch die Augenzeugen zu beseitigen, erschien durchaus logisch – wenn jemand ungesehen in die Stadt wollte. Doch die Art, in der man das getan hatte, erweckte ihr Misstrauen. Mit einem Feuer ließen sich alle möglichen Dinge bestens vertuschen und noch bedenklicher waren da die Berichte des Spähers vom Zustand des Hofes. Drei blaue Laternen. Das Signal für Ashes und den Widerstand, dass der Besitzer der Laterne etwas Wichtiges oder zumindest Interessantes zu vermelden hatte... und da der Bote so explizit darauf hingewiesen hatte, stammten zwei dieser Laternen zweifellos vom Händler und dem Bauern. Die Dritte gehörte dann wohl Meister Talsin. Ashes kannte den Namen leidlich gut. Sie hatte eine fürchterliche Abneigung gegen Magier, einen regelrechten Hass auf ihre 'Zunft'. Sie empfand es nur als gerecht, dass die Zirkel zerschlagen worden waren. Sie hätte das am liebsten sogar gefeiert – doch für Feierlaune reichte ihr Gemütszustand schon seit Jahren nicht mehr aus. Stattdessen sah sie darin wohlbegründet das Problem, dass manche der nunmehr vogelfreien Magi sich hatten bestechen lassen und in die Dienste seiner Majestät übergetreten waren. Abtrünnige, die nunmehr die letzten loyalen Anhänger ihrerseits als Abtrünnige jagten. Der Elbe wäre es nur Recht gewesen, wenn dieses ganze Pack sich gegenseitig ausräucherte, dummerweise zählte Talsin zu ihren Informanten – zu den Guten obendrein. Wann immer es um Artefakte und Reliquien ging, wusste er Rat und Auskunft zu erteilen. Er verdiente sich den Schutz vor den Häschern des Königs, den Ashes ihm garantiert hatte. Wenn er irgendetwas über den Eindringling wusste, dann war er – gemessen an der Geschwindigkeit, in der sich diese Nachrichten überschlagen hatten – entweder bereits tot, oder auf bestem Wege, das zu werden. Und damit war Eile geboten. „Wir ziehen sofort los.“ konstatierte die Elbe ernst, ehe ihr Blick zu Alistair schwenkte und ein letztes Mal wütend funkelte, „Und du bleibst hier!“ In Begleitung Delilahs und Orykenes begab sich die Kriegerin in ihre Waffenkammer, legte ohne Umschweife und große Erklärungen ihre Rüstung an, warf sich ihren Umhang über und suchte den nächstgelegenen Ausstieg nach oben. Sehr zum Verdruss beider, mussten auch die Hüterin und die Harpyie wieder auf Tarnung und Unauffälligkeit setzen. Drei vermummte Gestalten, die des Nachts durch Samaras Gassen streiften. Dieser Tage glücklicherweise nicht ganz so selten. Ohnehin hätte es schon eine ganze Schar von Wächtern sein müssen, die Ashes erkannten. Ein paar einzelne Soldaten würden sich bei ihrem Ruf niemals trauen, sie offen anzugreifen und der Großteil der hiesigen Bevölkerung stand ohnehin auf Ashes Seite. Sie hätte sich nicht verstecken müssen, doch da Eile geboten war, wollte sie zügig voran kommen, ohne alle zwei Querstraßen von irgendwem angesprochen oder um irgendetwas gebeten zu werden. Als sie im Norden der Stadt angelangten, zog die Elbe ohne ein Wort ihr Schwert. Schon von Weitem fiel einem beim Blick auf das kleine Fachwerkshäuschen etwas auf: die Tür stand einen Spalt weit offen. Mit einem Tritt beförderte sie sie zur Gänze in den Raum hinein. Dicht von Orykene gefolgt, erstürmten sie die kleine Wohnstube. Dunkelheit herrschte im Raum. Selbst das Feuer im Kamin schien kaum genug Licht abzustrahlen, um gegen diese Schwärze anzukommen. „Wir sind nicht allein.“ flüsterte Delilah wachsam. Die Harpyie nickte zustimmend, bevor die Drei begannen, sich im Raum zu verteilen. Es war nicht schwer für die Jägerin, das Blut zu riechen, das in kleinen Tropfen und verwischten Spuren am Boden verteilt war. Auch Delilah bemerkte es zweifellos und Ashes sicherte lediglich ab, dass niemand mehr hier war, der ihnen gefährlich werden konnte. Während die Hüterin der Spur in die eine Richtung folgte und ihren Anfang fand – einen ziemlich übel zugerichteten, umgeworfenen Sessel neben dem Kamin – spürte Orykene ihr Ende auf: Talsin. „Hierher!“ wies die Harpyie. Sie trat zur Seite und wusste sich beim besten Willen nicht zu erklären, was hier vorgefallen war. Es gab Kampfspuren, ein Resthauch von Magie lag in der Luft und obgleich Talsin alles andere als wehrlos war, lag der alte Mann besiegt in der Ecke des Raumes, zusammengekauert, regelrecht gekrümmter Haltung, starrte an die Decke empor und zitterte. Es war keine Angst, die seine Muskeln in Bewegung versetzte... es war Gift. Das erkannte Ashes schon, als sie sich neben den flüchtigen Magier kniete. Seine ausgemergelte, faltige Hand hob sich, doch er besaß nicht mehr die Kraft, zu zeigen, was er ihnen hatte zeigen wollen. Schlaff fiel sie wieder auf die Bodendielen herab. Er blutete aus unzähligen Wunden, alle klein und rund, als hätte man ihm eine breite Nadel ins Fleisch gestochen. Keine davon war tödlich, selbst der Blutverlust hätte ihn in Stunden noch nicht so geschwächt – aber offenkundig waren das nur die Stellen, an denen das Gift eingedrungen war. Er wälzte den Kopf herum und selbst Orykene musste einen Moment von Ekel getroffen den Blick abwenden. Ein Teil seiner Kopfhaut mitsamt des dünnen, strähnigen Haares blieb schlicht an der hölzernen Wandtäfelung kleben. Als würde der Magier sich langsam auflösen. Als wäre diese Vermutung nach jenem Bild nicht schon kurios und widerwärtig genug gewesen, bemerkte die einstige Brutmutter tatsächlich, dass die Blutspuren zu schrumpfen begannen. An manchen Stellen, von denen sie genau wusste, dass dort kleine Tropfen ihre Aufmerksamkeit erregt hatten, gab es keine Spur mehr. „Er hat... hat nach dem St-... Stein gefragt...“ krächzte Talsin fast tonlos. Abermals hob sich die Hand des sterbenden Magiers, deutete mit aller Mühe nach Westen... ehe alles Leben in ihm erstarb. Das einstmals treue Zirkelmitglied und danach zumindest die Informationsquelle Ashes' war tot – und sein Henker wohl längst auf dem Weg zu seinem nächsten Ziel. „Wir müssen ihm zuvor kommen.“ beschloss die Elbe herrisch. Es war ihrer Stimme bereits anzuhören, dass sie wütend war, aufgebracht – in Jagdlaune. Sie erhob sich aus der Hocke und ließ den alten Magier zurück. In ein paar Tagen würde jemand durch den Geruch auf ihn aufmerksam werden und ihn beerdigen, so befand Ashes. Zumindest hatten sie keine Zeit, jetzt noch eine Grabrede zu halten. Während Delilah und Orykene bereits das Haus verließen, blieb die Elbe einen Moment noch zurück. Ihr Blick wanderte zum Kamin, in dem noch immer das kleine Feuer flackerte. Ziemlich viel Brennholz für so eine kleine Flamme... Sie blickte nach oben, zu den Seiten, zur Treppe, die in den oberen Stock führte. Talsin war tot – aber das Gefühl, hier nicht allein zu sein, war nicht mit ihm verstorben. Einige ausgedehnte Momente lang verharrte sie lediglich, die Klinge noch immer fest umschlossen, und starrte in die Dunkelheit hinauf. „Wo bleibst du?“ hörte sie von draußen Orykenes Geflüster. Schließlich verstaute sie die Schneide wieder und verließ die Wohnstube des Magiers. Sie folgte der Harpyie und ihrer Gefährtin ein gutes Stück die Gasse hinab, ehe sie stoppte. Hatte sie... da nicht gerade ein Flüstern gehört? Die Elbe drehte sich ruckartig um, gerade schnell genug, um zu sehen, wie die Flammen im Kamin kurz flackerten... und das Feuer dann erstarb. Völlige Dunkelheit füllte das Haus auf und selbst die erfahrene Kriegerin kämpfte einen Moment mit einer Gänsehaut. Nicht jemand... aber Etwas war in diesem Haus! Dennoch, so befand sie, war es für den Moment wichtiger, Talsins Hinweis zu folgen. Sie erklärte Orykene und Delilah, dass der Magier nur wenige Kontakte innerhalb der Stadt unterhalten hatte. Immerhin musste er sehr darauf bedacht sein, nirgendwo aufzufallen. Aber als Magier brauchte er natürlich Übung, sonst wäre er innerhalb weniger Jahre nicht einmal mehr fähig gewesen, eine verlässliche Aussage über die magische Kraft von Kaffeesatz zu geben. Gerade unter Betrachtung dieses Aspektes ergab seine Weisung nach Westen durchaus Sinn: Im Westteil der Stadt lag der Laden eines Juweliers, der für die gehobene soziale Schicht Samaras und teilweise sogar für den Könishof das Geschmeide fertigte. Garwinn stand schon seit Jahren in den Diensten der Elbe. Ein grandioser Schmied, vielleicht sogar der Beste in Lumiél. Krönchen, Ringe und modisch wertvolle Armschoner für irgendwelche Zeremonien herzustellen, behagte dem murrigen, eigentlich fast immer übellaunigen Zwerg nicht, aber letztlich handelte es sich dabei auch nur um seine Fassade. Wie viele es dieser Tage taten, war auch Garwinn Tag und Nacht auf den Beinen und ertränkte alle Sorgen und Gedanken in Arbeit. Er hatte erlebt, wie Nothrend gefallen war – zwei Mal. Erst hatte Verrat den zwergischen König gestürzt und dann war selbst der Verräter durch die Weisung des Königs umgekommen. Er hatte gesehen, wie Hunderte Eisenhände deportiert worden waren, wie man sie in Mienen als Zwangsarbeiter einsetzte, wie man sie reihenweise exekutierte. 'Als Exempel', hatte es gehießen. Seither schmiedete er für die Elbe ohne Unterlass. Eine Esse kühlte nie aus, sein Hammer stand nie still. Schwerter, Schilde, Rüstungen, er spannte Armbrüste, schnitzte Bolzen, fertigte Runen. Selbst das Geld, das übrig war, wenn er die Miete und seinen Lebensunterhalt bezahlt hatte, ließ er Ashes zukommen – ein stattliches Gehalt immerhin, das nach jedem Auftrag eines reichen Schnösels direkt in die Kasse der Kriegerin floss, um den Widerstand zu stärken. Und nicht selten fand sich auch jemand, der die von Garwinn gefertigten Stücke... nun... 'zurück holte'. Das Problem für den vermeintlichen Juwelier war eher die Rohstoffzufuhr. Es war in diesen Tagen völliger Kontrolle mehr als nur schwierig geworden, ein paar Tonnen Erz und Stahl, Kohle, Holz und diverser anderer Zutaten mal eben verschwinden zu lassen. Doch gerade die Runenschmiedekunst benötigte weit mehr als nur ein bisschen Herz und einen guten Hammer. Talsin hatte sich von Garwinn von Zeit zu Zeit Anteile seiner Zutaten gekauft. Ein bisschen Pulver aus Lykantrophenknochen, ein paar Harpyienfedern – von Orykene sehr, sehr widerwillig 'gespendet' –, eine Prise Drachenschuppenpulver. Waren, deren Exklusivität den Magier verraten hätte, hätte er auch nur ein einziges Mal einen Händler darum gefragt, der nicht in seine Flucht vor den Abtrünnigen der Krone eingeweiht war. Doch im Widerstand half man einander – wenn auch nicht immer ganz freiwillig. Garwinn unterstand direkt Ashes und konnte es sich nicht leisten, seinem Groll gegen Magiefähige freien Lauf zu lassen. So, wie Talsin mit den Zwergen im Streit lag und darüber ebenso hinweg sehen musste. Es kostete sie fast eine Stunde, die Stadt bis zur Westgrenze zu durchqueren. Samara war immer schon Lumiéls größte Stadt gewesen – vielleicht nicht von den Einwohnern her, da wurde es von Sundergrad überboten, aber doch zumindest flächenmäßig. Ashes verkniff es sich, noch anzuklopfen. Stattdessen platzte sie einfach durch die Tür in den Laden. Feine Schaukästen aus gezimmertem Holz mit allerhand Gravuren priesen hinter dicken, dreischichtigen Glasscheiben die Schmiedewaren des Zwerges an. Eine junge Dame besah sich gerade einen Thresen voller Halsketten und Anhänger, als die Elbe mit ihrem vermummten Gefolge eintrat. „Raus hier.“ blaffte sie die Adlige an, die zwar verstört und geradezu empört über diese rüde Art einen Blick zu Garwinn warf, jedoch tatsächlich verschwand, als dieser lediglich eine davon scheuchende Geste aufbrachte. „Warst lang nich' da, Mädel.“ brummte der Zwerg und griff unter den Hocker, auf dem er saß. Er förderte einen Leinenbeutel zu Tage, der schon kräftig klimperte und klirrte, als er ihn auf dem Tisch absetzte. Ashes aber wiegelte ab, er solle das Ding wieder wegstecken – dafür müsse sich später Zeit finden. „Wie du meinst. Also, was ist los?“ kam der Schmied direkt zur Sache. Unlängst hatten Delilah und Orykene sich im Raum verteilt, suchten nach Fallen, suchten nach Schlupflöchern, nach 'Steinen', nach allem. Selbst den Hintereingang des Hauses und die oberen Stockwerke prüften sie. „Talsin ist tot. Jemand ist in die Stadt gekommen und legt alle um, die ihn gesehen haben.“ konstatierte die Elbe in scheinbarer Beiläufigkeit. „Pah! Geschieht ihm Recht. Schau mich nicht so an, ist mir egal – der hat's längst verdient! Verdammtes Magierpack...! Aber was hat das mit mir zu tun? Ich verlasse meine Schmiede nicht, das solltest du wissen.“ erklärte der Zwerg ihr brummend. Aus seiner Warte war Talsins Tod etwas, das ihm den Tag versüßte. Er bedauerte nur irgendwie, dass er ihm nicht selbst das Licht hatte löschen dürfen. Zu groß war sein Hass auf diese Zunft, die für den Fall Nothrends verantwortlich war. „Er sagte, sein Mörder hatte nach einem Stein gefragt.“ „Und? Versuch's bei 'nem Steinmetz, Mädel.“ „Er hat nach Westen gedeutet.“ „Die Straße runter is' einer.“ „Du hast mit ihm gehandelt. Führst du Artefakte aus Stein?“ Als würden beide kontinuierlich aneinander vorbei reden, hetzte ein Schlagabtausch den Nächsten ohne Punkt und Komma. Sie gingen nicht einmal auf das ein, was der andere gesagt hatte – bis Ashes nach seinem Sortiment fragte. An eben dieser Stelle wurde die Suche geradezu enttäuschend. Garwinn teilte ihr nicht nur mit, dass er keinerlei Artefakte führe, sondern obendrein, dass die einzigen Steine, die er im Laden und in der Schmiede hätte, Edelsteine wären, die am Ende geschliffen und eingefasst in irgendwelchen Ringen und Kettchen hier in den Kästen landen würden, damit feine Herrschaften sie bestaunten und ein stattliches Vermögen dafür ausgaben. Jemand, der scheinbar mühelos drei Stadtwachen tötete, einen ganzen Hof massakrierte, ein Haus anzündete und ebenso widerstandslos einen Artefaktmagier umbrachte, der würde sich wohl kaum dafür interessieren, welchen Ring er sich holen sollte – lieber einen mit Rubin oder einen mit Saphir? Just als die Elbe glaubte, ihre Frustration könne sich nicht mehr steigern, kehrten Delilah und Orykene von ihrem Rundgang zurück. Während Erstere die Schmiede überprüft hatte, war Letztere das obere Stockwerk Raum für Raum durchgegangen. „Nichts.“ merkte die Jägerin an – und die Dryade nickte zustimmend. „Das kann keine Sackgasse sein!“ fluchte Ashes aufgebracht und schlug mit dem gepanzerten Handschuh gegen einen der Schaukästen, dessen Inhalt sich daraufhin scheppernd neu verteilte. Damit standen sie wieder am Anfang – nur war die Situation dahingehend schlechter, dass sie nun keine Spur mehr hatten. Talsin war tot und sein Hinweis nichts wert. „Vielleicht sind wir zu früh dran?“ mutmaßte die Anführerin zweifelnd. Was, wenn Talsins Henker mehr Zeit brauchte, um hierher zu finden? Immerhin war die Stadt recht groß und wenn man sich darin nicht auskannte... war es möglicherweise durchaus denkbar? „Wir bleiben hier. Das scheint mir unsere beste Chance zu sein. Wir warten ab und werden zuschlagen, wenn er hier aufkreuzt.“ stellte die Kriegerin den neuen Plan vor. Keiner, der durch Rafinesse glänzte, aber es war zumindest überhaupt ein Plan. Gemäß dessen machte sich auch Garwinn bereit, einen Angriff abzuwehren. Für einen Schmied vielleicht ungewöhnlich, aber bei Zwergen im Allgemeinen sagte man nichts, wenn sie eine Axt mit sich herum trugen... und es war ja auch nur eine Kleine. Sehr zum Amüsement des Zwerges schienen Menschen nämlich ständig zu denken, dass eine Waffe ungefährlicher werden würde, nur weil sie kleiner war. Vermutlich kein Wunder, das niemand den König aufgehalten hatte. Er war auch klein. Den hielt zu lange einfach niemand für eine Gefahr...! Die drei 'Gäste' seines Ladens verschanzten sich sicher in Positionen, die vom Verkaufsraum aus schwer einsehbar waren. Überhaupt, so bewies sich, hatte der Schmied offenbar ein gewisses strategisches Können bewiesen, als er den Aufbau seines Ladens ersann. Es war perfekt, um Hinterhalte zu legen. Ashes selbst verbarg sich dabei so dicht wie möglich bei Garwinn. Nicht nur, um ihn im Fall der Fälle schützen zu können – Garwinn war wertvoller als ein Dutzend Talsins -, sondern vor allem, um sich die Langeweile während der Wartezeit zu vertreiben. Sie war nach wie vor nicht sonderlich gesprächig, aber besser, man hatte jemanden, mit dem man reden konnte, wenn man es wollte. Fast zwei Stunden vergingen und die Sensation dieser Zeit bestand in zwei Kunden, die dicht aufeinander den Laden betraten. Ein gewisser Adelsmann wollte ein Schmuckstück in Auftrag geben, eine edle Halskette als Wiedergutmachung für seine Frau, dass er sie betrogen hatte. Kurz darauf erschien eine Dame im Laden, nicht adlig, aber offenkundig unter dem Schirm eines Gönners stehend, und holte einen Ring ab, den ein gewisser, kurz zuvor anwesender Adelsmann ihr zugesichert hatte, wolle er sich doch in Kürze von seinem Weib trennen. Es waren durchaus amüsante Begebenheiten oder hätten es sein können, wäre die Spannung in der Luft nicht fast greifbar gewesen. Die Kundschaft bemerkte dergleichen natürlich nicht, aber für Ashes, Orykene, Delilah, sogar für Garwinn selbst war es eine reine Nervenprobe. „Was für ein Steinmetz ist das eigentlich?“ erkundigte sich die Anführerin, als die Langeweile ihr die Geduld zu rauben drohte. „Hm?“ „Der die Straße runter.“ „Ach so. Ein Langer. Keine Ahnung, wie der heißt. Er nutzt immer einen Tiger als Zeichen. Protzig, wenn du mich fragst. Aber er stand meinem Volk wohl angeblich mal sehr nahe, er schmiedet ein paar einfache Runen. Wenn du mich fragst, eine Schande. Heutzutage wird auch einfach alles verscherbelt. Die Magier verkaufen ihr komisches Gebräu und... naja... wir verkaufen die Runentechnik.“ Es war mühelos herauszuhören, wie bitter Garwinn darüber dachte. Sein Volk hatte viele schlimme Zeiten er- und durchlebt, aber nie zuvor waren sie so düster gewesen, dass die Zwerge Wissen hatten verkaufen müssen. Die kurzlebigen Rassen wie Menschen und Tieflinge waren einfach nicht fähig, die Konsequenzen ihres Handelns zu ermessen – man wollte ihnen nicht mehr Macht in die Hand legen als unbedingt nötig. Gerade deshalb hatten die Zwerge immer darauf geachtet, den Menschen keinen Einblick in ihre Technologien zu gewähren. Und nun das. Traditionalisten wie Garwinn befürchteten deshalb den Untergang der zwergischen Kultur. Seine Majestät würde alles aus ihnen heraus pressen. Elektrizität, Dampfkraft, Schießpulver, alles. Am Ende wäre das Volk der Zwerge für ihn entbehrlich – und sie würden verschwinden. Restlos. Wie die verdammten Spitzohren. „Sag mal,“ setzte der Schmied wieder ein, bemüht, das Thema zu wechseln, „hat Alistair dir von seinem Spielzeug erzählt? Wenn du mich fragst, ist der Lange einfach irre.“ brummte der Zwerg und fing sich von Ashes einen Blick ein, der nicht frostiger hätte sein können. Selbst der Schmied schluckte da schwer. Ashes Launen waren... gefährlich. Bestenfalls. Und offenkundig war er gerade dabei, einen mehr als wunden Punkt zu berühren – etwas, das man nach Möglichkeit eher vermied. Daher erschien es zumindest dem Schmied recht praktisch, dass das Thema nicht weiter vertieft werden musste, denn ein neuer Kunde, so schien es, betrat den Laden. Tatsächlich jedoch schob sich ein junger Bursche mit schwarzen Locken, einer einfachen, braunen Lederweste und suchendem Blick durch den Türspalt. „Ist sie hier?“ erkundigte sich der Bote bei Garwinn, der lediglich schräg nach unten neben sich nickte. Direkt hinter dem Verkaufstresen erhob sich schließlich die Elbe und musste zugestehen, dass die Anwesenheit des Boten hier sie durchaus überraschte. „Ich habe euch gesucht, es ist... wichtig.“ erklärte sich der Junge, ehe er eilig fortfuhr, „Es gab einen weiteren Toten.“ Schon zu diesem Zeitpunkt wurde der Elbe schmerzlich bewusst, dass sie falsch waren. Es hatte beim nächsten Ziel nie um den Schmied oder eines seiner Ausstellungsstücke gehandelt. Der Bote klärte die Anführerin darüber auf, dass ein alter, zynischer Zausel im Westteil der Stadt ums Leben gekommen war. Genickbruch, so schien es, doch seine Wohnung war restlos verwüstet. Schon als Ashes den Namen hörte, wusste sie genau, wohin sie nun mussten. „Los, packt euch, wir müssen zum Südfriedhof! Vielleicht können wir etwas Zeit wieder aufholen!“ heischte die Elbe ihr Gefolge an. Orykene und Delilah sprangen aus ihren Verstecken und drängten sich an dem verdutzten Boten vorbei. Selbst Ashes gab keinerlei Erklärungen von sich, doch sie kannte diesen Alten. Er war der Friedhofswärter gewesen und hatte über Jahrzehnte hinweg den Acker bestellt, gepflegt und mit ein paar jungen Burschen zusammen die Gräber ausgehoben. Seit Phillipes Wahn offenkundig wurde, lag Samaras Südfriedhof unter strikter Bewachung durch städtische Truppen. Nicht die einfache Stadtwache, die man praktisch mit einem Augenzwinkern schon kaufen konnte – nein, Soldaten. Bellatoren im Dienste seiner Majestät, die Kriegsveteranen, die Elite des Heeres von Lumiél. Würdige Gegner für Ashes. Sie hatte oft versucht, herauszufinden, was genau der König dort eigentlich bewachen ließ und hatte es unter viel Mühe auch in Erfahrung gebracht. Vor Jahren hatte ein Nekromant, ein Überlebender der Zirkel, den König zu töten versucht. Er war mit einer sehr stattlichen Armee Untoter auf La Coeur zu marschiert. Tote für seine Beschwörungen zu finden, war in diesen Zeiten ja nicht schwierig. Die Verteidiger hatten dieses Heer rasch ausgedünnt, aber erst im letzten Moment begriffen, dass es sich nur um ein Ablenkungsmanöver handelte. Bis vor die Tore des Thronsaals hatte der Magier es geschafft und hätte er nur einen Fuß hinein setzen können, hätte das Gift in seiner Manteltasche bei Zerbrechen der Flasche das ganze Stockwerk ersticken lassen. Doch dazu kam es eben nicht. Die Berater seiner Majestät warnten, dass es sicherer wäre, alle Maßnahmen zu ergreifen. Nekromanten agierten näher an der Grenze des Todes als die meisten anderen Lebewesen, oftmals waren sie schon halbe Untote und sicherten sich gegen mögliche 'Zwischenfälle' mit diversen Zaubern, Amuletten oder Pakten ab. Also verbrannte man all seine Habe, bestattete ihn in einem gewaltigen Labyrinth von einem Mausoleum in geweihter Erde und postierte eine stattliche Schar Wachen, sollte er tatsächlich auferstehen und aus dem Labyrinth heraus finden. Für Ashes waren die Informationen wertlos gewesen. Was nützte ihr ein toter Nekromant, der nichts mehr besaß? Zumal von einer kleinen Armee bewacht? Doch nun fügte sich das Bild durchaus zusammen. Vielleicht war der Fremde ebenfalls ein Überlebender, vielleicht ebenfalls ein Nekromant. Zumindest würde das zu den verdorrten Feldern draußen auf dem Hof passen, zum toten Vieh und dem vergifteten Meister Talsin. Was immer er war – er würde mit Widerstand rechnen. Das hatte sich schon gezeigt, als er so rasch, leise und mühelos die Zöllner tötete. Nun hatte sich das Blatt von Neuem gewendet. Selbst wenn dieser Hurensohn ihr halbes Informationsnetzwerk zerstört hätte auf seiner Jagd nach Antworten, Artefakten oder was immer er suchte – er wäre ein machtvoller Verbündeter, sollten sie ihn abpassen können. Er durfte nur jetzt nicht einfach so wegsterben. Sie hetzten durch die halbe Stadt und erreichten den Friedhof wenige Stunden vor Morgengrauen. Noch war es finster – doch längst nicht dunkel genug, um zu verbergen, was vor sich gegangen war. „Die Feierlichkeiten sind schon vorbei...“ spottete Ashes durchaus mit einem Unterton der Genugtuung, als sie durch das Eingangstor des Friedhofes schritten. Unzählige Leichen säumten den Pfad bis zum Eingang der Gruft. Bellatoren, allesamt. Schwere Panzer, viele davon mit Siegeln und Familienwappen, Hellebarden, Schwerter, Bögen, Armklingen, Chakras, nichts davon hatte ihnen das Leben retten können. Es war beeindruckend, dieses Gemetzel zu sehen – aber es stimmte Ashes auch nachdenklich. Ein Magier mit solcher Macht war gefährlich, zweifellos. Die Frage war jedoch eher, ob er sich ihr anschließen und mit ihr zusammen gegen Phillipe kämpfen würde, oder ob er nicht viel eher versuchen würde, sie zu verdrängen – und das wäre völlig inakzeptabel. Sie hatte zu viele Jahre gelitten und in diesen Plan investiert, um jetzt von einem dahergelaufenen Flüchtling ersetzt zu werden. Das war ihre Stadt, ihr Untergrund und ihr letzter Kampf! Sie schritten zwischen dem Gemisch aus Bodennebel, Blutlachen und Pflastersteinen umher, traten die Stufen der Treppe hinab, kühl, stellenweise glitschig, und fanden die Tür zum Labyrinth aufgebrochen vor. Massive Steinplatten, mit denen man das Innere versiegelt hatte... und nun lagen sie zertrümmert und stellenweise fast schon zu Staub zermahlen vor ihnen. Allmählich formte sich in der Elbe der Verdacht, dass dieser Magier nicht das war, was sie zu sein glaubte. „Wir müssen ihn aufhalten.“ stellte Delilah fest, als sie durch die zertrümmerte Pforte schritt, fast so, als hätte sie Ashes' Gedanken erahnt. Die Hüterin spürte eine dunkle Präsenz in der Nähe, die ihre Innereien gehörig in Aufregung versetzte. Etwas war hier nicht in Ordnung, nicht... richtig. Ein Blick nur genügte, damit sie die Elbe warnte – und ihren Platz einnahm. Delilah ging voran, sich ihrer Sache sicher. Würde sie dem Gefühl dieser Präsenz folgen, dann würden sie zweifellos ihr Ziel finden. Doch sie besorgte viel mehr, das dieses Gespür überhaupt war. Nie zuvor war ihr etwas Derartiges untergekommen. Sie schritten einen langen, staubtrockenen Gang entlang. Einzig die Fackel, die Ashes entzündet hatte, spendete einen schwachen Lichtschein und ließ erahnen, wie der Tunnel beschaffen war. Lang, geradlinig, schmucklos. Eigentlich perfekt, um sich darin zu verlaufen, doch das änderte sich schlagartig, als sie eine weitere, ebenfalls durchbrochene Tür passierten. Der Korridor öffnete sich vor ihnen, wurde deutlich größer und breiter. Hier fand sich nicht der banale Backstein, der den Eingangstunnel geschirmt hatte, sondern massive Granitblöcke, die einen gewaltigen, unterirdischen Gang deckten. Viel imposanter aber als die Bauart des Tunnels war, was sie darin fanden. „Das ist... unglaublich...“ brachte Orykene hervor. Sie hatte von dergleichen gehört, hätte aber nie erwartet, so etwas zu sehen. Vorsichtig schritt das Dreigespann an die Wand heran, genauer genommen an das, was in der Einbuchtung der Wand stand. Aus massigen Granitteilen geschlagene Blöcke, von Lehmteilen und Metall ergänzt, wie es schien, erhob sich vor ihnen ein Konstrukt. Ein Golem von wohl zweieinhalb Metern, bullig breit und mit leeren, dunklen Augenhöhlen. Während Orykene Delilah erklärte, was es mit diesem Ding auf sich hatte, bemerkte Ashes mit einem wenig überraschten Schnauben das eingravierte Tigersymbol auf der Brust des Steinriesen. Ein Tiger. Hatte Garwinn nicht erzählt, dieser Steinmetz am Ende der Straße würde dergleichen für eine Werke verwenden? Samara, die große Stadt... pah – nur ein Dorf! „... und wenn ein Magier sich schützen wollte und die Macht besaß, dann erschuf er aus Stein, Metall oder Erde... soetwas. Einen Leibwächter.“ vollendete die Harpyie ihre kleine Lektion. Manche Bekanntschaften zahlten sich durchaus aus. Sie hatte selbst nie gewusst, was ein Konstrukt war... bis sie Drakimh begegnete. Heute wusste sie so manches über Artefakte zu sagen, das ihrem Volk auch weiterhin rätselhaft erschien. Aus einer Ahnung heraus nahm Ashes Delilah die Fackel ab und leuchtete, bemüht, weiter in den gewaltigen Gang hinein. Spätestens da blieb selbst der sonst so abgebrühten Elbe einen Moment die Sprache weg. Reihe um Reihe. Der Gang erstreckte sich weit in beide Richtungen, und alle paar Meter war in der Seitenwand – zu beiden Seiten – eine Einbuchtung, gerade groß genug für einen solchen Golem. Und alle Alkoven waren gefüllt. Wie lang mochte dieses Tunnelsystem sein? Wie viele dieser Dinger gab es hier? „Hunderte...“ konstatierte Orykene erahnend. Einen toten Nekromanten mit einer ganzen Armee bewachen? Unfug! Selbst seine Majestät konnte nicht dämlich genug sein, so etwas zu glauben. Aber solche Gerüchte waren praktisch. Man konnte ein ganzes Regiment Soldaten aufstellen, ohne das jemand nachfragte. Selbst Ashes hatte so nichts herausfinden können – denn wer wunderte sich schon darüber, dass ein Friedhof große Lieferungen Lehm und Steine geschickt bekam? Zweifellos gab es hier unten irgendwo ein Atelier oder dergleichen, eine Schmiede vielleicht sogar, in denen diese Dinger hergestellt wurden. Aber ein Golem wurde normalerweise von einem Magier beherrscht. Sie waren einfach nur große, nutzlose Klötzer, solange man ihnen kein Leben einhauchte. Selbst die Runen auf ihren Leibern waren dazu nicht fähig. Es musste irgendeine Form von... Bedienmöglichkeit geben. Dass der König sich in seinem Größenwahn hier unten eine neue, oder besser wohl eine weitere Armee schmieden ließ, konnte nicht geleugnet werden. Aber er würde sich diese Mühe nicht machen – oder sie anderen bereiten -, wenn er nicht von der Funktionalität und Loyalität überzeugt wäre. So sehr Ashes sich aber bemühte, am Golem selbst und in dessen kleiner Ausbuchtung fand sich nichts. Allein diese Information jedoch war Gold wert. „Wir sollten weiter. Er wartet auf uns.“ bemerkte Delilah nervös. Ashes nickte ihr zu und sie schlängelten sich unwissend und orientierungslos durch ein gewaltiges Labyrinth, das sich unter halb Samara erstreckte. Tatsächlich lag Orykene mit ihrer Vermutung nicht falsch – sie konnten noch von Glück reden, wenn es 'nur' hunderte Golems wären. Schließlich, nach gefühlten Stunden in der Dunkelheit und nicht mehr als dem ständig flackernden Fackelschein, erreichten sie ein weiteres Tor. „Da passt ja ein Drache durch!“ wunderte sich Orykene über die Ausmaße des Durchganges. Tatsächlich waren die schweren Granitflügel mehr als unpraktisch – man brauchte zwei oder drei Mann, um sie aufzuschieben oder wieder zu schließen. In einer Grabkammer, in der man etwas einsperren wollte, war das natürlich wiederum eine gute Idee. Beide Flügel waren verziert mit allerlei Gravuren, die vermutlich sogar eine Geschichte erzählen sollten. Möglicherweise die vom Aufstieg und Fall des Nekromanten oder es war nur eine weitere kleine Siegerehrung für Phillipe – keiner der Drei interessierte sich dafür. Viel wichtiger erschien ihnen, dass die Tür einen Spalt offen stand. Delilah hatte es ja angekündigt – sie wurden erwartet. Als sie sich zu dritt ins Innere drängten, wurde ihre eigene Fackel überflüssig. Ein kreisrunder Raum mit einem Säulengang. Acht wuchtige Stelzen trugen das Tonnengewölbe der Kammer und verhinderten, dass die Tonnen von Erde und Geröll herabstürzen und den Sarg im Zentrum der Kammer völlig verschütten würden. Der Sarg selbst schien ebenso aus massivem Stein zu bestehen – und stellte im Moment den 'Thron' des Gesuchten dar. Ashes' Iriden weiteten sich, als sie die Figur erkannte. Ein kräftiger, bulliger Körper, muskulös und trainiert. Er mochte um die vierzig Jahre alt sein, doch sie wusste aus sicheren Quellen, dass das bestenfalls der Anschein war. Er war älter. Viel viel älter. Sein kahler Schädel reflektierte hier und da scheinbar das Lichtspiel der Fackeln und er rührte sich nicht vom Fleck, saß nur dort auf der Grabplatte und wartete. Ashes registrierte die Axt neben ihm, offenkundig in Griffreichweite. „Du kommst nicht allein?“ erklang die tiefe, basslastige Stimme des Fremden. Sein Blick hielt Ashes fixiert, offenkundig gewillt, Orykenes und Delilahs Gegenwart völlig zu ignorieren. Die Anführerin des Dreigespanns nickte lediglich, statt große Reden zu schwingen. Man musste ein Dummkopf sein, jetzt und hier zu glauben, dass eine friedliche Einigung möglich wäre. Sie hatte von diesem Mann gehört. Er hatte Ärger gemacht... hier und dort war er aufgetaucht, manchmal, so munkelte man, war er nicht allein gewesen. Er tötete in der Regel ohne jede Skrupel, Mann, Frau, Alte, Kinder – es schien ihm alles völlig gleich zu sein. Auch zeichnete sich keinerlei Muster ab, keinerlei tiefgreifender Plan. Dann verschwand er. Selbst, wenn man ihm Wunden beibringen konnte – und er kämpfte angeblich mit allen gebotenen Mitteln, und das recht gut -, dann heilten sie in einer Weise, die für Menschen einfach nicht natürlich sein konnte. „Du nennst dich Thorin, nicht wahr?“ erkundigte sie sich bei ihrem Gegner. Seine Mundwinkel zuckten einen Moment, ehe seine Hand sich ohne jede Hast auf den Griff der Axt legte. Er rutschte von der Sargplatte herab und musterte einen Moment ihre Begleitung. „Das hatte ich zwar so nicht bestellt... aber ich denke, damit werde ich dennoch fertig.“ eröffnete er geradezu großmütig – und schon im nächsten Moment war er plötzlich verschwunden. Finsternis füllte die Kammer, als alle Fackeln abrupt erstarben. Ein Schaben erklang, Knarren, Krächzen – und die schwere Granittür schlug ins Schloss. Niemand hatte sie geschoben. „Ceteus!“ rief Delilah in einem Moment der Erkenntnis aus. Phylia, die Göttin der Natur, hasste nichts mehr als die Untoten, doch wie ihr Vater und ihre Mutter und wie Mermerus persönlich war sie eine Feindin des Schatten. Ein amüsiertes Lachen ertönte, als die erste Attacke erfolgte. Ashes konnte gerade noch ihr Schwert zur Abwehr empor reißen, ehe die Axt es ihr aus der Hand schlug. Ein kräftiger Tritt gegen ihren Brustpanzer und die Elbe flog zu Boden – ohne ihren Feind auch nur gesehen zu haben. Er war nicht hier, nicht greifbar, besaß nur einen Körper, wenn er das wollte. Die Schatten waren seine Heimat geworden, sein Versteck, seine Waffe. Und Ashes begriff, dass er mit ihnen spielte. Er hatte all die Bellatoren dort oben abgeschlachtet, mühelos, weil es Nacht war. Keine Lichtquellen. Hier drinnen war es noch dunkler – und er tötete sie nicht einfach. Er spielte. Wut kroch in der Elbe empor. „Festnageln!“ rief sie mit vor Zorn zitternder Stimme aus. Ein altbekannter Befehl. Die Harpyie stieß ihren Kriegsschrei aus, während Elbe und Hüterin sich die Ohren zuhielten. Ein schrilles Gellen, das von den Wänden zurückgeworfen wurde. Mitten aus den Schatten heraus stolperte der kahlköpfige Ceteusdiener zurück, unfähig, diesem Schmerz zu entgehen und kaum, dass Orykene ihren Schrei abbrach, schoss Delilahs Hand empor. Sie erkannte schwach die Umrisse des Feindes und binnen Sekunden brachen Ranken aus dem Boden. Tödliches Gift an den Dornen tragend, wanden sie sich seine Haut aufkratzend um Thorins Arme und Beine, doch der Krieger lachte nur schallend, als Ashes zudem mit dem Schwert auf ihn zu kam. Noch bevor sie ihren Hieb ausführen konnte, zerstob der Körper des Mannes in die Schatten und die Ranken fielen ziellos zu Boden. Sekundenbruchteile vergingen, dann begann der Gegenangriff. Orykene wurde wuchtig getroffen, ein tritt in die Kniekehle ließ sie einbrechen, ein Schlag mit der Stirn raubte ihr jede Orientierung und ein letzter Kinnhaken beförderte die Harpyie völlig zu Boden. Sekundenbruchteile, in denen Delilah nicht zu reagieren fähig war, ehe auch sie übel einstecken musste. Zu Ashes' Zorn mischte sich immer mehr Verzweiflung. Sie waren geliefert, sie würden hier unten draufgehen und niemanden würde es interessieren, ihr Plan würde scheitern und all die Jahre waren umsonst. Doch alle Wut half ihr nicht. Sie schlug um sich, sie versuchte zu blocken, doch als hätte er jeden Zug schon vorhergesehen, trafen Thorins Attacken präzise die Lücken in ihrer Verteidigung und schickten auch die Elbe zu Boden. Keiner seiner Gegner war tot – aber es war fraglich, wie viele dieser Runden sie überstehen konnten. Dann jedoch... wandelte sich das Blatt. Es begann mit dem schweren Geräusch eines Aufstampfens, das direkt vor den Granittoren verebbte. „Kopf einziehen!“ brüllte die Elbe noch, dann surrten auch schon zig Granitsplitter Geschossen gleich durch die Luft. Etwas brach durch den Eingang der Kammer – und zwar nicht gerade zimperlich. Ein fürchterlicher Lärm brach sich Bahn, als etwas wieder und wieder gegen das Tor schlug – bis es berstend nachgab und Trümmer in der Größe eines Kindes durch den Raum flogen. Durch den Einbruch aber schritt etwas, das der meisterhaften Schmiedekunst Garwinns entsprungen war. Seinem Amboss war dieses Ding entwachsen... und Alistairs skurrilen Ideen. „Raus hier!“ tönte die Stimme des Diebes. Schon im nächsten Moment drehte sich das Konstrukt in der Größe der Golems um einige Grad nach links und ein ohrenbetäubendes Fauchen setzte ein. Eine Ladung einer Flüssigkeit verteilte sich im Raum. Ein Rezept der Goblins – und hochgradig entzündlich. Der Flammenwerfer verteilte das Gemisch auf den Wänden, den Säulen, dem Sarg, überall war plötzlich Licht vom sich ausbreitenden Brand. Thorin besaß immer weniger Rückzugsorte und sprang aus den Schatten hervor. Kaum entdeckt, fuhr die übergroße hydraulische Kralle, unter der sich Alistairs verstümmelter Arm befand, empor und warf einen kleinen Sprengkörper. Die Detonation erschütterte die Kammer, ließ Staub und Erde von der Decke rieseln, doch der Feind entkam wieder in die Schatten. Die Situation hatte sich für ihn mehr als unschön entwickelt und nun war Thorin es, der um sein Überleben kämpfen musste. Eben dieser Kampf fand sein Ende, als Orykene sich trotz des betäubenden Geruches zu Alistairs Konstrukt begab und tief Luft einsog. Ihr wurde schwindlig vom Geruch der Chemikalien, doch es reichte, um ein weiteres Mal ihren Schrei zu entfesseln. Alistair, der zur Gänze in dem Anzug aus Metall, Mechanik und Hydraulik verborgen war, wurde davon nicht beeinflusst – aber Thorin stürzte erneut aus den Schatten und die Granate, die der Dieb diesmal warf, zerschmetterte den Sarg... und begrub den Krieger unter tonnenschweren Granitteilen. Das Konstrukt setzte sich in Bewegung, stampfte ungerührt durch die Trümmer und Flammen – und barg aus einem Splitter der Sargplatte etwas, das er hinaus trug. Außerhalb der Kammer ließ er es Ashes zukommen. „Krone?“ fragte Delilah irritiert und deutete auf das runde Stück Metall. Ein Tiger war als Emblem eingearbeitet worden – und Ashes begriff, was sie vor sich hatte. Eine Möglichkeit, die Heerscharen an Golems, die in diesem Gewölbe versteckt worden waren, zu beherrschen. „Was ist mit ihm?“ verlangte die Elbe zu wissen und deutete über ihre Schulter. „Tot.“ erwiderte Alistair zufrieden. Natürlich würde er sich trotzdem mit Ashes streiten müssen, hatte sie ihm doch verbieten wollen, dieses Ding zu besteigen und sein Leben zu riskieren. Er war schließlich kein Kämpfer – aber die schiere Feuerkraft des Konstruks hatte ihm, so glaubte er, ein gewichtiges Argument in die Hände gespielt. Während das vierköpfige Gespann davon zog, erstarben nach und nach die Flammen in der Grabkammer. Eine zierliche, kleine Gestalt schälte sich aus den Schatten hinter einer der Säulen. Sie störte sich nicht an der Hitze, die die Steine des Bodens noch immer ausstrahlten. Wichtig war jetzt nur eines... Barfuß schlich sie sich zielsicher schreitend an den Trümmern vorbei und nahm der längst verfallenen Leiche des toten Nekromanten einen Stein aus der kalten Grabesklaue. Ein schwarzer Diamant, wundervoll geschliffen, sehr kostbar und an einer Seite zugespitzt. Mit dem Stück begab sie sich zu der zerschmetterten Gestalt, die noch immer reg- und leblos unter Teilen der Grabplatte verborgen lag. Langsam senkte sie sich herab, setzte die Spitze des Diamanten über seiner Brust auf das Fleisch und flüsterte etwas. Zufrieden beobachtete sie, wie der Diamant ein Eigenleben entwickelte, sich tief in Thorins Brust hinein schraubte und dort ersetzte, was einstmals sein Herz gewesen. Neues Leben kam in den Körper und der Krieger begann, sich aus den Trümmern frei zu schälen. „Wir sind hier fertig. Spute dich... wir haben noch viel vor.“ frohlockte Ninafers samtene, gleichmütige Stimme, ehe sie sich erhob. Dann kehrte Stille ein – und die Grabkammer verwaiste. Kapitel 2: Die Sünden der Ahnen ------------------------------- Jahrhunderte lang war der Sonnensee die Zierde des Grünlandes. Ein großes, weitläufiges Gewässer, von Laubwäldern mittlerer Dichte umringt. Bäume von ungeheurer Größe und Stärke, die ihre Wurzeln tief in die feuchte Erde trieben und so alt wie das Land selbst zu sein schienen. Unzählige Holzstege führten zögerlich und vorsichtig einige Meter auf das Wasser hinaus, ehe sie verebbten und dem Staunenden die Schönheit des Sees zugänglich machten. Kristallklares Wasser, das in sanften Wellen wogte, bewegt von den Schlägen der zahlreichen Fische darin. Die Flora und Fauna im und um den Sonnensee war immer schon einzigartig und für viele Besucher einer Reise wert. Zumal das Gleiche für Samara galt, dessen äußerste Bezirke sich wie der schüchterne Bub bei seinem Mädchen zärtlich anschmiegten. Gasthäuser mit gutem Essen, billigen Zimmern und weichen Betten, eine Stadt voller Leben, ein Schmelztiegel unzähliger Kulturen, Sprachen, Künste und Baustile. Zeichner in den Gassen, die Portraits anfertigten, Schmiede, die auf offener Straße unter den begeisterten Blicken der Passanten neue Waffen, Rüstungen und Schmuck herstellten. Krämer, die alle nur erdenklichen Waren aus aller Herren Länder anpriesen und beherzt um Preise feilschten, ganz wie man es aus Sundergrad kannte – nur ohne die Arglist. Samara und der Sonnensee waren eine Zierde des gesamten Staates Lumiél. Waren. Das hatte sich alles längst geändert. Nicht ein sanfter Umbruch war es, keineswegs. Dergleichen dauerte Jahrhunderte und vollzog sich schleichend. Gewiss mochte so manches Gift auf diese Weise das Land durchzogen und es kränklich gemacht haben, doch mit der Machtübernahme Phillipe des Dritten kam der Hammerfall. Unzählige Rassen, Rechte, Gesetze, Schönheiten... zerschlagen unter der puppenhaft kleinen Faust eines jähzornigen Kindes, dem man eine Krone auf die falschen Goldlocken gesetzt hatte. Es gab Festnahmen. Räuberbanden, Diebe, zahllose Geächtete. Man durchkämmte das ganze Land nach ihnen. Man sortierte aus, wer seiner Majestät und dessen Herrschaft noch gefährlich zu werden imstande war. Die Dryaden verbrannten in ihren Wäldern. Die Elben kapitulierten unter der schwer ächzenden Kriegsmaschinerie und wurden bis auf das letzte Spitzohr deportiert. Die Zwerge wagten voller Zorn und Hass trotzdem nicht aufzublicken, als die geforderten Steuerabgaben ihre Einnahmen empfindlich angriffen. Goblinhorde wurden schlichtweg ausradiert. Und Samara? Für das Juwel Lumiéls brach eine finstere Zeit an. Die Händler mussten härter feilschen und die Schmiede zogen es vor, nicht mehr auf den Straßen ihr Werk zu verrichten. Zu groß die Angst vor den Wachen, die dieser Tage zu glauben schienen, sie könnten sich wie Götter aufführen. Zu groß auch die Angst vor den Bewohnern der Stadt, die in unterschwelligem Zorn nichts weniger sehen wollten, als gebeutelte Handwerker, die aus der Not heraus die Aufträge seiner Majestät annahmen – und in seinen Diensten noch mehr Schwerter, Schilde und Rüstungen auf dem Amboss schlugen, noch mehr Portraits des kleinen Puppenkönigs zeichneten, noch mehr Skulpturen seiner Weiber meißelten, die gleichwohl wie die Originale als Geschenke an Sklavenhändler über gingen. Dunkelheit war in die Stadt eingezogen, ließ die Menschen den Blick senken und sie eiligen Schrittes über den Bordstein wandeln. Man versuchte nur noch, von A nach B zu gelangen, ohne sich in Streitigkeiten verwickeln zu lassen. Direkt in der Gasse neben einem wurde jemand ausgeraubt? Tja, die Tage waren finster, nicht? Der Händler dort verlangte für einen Brotleib das Dreifache des gestrigen Preises? Nun... finstere Tage, wahrlich. Die Wache am Tor riss ein Mädchen von der Kutsche herab, aus den Armen seines Vaters und zerrte es in eine Ecke, um Gott weiß was mit ihr zu tun? Wahrlich... es waren... nun... finstere Tage. Wo einstmals Heldentum oder doch zumindest gutbürgerliches Interesse gestanden hatten, waren die Herren aller Gemüter nun Angst und Pein. Jeder könnte der Nächste sein – und keiner wollte seine Chancen darauf erhöhen, indem er den Helden spielte. Und eben jene Helden suchte man in solchen Zeiten vergebens. Es gab den Untergrund, gewiss. Angeführt von einer silberhaarigen Elbe ohne Gnade, ohne Reue, ohne Skrupel. Wer ihr im Wege stand, der konnte froh sein, wenn es bei Knochenbrüchen blieb. Wer ihr nicht half, war nicht interessant. Sie scherte sich nicht um das Leid der Vielen – außer, sie waren bereit, eine Waffe in die Hand zu nehmen und sich ihr anzuschließen. Die Tunnel unter Samara waren lang, verwirrend und weit verzweigt. Eine tödliche Falle für jeden Wächter, Söldner und Dieb. Seit eine Karawane aus Sundergrad einen Verstümmelten aus der Hafenstadt mit sich brachte und auch er in den Kanälen verschwunden war, konnte man dort keinen Fuß mehr setzen und wissen, ob er nach diesem Schritt noch am Bein wäre. Ashes gehörte Samara. Sie war eine Größe geworden, über die Jahre hinweg. Ihr Orientierungssinn schenkte ihr die Gabe, in den Tunneln mühelos zu entkommen. Sie kannte jeden Winkel der Stadt, hatte überall ihre Informanten, geheime Zeichen und Losungen, bestochene Händler und Handwerker. Selbst die Wache kam ihr nicht bei und war irgendwann dazu über gegangen, ihr Geld anzunehmen. Ashes bot Hoffnung für all jene, die ihr Land mit Blut und Gewalt zurück fordern wollten. Niemand wagte auszusprechen, welche Gedanken sich dabei aufzwangen. Ein Wesen, das so bar aller Rücksicht vor ging... war sie da nicht Phillipe erschreckend ähnlich? Was, wenn man ein Monster gegen ein anderes austauschte? Doch allein das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen, trieb sie voran – und in den Untergrund. Auch für den Sonnensee waren die Zeiten unschön geworden. Die Wälder waren zu einem Großteil abgeholzt worden. Brennholz für die Schmieden und wichtiger noch – keine Verstecke mehr für Räuber und Gesetzesflüchtige. Doch all die Toten und Gehängten, die Geköpften und Verbrannten, die Verbluteten und dahin Gesiechten... es gab der Körper einfach zu viele. Kein Friedhof war mehr fähig, sie zu fassen und die Weisung seiner Majestät war obendrein eindeutig: Wer vor dem Gesetz floh, der verdiente kein Begräbnis in geweihter Erde. Erde, die seinem Namen geweiht war, doch selbst das ignorierte man in solchen Zeiten besser. Anfangs tat man, was in barbarischen Ländern wie Kruk vielleicht der Alltag sein mochte: Man türmte die Leichen zu großen Bergen auf, tränkte sie in Schnaps und Öl und ließ die fürchterlich stinkenden und rußenden Berge nieder brennen. Über Tage hinweg stieg dann schwarzer Qualm auf und eine unerträglich riechende Dunstglocke hing über den Städten. Vor allem in La Coeur sah man des Öfteren mehrere solcher Fahnen zeitgleich aufsteigen. Doch selbst das Feuer konnte der Blutgier seiner Majestät nicht Herr werden. Hätte man die Leichen in alle Öfen des Landes gestopft, alle Marktplätze mit solchen Feuerbergen gefüllt, es hätte nicht gereicht. Ganz zu schweigen von den Seuchen, die kurz darauf umgingen und die Berge der Toten noch mehrten. Nein, es brauchte eine Lösung von dauerhafterer Natur. Sie kam, als die zerschmetterten Reste der einstmals mächtigen Magierzirkel sich der Herrschaft seiner Majestät beugten. Zahllose Berge von Toten wurden auf Karren geladen und zum Sonnensee gebracht. Ein derbes Tau, ein schwerer Stein und man ließ das verwesende Fleisch einfach auf den Grund des Sees sinken. Eine Praxis, die sich über Jahre hinweg zog und die stinkenden Leichenberge aus den Städten verschwinden ließ. Plötzlich bekam der Sonnensee mehr Besucher als je zuvor. Magi, Totengräber, Karrenlenker. Die Fische verschwanden zuerst. Die Wellen erstarben später gänzlich. Irgendwann gab es nur noch einen sauren, fauligen Pfuhl von gewaltiger Größe, in dem sich nichts mehr bewegte, nichts mehr lebte und nichts leben wollte. Es war unklar, wie viele Leichen in den Tiefen des dunklen Gewässers verwesten. Man hätte es auch nicht prüfen können – über die Jahre begann dort ein Gezücht zu wachsen, das die Welt so nicht kannte. Algen, hätte man sagen können. Flechten und Seefarne. Was es war, die Götter allein mochten es wissen. Ein glitschiges Gestrüpp, in dem man sich als Schwimmender nur zu leicht verfing und je fester der Zug wurde, mit dem man sich zu befreien versuchte, umso rascher zog es einen in die Tiefe des Sees. Lumiél hatte ein zweites, verwestes Herz bekommen. In genau diesen Pfuhl hatten sie Einzug gehalten. Natürlich war es eine Sache, einige altgediegene Kriegsveteranen abzuschlachten wie das Vieh beim Fleischer. Die Bellatoren, die den Südfriedhof Samaras bewacht hatten, waren nicht geräumt worden. In einer Nacht- und Nebelaktion hatte Ashes sich genommen, was sie gebrauchen konnte und die Leichen der bezwungenen Wächter gehörten nun einmal nicht dazu. Ihr und ihrem Widerstand jedoch war gut geschrieben worden, was sie nicht vollbracht hatte. Der Tod so vieler Elitekrieger seiner Majestät war zu keinem Zeitpunkt Ashes Werk gewesen und dennoch bekam man eben dieses Gerücht einfach nicht mundtot. Warum aber hätte die Elbe sich dagegen auch auflehnen sollen? Es führte dazu, dass man sie noch mehr glorifizierte, dass sie den einfachen Menschen noch mehr Hoffnung gab und in letzter Konsequenz... dass noch mehr Männer und Frauen den Weg in den Untergrund suchten. Eine wahre Welle der Neulinge strömte einige Tage und Wochen darauf durch die Tunnel und lernte, wie man ein Schwert hielt, ohne sich selbst den Arm abzuschlagen und mit einem Bogen schoss, ohne, das der Pfeil nach zwei Metern auf den Boden klirrte. Den Verlust der Bellatoren hätte Phillipe verschmerzen können – doch Ashes hatte ihm etwas genommen, etwas, das weit wertvoller war, schier unersetzlich. Meister Talsin war für dieses Geheimnis gestorben, der Künstler, ein Mensch mit dem Wissen um Runenprägung, war ebenso verschieden. Es gab niemanden, der diesen Verlust hätte ersetzen können: Phillipes neusten Zuwachs zu seiner Armee. Gewiss ein ehrgeiziger Plan, das Heer mit gewaltigen Steingolems zu verdoppeln. Ihr Schlag zerschlug keine Schilde – er zerschmetterte auch die Arme dahinter, den Brustkorb und alle Organe darin. Eine unbezwingbare Macht, denn wie sollte man mit Bogen und Schwert gegen massiven Granit angehen? Die Steingolems hätten dem Widerstand das Genick gebrochen. Dem Untergrund in Samara, der aufkommenden, von Kat getriebenen Rebellion in Sundergrad und nicht zuletzt auch dem Aufbegehren der restlichen Welt. Es hätte für sie keine Rettung gegeben. Aber nun waren sie weg. Niemand wusste, wie Ashes es geschafft hatte, hunderte Steinriesen aus den Kammern und unterirdischen Grabgängen abtransportieren zu lassen, doch sie waren weg. Versteckt, irgendwo anders und jede Suche blieb erfolglos. Erst dies hatte Phillipe vor Augen geführt, welch immense Bedrohung der Untergrund in Samara tatsächlich geworden war. Und was tat man, wenn ein Teil des eigenen Fleisches sich gegen einen richtete? Man schnitt es großzügig heraus. Die ersten Angriffe hatten die Stadt völlig unvorbereitet getroffen. Die Bürger waren ahnungslos gewesen, als sie ein Klopfen und Schaben an ihren Türen vernahmen, doch eben diese zu öffnen, war ihr Tod gewesen. Xeraks Fußvolk war entfesselt. Untote streiften durch die Stadt, jede Nacht von Neuem, in kleinen Scharen. Sie stürmten die Häuser, sie schlurften durch die Gassen, sie rissen die Kinder aus ihren Betten, die hysterisch kreischenden Weiber aus den Kleiderschränken und rangen die in Verzweiflung zu allen Waffen greifenden Männer nieder. Ein einziger Untoter war nicht viel wert. Eine Puppe, eine tote, leere Hülle verwesenden Fleisches, das ungelenk und langsam vor sich hin schlurfte und der Botschaft folgte, die sein Meister und Schöpfer ihm aufgetragen hatte. Doch ihre schiere Masse ließ sie zu einer tödlichen Bedrohung werden. Nicht fünf kamen in ein Haus, sondern vierzig. Nicht drei streiften durch eine Gasse, sondern zwanzig. Das Ziel dieses Angriffes wurde nur zu schnell deutlich: Samara mit Mann und Maus auslöschen. Die Stadt hatte sich aufgelehnt, sie trug ein Krebsgeschwür in ihrem Inneren und schien unfähig, dagegen vorzugehen. Damit war ihr Schicksal besiegelt. Die Stadtwache versuchte sich zu verteidigen. Lange Schichten und das Aufgebot der Waffenkammer konnten sie nicht retten, als Hunderte der wandelnden Leichen die Kaserne stürmten. Die Soldaten auf dem Innenhof rangen sie rasch nieder und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie die schweren Türen irgendwie durchbrachen oder umgingen. Das Geschrei der Männer, die sich wie Götter aufgeführt hatten, verhallte ungehört in der Nacht. Sie starben wie auch jeder andere in Samara. Eine Flut von Flüchtlingen hatte Ashes zu bewältigen. Das war eine Situation gewesen, die sie so nie erwartet hätte. Es verdeutlichte ihr einmal mehr, wie weit ihr Feind zu gehen war. Tausende starben in diesen Nächten und er erhörte ihre Gebete nicht. Die Elbe aber wich nicht zurück und ließ sich nicht beeindrucken. Stattdessen ging die Suche los. Zwischen all der Angst und all dem Chaos wurde es zunehmend schwerer, das geschickt aufgebaute Informationsnetzwerk zu nutzen. Informanten glaubten, sie entkämen dem Tod, wenn sie sich von Ashes zurückziehen würden. Dafür riskierten manche gar den Tod durch die Hand der Elbe selbst. Sie versuchte, die Quelle der Angriffe zu finden. Ein Artefakt, ein Beschwörer, ein Nekromant, irgendjemand oder irgendetwas musste für diese Flut verantwortlich sein. Und wenn es jemanden gab, der die Schuld trug, dann konnte man ihn auch aufhalten. Der Untergrund geriet ins Wanken. Die Kapazitäten der Höhlen waren niemals dafür gedacht gewesen, einer ganzen Stadt Zuflucht zu bieten – von den Vorräten an Lebensmitteln ganz zu schweigen. Das gut organisierte Netzwerk brach zusammen und keine einzige blaue Laterne leuchtete mehr. Die Häuser standen leer da, verwaist. Man fand die Opfer der Nächte nie. Die Untoten trugen sie mit sich. Weggebrochene Fingernägel auf kalter Haut, die sich um ein noch warmes Handgelenk schlossen und den Körper eines jungen Mädchens über die Pflastersteine zerrten. Sie blutete an unzähligen Stellen, hinterließ eine lange, rote Schleifspur. Ihre Beine, ihre Arme, von Bissspuren übersäht. Ihr Hals lag halb offen, ein großes Loch klaffte darin, wo gierige Kiefer ihm Fleisch entrissen hatten. Nach wenigen Wochen war die Stadt leer. Verwaist. Zumindest an der Oberfläche. Im Untergrund drohte alles zusammen zu brechen. Kat bemühte sich, aus Sundergrad Nachschub kommen zu lassen, doch niemand wagte, sich auf den Kampf mit Heerscharen Untoter einzulassen. Alle Versuche Ashes', die Vorräte zu strecken und zu rationieren, schlugen fehl. Man begann untereinander zu kämpfen. Um Fleisch, um Brot, um Wasser. Die Eskalation war nahe und bald schon bräuchte es keine Untoten mehr, um jedes Leben, das in Samara noch existierte, auszumerzen. Und die Quelle der Angriffe blieb noch immer unbekannt... „Bist du dir sicher, dass du das schaffst?“ verlangte eine ruppige Stimme zu wissen. Nur schwach verfing sich das Licht der Fackel in den silbernen Haaren der Elbe, während ihre in diesem Schein fast schwarz wirkenden Augen stechenden Blickes auf ihrem Dieb und der Dryade lagen. Ihr Auge wanderte von einem zum anderen und letztlich war es an Delilah, zögerlich zu nicken. „Stück von Magier, dann ja.“ merkte die Hüterin an. Ashes nickte zufrieden. Wenn das schief gehen würde, müsste sie mal ein paar... nun, es würde unangenehm werden. Immerhin gingen sie damit ein massives Risiko ein. Doch die Zeit drängte, das war allen bewusst. Jeden Tag wurde es schlimmer und die Wachen, die aufgestellt worden waren, konnten die Reibereien und Streitigkeiten kaum noch befrieden. Gestern hatte es den ersten Toten gegeben. Ein Weckruf an alle Rebellen. Eine junge Frau hatte sich mit einem Schmiedelehrling um ein Stück Trockenfleisch gestritten... woraufhin er ihr eine Gabel in den Kiefer rammte. Sie war verblutet, ehe irgendwer einen Heiler hätte auftreiben können. Das Trockenfleisch hatte er bekommen, sicherlich – und den Laufpass. Vermutlich hatten die Untoten ihn inzwischen irgendwo wimmernd in einer Ecke kauernd gefunden und zerrissen, immerhin stand der Vollmond hoch am Himmel. „Wenn ich zurück bin, Lagebesprechung. Und danach geht es los.“ konstatierte die Elbe und nickte Alistair zu. Er erwiderte die Geste, erhob sich mühesam auf die schmerzenden Beine und trat seinen Weg aus der Kammer an. Er müsste sich irgendwann einmal, wenn Zeit und Material übrig war, einen kleineren Anzug schmieden lassen. Natürlich nur, wenn sie das hier überlebten und Garwinn wieder in die Schmiede durfte, aber daran zweifelte der Dieb nicht. Seit seiner Ankunft in Samara hatte zumindest ein kleiner Teil seines einstmals so sonnigen Gemütes wieder aufzublühen begonnen. Ein kränklich wirkender, kaum nennenswerter Keim, aber immerhin überhaupt eine Reaktion. Aktuell jedoch war sein Tag sechzehn bis zwanzig Stunden lang – und das immer wieder aufs Neue. Die Fallen waren seine Entwicklungen, er hatte sie entworfen, ihren Bau überwacht, ihre Installation angewiesen und sie ausgetestet. Alle funktionierten tadellos. Allein, dass sich die Untoten seit Tagen darin verfingen, war Beweis genug. Längst hätte die Flut laufender Kadaver sie hier erreicht, doch sein mechanisierter Wall aus Pfeilen, Speeren, Schlingen und Flammen hielt sie auf. Noch. Nach jeder Nacht mussten die Fallen wieder in Stand gesetzt werden. Das war mühsam, kostete viel Zeit und war nicht ungefährlich. Sie hatten in den letzten Tagen schon ein paar Leute verloren, nur weil sie zu unachtsam im Umgang mit feinsten Drähten und den metallischen Auslösern waren. Verluste, die Ashes mit einem Schulterzucken in Kauf nahm. Die Fallen waren alles, was die Überlebenden noch davon abhielt, in der nächsten Nacht ein Teil der geifernden Meute zu sein – sie durften nicht versagen. Trotzdem rückte die Flut vor. Jede Nacht ein Stückchen mehr. Längst war es spürbar geworden. Wenn die Wälle durchbrochen waren, mussten sich die Rebellen mit Schwert und Schild den Untoten stellen. Noch war die Zahl ihrer Durchbrüche nicht nennenswert. Wenige Stellen, die nachgaben, und nur wenige Leichen, die hindurch kamen. Aber das würde sich ändern, daran konnte kein Zweifel bestehen. Sie brauchten eine Lösung, eine Dauerhafte. Nicht nur für die massiven Engpässe bei der Versorgung, sondern vor allem für die ständigen Angriffe. Auf ein Nicken hin erhob sich Delilah von der Bank und folgte Ashes. Zu zweit strichen sie durch die Gänge der Waffenkammer zu, in der sich die Elbe ausrüstete. Aus den Schatten einer Raumecke schälte sich schließlich die Jägerin hervor. Orykene hatte nicht an der Vorbesprechung teilnehmen wollen. Wozu auch – es gab ohnehin nie neue Nachrichten. Ein paar Streitigkeiten, ein paar Tote. „Wir gehen raus.“ erklärte die Elbe, ohne sich auch nur umzudrehen. Für die Harpyie war es nach wie vor immer wieder erstaunlich, dass die Anführerin der Rebellen sie irgendwie bemerkte. Keinen Laut hatte sie von sich gegeben, keine Bewegung, keinen Atem, keinen Flügelschlag... und sie wusste es trotzdem. Orykene ließ sich von der kleinen Holzleiste herab sinken. Ihre Krallen erzeugten ein leises Klicken, als sie auf dem Steinboden aufsetzte und die Kammer verließ. Nicht jedoch, ohne Delilah einen Blick zu schenken. Die Dryade hatte ihr nie vergeben, dass sie damals nach Quentloas zurückgezogen war. Keine Erklärung der Welt, das wusste die einstige Jägerin, könnte nun noch ausräumen, was zwischen ihnen stand. Der bitterschale Geschmack des Verrates. Nunmehr zu dritt, zog es sie durch die Kammern und Gänge. Orykene fühlte sich noch immer unwohl dabei, von so viel Beute umgeben zu sein. Sie starrten sie an, unsicher, teils ängstlich, folgten ihren geschmeidigen Bewegungen. Delilah erntete ähnliche Blicke. Jeder hier wusste, wer sie war. Die gefallene Dryade aus den Ostwäldern. Tote, giftige Wälder, die kein Mensch lebend verließ, der erst einmal einen Schritt hinein gewagt hatte. Ein Trio, dem bereitwillig der Weg frei gemacht wurde. Sie passierten mit Hilfe einer Karte Alistairs die äußeren Fallen und stiegen einen Kellerschacht empor. Einstmals hatte der Raum, den sie dabei durchschritten, den Weinkeller eines Gasthauses abgegeben. Nun stand er leer, verwaist und nur das alte, eingetrocknete Blut am Boden bezeugte, was sich hier abgespielt hatte. Kleine, flache Treppen führten sie nach oben an die kalte Nachtluft. „Zwei Querstraßen nach Norden. Wir gehen rein, holen uns, was wir brauchen und verschwinden. Leise, schnell und sauber, keine Helden, klar?“ wies die kompromisslose Stimme Ashes' ihre Gefährten an. Sie wartete nicht auf Zustimmung, ehe sie sich bereits wieder in Bewegung setzte. Delilah vermochte es, sich unauffällig zu bewegen und Orykene standen noch ganz andere Möglichkeiten offen. Die Harpyie breitete ihre Schwingen aus, erhob sich in die Lüfte und war damit der Späher der zwei Frauen am Boden. Ashes dagegen schritt völlig lautlos durch die Gassen und es brauchte nicht lange, da mussten sie sich erstmals gegen eine Häuserwand drücken. Ein gellender Ruf von oben hatte sie gewarnt und gleichwohl, wie Ashes und Delilah nun wussten, dass ihnen Untote nahe waren, spähten diese gen Himmel. Sie streckten die halb vermoderten Arme aus, doch die Brutmutter war völlig unerreichbar für sie – was sie dank des maroden, madendurchzogenen Gehirns jedoch nicht zu begreifen fähig waren. Oftmals gereichte gerade diese stupide Reaktion Ashes und Delilah dazu, sich in Ruhe umzustehen und teils sogar direkt unter den abgelenkten Untoten hindurch zu schlüpfen. Auf diese Weise passierten sie die zwei Querstraßen in Windeseile und sammelten sich im Schatten eines kleinen Dachvorsprunges. Einen kurzen Augenblick des Wartens in gespannter Stille tot schlagend, ehe Orykene sich mit schwerem Flügelschlag neben ihnen zu Boden gleiten ließ. Kein Dank erklang, kein Lob. Wozu auch? Sie hatte nur ihre verdammte Pflicht getan und Ashes bezweifelte obendrein, dass sie nicht auch ohne einen Späher mit diesen paar herum streifenden Patrouillen fertig geworden wäre. „Nich trödeln.“ wies sie die Harpyie stattdessen zurecht. Gemeinsam stahlen sie sich aus den Schatten heraus, warfen einen absichernden Blick auf die Straße und sahen lediglich ein paar wankende Gestalten davon ziehen. Rasch schlichen sie zur Haustür und drückten sich durch das noch immer offen stehende Holz in das Innere der Wohnung hinein. Meister Talsins Leichnam lag noch immer unberührt in der Ecke des Raumes. Das Feuer im Kamin längst verloschen und kalt, die Sessel in der gleichen Unordnung umgeworfen, wie sie das Zimmer vor einigen Wochen vorgefunden hatten. Ashes erinnerte sich noch gut an die Jagd auf Thorin. Er war ihnen immer einen Schritt voraus gewesen und hier, in diesen vier Wänden, hatte er von Talsin den Hinweis bekommen, an welchen Bildhauer er sich wenden müsste, um zu erfahren, wer Golems produzierte und wo sie zu finden wären. Die Leiche des Artefaktmagiers war bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Verwesung hatte einen Großteil des Fleisches bereits verzehrt. Die von Schlamm und Blut gezeichneten Spuren am Boden bezeugten, dass auch manche Ratte, ein paar Waschbären, Hunde oder Katzen sich am Leichnam gütlich getan hatten. Und wohl den größeren Bissspuren nach zu urteilen wohl auch schon ein paar Untote. „Haar.“ bedeutete Delilah und zeigte auf das teilweise skelettierte Häufchen in der Ecke. Doch Ashes tat nicht dergleichen, stattdessen teilte sie ihr in altgewohnt ruppiger Manier mit, dass sie sich die Haare von seinem zerfressenen Schädel gefälligst selbst holen könne. Einen kurzen Moment funkelte Zorn über diese Behandlung in Delilahs Augen auf, ehe sie sich dennoch in Bewegung setzte. Sie hockte sich vor den Verstorbenen, versuchte den widerwärtigen Gestank zu ignorieren und hob die Hand langsam zu seinem Kopf. Zentimeter für Zentimeter schoben sich die schmalen Finger heran – bis plötzlich die Lider des Leichnams aufsprangen. Leere Augenhöhlen starrten sie an, sein Kiefer klappte herab, entblößte ein Gewimmel von Maden, wo einstmals seine Zunge war, und Zähne in blankem Knochen, wo Lippen und Zahnfleisch hätte sein sollen. Das, was einstmals Talsin war, wollte gerade nach Delilah packen und zubeißen, als der Untote eine Bewegung bemerkte. Auch die Hüterin sah nur aus den Augenwinkeln, dass dort etwas kam und zog sich gerade noch rechtzeitig zurück. Der schwere, gusseiserne Kaminstab, mit dem der Magier zu Lebzeiten wohl das Holz in der Feuerstelle umher geschoben hatte, schlug von Ashes' kräftigen Armen geführt wuchtig auf dessen Schädel ein und zermalmte völlig mühelos, was noch von seinem Kopf, seinem Hals und dem ersten Drittel seines Torsos übrig war. Kleine Spritzer aus zerquetschten Maden, faulem Fleisch, Knochensplittern und Hautfetzen verteilten sich an den Wänden, auf dem Boden – und auf Delilah, die zwar leise, aber sichtlich angewidert und erschrocken aufschrie und sofort begann, sich die Überreste aus dem Gesicht zu zupfen. „Ich sagte: Nicht trödeln!“ fuhr die Elbe Delilah ungerührt an. Sie sah sich um, fand einen Teil des Knochenschädels in einer breiigen Masse an der Wand kleben und zog das Stück an dem kleinen Haarbüschel, der noch daran hing, von der Holztäfelung. Ein rasch gezücktes Messer durchtrennte die Haare am Ansatz und ließ den Rest mit einem klebrigen Geräusch auf den Boden aufschlagen. „Wir haben alles, raus hier.“ merkte die Elbe völlig ungerührt an. Orykene und Delilah zogen als Erste aus dem Haus ab. Während Erstere wieder ihre Position als Späherin einnahm, stieß die Hüterin ein paar Flüche über Ashes aus, die noch einen kurzen Moment verblieb und Talsins Überreste anstarrte. Ein geradezu schadenfrohes Schmunzeln legte sich auf ihre Lippen. Ja, das war ein gutes Ende für einen Magier. Von einem Ceteusdiener aufgespürt und hingerichtet werden, als Untoter zurück kommen und dann von ihr zermalmt werden. Ashes verließ das Haus nach einem Augenblick und wurde bereits erwartet. „Ni-cht trö-del-n!“ wies Delilah sie maßregelnd zurecht. Die Elbe verharrte einen Moment und zog kritischen Blickes die Augenbraue über ihrem gesunden Auge empor. „Versuchst du witzig zu sein, oder was? Los, vorwärts!“ erwiderte die Anführerin scharf und bedeutete eine Marschrichtung an. Orykenes Weisungen folgend, schlichen sie einem davon marschierenden Trupp Untoter hinterher, die offenbar neue Order erhalten hatten. Sie hielten sich immer in ihrem Rücken und mit einem Abstand von mindestens zwanzig Metern. Auf diese Weise kamen sie zwar nicht zum Weinkeller des Gasthauses zurück, doch die angebliche Abfallluke in einer kleinen Fleischerei genügte ihnen auch. Der Geruch in diesem Haus war zwar noch unerträglicher als in Talsins Wohnstube – weit dichter und aufdringlicher -, doch sie mussten ihn nicht lange ertragen. Die Luke einmal entsichert und aufgezogen, führte eine Leiter sie hierab in die Tunnel und schon standen sie wieder im Netz der Fallen. Alistairs Karte erwies sich abermals als Lebensretter. Ashes zog über sich die Luke zu – sie offen zu lassen, hätte bereits die erste Falle ausgelöst – und lotste Delilah durch den nachtschwarzen Tunnel. Eine Fackel zu entzünden, hätte nämlich ebenfalls eine Falle ausgelöst. Orykene dagegen fand mühelos ihren Weg durch den Weinkeller zurück, wo sie bereits von Pan erwartet wurde. Lange schon war sie nicht mehr das kleine, naive Kind und auch, wenn die Flüchtlinge sie mit Skepsis betrachteten, wagte niemand die junge Frau anzusprechen, die immer im Geleit eines ganzen Wolfsrudels durch die Gänge und Kammern streifte. „Sind sie schon zurück?“ erkundigte sich die Alphawölfin und erhielt zur Antwort ein Nicken der Harpyie. Es war erstaunlich, wie gut die Beiden miteinander auskamen. Vermutlich die Wesensnähe zweier Raubtiere zueinander. „Wir haben alles. Der Mensch muss sagen, ob es reicht.“ schob die einstige Jägerin nach, während sie ihren Pfad durch die Menschenmengen in den Kammern suchten. Die Wölfe um Pan herum beäugten Orykene zwar kritisch und ließen sie auch nie aus den Augen, aber sie reagierten nicht. Anders, als vor ein paar Tagen. Einer der Boten hatte versucht, Pan eine Nachricht zu geben. Allein der Versuch, an sie heran zu treten, hatte damit geendet, dass die Wölfe ihn erst anknurrten und schließlich sogar anfielen. Ein Biss in den Arm hatte er sich eingefangen, ehe Pan ihr Rudel streng zurück pfeifen konnte. Harmlos, aber prägend. Tatsächlich fanden sich alle fünf kurz darauf wieder in Ashes' Kammer ein. Alistair hatte die Fallen gewartet und deren Instandsetzung überwacht, ein paar Informationen eingezogen, die er nun zur Besprechung beitragen konnte – oder eher wohl musste. „Fang sofort mit den Vorbereitungen an.“ wies Ashes die Hüterin an. Delilah nickte knapp und verschwand in einem Nebenraum, während die Elbe ihrem Dieb den Haarbüschel präsentierte. „Reicht das?“ Unsicher zuckte der Dieb mit den Schultern. Fehlschlagen würde der Spruch wegen so geringer Menge nicht, doch möglicherweise blieben ihnen dank dessen nur wenige Minuten Zeit, ehe der Zauber verebbte. Eben dies teilte der der Elbe auch mit, die einen Moment bedauerte, nicht einfach Talsins gesamte Überreste eingetütet zu haben. „Also, wie stehen wir da?“ verlangte die Anführerin schließlich zu wissen. Orykene nahm einen kleinen Zettel Alistairs entgegen, entfaltete das Papier und las sich sorgsam durch, was darauf geschrieben stand. „Die Fallen halten. Es kommen immer nur wenige durch, vier Schwachstellen werden durchbrochen, jede Nacht. Wir können sie offenbar aufhalten, aber bei den Kämpfen werden unsere Verteidiger immer wieder gebissen und gekratzt. Die Heiler kommen kaum hinterher, die Seuchen und Infektionen zu bekämpfen und allmählich gehen ihnen die Kräuter und Salben aus.“ begann die Harpyie den weniger erfreulichen Teil in ihrer melodiösen Stimme vorzutragen, „Durch die vielen Krankheitsausfälle haben wir immer weniger, die die Verteidigung aufrecht erhalten können. Längere Schichten führen zu ausgelaugteren Kämpfern und noch mehr Verletzungen. Die Tinkturen halten vielleicht noch eine Woche. Kritischer sind die Vorräte. Mit unserem Proviant kommen wir noch über zwei Wochen – mit dem Wasser aber nur über ein paar Tage. Wir müssen die Brunnen der Stadt wieder zugänglich machen. Außerdem gibt es immer häufiger Streitigkeiten unter den Flüchtlingen.“ Alles in allem war der Bericht so ziemlich das Letzte, was Ashes hatte hören wollen. Nicht unerwartet, aber dennoch nicht minder unerfreulich. Ihre Versorgungslage war kurz vor dem Kollaps, ihre Verteidigung bröckelte dahin und die 'Gäste' gingen sich allmählich gegenseitig an die Kehle. Zumindest, so gedachte die Elbe, ließe sich da ein Problem mit dem Anderen gegenseitig lösen. „Drückt den Flüchtlingen Waffen in die Hand.“ forderte sie schlicht, „Sollen sie an den Barrikaden zeigen, wie viel Wut sie haben und ihren Eifer dort auslassen. Wer in unseren Kammern schlafen, unsere Reserven fressen und unser Wasser trinken kann, der kann auch mit unseren Waffen unsere Feinde töten.“ Eine klare, mehr als deutliche Ansage. Niemand wagte zu widersprechen. Nicht nur, weil es sich um eine gereizte Ashes handelte, sondern obendrein, weil die aktuelle Lage wirklich übel genug war, solche Schritte völlig mühelos zu rechtfertigen. Natürlich würde es Verluste geben – horrende Verluste. Doch damit mussten sie ohnehin rechnen. Und besser gingen ungelernte Lehrlinge drauf als die Männer, in deren Kampfausbildung Ashes bereits Tage und Wochen investiert hatte. Gegen die Engpässe jedoch konnte schlicht nichts unternommen werden, außer das, was nun bevor stand. Ein Klopfen ließ die Blicke der Anwesenden herum fahren. Delilah stand in der Tür zu einer kleinen, abgeschiedenen Kammer und winkte alle zu sich. Ihrer Weisung folgend, zogen sich alle aus dem provisorischen Besprechungsraum in die wesentlich dunklere Kammer zurück. Eine Mischung aus verschiedenen Kräutern und Gewürzen brannte in mehreren Ölschalen, die in spezifischen Mustern am Boden der runden Kammer angeordnet worden waren. Im Zentrum des Raumes thronte eine weitere, größere Schale auf einem Podest. Aus geschmiedetem Silber, fasste sie eine Reihe von Zutaten, die zu erlangen schon ohne die Zustände in Samara schwer genug gewesen wäre. Die Dryade ließ Talsins Haar in die Schale fallen und Ashes begann, die Schriftrolle vorzulesen. Sie aufzutreiben, hatte Alistair viel Geld und Mühe gekostet. Alles in allem war allein der für dieses Ritual betriebene Aufwand genug Zeugnis ihrer Verzweiflung. Als die kraftvoll schmetternde Stimme der Elbe die letzte Silbe in perfekter Aussprache vorgetragen hatte, setzte sich der Zauber um. Das Feuer aus den Ölschalen schien einen Moment im Begriff, abzusterben, ehe es in feinen Linien wider aller Physik und aller Naturgesetze die Schalen verließ. Wie flüssige Flammen zogen sich hauchdünne Fäden quer durch den Raum der Silberschale zu, über der sich das Feuer zu einer kleinen Sphäre sammelte. Erst als auch der letzte Lichtfunke sich dieser Kugel hinzugefügt hatte, senkte sich das brennende, flackernde Licht langsam nieder und entzündete, was sich in der zentralen Schale befand. Die Flamme verfärbte sich in ein tiefes Grün, durchzogen von schwarzen Einschlägen, ehe gänzlich erstarb. Ein grünliches Glimmen und leuchten schien nun von der erhitzten Flüssigkeit auszugehen, pulsierend fing es fast hypnotisch die Blicke der Anwesenden ein, ehe sich aus eben diesem Sud eine schemenhafte Gestalt erhob. „Wurde ja auch Zeit.“ knurrte Ashes Talsins Gestalt an, „Du wirst uns helfen.“ „Was zum-...? Ashes? Ich dachte, ich bin tot? Ich... och nein, oder? Ihr habt mich nicht wirklich beschworen?“ erklangt die verzerrte Stimme des einstigen Magiers im Raum. Sein Kopf wand sich von der Linken zur Rechten, er begutachtete den Raum, die Anordnung der Schalen, die Gesichter der Anwesenden und hob schließlich die schattenhafte, durchsichtige Hand vor das eigene Gesicht. „Grün, hm? Sieht bisschen kränklich aus, oder?“ „Du bist ja auch tot, verdammt.“ mischte sich Ashes in Talsins Gedankengänge ein, „Hör' zu, wir haben nicht viel Zeit. Untote fegen ganz Samara leer. Woher kommen die?“ „Nicht viel Zeit?“ echote Talsin sichtlich amüsiert, „Also ich weiß nicht, ich habe eine ganze Ewigkeit, und du?... Hm. Fühlt sich irgendwie seltsam an, so tot zu sein. Also... genau genommen, fühlt es sich gar nicht an. Ich wüsste ja zu gerne, ob ich-“ „Hey, Pissnelke! Ich habe dir den verdammten Schädel eingeschlagen und ich werde deinen Kadaver an irgendwelche geisteskranken Abartigen verscherbeln, wenn du mir nicht sofort antwortest!“ donnerte die Stimme der Elbe zornig durch den Raum. Selbst Talsins Geist schrak da einen Moment zusammen. „Immer noch ganz die Alte, was?“ seufzte der Magier daraufhin, „Schon mal an den Sonnensee gedacht? Du wirst in ganz Lumiél nirgendwo mehr Leichen finden als in diesem Tümpel. Und wenn sich in den Diensten seiner Majestät noch ein paar Nekromanten befinden, dann würde ich sagen, ist das Rätsel gelöst. Sie müssen in der Nähe ihres Rohmaterials bleiben, sonst-... hm. Das ist ja interessant?“ „Was ist los?“ „Scheinbar beschwört mich gerade noch jemand. Ich denke nicht, dass deine Idee hier mit mir so grandios war, diese Leute wissen, wie man einen Geist zum reden bringt und damit seid ihr so gut wie-“ Von einer Sekunde auf die Nächste brach alles in sich zusammen. Talsins Figur zerstob in tausend Funken und das Licht im Raum erstarb zur Gänze. Zurück blieb eine vor Zorn zitternde Elbe, die die Fäuste geballt hielt und versuchte, sie nicht als Kompensation einem der Umstehenden in den Magen zu graben. Nicht nur, dass sie den Sonnensee als Option ignoriert hatte, was an sich schon schlimm genug war – sie waren offenbar doch beobachtet worden. Irgendwie, von irgendwem. „Nochmal?“ hakte Delilah unter einem Seufzer nach und deutete in Richtung der Flammen, ehe sie auf ihre Haare zeigte. Ashes jedoch schüttelte den Kopf. Talsin abermals zu befragen, wäre nicht möglich – sie hätte ihr Leben darauf verwettet, dass der Kadaver des Magiers auf mysteriöse Weise verschwunden war. Wichtiger dagegen waren die nächsten Schritte. Talsin hatte gesagt, diese Leute wüssten, wie man einen Geist zum reden brachte. Er würde ihnen möglicherweise mehr verraten, als Ashes lieb war – kannte er doch schon zu Lebzeiten so manches Geheimnis. Verdammte Magier! „Sie werden stürmen. Alistair, du gehst rum und verteilst die Waffen. So lange, bis alle weg sind. Postiere sie vor allem an den Ostausläufern, dort wird der Schlag am härtesten erfolgen! Der Rest kommt mit mir!“ Eile war das Gebot der Stunde. Möglicherweise mochten sie nun wissen, wo sie ihren Feind zu suchen hatten, doch Talsins Warnung war eindeutig – umgekehrt verhielt es sich nun ebenso. Zweifellos würde es einen massiven Schlag gegeben. Tausende Leichen, die gegen die Barrikaden drängten. Eine Flut, der die Fallen Alistairs unmöglich gewachsen waren. Dann würden die Wälle brechen. Die Wachposten überrannt, waren alle Anderen leichte Beute. Es galt, diesem Fall vorzubeugen und noch während Ashes, Pan, Orykene und Delilah sich auf den Weg machten, kam auch der einstige Dieb seinem Auftrag nach und begann, die Weisung an alle zu verteilen. Es galt in Windeseile eine kleine Armee aus einer Reihe von Dienstmägden und Tagelöhnern auszuheben. In voller Montur stampften Ashes' schwere Panzerstiefel über verdorrtes Gras und feuchten Schlamm hinweg. Sie hatten die äußeren Bereiche der Stadt längst hinter sich gelassen und wollten sich ein Bild davon machen, was sie erwartete, doch als das Quartett die Anhöhe beschritt, bot sich ihnen ein Bild des Grauens, das in dieser Weise niemand erwartet hatte und selbst der gestandenen Elbe einen Schauer über den Rücken jagte. Der Sonnensee hatte sich... verändert. In seiner trüben Brühe schwammen Tausende Leichen. Offenkundig hatte irgendwer oder irgendwas alle Stricke durchtrennt, die die Leichen an den Gewichten und damit am Grund des Sees hielten. Sie trieben auf der Wasseroberfläche, fett, aufgedunsen, bleich und mit violetten Adergeflechten. Manche noch in Kleidung, andere nackt. Der gesamte See war voll mit einem Teppich aus Kadavern und im Zentrum dieses Pfuhls der Toten erhob sich aus schwarzem Obsidian geschlagen ein gewaltiger Turm in die Höhe. Ein Zirkelturm. Direkt im Sonnensee. Das war völlig undenkbar – und doch konnte man sich kneifen und über die Augen fahren, wie man wollte, er war dort. „Das... ist mehr als erwartet.“ brachte die Elbe als Erste hervor. Die anderen waren noch zu sehr in ihrem Grauen und ihrer gleichzeitigen Faszination gefangen, um darauf zu antworten. Orykene löste sich als Zweite und tippte Pan und Delilah an. Ihre Berührung zerrte die zwei Frauen aus ihrer Erstarrung und ließ ihre Blicke dem Deut der Harpyie folgen. Am Ufer des Sees schoben sich Köpfe durch die Wasseroberfläche. Als wäre der Anblick dessen nicht schon fürchterlich genug gewesen, wurde erst hier und jetzt der Anführerin des Widerstandes klar, mit was sie diese Nacht rechnen mussten. Untote erhoben sich aus ihren nassen Gräbern, zahllos waren sie, schritten stumpf einher voran – auf der gesamten Süduferlinie des Sees. Es mochten tatsächlich Tausende sein, die in Reih und Glied aus dem Wasser traten. Ashes zog ihr Schwert, spannte einen Bolzen in die Armbrust. Pan nahm ihre Wolfsform an und auch Delilah bereitete bereits ihre Abwehr vor, doch wie es schien, waren die Untoten nicht im Ansatz an vier lächerlichen Leben interessiert. Sie umschritten den Hügel. Stumpfe Blicke, gelegentliches Ächzen und Keuchen, während die Legionen links und rechts am Hügel vorbei traten, immer der Stadt zu, immer auf die unterirdischen Tunnel, die zahllosen Fallen und die letzten Verteidiger zu. „Wir haben keine Zeit... damit werden sie nicht fertig!“ bemerkte Ashes. Die Linie aus dem See riss einfach nicht ab – als hätte es Millionen Leichen darin gegeben. „Wir müssen das aufhalten, hier und jetzt. Hat jemand eine Idee, wie wir den Turm klein kriegen?“ Natürlich war es eine Sache, schwere Kriegsmaschinen aufzufahren. Ein guter Katapulttreffer hätte den Obsidian möglicherweise splittern lassen und der gesamte Turm wäre in sich zusammen gestürzt. Noch wusste niemand unter ihnen, dass sich nicht ein einziger Nekromant darin aufhielt, sondern jeder Totenbeschwörer, der in Phillipes Diensten stand. Vier dutzend Magi, die beständig ihre finsteren Zauber woben, um weiteren Kadavern verpöntes Unleben einzuflößen. Doch mehr als das, schützten unzählige Runen den Turm. „Ich!“ erklang plötzlich unerwartet Delilahs Stimme. Die Blicke fuhren herum, wanden sich der Hüterin zu, die mit ernstem Blick zum Turm herüber ihre Gedanken zu formulieren begann. „Wasser tief, Turm sinkt.“ erklärte sie etwas ungeschickt. Sie hockte sich nieder, legte die Hand auf den Boden und flüsterte leise eine kleine Bitte – und die Erde begann sich zu teilen. Als die Dryade sich wieder erhob, musste selbst Ashes staunend eingestehen, dass der kaum drei Zentimeter breite Spalt durchaus eine beeindruckende Idee war – wenn Delilah denn fähig wäre, das in hundertfach größerem Umfang am Grund des Sees direkt unter dem Turm zu bewerkstelligen. Einen ganzen Turm zu versenken, das war... eine völlig andere Dimension. „Was brauchst du?“ hakte die Elbe kurzentschlossen nach. Viel Zeit blieb ihnen nicht für Finesse und List – und Delilahs Vorschlag war bisher der Beste, den sie hatten. Teils wohl auch, weil es der Einzige war. „Zeit.“ antwortete die Dryade lediglich. Sie streifte die Schuhe von ihren Füßen und grub sie so tief wie möglich in den Boden, hockte sich nieder und streifte mit ihren Fingern durch das verdorrte Gras, durch die Erdkrumen und den aufgewühlten Grund. Man hätte glauben können, ein Kind würde freudig im Matsch spielen, doch die kleinen Einflüsterungen Delilahs entstammten einer Sprache, älter als die Zwerge es waren. Orykene, Ashes und Pan mitsamt ihrem Rudel begaben sich in Position, bezogen einem Schirm gleich eine Schutzstellung vor Delilah. Schon das erste Beben, das die Gegend um den Sonnensee durchfuhr, ließ die Magi in ihrem Turm aufschrecken. Sie sputeten sich, ihre Ritualkammern zu verlassen, bezogen Stellungen auf den Balkons des Turmes und trauten ihren Augen nicht, als sie bemerkten, dass sich tatsächlich eine Hand voll Wölfe, eine Elbe und eine Dryade anschickten, ihnen gefährlich werden zu wollen. Natürlich ein von vorn herein völlig lächerliches Vorhaben. Die Legionen der Untoten streiften weiter Samara entgegen, wo ihre erste Reihe bereits in diesen Sekunden durch Alistairs Fallen getroffen verendete. Doch der Strom der Ihren brach nicht ab. Ein weiteres Beben erschütterte den See und seinen Turm, zog einen ersten Riss durch den Grund, ließ Wasser einbrechen und die alte, dicht gepresste Erde aufweichen. Delilah war sich darüber im Klaren, dass sie kein Loch schaffen konnte, in dem der Turm einfach verschwand – aber wenn sie den gesamten Boden des Sees in einen morastigen Schlick verwandeln würde, würde der Turm einer Moorleiche gleich darin versinken. Die Nekromanten sahen sich nun in Erkenntnis des Plans ihrer Feinde durchaus genötigt, dagegen vorzugehen. Aus den Massen der Untoten, die an dem kleinen Hügel vorbei streiften, löste sich ein dritter Zweig, der beständig den Hügel herauf strömte. Ohne irgendeine Reaktion von Zorn, Angst oder Schmerz ließen sich die wandelnden Kadaver von Ashes und ihren Verbündeten niederstrecken. Ihre Klinge trennte Fleisch und Knochen auf, Pan und ihre Wölfe zerfetzten ihnen die Beine, rissen ihre Kehlen auf und Orykene ließ ihre Krallen gegen deren Zähne antreten. Einstmals waren diese Kreaturen Händler gewesen, Bauern, manche wiesen sogar die verräterischen Ohren der Elben auf, hin und wieder taumelte ihnen ein Zwerg entgegen – doch nun waren sie nicht mehr als Kanonenfutter, Bauernopfer, längst verstorben. Ihre Geister mochten in Mermerus' Reich ruhen oder Ceteus anheim gefallen sein, es gab keinerlei Intelligenz und Seele mehr in ihren Leibern, nur die dumpfe, bedingungslose Loyalität gegenüber den Befehlen ihrer Meister. „Rechte Flanke!“ heischte Ashes. Pans Rudel reagierte und hinderte im letzten Augenblick einen Untoten daran, Delilah zu erreichen. Die Dryade war längst in ihren Gesängen, Einflüsterungen und Beschwörungen versunken. Wie in Trance grub sie immer wieder ihre Hände in den Boden, hielt mit zornigem Funkeln Blickkontakt zu jenem Turm im See und beschwor Kräfte herauf, die den Göttern selbst entstammten. Doch für sie und ihre Verbündeten wurde es eng. Die Elbe erkannte es, als Orykene zurück wich und sich die blutüberströmte Flanke hielt. Zwar mochte sie Sekunden darauf wieder in die Offensive gehen, doch sie würden sterben, allesamt. Die Flut der Untoten war nicht darauf aus, sie durch Geschick und Finesse zu bezwingen. Sie zermürbten sie einfach. Jede neue Reihe kostete sie Kraft und Mühe. Kleine Kratzer und Bisswunden schwächten sie zunehmend und Patzer, wie sie der Harpyie widerfahren waren, kosteten obendrein viel Blut. Die Anführerin geriet selbst immer mehr in Bedrängnis. Mit dem Knauf ihres Schwertes streckte sie einen Untoten nieder, zog die Armbrust, schlug eine Zweiten zu Boden, jagte dem Dritten einen Bolzen in den Schädel, nur um die Armbrust von sich zu werfen und mit dem Schwert den Vierten zu bezwingen. Sie spürte, wie ihre Muskeln unter der andauernden Anstrengung zu brennen und zu ziehen begannen Zweifellos erging es den Anderen genauso – sie ermüdeten langsam. „Durchhalten!“ keifte die Elbe in schwerem Brustton, bemüht, selbst nicht zu arg zu keuchen, „Delilah, beeil dich!“ fuhr sie die Hüterin an, doch die war längst nicht mehr fähig, zu hören oder zu bemerken, was um sie herum geschah. Eine Lücke im Strom der Untoten erlaubte es den Verteidigern schließlich, sich einen Augenblick zu erholen. Sie zogen sich zurück, sammelten sich wieder als Schild um die Dryade herum. Ashes sah die Wunde an Oykenes Flanke. Ein tiefer Riss in der feinen Haut, blankes Fleisch und dickes Blut, das daraus hervor quoll. Wenn sie nicht bald zu einem Heiler käme, würde sie die Nacht nicht überleben. Und Pan? Blanker Hass stand ihr im Gesicht geschrieben und die Elbe brauchte nicht viel Kombinationsgabe, um zu erkennen, woher dieser ungestüme Zorn kam. Ihr Rudel war schon einmal größer gewesen. „Wir brauchen mehr Zeit.“ brachte Ashes noch immer nach Atem ringend hervor. Doch wie sollten sie das bewerkstelligen? Sie wussten nicht, wie viel Zeit genau es bedurfte und keiner von ihnen war fähig, noch eine zweite Welle zu überstehen – eben jene Welle, die sich dort langsam wieder den Hügel herauf schob. Als Orykene die Formation verließ, schnellte Ashes Arm hervor und packte sie. „Was denkst du, wo du hin gehst?“ fuhr sie die einstige Jägerin ruppig an. Die Harpyie jedoch riss sich energisch von ihr los und warf einen letzten Blick zu jenem Turm. „Ich verschaffe uns Zeit.“ zischte ihre Stimme der Anführerin zurück, „Bewache sie!“ befahl Orykene obendrein, ehe sie Pan zunickte. Die Wölfin und der klägliche Rest ihres Rudels gesellten sich zu ihr und stürmten mit der Brutmutter den Hügel herab, in die Reihen der Feinde hinein. Ashes hielt sie nicht zurück. Sie brauchte die Pause, musste ihre eigenen Kräfte schonen, erholen, bereit sein, die Dryade mit ihrem letzten Atem zu verteidigen, wenn es so weit kommen würde. Und hier war kein Platz für Streitigkeiten. Orykene riss so viele Untote in ihr Verderben, wie sie konnte. Mit Pan und ihren Wölfen Rücken an Rücken kämpften sie sich einer kleinen Insel gleich durch die wogenden Massen der Untoten, hielten jene beschäftigt, die den Hügel erstürmen wollten, drängten jene zurück, die nachfolgten. Mit ihrem Blut erkauften sie die nötige Zeit. Immer wieder erklang es, das Winseln und von Schmerz gepeitschte Jaulen, wenn einer der Wölfe unter den klammen Händen und fauligen Zähnen sein Leben gab. Orykene riss ihren Unterarm aus dem geschlossenen Kiefer eines Untoten, riss sich selbst damit die nächste Wunde und schlug zu. Sie zerfetzte Gesichter, Hälse, Oberkörper, spürte ihre Kräfte schwinden und kannte doch keine Schwäche. Bis zum letzten Atemzug kämpfte sie – bis den Nekromanten die Geduld ausging. Mit einem Schlag wandten sich Dutzende Untoter, die bisher in Ignoranz an ihnen vorbei gezogen waren, ihre Gesinnung gegen die kleine Insel. Immer mehr Arme drängten hervor, immer mehr Hände packten zu und die einstige Jägerin wurde zu Boden gezerrt. Sie spürte unzählige Kiefer und Zähne, an ihren Fingern, schrie gequält, als sie ihr abgerissen wurden, schrie lauter, als sich gierige Hände in ihren Bauch wühlten und ihr das Innerste entrissen. Lebendig gefressen zu werden, so war ihre letzte Erkenntnis, war ein grausames Gefühl... Ein kraftvoller Stoß durchzuckte die Erde, ein Donnern und Dröhnen sondergleichen zog über die Landschaft und in wilder Wut glitzerten Delilahs Augen kraftvoll, als sie ihr Werk vollendete. Der Boden unter dem Sonnensee war auf hunderte Meter aufgeweicht, zu einem tiefen, feuchten Morast verkommen und mit dem letzten Ruck barst die dünne Granitschicht, auf der der Turm seine Basis gefunden hatte. Unter einem gewaltigen Brechen und Bersten sah die Hüterin den schwarzen Obsidian schrumpfen, ihn rasch Meter um Meter unter dem Wasser verschwinden, bis auch der letzte Zipfel der Turmspitze zur Gänze verschwand. Augenblicke verstrichen, in denen die Untoten ihren Weg fortsetzten. Momente, in denen die Nekromanten gegen tote Algen, Schlick und sumpfiges Wasser ankämpften, doch mit jedem Leben der Ihren, das verlosch, fiel ein Teil ihrer endlosen Armee in sich zusammen, so lange, bis auch der letzte Kadaver zu Boden stürzte und wieder war, was er hätte sein sollen – totes, verwesendes Fleisch ohne jede Regung. Und inmitten eines gewaltigen Feldes voller Leichen blieben auf einem Hügel zwei Gestalten zurück. Während Ashes bereits ahnte, womit sie diesen Sieg erkauft hatten, war Delilah völlig bar allen Wissens. „Wo Orykene und Pan?“ flüsterte ihre Stimme leise und zittrig. Eine dunkle Kammer, rund und hoch. An den Marmorsäulen, die das Gewicht der Decke trugen, hingen Fackeln. Ihr schwacher Schein vermag kaum die Finsternis aus diesem Raum zu vertreiben. Eine Gestalt schob sich hinter einer der Säulen hervor, zierlich, klein, ein Lächeln auf den Lippen. Zarte Fingerspitzen, die über den rauen Stein des Altars glitten, der im Zentrum der Kammer aufragte. „Ein schönes Geschenk. So etwas habe ich noch nicht...! Sage mir, wie fühlt es sich an?“ flüsterte eine leise Stimme neugierig. Auf dem Altar lag eine Gestalt. Mehr blankes Fleisch als Form. Ihr Blut tropfte bereits auf die Stufen herab, rann auf den Kammerboden. Ihre Innereien befanden sich nicht mehr vollständig in ihrem Leib, hingen hervor gezerrt heraus, angenagt, zerrissen. Ihre Augen fanden keinen klaren Fixpunkt mehr und in den letzten Krämpfen ihres Lebens regten sich die geschmeidigen Flügel der Harpyie. „Ah ah ah!“ rügte die leise Stimme unter einem fast mädchenhaften Kichern, während der schlanke Zeigefinger sich mahnend schwenkte, „Einfach so wegsterben gilt nicht...! Wir haben noch so viel zu bereden...“ Sie senkte sich herab, zarte Hände umschlossen das Gesicht der Harpyie, bevor sich schmale, kalte Lippen auf die Ihren senkten. Orykene spürte die Kälte, die sich ausbreitet und den Schmerz zu betäuben begann, sie spürte das Leben, das aus ihr wich und erstmals im Verlauf ihrer Existenz... fürchtete sie den Tod. Denn sie begann zu begreifen, dass mit dem Kuss Ninafers etwas in sie eindrang... Kapitel 3: Verhältnisse ----------------------- Die Zeit der Dämmerung war wahrlich längst vorbei. Draußen dunkelte es, das letzte Licht des ersterbenden Tages zog sich immer weiter hinter den Horizont zurück und in Fairfeld, einem kleinen Dorf irgendwo zwischen Samara und Hifalthar, wurde es still. Zumindest, wenn man den Kopf in die falschen Ecken steckte. Die Wolken am Himmel waren kaum noch sichtbar. Man erahnte sie eher dadurch, dass es stellenweise überraschend wenige Sterne gab – nämlich keine. Dort schob sich die baldige Gewitterfront zusammen und kündigte bereits vom aufziehenden Unheil. Natürlich nur im übertragenen Sinne – niemand musste fürchten, ein Blitzschlag würde das Dorf nieder brennen. Es gab ohnehin kaum vierhundert Seelen hier und sie alle waren von eher schlichtem Gemüt. Die Wache fasste gerade einmal zwanzig Mann, ihr Kommandant war zugleich der Buchhalter, Stadtverwalter und das Sprachrohr seiner Majestät für diese wertlose Gegend: Ein Magier namens Talsin. Meister Talsin war der jüngere Bruder eines erst jüngst tragisch verstorbenen Flüchtlings in Samara und anders als sein älterer Bruder, war Meister Talsin aus Fairfeld ein kluger Mann. Er hatte die Macht erkannt, die hinter Phillipe und seinem Apparat stand, er hatte die Mechanismen durchschaut, noch bevor der Hammerschlag die Zirkel zerschmettert hatte. Er hatte zu den Ersten gehört, die sich der Macht des Puppenkönigs beugten und die Göttlichkeit dieses Kindes akzeptierten. Vielleicht nicht mit der inbrünstigen Überzeugung, die seine Majestät wünschte, aber was war besser? Ein Geistmagier mehr oder ein Geistmagier weniger? Die Gefahr, die Fairfeld dieser Tage drohte und die sich diese Nacht wandeln und offenbaren würde, kam jedoch von völlig unerwarteter Stelle. Vor zwei Tagen war er hierher gekommen. In Lumpen, üblem Zustand und mit einer Fahne, als hätte er ein dutzend Zwerge geschluckt und sie in seinem Magen eine Brauerei bauen lassen. Ein groß gewachsener, kahlköpfiger Kerl namens Gustav. Er war knapp außerhalb des Dorfes zusammen gebrochen und niemand hatte sich soweit angesprochen gefühlt, um ihm zu helfen. Die Stadtwache griff ihn nach einem Tag eher gelangweilt auf, doch es zeigte sich nach seiner Ausnüchterung, dass Gustav einfach ein famoser Mensch war! Gut, vielleicht war er nicht gerade ein sonniges Gemüt. Eigentlich schaute er immer ziemlich finster drein, das die Kinder Angst vor ihm bekamen, aber Meister Talsin hatte seinen Geist erforscht. Er war so harmlos wie die Ochsen auf der Weide, und besser noch – er war klüger, aber fast genauso stark! Einen ganzen Tag lang ließen sie ihn helfen. Vor allem beim Ausbau der kleinen Wachstube. Ein neuer Flügel sollte angebaut werden, damit ein weiterer Tisch hinein passen würde. Die Männer sollten während ihrer Schichten ruhig ein wenig Karten spielen können. Besser das, als wenn er sich wieder die Querelen irgendwelcher Waschweiber anhören müsse, ihre Töchter seien heulend heim gekommen, die Schenkel blutig und ihrer Unschuld beraubt. Als wenn die noch unschuldig gewesen wären! Die Wachen hatten einfach nicht aufgepasst. Ein klein wenig widerte es Talsin ja an. Nicht, was sie taten – das war ihm herzlich egal. Nein, ihn widerte an, dass sie sich dabei so gehen ließen und sich wie die Tiere aufführten. Einfach füchterlich. Aber zurück zu Gustav. Der wusste nicht nur Karren zu ziehen, Bretter zu schleppen und einen Nagel mit einem einzigen Hammerhieb zu versenken. Sein wahres Geschick zeigte er am Abend! Er trank. Natürlich auf Kosten der Wache, die sich nach dem ganzen Tag bemüßigt sah, ihm etwas im Ausgleich zu geben. Talsin hatte darauf plädieren wollen, dass die Zelle, in der er schlief, als Ausgleich völlig reichen würde, aber überraschenderweise hatten seine Männer sich einstimmig dagegen ausgesprochen. Nun – auch gut. Er erzählte Geschichten. Und was für furiosen Kauderwelsch! Irgendwelche Abenteuer von irgendwelchen Figuren. Aber alles wirkte so lebendig und echt, als wäre es wirklich geschehen. Natürlich völliger Humbug. Dieser Kerl war ein Tagelöhner, vielleicht ehemals ein Söldner, aber bei den Locken seiner Majestät, er war kein Held, kein Retter, kein Krieger. Er war... einfach nur ein starker Zuchtbulle... in Menschengestalt. Und so unterhielt Gustav die Männer auch diesen Abend sehr zu ihrem Gefallen. Der Rest der Taverne war still. Immerhin wollte niemand mit der Wache Probleme haben. Die Schankmaid, die anderen Gäste, niemand beschwerte sich. Nicht über ihre Lautstärke, nicht über ihre mangelnden Manieren, nicht einmal darüber, dass die Dame, die ihnen Runde um Runde die Krüge brachte, jedes Mal fast in kalten Schweiß ausbrach, wenn sie dem Tisch näher kam. Einer der Männer hatte sie vorhin erst zu Boden geschlagen. Warum war zwar eigentlich nicht weiter erheblich, aber... sie hatte sich geweigert, zu ihm aufs Zimmer zu kommen. Das würde sich diesen Abend noch klären. „... und dann sag' isch zu dies'm kleen Luder, sie soll verdammt nochma' ihre große Klappe halt'n oder... oder... äh... wo war'sch? Ah ja! Oder sie sinnvoll einsetzen!... Da drück' ich das Stück also so auf die Knie und Wunder über Wunder, wie eifrig sie dann dabei war...“ prustete Gustav in sichtlichem Amüsement. Die Gesichter der Männer um ihn herum gewannen im Sekundentakt an Breite – vor allem, was das Grinsen auf ihren Lippen anbelangte. Mancher Blick wanderte unverblümt zur Schankmaid, die diesen nicht nur auswich, sondern sich sogar regelrecht hastig hinter der Theke verkroch. Krüge säubern. Verstand sich. „Und wie ging's weiter?“ verlangte einer der Wachmänner zu wissen. Das dreckige Grinsen war schon eindeutig genug, um zu verstehen, was er hören wollte. Doch Gustav war nach dem vierten Krug so sternhagelvoll, dass er kaum noch begriff, wo er überhaupt war. Er angelte nach seinem Krug, war offenbar erst gewillt, weiter zu reden, wenn er noch einen kräftigen Hieb genommen hatte und so half ihm einer der nicht minder angetrunkenen Männer, packte seine schwielige Pranke und drückte ihm das tönerne Gefäß in die Finger. „Na wie wohol? Isch pack' ihren Kopf also mit'n Händen,“ begann Gustav wieder und hob seine Pranken empor, „un' drück sie kräftisch ran und das kleene Luder fängt an zu husten. Gebsch ihr also 'n Klaps, soll's ja gefällischst ordentlisch mache', ne? Schaut s'e zu mir auf un' isch denk so bei mir: Die Nacht is' lang! Rehbraune Augen und lange, gut gepfleschte Haare... hehe...“ Mit einem Mal gröhlte die Runde auf, als Gustav davon berichtete, wie es für die Ärmste aus seiner Erzählung weiter ging. Das war wohl auch der Punkt, an dem der Abend sich dem Ende zuneigte. Der Tagelöhner war einfach nicht mehr zu gebrauchen, er war zu betrunken. Bald schon würde er unter dem Tisch liegen und nur noch lückenhaft etwas vor sich her brabbeln – das hatten sie alles gestern schon erlebt. Und so machte es wahrlich keinen Spaß, einer Geschichte zu lauschen. Also erhoben sich die Meisten und verließen nach und nach die Stube. Talsin selbst hatte sich am Met ein gutes Stück überhoben und wankte schlicht die Treppe hinauf, wortlos. Er brauchte hier nicht zu bezahlen. Verdammt, er brauchte in ganz Fairfeld nirgendwo zu bezahlen, er war immerhin Phillipes rechte Hand!... Zumindest hier. Einer der Wächter dagegen erhob sich, schwankte einen Moment und schritt dann erstaunlich zielsicher durch die Tische. Er packte die Bedienung bei ihrem Haarschopf, riss die Haube nachlässig herab und zerrte sie unter völliger Ignoranz ihres Geschreis, ihres Gebettels und ihrer Hilferufe an die anderen Gäste ebenfalls die Treppe herauf. Und der Wirt... nun, der begriff, dass er den restlichen Abend Arbeit für zwei erledigen musste, also legte er sich die Schürze um und begann, die Krüge auszuteilen, die dieses lottrige Weib hatte stehen lassen. Gustav dagegen schien gleich auf der Bank einzuschlafen und obwohl es ein wenig unorthodox war, befahl einer der Wachmänner, ihn schlafen zu lassen. Abhauen würde der sowieso nicht, da waren sich alle sicher. Dieser Ochse mit dem leeren Kopf war viel zu versessen auf das Freibier, das er hier jeden Abend bekam. Außerdem hatte er mit der Zelle in der Wache ein gutes, sicheres Dach über dem Kopf und ein paar Kumpanen, die begeistert seinen miesen Anekdoten zuhörten. Irgendwann einmal, da würden sie seiner Geschichten vielleicht überdrüssig werden und ihn hinaus werfen, doch im Moment war Gustav eine willkommene Abwechslung zum tristen Alltag zwischen dämlichen Bauern, Vieh und Matsch. Draußen war es unlängst weniger freundlich geworden. Die Wolken hatten sich immer mehr zugezogen, in der Ferne grollte bereits hier und da der Donner und ein leichter Nieselregen setzte ein. Noch wenige Stunden und es würde aus allen Eimern gießen, das Dorf beinahe ertränken, die 'Straßen', die kaum mehr waren als billige Feldwege, plattgetrampelt und nieder gewalzt von den wenigen Karren, würden sich in morastige Pfuhle verwandeln und was am Ende übrig bliebe von den Weiden, das würde man Sumpf nennen wollen. Fairfeld lebte von diesen Regengüssen. Sie waren immer selten, immer üppig und sie ließen das Grünzeug schießen, dass das Vieh mit dem Fressen gar nicht nach kam. Ein Dorf des Überflusses. Nach und nach erloschen die Lichter der Stadt. Die Menschen begaben sich zu Bett, sprachen ihre Gebete, sofern sie sich das trauten. Selbst in der Wache wurde es dunkel. Natürlich gab es eine Nachtschicht, aber die... entspannten jetzt ein paar Stunden lang ihre Augen. Für den Fall, jemand würde angreifen oder... so ähnlich. Das letzte Licht, das noch brannte, glomm in einer kleinen Laterne. Eine einzelne, halb herab gebrannte Kerze. Er hatte ihr gesagt, sie sei erlöst, sobald die Kerze ausginge. Sie hatte versucht, die Laterne daraufhin umzuwerfen, um sich zu retten, aber... das war einfach zu offensichtlich gewesen. Inzwischen wimmerte sie nur noch in das Kissen hinein. Am Anfang hatte sie geschrien und er hatte es durchaus genossen. Jetzt... begann es allmählich fad zu werden und er überlegte schon, ob er sie vielleicht vorzeitig gehen lassen sollte. Einen Moment hielt er inne, zog sich aus ihrem Leib zurück, bedachte den von der Gerte des Tavernenbesitzers zerschundenen Rücken mit einem andächtigen Blick. Nun – er würde sie schon zum schreien bringen! Sie versuchte sich zu sträuben und das allein bestärkte ihn, als er ihr Gesäß packte und die wohlgeformten Hälften auseinander zog. Das würde nicht schön werden – und tatsächlich schrie sie einen Moment später erneut heiser in das Kissen hinein. Für ihn war es einen Moment lang nicht minder unangenehm, aber was bedeutete schon ein kurzer Augenblick des Schmerzes gegen solche Wonne, die sich ihm bot? Dann plötzlich ließ etwas ihn aufhorchen. Es war still geworden. Natürlich, das dumme Weib wimmerte noch herum. Zumindest bettelte sie nicht mehr, das war... lästig gewesen. Aber neben ihrer zerbrechlichen kleinen Stimme war es still. Überall. Geradezu... totenstill. „Halt's Maul!“ fuhr er die Schankmaid an, doch die reagierte nicht im Ansatz auf seinen Befehl. Vorsichtig wandte er den Blick um, bemühte sich, hinter sich zu spähen. Die Tür stand offen? Alarmiert fuhr er herum, doch er erkannte nur Schemen, nur einen flüchtigen Schatten, ehe die Kerze in der Halterung abrupt erlosch. Die Bedienung wimmerte völlig aufgelöst ein leises Danke zurecht, unwissend, dass das Verlöschen des Lichtes nicht ihrem Peiniger entstammte. „Gustav, bist du das?“ vermutete der Wachmann leise. Schweigen. Eine endlose Ewigkeit nur Schweigen. Aber er glaubte jemanden atmen zu hören. Ruhig. Tief. Gleichmäßig. Dann ein dumpfer Aufprall. Noch einer. Wer immer in der Tür gestanden hatte, betrat den Raum. Dem Geräusch nach war er groß... schwer. Einer seiner Kollegen, die sich einen Streich erlaubten? Selbst das närrische Weib war still geworden. „Ich bin nicht Gustav.“ tönte plötzlich die Stimme, die der Wachmann jedoch unter keinem anderen Namen als eben diesen kannte. Das letzte Licht in Fairfeld war ausgegangen und eine Glocke der Totenstille legte sich über das Dorf. Selbst als der Regen prasselte, lauter und lauter, als wolle er eine voluminöse Geräuschkulisse schlucken, erklang neben ihm nicht ein einziger Laut. Drei Tage zuvor. Fairfeld lag dort, jenseits der Hauptstraße. Ein beschauliches kleines Dörfchen. Harmlos, aber für ihre Zwecke völlig ausreichend. „Dort lebt ein Magier. Sein Name ist Talsin, er ist der Bruder des Mannes, den du in Samara befragt hast. Er besitzt ein Buch aus dessen Besitz. Ach und Thorin?“ Der kahlköpfige Krieger wandte sich nochmals zu der zierlichen Gestalt um. „Wir könnten noch ein paar helfende Hände gebrauchen. Kümmere dich darum.“ Es dauerte seine Zeit, das musste man dem ganzen Unterfangen zugestehen. Wenn man den Redensarten des Landvolkes glauben wollte, dann bewies sich darin die hohe Qualität eines Planes. Für Thorin, einen Menschen mit kurzer Zündschnur und nicht gerade uferloser Geduld, bewies sich darin höchstens, dass es sich um eine mehr als unnötige Probe handelte. Und das, obwohl Fairfeld ein durchaus geschäftiges Dörfchen war. Durch seine Nähe zu Samara gab es genug Investoren, Gutsbesitzer, Adlige und Händler, die in die hiesigen Grundstücke investierten – und in die Familien, die dort wohnten und nach bestem Wissen und Gewissen dem Boden ihre Ernten abrangen. Nach den Steuern, Abgaben und Zehnten blieb natürlich für die Bauern nicht viel übrig, aber die konnten überleben und waren damit offenbar zufrieden. Die Herrschaften in Samara wurden fett – und waren ihrerseits damit zufrieden. Und seine Majestät wurde an alledem gut beteiligt – und war ebenfalls zufrieden. Hätte er zumindest sein können oder sollen. Thorin allerdings war nun eine Art Störfaktor, ein... Zwischenfall. Als langsam Leben in das Dorf zurückkehrte, war es Elias, ein kleiner Junge aus den äußeren Höfen, der 'Gustav' zuerst erblickte. Er wurde kreidebleich und wollte schon zu schreien anfangen, aber der Kahlkopf legte ihm nahe, stattdessen alle im Dorf zu wecken und zu ihm zu führen. Es war geradezu absurd, wie schnell der Knabe sich einspannen ließ. Gerade noch hatte er in blanke Hysterie verfallen wollen und nur, weil ihm ein bekanntes Gesicht mit einer autoritären Stimme eine Anweisung erteilte, jagte er davon, flitzte von Tür zu Tür und trug die Kunde weiter. Dumm, einfältig, aber Thorin störte sich daran nicht. Es bewies die gute Erziehung des Knaben. Nicht, dass er eigenständig zu denken fähig war, aber zumindest seine gute Erziehung. Man sollte ja angeblich auch die Details zu würdigen wissen. Nach und nach fanden sich immer mehr der Dorfbewohner ein. Alle starrten sie, schlugen in nacktem Entsetzen die Hände vor den Mund. Ein manches Waschweib kippte um und ein paar andere, jüngere Frauen warfen sich unter einem gequälten, halb in Tränen erstickten Aufschrei in die erstbesten Arme, die Trost zu spenden bereit waren. Thorin saß auf einem kleinen Schemel, vornüber gebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Kinn auf die gefalteten Hände gebettet. Er stierte in die Menge hinein, die immer mehr anwuchs. Die Axt ruhte mit der Klinge am Boden, der Stiel trug seine gefalteten Hände mit. Noch immer rann etwas Blut von der Schneide. Blut, welches den diversen Leichen entstammte, die sich hinter ihm auftürmten. Die gesamte Wache von Fairfeld, dahin geschlachtet. Einschließlich eines gewissen Magiers, verstand sich. Das Buch, wegen dem er überhaupt erst hierher geschickt worden war, befand sich längst sicher in der kleinen Innentasche von Thorins Lederrüstung. Als das kleine Vierhundertseelendorf sich zur Gänze versammelt hatte, wurde der Krieger es leid, sich weiterhin das Getuschel und Geschwätz anzuhören, ständig „Gleich!“ auf die Fragen nach einer Erklärung zu erwidern und ja, sogar die ach so empörten und verängstigten Mienen waren ihm zu viel. Er wollte hier weg, er war des ländlichen Charmes so ungemein überdrüssig. Also sog er die Luft tief in seine Lungen und hob die überraschend kraftvolle Stimme an. Allein die Wucht darin und seine Lautstärke ließen die ersten Reihen zusammen zucken, aber auch die Letzten der großen Traube sollten ihn verstehen können. „Dieser Berg von Kadavern sind die Männer, die euch hätten beschützen sollen.“ begann er überraschend nüchtern und klar, „Wenn hier noch jemand glaubt, er müsse dieses Dorf verteidigen oder den Helden spielen, dann soll er das gleich versuchen. Ich stelle euch vor eine einfache Wahl: Ich bilde jetzt zwei Reihen. In die erste Reihe kommen die, die ihr Leben behalten möchten. In die zweite Reihe kommen die, die sterben werden. Alle der zweiten Reihe, einschließlich der Leichen, werden brav an einem Seil aufgefädelt und mitgezogen. Wir machen einen Spaziergang.“ Natürlich waren seine Ausführungen nicht gerade einleuchtend. Niemand – außer manchen naiv nachfragenden Kindern – glaubte an einen Spaziergang. Dies war eine Entführung, so wurde es den Schlaueren unter ihnen rasch klar. Allerdings eine in einer Größenordnung, die man einem einzelnen Mann nur schwerlich zutrauen konnte. Mit welcher Armee also gedachte dieser arme Irre ihrer Herr zu werden? Sie waren in massiver Überzahl und er hatte diese Soldaten seiner Majestät zweifellos nur so übel zurichten können, weil sie ihn für einen Freund gehalten oder fest geschlafen hatten. Thorin bemerkte durchaus, wie die Stimmung empfindlich umschwang. Doch es scherte ihn nicht. Es scherte ihn so lange nicht, bis einer der Männer dezent „Auf ihn!“ brüllte. Selbst als sich die Frauen zu Trauben und Gassen formten, um die Kampfwilligen passieren zu lassen, reagierte der Kahlkopf noch nicht. Erst, als sie ihn erreichten. Was dann folgte, spottete jeder Beschreibung. Unter einem geradezu archaischen Ausruf fuhr die Axt zum ersten Schlag nieder und riss einen der Männer in der Vertikalen fast entzwei. Die Schläge dieses Mannes, den mancher der Angreifer einst zu kennen geglaubt hatte, waren von solcher Wucht und Kraft, dass sie bezweifelten, dass es natürlichen Ursprunges sein konnte, was hier vor sich ging. Thorin aber zögerte nicht. Er schreckte nicht zurück und er zeigte keinerlei Gnade. Selbst wenn nur ein Dutzend übrig bleiben würde, dann wäre es eben nur ein Dutzend. Ihm war das völlig gleich – das Hauptaugenmerk beim Besuch dieses Dorfes war das Buch gewesen. Ein paar helfende Hände... sie hatte nicht gesagt, wie viele er mitbringen sollte. Drei Dutzend Männer schlachtete der Krieger ohne jede Mühe nieder, stieg mit den schweren Lederstiefeln ohne jede Rücksicht über die noch warmen Leichen der Mutigen, um die Nächsten aus ihren Reihen nieder zu strecken. Nicht jeder Hieb wurde mit der Axt geführt. Sein Ellbogen war schnell, seine Faust hart – und mancher, dessen Knacken zunächst nur nach einem Nasenbruch klang, stand ebenfalls nie wieder auf. Als auch der Letzte der Kampfwilligen verzagte und unter dem drohenden Streich auf die Knie sank, das Haupt in Demut gesenkt und die Hände waffenlos erhoben... da fällte Thorins finaler Streich auch den und der Widerstand erstarb zur Gänze. „Habt ihr euch jetzt ausgetobt?“ fuhr er keifend die Menge an. Betretene Blicke, scheu zu Boden gerichtet. So gefiel ihm das schon besser, wesentlich besser. Er trat kurz in die Wachstube hinein und ließ dann ein Seil herum gehen. Es bestand aus unzähligen anderen, die er möglicherweise aus all den Scheunen und Lagern des Dorfes zusammen gestohlen hatte. Die Knoten aber, die sie miteinander verwoben, waren schier nicht aufzutrennen. Thorin prüfte bei jedem, ob die Fesseln um die Handgelenke dicht und fest genug saßen und es gab ein paar weitere... Verluste. Dörfler, die glaubten, sie könnten einfach wegrennen oder sich in Häusern verstecken, damit er abzog und sie übersehen würde. Sie begriffen nicht, woher er es wusste, wie er sich so sicher sein konnte, wenn er mal wieder eine vorsichtig angelehnte Tür auftrat und eine weitere Frau an den Haaren herbei zerrte, um sie zur Abschreckung vor aller Augen mit einem Hieb zu töten, ihr den geschmeidigen, schön anzusehenden Rücken bis aufs Mark auftrennte. Irgendwann wagte niemand mehr zu fliehen. Sie wussten es nicht, aber mancher ahnte es, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Augen in den Schatten selbst, die lautlos Thorin ihre Entdeckungen zuflüsterten. Er war überall um sie herum. Wie er es angekündigt hatte, band er auch die Leichen zusammen. Der Tross der Überlebenden hatte nun die mehr als unangenehme Aufgabe, die Kadaver ihrer einstigen Männer und Weiber, Söhne, Geliebten und Vettern mit zu schleifen. Mit wuchtiger Stimme trieb Thorin die lange Kette Gefangener schließlich an, sich in Bewegung zu setzen. Sie kamen nur langsam vorwärts, doch der Krieger kannte keine Rücksicht. Nicht für die Weiber, nicht für die Kinder, nicht für die Alten und Schwangeren. Sie marschierten oder sie starben – das stand ihnen frei, ihre einzige Wahl. Ein Tag verstrich zur Gänze, ehe sie sich weit genug abseits aller Augen und Ohren befanden. Die Männer und Frauen begriffen nicht im Ansatz, was mit ihnen geschah. Sie 'rasteten', so sagte Thorin es ihnen. Viele nahmen die Pause als willkommen hin, ja sogar dankbar. Ein Geschenk, so sahen sie es fast. Sein Regiment war streng, aber wenn man sich an sein Wort hielt, dann durfte man damit rechnen, weiter zu leben. Und wer nicht zu gierig oder anmaßend wurde, der durfte sogar trinken und essen. Viel trug der Krieger nicht bei sich, es war offenkundig, dass ihm das Wohl der Leute mehrheitlich egal war. Doch die Rast endete auf allzu merkwürdige Weise. Es war finsterste Nacht und ein leises Surren verstörte die Ersten. Lange war es ihnen nicht aufgefallen, weil sie einfach zu erschöpft davon waren, einen ganzen Tag zu marschieren. Doch dann wurde es lauter und lauter, zu einem regelrechten Fauchen, bis es so schnell in seiner Intensität anschwoll, dass die Kinder und Weiber und so mancher junge Knabe es mit der Angst zu tun bekamen. Und schon im nächsten Moment erstarb das Geräusch völlig. Dafür hatte sich die Umgebung doch massiv verändert. Ungerührt der Tatsache, schritt der Kahlkopf zwischen der Kette der Dörfler einher, schnitt hier und da Seile durch und trennte so die 'zweite Reihe' von der Ersten ab. Mit viel Muskelkraft zerrte er die Leichen zu einer Grube, deren steiler Abhang keinerlei Spekulation darüber erlaubte, was sich jenseits der Kante wohl befand. Thorin dagegen stieß die ersten Körper über den Rand und deren Gewicht allein, verbunden mit dem Ruck am Seil, genügte völlig, um die gesamte, verbundene Reihe von Leichen in die Tiefe zu zerren. Einige Meter weiter unten schlugen sie als ein Berg toten Fleisches unsanft auf schroffen Steinboden. Kaum vier Meter von ihnen befand sich ein zweiter Berg – aus Werkzeugen. Spitzhacken, Schaufeln, Meißel, Hämmer. Unzählige Arbeiter machten sich am Grund und Boden zu schaffen, schlugen mehr und mehr heraus. Denn von dort oben, wo Thorin mit den Einwohnern von Fairfeld stand, konnte man nicht sehen, dass kaum vier Meter unter der Grasnarbe feinster, schwarzer Obsidian in durchaus annehmbarer Qualität lagerte. Mochten die Götter wissen, wie er dahin gekommen war – Ninafer hatte ihn gefunden und nun wurde er abgebaut. Von der zweiten Reihe. Die zweite Reihe aus Havenport. Die zweite Reihe aus Clevemount. Die zweite Reihe aus Sorast. Die zweite Reihe aus... unzähligen anderen Dörfern, die allesamt sich durch eines auszeichneten: Sie waren geradezu winzig und fielen niemandem auf, wenn sie gänzlich von den Landkarten verschwanden. Es kostete Ninafer viel Kraft, aus all den Kadavern, für die Thorin sorgte, immer neue Reihen Untoter zu fabrizieren. Unlängst war dem Krieger klar geworden, dass es vielerlei Arten von Untod gab. Ihre ersten Schöpfungen waren nahezu perfekte Arbeiter gewesen. Sie wussten, was eine Spitzhacke war, erinnerten sich sogar noch an Teile ihres früheren Lebens. Sie besaßen höhere Intelligenz. Allerdings hatte sich das als kontraproduktiv erwiesen – höhere Intelligenz schien unweigerlich mit dem Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung einher zu gehen. Also hatte Ninafer begonnen, zu experimentieren. Über die Natur und Art dieser Versuche wagte Thorin nicht einmal zu spekulieren – er fand sie allesamt schier abartig. Die aktuellen Riegen der Untoten waren... tauglich genug. Sie hatten keine Ahnung, was Werkzeug war und erinnerten sich an gar nichts. Ihr Fleisch verweste binnen Tagen völlig und ihre Knochen zerfielen dann, den Zauber aufgebend, der sie einst mit Bewegung treu den Anweisungen ihrer Herrin beseelte. Sie waren damit zwar gewissermaßen zu einem Wegwerfprodukt geworden, doch Thorin hatte bisher keine Schwierigkeiten damit gehabt, für Nachschub zu sorgen. Leider ließ der Stein sich wesentlich leichter abbauen – man brauchte ihn nur in großen, groben Blöcken aus dem wesentlich weicheren Gestein heraus zu schlagen – als man ihn verarbeiten konnte. Dafür gab es ja dann schließlich Reihe eins. Keiner der Überlebenden aus Fairfeld würde das Dorf jemals wieder sehen. Sie bekamen Wasser, sie bekamen Brot, Fleisch, manchmal sogar Gemüse. Die Küche hätte bei Leibe schlechter sein können. Ihre Unterkünfte waren vielleicht ein wenig bescheiden. Einfache Holzverschläge, die zwar im Sturmesfall dem Wind trotzen und den Regen fern halten würden, aber kalt würde es darin allemal werden. Dafür gab es dann kratzige, muffelige Decken. Was spielte das überhaupt für eine Rolle? Die Meisten starben hier. Viele früher... manche später. Aber lebend würde sowieso keiner diesen Ort verlassen und das ahnten auch die Neulinge aus Fairfeld. Vor ihnen erhob sich etwas am Boden und die Mehrheit begriff, dass es ihre Muskelkraft sein würde, die dieses Ding zu vollenden hatte. Schwarze Mauern schoben sich in einem großen Radius vom Untergrund empor. Offenbar war eine gewaltige Fläche freien, ebenen Grünlandes dafür eingeplant worden – und seine göttliche Majestät allein mochte wissen, wo sie sich gerade befanden. Die kleine Rune am Boden hatte keiner der Männer und kein Weib oder Kind bemerkt. Die Teleportrune fiel nie jemandem auf. Lag wohl daran, dass ein Magier ihnen noch nicht in die Fänge gegangen war, aber mit denen hätte Thorin dann ohnehin andere Pläne, als sie zu billigen Arbeitern zu degradieren. Von den paar Wenigen, die hier schon länger arbeiteten und (über-)lebten wurden die Neuankömmlinge schließlich eingewiesen. Sie bekamen die Fesseln abgenommen und ihnen wurde eindringlich eingeschärft, niemals den Versuch zu wagen, die Baustelle zu verlassen. Ein paar würden es dennoch tun und elendig dabei sterben. Ninafer hatte ihre Augen überall und sie erwischte jeden von ihnen. Ohnehin hatten die Siedler aus Fairfeld es inzwischen schon besser getroffen als die Männer, Frauen und Kinder unzähliger anderer Orte zuvor. Die Festung, die hier entstand, war in groben Zügen schon in Form gebracht worden. Gewiss fehlte noch viel, gerade die Innenräume waren noch Rohbauten, doch ihnen blieb die Arbeit erspart, in gewaltigen Höhen mit kaum mehr als Flaschenzügen und ein paar Holzbrettern die schweren Obsidianblöcke in Form zu meißeln und in Position zu rücken. Mörtel oder dergleichen war, sehr zur Erleichterung der Arbeiten und zur Erfurcht der Arbeiter, nicht nötig. Wurde ein neuer Block eingefügt, war es ein geradezu winziger Zauber Ninafers, der die Steinquader nahtlos miteinander verschmelzen ließ. Unfälle gab es trotzdem immer wieder. In den Abbaugruben störte das keinen. Wenn ein Untoter sich den linken Arm abschlug, ja gute Güte, dann grub er eben mit rechts weiter oder verweste, bis ein anderer ihn ersetzte. Und Menschen... waren nicht weniger entbehrlich. Erst gestern hatte es einen ziemlich übel zugerichtet, als einer der unzählige Kilo schweren Steinblöcke aus der Position gerutscht und herabgestürzt war. Man hatte den Matsch des Bodens nicht mehr vom Matsch des Menschen unterscheiden können... „Wie viele bringst du mir?“ erkundigte sich Ninafer mit einem vergnügten Lächeln. Zeitgleich fuhr ihre offene Hand in seine Richtung und ohne das auch nur ein Wort nötig war, kramte der Krieger das Buch hervor und überreichte es. Was darin stand, es war ihm gleich. Er bekam Befehle und er befolgte sie. Früher war das anders gewesen. Er hatte andere angeführt, er hatte die Befehle gegeben. Und wohin hatte es ihn gebracht? Wohin hatte es jene geführt, die zu beschützen er verantwortlich gewesen? Nein, sicherlich war seine jetzige Position die Bessere. Er hatte es immer schon gehasst, für andere verantwortlich zu sein. Dabei konnte immer so schrecklich viel... schief gehen. Sie nahm das Buch an sich, schlug es auf und ließ ihn wissentlich einen Blick hinein riskieren. Nicht, dass er neugierig war, aber er sollte sehen, dass ihm zu viel Interesse sowieso nichts gebracht hätte. Die Texte des Magiers waren in geradezu kryptischen Zeichen- und Symbolsprachen abgefasst. Er hatte von dieser Form der Paranoia unter den Zirkelmagi gehört, sie jedoch nie selbst gesehen, ihre 'Geheimschrift'. Sie sah ein wenig aus wie das Gekrakel von Kindern. Zufrieden klappte die Giftmischerin das Buch wieder zu und ließ es irgendwo unter ihrem Umhang verschwinden, zweifellos in einer der Innentaschen – oder sie schob es nur in die Schatten und eben diese transportierten es in die Bibliothek. Die war nämlich von Ninafer mit einer gewissen Andacht und besonderer Akribie als Erstes fertig gestellt worden. Darin fanden sich bisher nicht viele Werke, aber allein die Blutspritzer hier und da machten deutlich, aus welchen Quellen sie sich ihre neue Sammlung zusammen klaubte. Die Kacheln in einem skurrilen Schachbrettmuster hatte ein Baumeister aus dem kleinen Dörfchen Havenport verlegt. Er hatte drei Söhne vor seinen Augen verloren, ehe er die von Ninafer gewünschte Qualität in seine Arbeiten einbrachte. Beim Dritten war sie schon dabei gewesen, die Geduld mit ihm zu verließen und hatte ihn von den Schatten in unzählige Fetzen reißen lassen. Vermutlich war es eben dieser Anblick und die Drohung gewesen, sie könne seiner einzigen Tochter noch ganz andere Dinge antun, die ihn dazu brachte, besser zu arbeiten. Sie hätte gerne noch die Flure von ihm auslegen lassen, doch... er hatte sich erhängt, kaum, dass die Bibliothek fertig war. Bedauerlich – aber niemand war unersetzbar. Und aktuell schuftete sein langsam vermodernder Leib unten in der Obsidianmiene weiter. Seine Tochter hatte er auf Ninafers amüsiertes Gekicher hin übrigens zerrissen – sie arbeitete eine Weile neben ihm, doch die Verletzungen, die er ihr als Untoter beigebracht hatte, machten sie schier untauglich. „Wie stehen wir da?“ erkundigte sich der Krieger, während er neben ihr einher schritt. Die Gänge waren bislang nur ausgelegt mit einigen Ballen Stoffe, die sie aus den leergeräumten Dörfern entwendet hatten. Die Hütten, Lager und Scheunen wurden nach Thorins entvölkerndem Erstschlag sowieso mehrmals besucht, um eventuell mögliche Waren zu sichern, die sich beim Bau von Ninafers kleinem Schlösschen noch gebrauchen lassen würden. So hatten sie zum Beispiel jetzt schon viele hundert Meter feinsten, roten Samtes. Einstmals bestimmt für die Flurteppiche im Schloss seiner Majestät, gedachte Ninafer sich daraus nun irgendwann, wenn ihnen ein tauglicher Schneider in die Hände fiele, ein paar schicke Wandteppiche nähen zu lassen. Sie hatten Marmor für Büsten, Waffen für eine kleine Armee, Rüstungen, Portraits und Landschaftsbilder, leere Leinwände, unzählige Farbkästen und -eimer, sie hatten genug Bestecksets, um jedem Einwohner Samaras ein paar Gabeln, Löffel und Messer in die Hände drücken zu können und ja – zumindest für den Moment hätten sie auch genug 'Gäste' gehabt, um diesem gewaltigen Rohbau Leben einzuhauchen. Glücklicherweise – so befand Thorin zumindest – war daran niemand interessiert. Die Arbeiter wollten hier nicht sein und Ninafer wollte sie hier nicht haben. Sie leisteten ihren Teil und starben. Das genügte völlig. „Diese zwei Magier ziehen noch immer umher und... begreifen einfach nicht. Ich habe ihnen einen Brief geschickt. Glaubst du, sie werden meine Hinweise verstehen?“ erkundigte sich die Bauherrin einen Moment, ehe sie ungerührt fortfuhr, ohne seine Antwort auch nur abzuwarten, „Ashes erholt sich langsam, aber ihre kleine Rebellion hat es übel erwischt. Sie haben durch den Angriff der Nekromanten viele, viele Anhänger verloren. Und sogar ein paar Personen, die ihr möglicherweise wichtig waren. Das Vögelchen ist oben im Turm, aber sie ist noch immer nicht sehr redselig. Oh stell dir nur vor, wie lustig das wäre, wenn uns ein paar Vöglein Gesellschaft leisten würden!“ „Harpyien, keine Vögel. Und sie würden dir auf deinen wunderbaren Stein scheißen.“ Abrupt hielt die Giftmischerin inne und betrachtete Thorin von der Seite. Der Krieger blickte weiter stur geradeaus, offenbar nicht gewillt, sich unnötig lange mit diesem Thema aufzuhalten. Er hatte sie schon mehrfach darauf angesprochen, sie möge ihn nur ein paar Minuten mit Orykene allein lassen. Doch Ninafer konnte sich nur zu gut vorstellen, was dann in diesem Zimmer vor sich ginge. Die Brutmutter aus Quentloas starb. Ganz langsam, so hatte sie es eingerichtet, aber das Federvieh starb. Die Schmerzen und Qualen eines derartig entstellten, zerfetzten Körpers würden sie überzeugen. Irgendwann würde sie alles von ihren Lippen ablesen und bereitwillig akzeptieren... und sie hätte eine weitere, neue Verbündete, ein neues Werkzeug. Obwohl Thorin ja genau genommen kein bloßes Werkzeug war. Nützlich, sicherlich. Befehlstreu. Ein wenig grob und gewalttätig vielleicht, aber das hatte sich in der Vergangenheit als brauchbar erwiesen, wusste sie ihn doch zu gut zu lenken und zu steuern. Sie waren schon so manches Mal aneinander geraten, nicht zuletzt, weil sie ihn wie das behandelt hatte, was er war. Doch in diesem Punkt war der Krieger etwas... empfindlich. In ihren Diensten zu stehen und ihr Diener zu sein – offenkundig unterschieden sich die zwei Dinge für ihn um Welten. „Sei nicht so rüde. Ich bringe ihnen schon Manieren bei.“ erwiderte Ninafer deutlich verspätet, ehe ihre eben noch fast trotzige Miene wieder deutlich aufhellte. Sie nahm ihn an der Hand – und der Krieger entzog die Seine rasch. Noch so ein... Problem. Unlängst hatten sie den kleinen, noch recht kahl wirkenden Torbogen erreicht, der zur späteren Thron- und Haupthalle führte. Es fehlte noch an großen, schweren Holztoren in diesen eisernen Angeln. Es fehlte an Figuren, an Teppichen, an schier allem. Bisher standen eben tatsächlich fast nur die Wände. Doch im Moment war Ninafer kaum etwas gleichgültiger als diese verdammten Details. Er hatte sich ihr entzogen. Und sie wusste nur zu gut, warum. Thorin empfand es schlichtweg als unangebracht. Er wusste damit nicht umzugehen, doch Ninafer... widerte ihn an. Man brauchte keine Gerüchte über seine Majestät hören. Breite Hüften zeugten von so manchem Bastard, sie hatte sich jahrelang in seiner 'erlauchten Gesellschaft' befunden. Als sie sie befreit hatten, gute Güte, da waren selbst die Wachen dabei gewesen, sich ihre Gier an ihr zu stillen. Es hatte ihnen damals die Arbeit erleichtert, aber heute... ekelte er sich vor ihr. Wie viele Bastarde dieses Königreiches hatten voller Inbrunst ihren Samen in ihr hinterlassen? Könnte man das überhaupt noch an allen Fingern, die es in La Coeur gab, abzählen? Es war nicht zu leugnen, dass ihr Körper trotz der Tortouren seine Reize aufzubieten wusste und es wäre auch zwecklos gewesen, abstreiten zu wollen, dass Ninafer um ihre eigene Wirkung wusste und sie geschickt einsetzte. Doch er würde sich garantiert nicht davon einwickeln lassen! Mit einem geradezu spöttischen Augenklimpern, so deutete der Krieger es zumindest, näherte sie sich ihm an, legte den Arm um seinen Nacken, wohlwissend, dass sie damit wider seines Willens handelte. „Ich frage mich, wie viele du schon getroffen hast... mit rehbraunen Augen und langen, gut gepflegten Haaren...“ raunte sie ihm regelrecht zu. In Thorins Miene dagegen spiegelte sich schon Ninafers erster Triumph. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihn belauschen und beobachten würde. Was er als 'Gustav' in Fairfeld zum besten gegeben hatte, waren miese kleine Geschichten für miese kleine Dorfwächter. Mist, der genau nach ihrem Geschmack war. Doch selbst dieser Unfug musste glaubwürdig sein – also hatte er sich in Beschreibungen immer darauf verlassen, etwas vor Augen zu haben, das er auch glaubhaft beschreiben konnte. „Was willst du von mir?“ fuhr er sie rüde an und drückte sie barsch von sich. „Ich will, dass du deine große Klappe hältst oder sie sinnvoll gebrauchst... hm... nein, streich das Erste.“ säuselte die Adlige ungeachtet seiner Reaktion. Sie verwendete seine Worte, und sie richtete sie gegen ihn – glaubte Thorin zumindest. Ein Teil seiner Selbst versuchte ihm einzureden, dass sie es ernst meinte, dass sie ihm ein Angebot unterbreitete, doch seit er sich dem Dienst in ihrem Willen verschrieben hatte, war er in Ceteus' Reich eingegangen... und sie war seine Gesandte. Er traute sich selbst nicht mehr, weil jede Stimme in seinem Kopf und jede Einflüsterung aus den Schatten ebenso gut ihr Wille hätte sein können. Seine Pranke schnellte hervor, packte die Bauherrin der schwarzen Zitadelle bei der Kehle und presste sie gegen den kalten Obsidian. „Reize mich nicht! Fordere mich nicht heraus!“ warnte er sie erzürnt, doch Ninafer bleckte nur die Zähne zu einem amüsierten Lächeln. Ihre Zungenspitze strich einen Moment über sein Handgelenk, ehe ihr Leib zu Schatten zersprang – Sekunden, bevor seine Faust ihr ein paar Rippen hätte zerschmettern können. Doch Thorin war nicht darauf aus, es bei einem ihrer üblichen Scharmützel zu belassen. Zu oft hatte sie ihn in den letzten Tagen gereizt, zu oft hatte sie ihre Spielchen mit ihm gespielt. Er war hier, um zu... arbeiten. Mehr oder minder. Es gab viel zu tun und Ninafer hatte seiner Ansicht nach die größten Chancen, auch etwas zu bewirken. Die Augen der Schatten sahen fast alles. Die Harpyien im Süden waren schwach und ihre Gesellschaft befand sich im Umbruch, sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Diese zwei fremden Magier, die umher zogen und von veränderten Zeitlinien predigten, waren keinen Pfifferling wert, Ashes' Widerstand war zerschlagen und dieser Zirkel von Eishexen hoch im Norden konnte gegen Phillipes Macht nicht genug aufbieten. Ninafer war die Einzige, die diesen Krieg gewinnen könnte. Deshalb er war hier. Deshalb gehorchte er ihr. Deshalb lud er immer mehr Schuld auf sich. Weil irgendjemand die notwendigen Schritte einfach zu gehen bereit sein musste und er... hatte ohnehin nichts mehr zu verlieren. Zumindest gab sie ihm einen festen Platz in der Welt, gab ihm etwas zu tun und... gab ihm einen Funken Hoffnung. Nicht auf Besserung, sondern... einfach auf Veränderung. Er war in seinen Ansprüchen weit genug gesunken, damit ihm das schon reichen würde. Veränderung. „Diesmal hast du es zu weit getrieben!“ brüllte der Krieger donnernd in die Halle hinein, ehe auch sein Körper zu schwarzen Nebelschwaden zerfiel, die sich binnen Sekundenbruchteilen auflösten. Dann kehrte Stille ein, zumindest für einige Sekunden. Ein Kichern hier und dort, manches Mal erschütterte ein Schlag die Mauern, der sein Ziel verfehlt hatte – doch weder sah man Körper noch Fäuste. Nur dichte Schatten, die sich nicht von den wenigen, brennenden Fackeln vertreiben ließen. Der Kampf tobte eine stattliche Zeit lang, bis Ninafer schlichtweg aus ihrem Element hinaus geschleudert wurde, in den Schein einer der Fackeln. Thorin sprang just hinterher, die Axt bereits gezückt und baute sich vor der Giftmischerin auf, offenkundig durchaus zum Schlag bereit. Die einstige Gespielin seiner Majestät jedoch richtete sich nicht auf, im Gegenteil. Sie verkehrte sich, reckte sich lediglich auf den Knien empor und grinste ihm geradezu unverfroren entgegen. „Besser so?“ erkundigte sie sich unter einem hellen Lachen. Ein Teil von ihm wusste nicht länger zu leugnen, dass die Geschichte, die er in Fairfeld erzählt hatte, zumindest teilweise Wünschen entsprungen war, die er nicht zuzugeben gedachte. Man begehrte nicht, wovor man sich ekelte. So einfach. Zumindest galt das in Thorins Welt oder... hatte es mal. Vor langer Zeit. Auch nur einen Moment des Körperkontaktes zwischen ihnen beiden zuzulassen und nicht aus vollster Brust abzulehnen hieße, sich genug Grund zu geben, sich selbst zu verachten – und dieses Gefühl, diesen morastigen Pfuhl, bei Leibe, den kannte er von früher noch gut genug. Ninafer wusste das. Sie wusste um seine dunkelsten Ecken, weil sie ihm beständig im Kopf herum werkelte. Er spürte es, er spürte, wie sie durch die erschreckend tristen Gänge seines Geistes schlich, als wäre sie da ebenso daheim wie in ihrem eigenen Schädel. Er hatte einmal, ein einziges Mal, auch in ihren Geist zu spähen versucht. Nicht aus Neugier – sondern aus dem Versuch, zu prüfen, ob sie es bemerken würde. Ob er dazu mächtig genug wäre. Doch was er erblickt, verspürt hatte... hätte ihm beinahe den letzten Funken Verstand geraubt. Er war inzwischen fest überzeugt, dass Ninafer, auch wenn sie es selten durchschimmern ließ, vollkommen geisteskrank war. Wahnsinnig. Irre. Wie sonst hätte sie all die Jahre überstehen und kaum, dass sie in Freiheit war, sich nicht den Strick nehmen können? Mit einem verächtlichen Schnauben, das mehr der Gewohnheit entsprungen und nur von halber Überzeugung getragen war, stieß er die Frau nachlässig zu Boden. Sie würde ihn mit ihren verdammten Spielchen zu gar nichts bringen. Sie würde ihn nicht manipulieren – das hatte er sich fest vorgenommen. Er hatte sie von Anfang an darüber aufgeklärt, wie es funktionieren würde. Klare Befehle, möglichst gut definiert, würden zu klaren Aktionen führen. Damit waren sie lange gut zurecht gekommen. Der Kahlkopf wandte sich ab, schritt in Richtung des Torbogens zurück. Er würde die Zitadelle verlassen, sich nach Fairfeld begeben und ein paar Utensilien besorgen. Die Waffen aus den Kammern der Stadtwache, die Lebensmittelvorräte aus den Häusern und Scheunen, das Vieh und noch so manch andere Sachen. Vielleicht ein paar Kleider für Ninafer. Manchmal neigte sie dazu, es ihm übel zu nehmen, wenn er auf ihre Provokationen so antwortete, wie er es nun einmal häufiger tat – mit berechenbarer, gut vorhersehbarer Gewalt. Das letzte Mal, als er ihr aus reinem Eigenantrieb irgendetwas mitgebracht hatte – eine Brosche war es gewesen, die wohl so einigen Wert besaß – hatte sie ihn mehrere Tage mit ihren kranken, abartigen Spielchen verschont. Das war ihm immerhin Lohn genug, sich dergleichen einzuprägen und im Moment käme eine solche Pause von ihren Tricksereien seinem angeschlagenen Nervenkostüm ganz gelegen. Doch noch bevor der Kämpfer den Saal hatte verlassen können, spürte er eine Veränderung. Selbst ohne sich umzudrehen, wusste er, dass Ninafer ihn anstarrte – voller Zorn. Binnen Sekundenbruchteilen war sie verschwunden und er konnte die Arme längst nicht schnell genug zur Verteidigung empor reißen, um die Attacke abzufangen, die von ihr folgte. Sie schleuderte ihn mit einer Kraft zu Boden, die unmöglich einem so zierlichen, zerbrechlich wirkenden Leib entspringen könnte. Erneut herstob sie zu sich rasch auflösenden Schwaden, erschien knapp über ihm – viel zu knapp. Sie hockte, wie er bemerkte. Das Kleid hatte sie, wie passend, schon aufgerafft und er musste nicht einmal auf ihre unnötigen Versuche der Provokation herein fallen und den Blick abschweifen lassen, um zu wissen, dass er empfindliche Einblicke hätte 'genießen' können. „Wirst du diese Spielchen nicht langsam leid?“ fuhr er sie an. Er konnte sich nicht bewegen – natürlich konnte er das nicht. Sie waren von Finsternis umgeben, draußen herrschte tiefste Nacht, hier drinnen glommen nur ein paar vereinzelte Fackeln und von ihnen beiden war sie einfach die Mächtigere. Sie verzog das Gesicht zu einer fast mädchenhaft-unzufrieden wirkenden Schnute, schnaubte ein wenig Luft durch die Lippen und blies damit eine einzelne Strähne aus ihrem Gesicht, ehe sie sich zurück fallen ließ und auf seiner Brust aufsetzte. Natürlich raubte ihm das einen Moment die Luft – Fliegengewicht hin oder her, hatte er nicht unbedingt damit gerechnet, dass sie es sich gemütlich machen würde, nachdem sie so offensichtlich gescheitert war. Sie bedachte ihn mit einem sichtlichen Zweifeln, ehe sie erneut bockig die Miene verzog. „Ach bist du heute aber sowas von unlustig...“ kritisierte sie ihn und winkte auf seine ironische Entschuldigung hin lediglich ab. Ihre Fingerspitzen wanderten deinen Moment, während sie sich nur noch mit einer Hand abstützte. Seine Flanke, seine Hüfte. Hier und da spürte sie zwischen den Teilen des Lederpanzers die Leinen, die er darunter trug – und die Narben, die ihrerseits unter den Leinen lagen. Als ihre Hand auf seinen Lenden zum liegen kam, veränderte sich ihre Mimik abermals. „Ah... vielleicht auch nicht...“ setzte sie sichtlich zufriedener nach, ehe sie sich erhob und ihr Kleid wieder richtete. Thorin... begriff nichts. Wie so oft. Diese Frau war ihm schlichtweg ein Rätsel. Worum genau war es ihr nun gegangen? Nur darum, dass sie spürte, dass die offensichtlichen Provokationen zu einer körperlichen Reaktion führten? Hatte sie nur wissen wollen, dass seine Lenden auf einen gut hochgeschnürten Busen reagierten, unabhängig davon, ob er sich schon vor dem bloßen Gedanken ekelte, ihr näher zu kommen? Was spielte all das überhaupt für eine Rolle! „Du wirst zum Sonnensee gehen. Dort liegen noch ein paar Arbeiter für die Miene herum und einer der Nekromanten besitzt ein Artefakt, das mir helfen könnte, etwas schneller und kraftsparender zu arbeiten. Er, samt Artefakt, befinden sich im zerbrochenen Turm am Grund des Gewässers. Du wirst... ein wenig schwimmen müssen.“ ließ sie den Krieger wissen. Nun – zumindest waren das Aufgaben, mit denen er umgehen konnte. Keineswegs einfach, gewiss. Samara war aktuell eine heiß umkämpfte Zone und vielerlei Augen ruhten auf der Stadt und ihrer Umgebung. Es würde schwierig werden, all die Kadaver zu entwenden und obendrein noch etwas aus dem See zu stehlen, das seine magische Präsenz schon bis ans Ufer warf. Doch wenn es einfache Aufgaben wären, dann hätte sie eine Horde ihres untoten Viehzeugs geschickt – und nicht ihn. Hole Gegenstand A, töte Person B, bringe C zum reden. Solche Aufträge bekam er, wenn sie etwas kniffeliger beschaffen waren. Und damit konnte er auch gut leben! Ein kurzer Stich in seiner Brust, ein schmerzhaft-kaltes Ziehen erinnerte ihn daran, dass er rein technisch betrachtet kein eigenständig schlagendes, warmes Herz mehr besaß... und somit auch nur schwer mit irgendetwas würde 'leben' können. Das Artefakt hielt ihn am Leben, das wusste er – und es gehorchte Ninafers Willen. Sie hatte ihn trotz seines ständigen Aufbegehrens und der gelegentlichen Reibereien noch nicht getötet, weil sie ihn brauchte, weil er nützlich war – dessen war sich der Krieger sicher. Er hätte nicht im Traum daran gedacht, dass sie ihn durchaus für ersetzbar hielt, ihn aber einfach deshalb bei sich beließ, weil sie ihn als recht unterhaltsam empfand. In der Vergangenheit war Thorin ganz offensichtlich ein Mensch gewesen, der etwas wollte und es sich nahm. Nun aber verhielt es sich anders – er wollte etwas, war sich darüber aber nicht einig und verbot es sich. Ein Verhalten, das sie zutiefst amüsierte. Der Krieger hatte die Kammer fast verlassen, als er inne hielt. Sie brauchte kein Wort zu sagen – wenn sie es wollte, dann hörte er ihre Stimme in seinen Gedanken klar und deutlich aus dem Chor des Geflüsters heraus. „Was noch?“ fuhr er sie bar aller Höflichkeiten an, wie es immer schon der Fall gewesen. Doch statt ihm zu antworten, spürte er nur erneut, wie sie verschwand. Er wähnte bereits eine Fortsetzung ihrer Tiraden. Gewundert hätte es ihn bei Leibe nicht! Sie war nur bedingt zurechnungsfähig und trotz des Umstandes, dass er einen Blick in ihren Kopf riskiert hatte, wusste er kaum etwas über ihre Verhaltensweisen zu sagen. Ninafer war so weit von 'berechenbar' entfernt, wie er es sich nur vorstellen konnte... und das bewies sie einmal mehr. Ein Blinzeln nur, mehr hatte es gar nicht gebraucht. Er glaubte im ersten Moment, sie hätte die Halle völlig verlassen und ihn nur zum Spaß zurückgehalten, doch dann spürte er die Veränderung und die... Nähe. Er spürte ihre Lippen auf den Seinen, warm, weich, geschwängert von leicht süßlichem Geschmack nach Honig – und ihre Hand in Gegenden, in die sie wahrhaftig nicht hin gehörte. Unwillen hin oder her, machte es ihm die schiere Überraschung unmöglich, die nötige Selbstkontrolle aufzubringen. Ein halb von Unwillen ersticktes Stöhnen drang aus seiner Kehle, ehe er zurück wich – nur, damit sie ihm dicht auf folgte. „Lass das!“ fuhr er sie ruppig an. „Wehr dich doch.“ frohlockte die Giftmischerin mit einem breiten, zufriedenen Lächeln. „Lass das...!“ wiederholte Thorin abermals. Er stieß sie nicht von sich, er schrie sie nicht an, er schlug nicht nach ihr. Nur eine winzige Nuance in seiner Stimme hatte sich verändert – und all das in seiner Summe schien schon völlig auszureichen. Vielleicht, so wähnte der Krieger, war sie denn nun endlich zufrieden. Ninafer verschwand wieder und er spürte ihre Präsenz nicht mehr. Nicht hier im Raum, nicht in der gesamten Zitadelle. Und er hasste sich dafür, dass ein Teil seiner Selbst diesen Umstand bedauerte... Kapitel 4: Die fünfte Front --------------------------- Schritte, die in einem Raum ihr Echo warfen. Gewaltig war die Halle, hob sich dem Himmel entgegen, als wollte sie den Gesetzen der Natur spotten. Schaut, ich erwachse bis in eure Sphären – ein Frevel gegen die alten Götter, hätte mancher wohl gar dazu gesagt. Getragen von gewaltigen Säulen, bot ihre Decke hoch droben eine kleine, kreisrunde Aussparung. Mit etwas Mühe konnte man die Sterne sehen, doch ihr Licht und matter Schein schnitten sich mit den Fackelkränzen. Ein Eisenring umlagerte jede Säule auf Kopfhöhe, trug vier Pechfackeln, die unablässig loderten. So viel Licht und doch schien es kaum in alle Ecken dringen zu können. Mehr noch, war es fast so, als würde es verzweifelt um sein eigenes Überleben kämpfen müssen. Er sprach kein Wort. Wozu auch. Sie waren bis hierher gekommen, sie hatten so viel verloren, es war so viel schief gegangen – die Zeit der Worte war vorbei. Vor ihnen lag ihr Ziel und keiner von beiden wusste, worum es sich dabei überhaupt handelte. Doch dies war die Zentrale, der Konvergenzpunkt, der Kern. Hier würde es Antworten geben. Mindestens. Ein Kichern ertönte, hell, fast mädchenhaft. Die Schritte verstummten, hielten inne. Beide sahen einander an, entschlossen. Hier war jemand – und wer immer hier war, konnte wohl kein Freund sein. „Siehst du,“ setzte eine helle, vergnügt wirkende Stimme an, „mit den meisten Lebewesen ist es ganz einfach. Man schlingt ihnen ein paar Fäden um die Glieder, zupft die richtigen Stricke und schon tanzen sie bereitwillig herum. Und oh schau nur – wir haben Gäste.“ Nur mit Mühe konnte er seinen Blick schärfen, konnte er gegen die Dunkelheit ankämpfen, die seinen Augen verweigern wollte, etwas zu erspähen. Doch es gelang ihm. Dort erhoben sich Stufen, flach, breit, bis hin zu einem Thron. Die zierliche Gestalt einer Frau überschlug darauf ihre Beine und lächelte ihren Gästen zu. Einen Mondzyklus zuvor. Quälende Schreie. Drakimh vernahm sie wieder und wieder. Sie jagten ihm durch Mark und Bein, sie rissen ihn oft genug aus dem Schlaf, wieder und wieder und wieder. Ein Traum in einem Traum. Wie oft war er schon aufgewacht, ohne aufzuwachen? Er hörte sie und allein das war wichtig. Sie schrie um ihr Leben, sie schrie vor Qualen, vor Schmerzen, vor endloser Pein – aber allein, das sie schrie, bedeutete, dass sie noch lebte. Er hatte sie schon so oft hier besucht. Hoch droben in diesem Zimmer. Er wusste nicht, warum es 'oben' war. Reine Intuition. Es fühlte sich hoch an. Fenster gab es hier keine. Nur eine einzige Tür, die er nie hatte öffnen können. Ein kreisrunder Raum, schnörkellos, leer – mit Ausnahme eines Altares, der auf einigen wenigen Stufen aufgelagert im Zentrum des Raumes stand. Die Fackeln spendeten gerade genug Licht, um sie zu sehen. Wie schon unzählige Male stürzte er herbei, versuchte ihr zu helfen und wollte sich fast übergeben, als er ihren Zustand erkannte. Bisswunden am ganzen Leib, jemand hatte ihr die Wange aufgerissen, Fleischfetzen aus Armen und Beinen gezerrt. Ihre Bauchdecke war zerfetzt, ihre Innereien verteilten sich in einer Lache aus dickem Blut auf dem Altar, tropften leise vom Rand der Steinplatte auf die oberste Stufe. Bei den Göttern, wie konnte sie noch leben? Hilflos schlug die Brutmutter von Quentloas mit dem Flügel um sich. Der andere war taub, gefühllos – gebrochen. Federn segelten in erschreckend friedlichen Bahnen zu Boden, sie scharrte mit den Füßen über den Stein in dem verzweifelten Versuch, sich zu bewegen. Nicht einmal den Arm konnte sie heben, viel zu wenig Kraft floss noch in ihrem Körper. Sie konnte nur hier liegen und... leiden. Welchen Sinn hatte das? Er trat an den Altar heran. Drakimh spürte den Blick in seinem Rücken stechen. Jemand war hier, er wusste es. Unzählige Male hatte er diesen Traum geträumt, aber diesmal war es anders. Diesmal war er sich darüber im Klaren, dass er träumte! Diesmal... hatte er ein kleines Vermögen dafür ausgegeben, einen Schamanen zu kaufen und sich in diesen Traum führen zu lassen. Der Magier erinnerte sich an die Präsenz dieser anderen Figur. Der Schamane war es nicht – er saß zweifellos noch immer in seinem Zimmer, ging mit merkwürdig gutturalen Lauten seinem meditativen Gesang nach und hielt den Zauber aufrecht. Aber wann immer er sich früher umgedreht hatte, war die Präsenz verschwunden. Nein – nicht verschwunden. Gewandert. Sie befand sich in seinem Rücken, starrte ihn an – immer. Drehte er sich um, sprang sie zur anderen Raumseite. Er konnte sie nie erfassen, also versuchte er es auch dieses Mal gar nicht erst. Sollte er, sie, es, worum auch immer es sich dabei handeln mochte, doch seinen Spaß hieran haben. Er war nur aus einem Grund hier! Drakimh schritt die Stufen empor, überwand Ekel, Angst und das nagende Gefühl der Verzweiflung. Wie lange litt sie schon so? Gab es eine Grenze, ab der Schmerzen einen Geist völlig zerrütten könnten? Er hatte einst die Bibliotheken seiner Akademie verschlungen, als sein freiwilliges Exil ihm genug Zeit dazu verschafft hatte, doch in den dortigen Werken stand nichts über... Folter. Vorsichtig ergriffen seine schlanken Finger die klein wirkende Hand der Harpyie. Ihre Krallen schlossen sich fast abrupt darum. Sie wollte ihn nicht verletzen – aber die Krämpfe, die im Todeskampf ihren Körper schüttelten, waren schier unerträglich und zwangen sie dazu. „Orykene... ich bin es!“ flüsterte er ihr leise zu. Ein trockenes Schlucken und die eigenen Befürchtungen hatte er bezwingen müssen, um diese einfachen Worte zu sprechen. Ihr Kopf wandte sich um und einen Moment erschrak der Magier noch mehr. Er wollte sich zügeln, er wollte ihr nicht zeigen, was er sah, nicht zeigen, wie er sich fühlte, was er empfand. Das halbe Gesicht hatte man ihr zerfetzt, ihr Ohr hing in kleinen Fleischstreifen herab. Der Ausdruck ihrer Augen, als sie ihn erfasste, ließ ihn fast verzagen. Tiefste Verzweiflung, Schmerz und nur die vage Erkenntnis, wer er war. Sie rang mit allen Kräften um die Einigkeit ihres Geistes, mit bloßem Willen focht sie einen Kampf, den sie unmöglich gewinnen konnte. Aber sie erkannte ihn. „Drakimh...“ hauchte ihre Stimme so zittrig, dass er glaubte, sie würde jeden Moment von ihm scheiden. Doch selbst hier und jetzt, in ihrem Kampf um ihr Leben, schwang die Melodie ihres Volkes in jeder Silbe. Schwer und träge dieses Mal, doch sie existierte noch. Er hatte sich nach diversen Verfehlungen im Hort ein Werk über Harpyien beschafft, nachgelesen, was ihm verloren gegangen war. Ein Absatz hatte besagt, dass der Verlust des eigenen Liedes für eine Herrin der Lüfte den Tod bedeutete. Sie wäre gestorben – unabhängig davon, ob sie noch atmete und sich bewegen konnte. Drakimh beugte sich noch ein Stück herab, versuchte, seinen Blick auf ihre Augen gerichtet zu halten. Er wusste genau: Würde er jetzt zur Seite schauen, das chaotische, blutige Gewirr unterhalb ihrer Brüste sehen, würde er sich übergeben müssen. Und... dafür hatte er einfach nicht die Zeit. Das hier war wichtig, er konnte sich keine Fehler und Trödeleien erlauben, er musste es wissen. „Orykene, höre mir gut zu, es ist sehr wichtig!... Wo bist du?“ Mit der Warnung mochte er sich beeilen, doch seine Frage sprach er aus, als müsse er jedes Wort einem Wesen beibringen, das die Sprachen der Menschen nicht kannte. Langsam, deutlich, betont. Es war wichtig. Bei den Göttern, zu wichtig – sie musste auf diese Frage antworten! Unzählige Male hatte Drakimh diesen Traum erlebt und durchlitten. Er war sich anfangs sicher, dass es nur ein Alptraum war. Die Vergeistigung seiner Befürchtungen. Ein Spiegelbild seiner Ängste, hatte er sich inzwischen doch eingestanden, dass er zu viel für sie empfand. Aber der Traum kehrte wieder und wieder. Es ließ sich nicht leugnen, dass etwas daran verstörend war, zu verstörend, um noch Teil eines gewöhnlichen Traumes zu sein. Da war mehr – das spürte er einfach. Bis zu diesem Traum hatte er nie begreifen können, ob es sich um den immer gleichen Ablauf handelte, oder ob er eine Art von Verbindung zu Orykene aufgebaut hatte. Letzteres fürchtete er nur umso mehr, denn ganz unabhängig davon, wie romantisch das klingen mochte, würde es bedeuten, dass sie wochenlang gelitten hatte, in seinen Träumen nach ihm rief, ihn um Hilfe angebettelt hatte – und er im festen Glauben, nur zu träumen, nichts unternommen hatte. Ein Gedanke, den er kaum zu ertragen fähig war. Er sah, wie die Muskeln der Brutmutter sich spannten, zu einem neuen, schmerzhaften Ziehen verkrampften. „Bleib bei mir, ich bitte dich!“ hauchte er ihr zu, spürte, wie ihm nun die eigene Stimme schwach wurde. Sie durfte einfach nicht sterben, oh Götter – er flehte zu ihnen, sie nicht sterben zu lassen. Die Harpyie dagegen hatte ihre Kräfte gesammelt, versuchte, sich einen Moment der Beherrschung und Kontrolle abzuringen. Sie zerrte Drakimh in einem völlig überraschenden Moment zu sich herab, vielleicht etwas zu unkontrolliert, etwas zu ruppig – und stieß mit ihrer Stirn gegen die Seine. Ein Blitz zuckte vor seinen Augen umher, blendete ihn, ließ ihn ihre Hand loslassen. Er taumelte die Stufen zurück, verfehlte die Treppe, verlor das Gleichgewicht und stürzte gar. Ihre Klaue entglitt seiner Hand, er hörte sie von Schmerzen gepeinigt aufschreien und noch während er fiel, sah er es. Er sah eine Karte des Atolls von Lumiél, er sah eine feine, pechschwarze Linie durch das Land fahren, er sah, wo sie verebbte. Bilder schossen durch seine Gedanken wie der Bolzen von der Armbrust schnellt, gewaltige Mienen, abgetragener, schwarzer Stein auf unzähligen Karren, ächzende, schwitzende und geplagte Seelen, die zu Hunderten die Karren bewegten, die Steine abluden und aufschichteten zu... Das letzte Bild war schlichtweg Ehrfurcht gebietend. Eine Festung ragte vor ihm auf. Er glaubte, das Gras unter seinen Schuhen spüren zu können, die Luft, die als Fallwinde von den Mauern herab strich und sein Blick glitt an diesem Monstrum empor. Hohe Türme ragten wie spitze Zähne aus dem Bauwerk unzähliger Sklavenarbeiter auf. Blanker, schwarzer Obsidian, vollkommen glatt, lückenlos – als hätte es die einzelnen Steinquader nie gegeben. Es gab keine Wachen. Dann schlug er auf dem Boden des Raumes auf, das Bild, alle Bilder, zerstoben zu einem Funkenregen, Schmerz rührte sich in seinem Kopf, zu groß, als das der Traum ihn hätte verkraften können – und Drakimh sah Orykene und den Raum zerbrechen wie einen Spiegel, der am Boden aufkam. Der Lichtmagier schreckte empor von einem kleinen Lager. Weiches Leder, gut verarbeitet – er erspürte diese Qualität sofort unter seinen Fingern, umschloss die Matte, als würde er sich an die Realität klammern müssen, als würde er sich erst davon überzeugen wollen, dass er tatsächlich wach war. Sein Blick flirrte, glitt umher. Zeltwände, eine kleine Feuerstelle draußen in der Nacht, sandiger Boden. Seine Erinnerungen kehrten zurück, vernebelten in ihrem chaotischen Zustand einen Moment lang seine Sicht und ließen ihn nichts erkennen, bis der Magier sich damit abgefunden hatte, verzaubert worden zu sein. Dann gewahrte er des Drakoiden. Das Lager war klein, geradezu winzig. Auch ihr Volk hatte in den letzten Jahren schwer leiden müssen. Solch große Horden der Zentauren verlangten schließlich viel Nahrung und da waren ihnen irgendwann selbst die übergroßen Echsen recht gewesen. Natürlich gab es eine Zentaurenplage längst nicht mehr in diesem Umfang. Seit die Harpyien von Quentloas eine neue, magiefähige Generation von Jägerinnen hervorgebracht hatten, war die Waagschale im Kräftegleichgewicht erneut gekippt. Eine der Ihren konnte es mit einem Dutzend Zentauren aufnehmen – und sie wichen dennoch nicht von ihrer Taktik, die Jägerinnen immer zu dritt zu entsenden. Die Jagdtrupps der Pferdemänner hatten vom ersten Ausflug der neuen Brut an keine Chance mehr, lebendig zurückzukehren – und auf dem nunmehr prall gefüllten Speiseplan der Jägerinnen fand sich Zentaurenfleisch wieder. „Hassst tu, wasss tu sssuchssst?“ erkundigte sich das Weibchen. Es war nach wie vor befremdlich, wie ihre gespaltene, schlangenartige Zunge bei jedem Wort hervor schnellte. Sie nahm Luft und Witterung auf, das war ihm klar, sie versuchte allein über den Schweiß und Körpergeruch bereits ihre Antworten zu bekommen. Drakoiden besaßen die feinsten Geruchssinne der bekannten Völker, sie konnten sogar Angst riechen. Doch das Gemisch, das Drakimh ihr gegenwärtig entgegen schlug, war zu vielfältig. „Ich will erneut mit deinem Anführer verhandeln!“ erbat der Lichtmagier bestimmt und erhob sich. Sie hatte ihn gerade noch warnen wollen, doch er reagierte zu rasch – kam ins Taumeln und ließ sich allzu bereitwillig wieder auf sein Lager fallen. Die Verhandlungen mit einem ganzen Stamm waren schwierig. Die Drakoiden besaßen ein gutes Verständnis für Tauschhandel – etwas, das dem Magier wiederum völlig fremd war, da er als Mensch sich schon viel zu sehr an den Gebrauch der Münzen gewöhnt hatte. Mit den zwei Harpyien, die ihn hierher begleitet hatten, dem Stammesführer und zwei seiner Gefolgsleute saßen sie am Feuer und handelten einen neuen Vertrag aus. Hatte Drakimh für die Hilfe der Drakoidenschamanin zahlreiche Vorräte angeboten und auch bereits übergeben, so wurde dieses Bündnis nun erweitert. Ihr Volk war klein und von den letzten Jahren zu geschwächt – jedes Mitglied, das zur Paarung fähig war, war eine kleine Kostbarkeit... und Drakimh verlangte, dass die Schamanin ihn auf seiner Reise begleiten möge. Die Harpyien dagegen waren in einer durchaus überlegenen Situation. Sie hätten den ganzen Stamm auslöschen und die Schamanin gefangen nehmen können, doch der Magier bemühte sich, ihren Blutdurst und ihre starren, von Gewalt geprägten Denkmuster in Schach zu halten. In Zeiten wie diesen mussten alle Völker, die dazu noch fähig waren, zusammen halten und eine geschlossene Front errichten. Unter dem Widerwillen der Schwestern gestanden die Harpyien den Drakoiden zu, keine der Ihren zu jagen und zu töten, ihnen Zutritt zu den sieben inzwischen erbeuteten Wasserquellen zu gewähren und sie an großen Beutezügen teilhaben zu lassen. So – befand Drakimh stolz – schmiedete man Allianzen! Obgleich die Verhandlungen die ganze Nacht andauerten, erwies sich sein durchaus vernünftiges und zugleich charmantes Gemüt als überaus vorteilhaft. Er vermochte die Harpyien zu zügeln und den Drakoiden ihre übersteigerten Forderungen auszutreiben, ohne eine der zwei Parteien zu verprellen. Immerhin war auch er nur mehr oder minder Gast in Quentloas und besaß nur Weisungsrechte, weil Orykene sie ihm eingeräumt hatte. Der Gedanke an die Brutmutter ließ ihn einen Augenblick wieder in Sorge versinken. Er war sich noch immer nicht darüber im Klaren, ob er immer den selben Traum hatte, oder ob sie schon seit Wochen in diesem Todeskampf litt. Wenn dem so war, wurde er irgendwie künstlich aufrecht erhalten. Zweifellos war diese Präsenz, die er verspürt hatte, maßgeblich dafür verantwortlich – doch welche Macht war groß genug, um Ereshkigal über einen so langen Zeitraum von einer gequälten Seele fern zu halten? Er würde es herausfinden. Am folgenden Morgen zogen die Harpyien seiner Weisung folgend nach Quentloas zurück. Allein ihr Ehrgefühl, das wusste der Magier, verbot ihnen, das geschlossene Bündnis zu brechen. Und die Drakoiden waren unzählige kleine Stämme in den Wüsten, es würde dauern, ehe die Kunde dieses Vertrages sich verbreitet hätte. Es würde dauern, ehe sie auch nur die Chance bekämen, einander Probleme und Krisen zu bescheren. Er dagegen hatte ein Ziel – und erste Gefährtinnen auf dieser Reise. Zzschra'Ak, so stellte sich die Schamanin vor, würde ihn nicht allein begleiten. Wie sich zeigte, behütete und schützte ihr Stamm ein Wesen, das möglicherweise einstmals ein Mensch war. Drakimh hatte weder einen guten, noch einen langen Blick auf ihr Gesicht werfen können, doch die Frau, die sich als Aulet vorstellte, schien von Magie nur so durchdrungen zu sein. Ein Fluch zweifellos, beschied der Magier gedanklich und hegte durchaus einen Moment Mitleid mit diesem Wesen. Möglicherweise war sie einst ein normales Weib, ein Mensch gewiss, vielleicht sogar überaus ansehnlich. Doch der Fluch hatte sie entstellt. Katzenhafte, gelbe Augen, zu vertikalen Schlitzen geformt, Schuppen, die jede sichtbare Stelle ihrer Haut bedeckten und auch den Schluss nahe legten, dass es sich an den nicht sichtbaren Stellen kaum anders verhalten würde. Zudem waren ihre Finger zu leichten Krallen geformt, nicht annähernd mit denen der Harpyien vergleichbar, wohl aber spitz und scharf genug, um als Waffen durchzugehen. Anders als Zzschra'Ak erwies sich Aulet nicht als Freundin von Magie und Schamanenstäben. Sie stand unter der Obhut der Drakoiden, weil kein anderes Volk sie zu dulden gewillt war, doch die Wahl ihrer Waffen zeugte nur zu sehr von ihrer Herkunft: Sie trug ein altes Schwert und eine Armbrust bei sich. „Wir reisen nach Samara. Es bedeutet für uns keinen großen Umweg.“ erklärte der Magier am Morgen des Aufbruches und erntete fragende Blicke. Warum er überhaupt einen Umweg einschlug, wollte Aulet wissen. Ihre Stimme besorgte den Magier – sie wirkte so kalt, als besäße sie nicht einmal eine Vorstellung davon, was Mitleid und Skrupel bedeuteten. Doch andererseits war es wohl besser, eine solche Figur auf der eigenen Seite zu wissen. Obwohl das dann wohl auch hieße, dass er sie stets in seinem Rücken hätte... Er versuchte sich darüber möglichst wenig Gedanken zu machen und wimmelte ihre Fragen mit zwar guten, aber eben ausweichenden Antworten ab. Er hatte diese Aktion nicht geplant, wahrlich – und wieder einmal bewies sich das als recht unpraktisch. Aber er hatte... nun... Gerüchte gehört. In Samara, sollte man diesem Waschweibergeschwätz glauben, gab es Rebellen, die der Stadtwache trotzten und schon so manchen stattlichen Sieg eingefahren hatten. Vielleicht würde er dort die nötige Hilfe finden, diese Festung zu stürmen, die sich in der Nähe des alten Nephilim aus dem Boden erhob. Wachen hatte er in seinem Traum keine gesehen, sicherlich, aber weder wollte er sich auf diese Informationen verlassen, noch war es ihm geheuer, ein solches Bauwerk mit nur zwei Verbündeten zu betreten. Wenn hunderte Menschen daran arbeiteten, musste es auch viele geben, die sie überwachten und an der Flucht hinderten. Nephilim dagegen war für ein solches Vorhaben zweifellos perfekt geeignet. Ammarath, Jegurath, Xeranor, Lithlad und sogar Kaderalith verband in diesen Tagen nur noch eines: Sie waren einstmals Siedlungen der Elben gewesen und glichen nun gewaltigen Geisterstädten. Dazu musste es nicht Nacht sein – allein die Totenstille, die sich über die einstmaligen Metropolen der Elrim gelegt hatte, war bedrückend und unheimlich. Niemand wagte sich dieser Tage noch dorthin, es gab... Gerüchte über Geister, dunkle Wesen und grausame Schicksale. Angeblich kroch noch so mancher Elrim als Untoter, Verfluchter oder geplagte Seele zwischen den leeren Häusern herum, auf der Suche nach all den Dingen, die sein Volk in den Kämpfen verloren hatte. Der Untergang der Elben in Lumiél hatte bewiesen, dass es keine Macht zu geben schien, die sich Phillipe dem Dritten, Gottkönig des Landes, entgegen stellen könnte. Nun – und doch hatten es ein paar geschafft, nicht wahr? Aber die Grausamkeit und konsequente Brutalität, mit der die Hohen verfolgt und deportiert worden waren, sprach für sich. Niemand wusste, was mit den Elben eigentlich geschehen war. Viele starben bei der Erstürmung, bei den Verteidigungen ihrer Städte und Häuser. Der Rest... verschwand. Auf Schiffe nach Übersee, wie manche sagten. Zu den Sklavenhändlern. Oder in die Hände der Drow, die ihre einstigen Brüder für ihren Hochmut zu Tode foltern wollten. Manche sagten auch, sie seien einfach verschwunden. In Massengräbern verscharrt oder ins Meer geworfen. Schicksale, über die man besser nicht zu lange nachdachte. Drakimh hielt es ebenso und versuchte zu verdrängen, wohin die Reise ihn unweigerlich führen würde. Er wollte sich die gute Laune davon nicht verderben lassen, immerhin reiste er in Gesellschaft zweier Damen – auch wenn beide ein wenig schuppiger waren, als es für seinen Geschmack förderlich war. Die Reise nach Samara brauchte seine Zeit, doch Zzschra'Ak erwies sich als geschickte Führerin durch die Wüsten und Aulet, bei den Göttern, zeigte ein unglaubliches Talent mit der Armbrust. Auf Reichweiten, auf die ein solches Gerät schon gar nicht mehr funktionieren sollte, hätte sie wohl einen Käfer noch mit ihrem Bolzen getroffen! Vielleicht war das einer der wenigen, positiven Nebeneffekte des Fluches, Drakimh wusste es nicht zu sagen. Aulet schwieg die meiste Zeit. Sie folgte ausschließlich den Anweisungen der Schamanin und selbst, wenn sie Worte von sich gab, dann meist in einem leisen Flüsterton – und nie an ihn gerichtet. Ein klein wenig bedauerte er diesen Umstand. Nicht, dass er mit ihnen ein Liedchen hätte trällern wollen, aber so wurde die Reise doch wesentlich anstrengender und ermüdender, als er zunächst erwartet hatte. Bereits auf dem Weg in die Grünlandebene trafen sie genug Reisende und Händler. Hier kamen Drakimhs Münzen widerum zum Einsatz. In nicht zu knappem Maße obendrein – er bezahlte für Informationen und die waren dieser Tage besonders teuer, musste man doch immer darauf achten, wem man was sagte und wer möglicherweise mithörte. Sie streiften einige kleine Dörfer, hielten sich aber meist abseits der Wege. Die Drakoiden waren noch immer ein unbekanntes Volk und ihr Anblick, wenn sie durch die Gassen einer fremden Stadt streifen und ein Gasthaus betreten würden, wäre zweifellos für so manchen überaus verstörend. So kam es, dass selbst der Magier wider seiner Bitten und Gesuche im Lager der beiden Damen nächtigen und damit einer guten Matratze und einer Gasthofsmahlzeit entbehren musste. Er besuchte die Dörfer, frischte die Vorräte auf und zog sich wieder zurück, doch diese wenigen Ausflüge waren fast eine Wohltat. Menschen um sich zu haben, die zu lächeln fähig waren, die mit ihm sprachen, Witze machten, handelten, redeten – Gesellschaft. Es fühlte sich fast an, als hätte er sich für ein paar Stunden ein Stück Normalität kaufen können. Mit jeder Rückkehr wurde ihm dagegen bewusst, weshalb er überhaupt unterwegs war. Als wenn die Nächte das nicht schon deutlich machen würden. Drakimh erfuhr in dieser Zeit so Manches über Samara und die Rebellen. Allerlei kurioseste Gerüchte hörte er, über die Zerstörung einer ganzen Stadt, über eine Plage von Untoten, Unruhe im Gewässer des Sonnensees. Doch meist waren es kronloyale Kräfte, die davon berichteten und nicht zuletzt deswegen zweifelte er doch sehr am Wahrheitsgehalt dieser Aussagen. Phillipe war vielleicht kein sonderlich angenehmer Geselle, doch er war wohl auch nicht wahnsinnig genug, ganz Samara in Schutt und Asche zu legen, nur um ein paar Aufständische zu zermürben. Obendrein wollten die Untoten so gar nicht in diese Geschichten passen, befand der Lichtmagier. Vor zwei Wochen. Es gab durchaus diese Momente, in denen der Magier verfluchte. Manchmal seine eigene Schusseligkeit, manchmal sein vorschnelles Mundwerk oder auch nur, dass er nie ordentliche Pläne zu fassen fähig schien. Wobei er natürlich durchaus fähig war, es fehlte ihm nur an... der Einsicht, dass ein guter Plan einem zumindest einen Teil des Tages erleichtern, wenn nicht sogar retten konnte. Als er mit Aulet und Zzschra'Ak die Ausläufer Samaras erreichte, bemerkte er nicht sofort, wie leer die Höfe und Äcker waren. Ihm fiel das Fehlen des Viehs auf den Weideflächen nicht auf und die Stille auch nicht, die sich über das Umland gelegt hatte. Die Drakoide dagegen bemerkte es zwar, doch statt den Magier davon zu unterrichten, schürte sie in der Vermutung von Überfällen und Angriffen die eigene Wachsamkeit und hielt Aulet mit wenigen, gezischelten Lauten ihrer Sprache zur gleichen Sache an. „Oh Götter...“ kroch es atemlos aus der Kehle des Magiers, als sie die sanft geschwungene Hügelkette im Süden der Stadt erreichten und ihren Kamm bestiegen hatten. Sein Blick glitt voller Unglauben über den Anblick, der sich ihm bot. Ausgebrannte Viertel, Verwüstungen solcher Ausmaße, dass man sie mit bloßem Auge von hier aus erblicken konnte. Unruhen gab es keine mehr... nur eisiges Schweigen. Wie in einer Grabkammer. Zerstörte Karren blockierten Straßen, Leichen dagegen fand man keine. Es schien keine Ratten zu geben, keine Vögel, keine Hunde, nicht einmal wilde Wölfe, die nach Aas suchten. Es gab einfach... nichts. Die ganze Stadt war ein Friedhof geworden und mit Schrecken sah der Magier alle Gerüchte und Erzählungen bestätigt. Samara war restlos zerstört worden. Die größte Stadt Lumiéls – vernichtet. Dem Wahn eines Puppengesichts von König anheim gefallen. Längst hatte der Lichtmagier in Erfahrung gebracht, dass seine Eltern nicht mehr hier waren. Man hatte sie deportiert. Er jagte zwar ihrer Spur noch immer nach, doch das kostete Zeit und Ressourcen. Sie waren aber nicht hier gewesen, als... das geschah. Einerseits mochte es ihn beruhigen, doch es schmerzte ihm tief in der Brust, zu sehen, was aus seiner Heimat geworden war. Er kannte manche der Läden und Geschäfte, die sein Blick streifte, als ihr Weg sie durch die Gassen führte. Zerbrochene Fensterläden, eingeschlagene Türen, zersprungene Gläser in den Fenstern. Umgeworfene Stühle, die teilweise sogar samt zerborstener Tische bis auf die Straßen hinaus verteilt lagen. Tischdecken, die mit Blutsprenklern aus den offenstehenden Fenstern hingen. Verfaultes Obst, das am Rinnsteig sich verflüssigte und nur noch eine klebrig-breiige Masse abgab. Was immer hier geschehen war, hatte die Stadt schnell und sehr kraftvoll getroffen. Es konnte sich zweifellos nur um Kräfte handeln, die solche Schäden binnen weniger Tage anzurichten fähig waren, sonst hätte es zweifellos weit mehr Überlebende gegeben. Doch genau das wollte man wohl nicht. Wie würde es mit Lumiél weiter gehen? Gewiss, Sundergrad war das Handelszentrum des Landes, wenn es um den externen Verkehr ging. Waren wurden eingeschifft, verladen, abgeschickt. Doch Samara hatte immer den großen Markt des inländischen Handels dargestellt. Wenn ein Schmied aus Norwingen Erz brauchte, kaufte er es hier. Wenn ein Ganove aus Herothing einen guten Dolch wollte, kaufte er ihn hier. Wenn seine Majestät neues Klopapier aus Samt und Seide wollte, kauften seine Diener es hier! Schwermut legte sich über Drakimhs Gemüt und machte es ihm mehr als nur schwer, sein charmantes Wesen und seine Freundlichkeit zu bewahren. Er war fassungslos über die Zerstörung, die sich ihm hier offenbarte und begann aufrichtig zu zweifeln, ob er noch finden würde, was er suchte. Von seinen Kontakten und den Bestochenen hatte er genug erfahren. In den Kanälen unter der Stadt gab es Kammern, eine silberhaarige Elbe mit einem Auge führte diesen Widerstand an, sie nannte sich Ashes. Ungewöhnlich für eine Elbe, aber konnte man den Informationen trauen, dann war diese Frau durch und durch ungewöhnlich. Von eher breitem Bau, keineswegs am Singen und Tanzen interessiert, aber eine grandiose Kriegerin. Drakimh schöpfte Hoffnung, dass eine Frau wie sie dieses Chaos überlebt haben könnte und trieb seine Schritte zu neuer Eile voran. Wenn dem so war, dann mussten sie sie zügig finden und falls nicht... nun, dann war es wohl besser, früher Gewissheit darüber zu haben als später. Sie drangen durch einen Kanaldeckel in die Kammern ein und hatten großes Glück, an der nordwestlichen Seite eingedrungen zu sein. Nicht nur, weil die Wellen der Untoten hier sämtliche Fallen bereits ausgelöst hatten, die es auszulösen gab. Süßlicher Geruch, schwer und dumpf hing er in der Luft und ließ Zzschra'Ak etwas, das nach Galle aussah, auf den Boden speien. Für ihre Geruchssinne war dieser bestialische Gestank die reinste Beleidigung, sodass sie und Aulet es vorzogen, gänzlich außerhalb zu bleiben und oben zu warten. Wohl fühlte sich Drakimh damit nicht, aber wie hatte Aulet es so schön in ihren ersten, direkt an ihn gerichteten Worten gesagt? „Die Stadt ist tot – was soll euch hier schon angreifen?“ Drakimh hatte Mitleid mit den zahllosen Lebewesen, die wohl einstmals die Basis für diese Untoten gegeben hatten. Viele sahen aus, als könnten sie selbst einst Bürger der Stadt gewesen sein. Vielleicht eine Seuche, möglicherweise sogar magischen Ursprunges. Ihre Kadaver lagen in den Gängen verstreut, bildeten kleine Berge, hingen in Stacheldrahtseilen und ruhten in obskuren Posen auf aus dem Boden geschossenen Pfählen. Allein der Ekel des Lichtmagiers sorgte dafür, dass er sich so behände wie möglich zwischen den Leichen hindurch schlängelte, bemüht, sowohl die klebrigen Lachen alten Blutes zu umgehen, als auch, keinerlei Kontakt zwischen den Toten und sich herzustellen. Die zwei kleinen Lichtkugeln, die dabei beständig herum schwirrten, spendeten ihm genug Licht, um sich auch ohne Fackeln zurecht zu finden. „Wenn ich doch nur wüsste, wo ich eigentlich bin!“ fluchte Drakimh leise – und plötzlich schoss etwas aus der Dunkelheit hervor. Eine Klinge legte sich an seinen Hals und schon als er das scharfe, kalte Metall spürte, verharrte er wie zur Säule erstarrt. „Am falschen Ort, würde ich meinen.“ knurrte ihn eine Stimme an – und aus der Finsternis hinter einer Abzweigung trat jemand hervor. Drakimh erkannte ihre Gestalt sofort. Ashes, zweifellos. Silberne Haare, lang – wenn auch aktuell sehr zerzaust und verdreckt. Ihre Augen besaßen einen eigentümlichen Farbton, der sie schon als Elbe auszeichnete, noch bevor man ihre Ohren hätte erspähen können. Sie wirkte geschwächt, ein wenig untersetzt und doch glommen Zorn und Argwohn in ihren Augen. „Mylady, wenn ich mich vorstellen dürfte, ich bin-“ setzte Drakimh so freundlich wie ihm möglich an, um gegen das Misstrauen der Kriegerin vorzugehen. Doch Ashes gab ihm gar nicht die Gelegenheit, sich zu erklären. „Was willst du hier?“ verlangte sie harsch. Drakimh versuchte, rein einer Geste halber, die Klinge von seinem Hals zu schieben, doch schon als er die Finger sanft gegen das Metall legte, schob Ashes ihm das Schwert noch dichter an die Kehle und presste ihn gegen die Wand. Offenkundig waren Geduld und gute Manieren tatsächlich keine ihrer Stärken. „Ich suche eine große Kriegerin, ihr Name ist Ashes.“ erwiderte der Lichtmagier so gut es die Klinge zuließ. Die Elbe jedoch überging sein Kompliment völlig, was ihm durchaus einen Moment der Resignation entlockte. Stattdessen verlangte sie zu wissen, was er von dieser Ashes denn nun wolle. Es war mehr als deutlich, dass sie von recht... nun, geradliniger, direkter Natur war. „Ich brauche ihre Hilfe bei der Befreiung einer...“ Nun – was war Orykene denn eigentlich für ihn? Er hatte hin und wieder versucht, sich diese Frage aus gegebenem Anlass zu beantworten, doch war er nie zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen. „... einer Freundin.“ „Ashes hat eigene Probleme. Geh und löse die Deinen allein.“ blaffte ihn die Elbe an, zog die Klinge nach einem eindringlichen Blick von seiner Kehle und wandte sich brüsk ab. Bei den Göttern, einen Moment hielt er sie zwar für gemeingefährlich, aber er konnte nicht abstreiten, dass ihr Auftreten ihm durchaus imponierte – und es war mehr als eindeutig, dass sie genau die war, die er suchte. Sie besaß diese... Stärke. Ungeachtet ihres Befehls und der darin verborgen liegenden, indirekten Warnung hastete der Magier nach einem Moment des Durchatmens der Elbe nach und noch während er sich über den Hals rieb, begann er auf sie einzureden. Er erklärte ihr alles. Begonnen bei seinem Exil, den Briefen seiner Eltern, seiner Rückreise nach Sundergrad, der Gefangennahme. Kurz glaubte er, sie würde an dieser Stelle hellhörig werden, ihr Schritt verlangsamte sich einen Augenblick, doch dann... zog sie ungerührt weiter. Ihr Murren dagegen gab ihm dezent immer wieder zu verstehen, wie wenig Nerv sie für eine farbenprächtigen Ausführungen hatte – und wie kurz ihre Zündschnur war, sollte er es nur übertreiben. Dann kam er auf die Träume zu sprechen, auf die Hilferufe der Harpyie und einen Versuch, mit der Drakoidenschamanin zu ergründen, wo sich die Brutmutter befände. Ab dieser Stelle war er sich sogar sicher: Er hatte ihr Interesse geweckt. Ashes blieb stehen, packte ihn an der Schulter und drückte ihn abermals gegen die Wand. Sie funkelte ihn an, fragend, bohrend. Es war überaus unangenehm, einen solchen Blick auf sich zu spüren, doch er wagte keinen Widerstand zu leisten. Er hätte sie zwar bezwingen können, daran gab es keinen Zweifel, aber er war ja nicht hier, um sich Feinde zu machen oder gar seiner wahnsinnigen Majestät in die Hände zu spielen. „Du kennst also Orykene und weißt, wo sie ist?“ hakte Ashes nach. Drakimh stutzte einen Moment. Nicht nur, dass ihm nicht klar war, dass die Brutmutter ihrerseits mit der Elbe vertraut war – diese fasste seine weitschweifigen Erzählungen auch noch in einem einzigen Satz zusammen, der, wie er zu seinem Leidwesen eingestehen musste, den Kern tatsächlich präzise umriss. Er nickte, wurde daraufhin von der Elbe von der Wand gezogen und nunmehr fast wie eine Art Gefangener vor ihr her gestoßen, bis sie durch einen Torbogen in eine kleine Kammer schritten. Was sich hier versammelt hatte, war zweifellos der kläglichste Haufen, den der Lichtmagier je gesehen hatte. Eine Hand voll Männer und Frauen, gekleidet in Lumpen und zerschlissenen Rüstungen, verdreckt, die Waffen stets fest umschlossen. Allesamt verletzt, abgemagert, verdreckt. Sie sahen auf, manche hoffnungslos, andere fast paranoid und mit einem schmerzhaften Stich begriff der Magier, dass er vor sich alles sah, was vom Widerstand noch übrig war – und manche darunter waren eindeutig einfache Männer und Frauen Samaras, denen die Rebellen im Versuch des Überlebens Waffen in die Hand gedrückt hatten. „Ihr brecht nach Sundergrad auf. Versucht dort, mit Kathryn Kontakt aufzunehmen. Bleibt in Deckung und verhaltet euch ruhig.“ erklärte die Elbe in wenigen Worten. Die Meisten erhoben sich – offenbar war die Elbe es gewohnt, Befehle zu erteilen, so wie alle um sie herum gewohnt waren, diese zu befolgen. Nur einer fragte nach, was mit ihr sei und der Blick der Elbe richtete sich auf Drakimh, den jeder der abgekämpften Männer und Frauen mit völliger Ignoranz abstrafte. „Ich hole mir zurück, was mir gehört.“ Drakimh musste zugegeben, dass die Dinge längst nicht so liefen, wie er es erhofft hatte. Aber das war möglicherweise auch einer der Vorteile daran, wenn man keine Pläne schmiedete – man grämte sich weniger, wenn etwas derartig außerhalb aller vorhersagbaren Bahnen verlief. Ashes bot ihm keine zweihundert Mann Verstärkung an, es gab keine Armee in seinem Rücken und sie schien sich auch nur bedingt mit Zzschra'Ak und Aulet zu verstehen. Wichtig war am Ende für ihn nur, dass die Elbe zusicherte, ihn zu begleiten und ihm zu helfen, Orykene zu befreien. Sie war sehr zu einem Verdruss den beiden anderen Damen in einem Zug erschreckend ähnlich: Geschwätzigkeit fand man bei ihr nur auf der Liste an Dingen, die sie nie an den Tag legen würde. Dabei hatte er durchaus auf ein kleines Gespräch gehofft. Doch sie wollte ihm weder erzählen, wie sie Orykene getroffen hatte, noch, was sie sich zurückholen wollte. Sie reisten nicht nach La Coeur und wenn den Gerüchten zu trauen war – was Drakimh nunmehr durchaus zu tun gewillt war, nachdem er gesehen hatte, was mit Samara passiert war -, dann war seine Majestät für den Fall der Stadt verantwortlich. Wenn Ashes also etwas weggenommen wurde, dann wohl vermutlich vom König – oder nicht? Warum aber sprach sie dann davon, etwas zurück zu holen, wenn sie doch nach Nephilim reisten? Mehrere Tage zogen ins Land, in denen sie versuchten, die Stadt nach Brauchbarem zu durchforsten. Ashes hatte große Teile bereits absuchen lassen, aber die Seuchengefahr war immer weiter gestiegen und am Ende hatten sie allein durch Krankheiten so viele verloren, dass sie sich in den unterirdischen Tunneln und Gängen selbst eingesperrt hatten. Noch immer war die Gefahr groß, doch sie würden ja nicht in jedem glitschigen Haufen herum wühlen. Viel mehr labte sich die Elbe ungeniert an den dargebotenen Vorräten der kleinen Gruppe, ehe sie sehr gezielt Häuser und ehemalige Läden ansteuerte. Sie besorgte sich eine neue Rüstung, neue Schwerter, eine Armbrust. Auch Aulet schien diese Gelegenheit wahrzunehmen, während Zzschra'Ak nur skeptisch das Arsenal menschlicher und zwergischer Schmiedekunst begutachtete. Als sie Samara wieder verließen, waren sie zwar zu einer schlagkräftigen kleinen Gruppe geworden, besaßen aber keinerlei verwertbare Vorräte mehr. Was übrig geblieben war, hatte Ashes ihren Kameraden gegeben, damit sie wenigstens bis zu den ersten Dörfern kamen, ohne durch Hunger und Durst weitere Verluste zu erleiden. Was vom Widerstand übrig geblieben war, so erkannte Drakimh, würde nicht mehr lange Bestand haben. Die Rebellen waren zerschlagen – und keiner von ihnen wagte es auszusprechen. Tag null. „Solemnium Samatka!“ spie eine aufgebrachte Stimme aus. Obwohl sie sich in Räumlichkeiten befand, schien an der Decke der Himmel aufzubrechen. Gleißendes Sonnenlicht durchflutete den gesamten Raum, grell, brennend, blendend. Ashes und Drakimh hielten sich die Augen zu, die Lider fest herabgepresst und die Hände zum Schutz darüber gelegt. Unzählige Gestalten, die sie in die Enge getrieben hatten, zerstoben in sich auflösende Schwaden. Das Licht brannte alle Schatten aus diesem Raum – doch als der Zauber endete und die Dunkelheit zurückkehrte, war Eile geboten. Sie würden sich nicht lange frei bewegen können, ehe die Schatten wieder Form annehmen würden. Hunde aus Nebel hatten sie gejagt, manche Gestalten schienen menschliche oder zwergische Form zu besitzen und Drakimh musste seine Befürchtungen nicht einmal aussprechen, um zu wissen, dass Ashes das Gleiche vermutete. Sie wurden von verdammten Seelen angegriffen. Diese Schatten zerstoben vielleicht im Licht, wenn ihre Grundform keinen Rückzugsort mehr fand, doch am Ende waren sie unsterblich. Sie waren gequälte Geister, dem Willen einer Macht unterworfen, die man niemals gegen sich wissen wollte: Ceteus. Als sie sich gestern der Festung genähert hatten, fehlte von den Minenarbeitern jede Spur. Keine Sklaven gab es mehr, das ganze Gelände um die Festung, die nahe Nephilim aufragte, war verwaist. Einzudringen hatte sich als ein allzu leichtes Spiel herausgestellt und kaum waren sie ein paar Schritte gegangen, hatte die Mausefalle zugeschnappt. Ein überaus robustes Fallgatter war hinter ihnen zugefallen und schon die ersten Attacken der Feinde hatten sie von Zzschra'Ak und Aulet getrennt. Ashes hatte eine einfache und deutlich Direktive aufgestellt: Sie würde ihn beschützen und zu seinem Ziel bringen, wenn er genau ihren Anweisungen Folge leistete. Drakimh hatte sich empört dagegen auflehnen wollen, aber gerade seit sie immer häufiger auf Feinde stießen, wurde ihm klar, dass sie solcherlei Situationen besser ertragen und damit besser umzugehen wusste. Ashes blieb die Ruhe selbst – immer, wie es schien. Sie packte ihn an der Schulter und zottelte den Magier weiter. Gegen solche Feinde konnten sie auf Dauer nicht bestehen, ihr einziger Weg lag darin, ihr Ziel zu erreichen und rasch zu verschwinden. Eine bessere Chance hatten sie nicht. Durch drei weitere Korridore schafften sie es im Laufschritt, ehe vor ihnen die Fackeln wieder zu Flackern begannen. Drakimh schleuderte einen kleinen Blitz auf die Verdichtung, die sofort aufschrie und zerstob – nur um sich zweifellos irgendwo anders neu zu formen. Es war müßig, Gegner zu bekämpfen, die man nicht endgültig aus dem Spiel nehmen konnte und allmählich wurde der Magier unruhig. Seine Kräfte schwanden, jeder Zauber kostete ihn mehr Energie und auch Ashes schnaubte bereits. Ihre Schwerter waren gegen immaterielle Kreaturen eigentlich völlig nutzlos, aber jeder Hieb zerteilte die Gestalt und sie musste sich neu zusammen setzen – minimale Erfolge, die erschreckend viel Kraft kosteten. „Dort lang!“ wies die Elbe die Richtung. Drakimh bog abrupt ab, glitt unter der weit ausholenden Attacke eines neuen Schattens hindurch und rauschte so schnell seine Beine es ihm erlaubten, einen weiteren Korridor herab. Sie platzten durch einen Torbogen hinein... und bremsten ab. Etwas an diesem Raum war anders. Ein plötzliches Donnern und Rütteln brachte sie aus dem Konzept. Schwere Erschütterungen zogen durch den gesamten Obsidian, ein Erdbeben brachte Boden, Decke und Wände zum erzittern und einen Moment lang schien es, als würde die gesamte Feste in sich zusammen brechen. „Das kann kein Beben sein.“ argwöhnte Ashes. Lumiél war nur im Süden und Westen instabil, am Drachengraben und am Höllenschlund. In Nephilim bebte die Erde nicht. Nie. „Magie!“ brachte der Lichtmagier bemüht hervor, ehe er in die Knie brach und sich auf den Boden übergab. Es waren nicht die Zauber, die ihm dies abverlangten – seine Sinne wurden soeben überflutet von einem Ausbruch an Energien, wie er es so noch nie erlebt hatte. Er wurde von üblem Schwindel befallen, sein Magen rotierte um die eigene Achse, so hätte er geschworen, und sein Blick trübte sich durch ein unfeines Grieseln ein. Das Donnern, Dröhnen und Knacken hielt einige Augenblicke an, ehe es sich wieder beruhigte und schließlich völlig verebbte. Drakimh fühlte sich elend, als hätte er zwei Wochen Fieber frisch hinter sich gebracht und würde nun an völliger Entkräftung leidend den Rückfall nahen spüren. In einer ungewohnt freundlichen Geste hielt Ashes ihm die Hand hin und zog ihn auf die Beine. Wacklig waren sie, aber er konnte stehen – das war für den Anfang ausreichend. Vorsichtig sahen sie sich um. Hinter ihnen lag noch immer der Korridor, leer, finster – und seltsamerweise frei von Feinden. Vor ihnen dagegen erhob sich eine gewaltige Halle in die Höhe. Riesige Säulen trugen ihre Decke, in der sich ein winziges Loch befand. Drakimh glaubte, dort oben die Sterne zu sehen. Vorsichtig und wachsam schritten die zwei Eindringlinge über den marmorierten Hallenboden auf das Zentrum der Zitadelle zu. „Siehst du,“ setzte eine helle, vergnügt wirkende Stimme an, „mit den meisten Lebewesen ist es ganz einfach. Man schlingt ihnen ein paar Fäden um die Glieder, zupft die richtigen Stricke und schon tanzen sie bereitwillig herum. Und oh schau nur – wir haben Gäste.“ Beide stoppten und Drakimh erkannte nach einigen Mühen die Gestalt einer zierlichen Frau auf dem gewaltigen Thron im Zentrum der Halle. Auf den Stufen, die zum Thron empor führten, lag eine weitere Gestalt – Drakimh erkannte sie als die Drakoidenschamanin Zzschra'Ak. Neben dem Thron aber saß Aulet. Wie ein Blumenmädchen hatte sie die Beine eingeschlagen, hockte neben dem Aufbau und ließ sich von der Hand der scheinbaren Königin durch das Haar fahren. „Verzeiht, My-“ setzte Drakimh an, als sich Ashes brüsk an ihm vorbei schob. „Ey, Flittchen! Gib uns Orykene und Alistair zurück, dann verspreche ich dir, ich mach's kurz und schmerzlos.“ blaffte Ashes erbost und mit einem kalten Hass in der Stimme, der Drakimh beinahe erschreckte. Er war sich darüber im Klaren gewesen, dass die Elbe... nun... ihre eigenen Methoden hatte. Doch sie meinte es ernst – sie würde diese hübsche junge Frau dort quälen und foltern, wenn es nötig sein sollte. Dabei war der Lichtmagier fest überzeugt, dass sich durch einen angestrebten Dialog möglicherweise die Situation unblutig lösen ließe – man müsste es nur zumindest einmal versuchen! Ninafer dagegen lächelte nur zufrieden. „Willkommen, Valenae Sternentänzer.“ Während der Magier stutzte, verengten sich Ashes' Augen zu Schlitzen. „Wie war das?“ Ninafer dagegen zog die Mundwinkel zu einem fast schon amüsierten Lächeln empor. Oh wie freute sie sich doch über Gäste! Eine Feier sollte man schließlich nie allein begehen. „Ich hatte erwartet, dass du... nun sagen wir... ein wenig klüger wärst. Die Schatten kennen dich gut, Valenae. Glaubst du denn, es hat in den Nächten niemand deine Tränen gesehen? Glaubst du, sein Auge ruhte nicht auf dir, wenn du um Hilfe gebettelt hast? Pendrilian hat die Ratten überlebt, musst du wissen. Es war kein schönes Leben mehr, aber er hat überlebt. Er hat viele Dinge getan, so manches davon wäre allein schon gut genug gewesen, um ihn in die Schatten zu stoßen. Ich habe mich eine Weile mit ihm unterhalten, ein wirklich charmanter Bursche. Sag, wie war das damals eigentlich? Wie hat es sich angefühlt, als du mit deiner Zunge seinen Samen umher geschoben und gekostet hast? Wie war es für dich, seine Hinterlassenschaft an deinen Schenkeln kleben zu fühlen? Hat es sich sehr davon unterschieden, als dich die Wächter in Sundergrad nahmen? Eine ganze Mannschaft in nur einer Nacht, das ist wirklich eine Leistung, meine Liebe – wie viele kamen noch einmal zeitgleich in deinem Leib? Wir könnten da bestimmt wundervolle Frauengeschichten austauschen...!“ Mit jedem Wort Ninafers, das sie in ihrer völligen Ruhe und einer Art von kindlicher Begeisterung sprach, verfinsterte sich Ashes Miene zunehmend. Ihre Fäuste ballten sich, begannen zu zittern, die Knöchel traten weiß hervor, bis sie schließlich nicht länger an sich halten konnte. „Kämpfst du noch oder willst du mich tot quatschen? Oder soll deine Gespielin mich mit ein paar Haarnadeln totkitzeln?“ spie die Elbe voll inbrünstigen Hasses aus. Ninafer erhob gerade die Hand in Richtung Aulets, als ein geworfenes Messer der Elbe die Verfluchte im Hals traf. Die bloße Wucht des Wurfes schleuderte sie zurück die Treppen herab, wo sie zuckend und sterbend liegen blieb. „Ich wollte sie eigentlich nur weg schicken.“ merkte Ninafer fast ein wenig bekümmert an und sah Aulet nach. Natürlich würde das kein Problem ergeben, aber sie hatte ihrer neuen Freundin das Gefühl des Todes ersparen wollen. Doch der Schatten kümmerte sich... zumindest um jene, die ihre Loyalität und ihren Nutzen bewiesen hatten. Immerhin stammten die Bolzen im Leib der Schamanin nicht von Ninafer... „Thorin?“ bat die einstige Herzögin freundlich. Aus den Schatten zu ihrer Rechten löste sich die Gestalt eines Kriegers heraus. Finstere Blicke wurden zwischen Ashes und ihm getauscht – ein Kettenhund, der darauf wartete, von der Leine gelassen zu werden. Das war der Eindruck, der sich der Elbe aufzwang. Doch dieser Kahlkopf würde sie nicht aufhalten – der Kopf dieser verdammten Schlange gehörte ihr! „Sei so lieb und beschäftige Valenae ein wenig.“ führte Ninafer geradezu freundlich aus, strich mit den Fingerspitzen versonnen lächelnd über den muskulösen Unterarm des Kriegers, der daraufhin in aller Ruhe die Axt von seinem Rücken zog. Ein einfaches Nicken und er trat die erste Stufe herab. Dann begann er, sein Gewicht nach vorne zu verlagern, begann rasant an Tempo aufzunehmen, stürmte wie eine Naturgewalt die Stufen vor Ninafers Thron herab. Ashes machte sich gerade zur Abwehr bereit, da verschwand er plötzlich einfach so, zerstob zu Schatten und schwarzen Nebelschaden, erschien an anderer Stelle – und einige Meter näher – zerstob erneut, erschien wieder an anderer Stelle. Auf diese Weise war es der Elbe fast unmöglich, den eigentlichen Angriff vorherzusehen und sich angemessen darauf vorzubereiten. Mit einem Mal erschien Thorin kaum zwei Meter vor ihr und preschte mit voller Wucht, die Schulter voran, gegen ihre Brust. Er stieß die Elbe kraftvoll von ihren Füßen, schleuderte sie ein gutes Stück zurück und setzte sogleich nach. Kaum hatte sich die Elbe wieder auf die Füße rappeln können, wuchtete sie ein kraftvoller rechter Kinnhaken direkt wieder auf den Boden zurück. Das Paar um Sieg und Leben kämpfender Krieger verschwand irgendwo lautstark außerhalb der Halle und Thorin ging seinem Auftrag nach – er beschäftigte Ashes. Sie zu töten, war nicht Teil des Planes. Tatsächlich, so hatte Ninafer ihm mitgeteilt, hatte Ceteus noch Pläne für die bittere Elbe, doch wie bei Früchten, die noch am Baum hingen, war sie einfach noch nicht reif, ihre Rolle anzutreten. Nunmehr befanden sich einzig Drakimh und die Adlige in der Thronhalle. „Nun, Meister Drakimh D'spayre, können wir uns ein wenig unterhalten. Ich empfinde es als Gastgeberin immer ein wenig... nun, unhöflich, nichts über die eigenen Gäste zu wissen. Sicherlich versteht ein Mann eurer Bildung und Erziehung das. Lasst uns also ein wenig unverfänglich plaudern, ehe wir die Feierlichkeiten beginnen. Robyn von Rabenhorst – ihr erinnert euch? Ich hörte kürzlich von ihr. Es ist schon merkwürdig, wie die Dinge sich doch gleichen können. Eine Dryade dieser Landen, Delilah Fel Famgrar, sie kämpfte wohl mit den gleichen Problemen. Sie war nicht mehr so recht erwünscht, verschanzte sich in ihren Wäldern. Und obwohl sie den Rückzug antrat und dort lediglich ihre Ruhe suchte, bekämpfte man sie. Mit Giften, mit Katapulten, mit Feuer. Wie ich hörte, war Robyn in diesem Kampf weit weniger erfolgreich als Delilah. Eine wirklich tragische Geschichte. Es erging Jezebeth wohl ebenso. Ein nettes Mädchen. Ihr habt euch damals, als sie euch vorschlug, bei den Prüfungen zu schummeln, stets gefragt, ob ihr sie nicht hättet ansprechen sollen, nicht wahr? Ihr wolltet sie küssen, sie halten, ganz der Gentlemen sein, zu dem man euch erzogen hat. Einem Mann wie euch ist sie nicht wieder begegnet, aber ihre Träume... sie forderten ihren Tribut. Es war wohl unausweichlich.“ Tausend Ohren und Augen – das war ein Bild der Nacht, wie es ein Schwarznekromant der längst zerschlagenen Zirkel einst gezeichnet hatte. Jede Dunkelheit für sich und die Nacht ganz besonders besaß Tausend Ohren und Augen. Dieser Nekromant hatte einst Dinge gesehen und erfahren, die nicht für einen menschlichen Geist bestimmt waren – und war darüber in Wahnsinn gefallen. An genau diese Geschichte erinnerte sich Drakimh, als er Ninafer gegenüber stand, das befremdliche Flackern in ihrem Blick sah und Worte vernahm, die wie Nadeln ins Fleisch stachen. Er zweifelte nicht, dass genau dies auch ihr Ansinnen war, doch wollte er sich nicht möglichen Provokationen beugen. Stattdessen versuchte er, das alte, höfische Spiel zu spielen, bei dem er in all den Jahren so aus der Übung geraten war. „Mylady erfreuen mich mit solcher Fürsorge und Umsicht, doch muss ich gestehen, mir über den Anlass der Feierlichkeiten nicht im Klaren zu sein. Wäre die Dame denn geneigt, meiner bescheidenen Bitte nach Klarheit nachzukommen?“ Bei den Göttern, es war schwer geworden, so zu reden! Seine Dienerinnen hatten dergleichen nie erfordert – da hatte es genügt, zu sagen, sie sollen ihre Kleider ablegen und sie wussten über den Ablauf der nächsten Stunden Bescheid. Ninafer dagegen lächelte, wohlwissend, dass sie ihm in jedweder Hinsicht überlegen war. Ein Gefühl, das Drakimh hasste. „Gewiss, mein Herr. Eine gemeinsame Freundin, so denke ich, wird euch bestens dienen, dieser Aufgabe nachzukommen.“ Der Lichtmagier begriff nicht, worauf sie hinaus wollte – bis zu dem Zeitpunkt, da kräftige Flügelschläge laut wurden. Er kannte dieses Geräusch inzwischen zur Genüge. In Quentloas hörte man den ganzen Tag kaum etwas anderes. Dennoch wollte er sich die Wahrheit nicht eingestehen, bis zu dem Zeitpunkt, an dem er sah, wie Orykene sich an der linken Flanke des Thrones nieder ließ. Ihr Kopfschmuck fehlte, aber ihr Gesicht, ihr Bauch, ihr gesamter Leib – alles war wieder in seinem Urzustand. Als hätte sie nie einen unmöglich zu gewinnenden Kampf gefochten, als wäre sie nie von Untoten knapp außerhalb Samaras zerrissen worden... als hätte sie nie wochenlange Folter im Turm dieser Festung durchlitten. Mit verführerischem Hüftschwung und dem altvertrauten, leisen Klicken ihrer Krallen auf dem Fußboden schritt die Brutmutter die Stufen herab. Ein geradezu räuberischer Blick, den er an sich kleben spürte. Sie musterte ihn, schätzte ihn ab. Er spürte, wie sie ihm näher trat, als er es wohl hätte unter diesen Umständen zulassen sollen, doch er konnte sich nicht wehren, wollte es nicht. Diese Situation war so völlig... absurd! „Du... du lebst... geht... es dir gut? Ich meine...“ stammelte der Lichtmagier zusammen. Er wollte es nicht wahr haben. Es durfte einfach nicht wahr sein. „Es geht mir ausgezeichnet. Schneller, stärker und kraftvoller denn je.“ säuselte die Harpyie leise, strich mit den Spitzen ihrer Krallen seine Oberschenkel herauf und wusste selbst nur zu gut, wie schwer sie es Drakimh in diesem Moment machte, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. „Liebes, sei so gut und zeige unserem Gast, was wir heute feiern.“ wies Ninafer im freundlichen Plauderton an. Drakimhs Blick richtete sich in völligem Unglauben zu der Giftmischerin empor. Liebes...? „Ja Herrin.“ Herrin?? Drakimh war planlos. Hilflos. Ein klein wenig verzweifelt und vor allem ratlos. Wie sollte es weiter gehen? Sollte er überhaupt glauben, was er hier hörte? Nein, sicherlich hatte Orykene nur... nur nachgegeben, zum Schein, um die Folter zu beenden. Sie... sie konnte unmöglich... Mit sanfter Gewalt zog die Harpyie den Magier davon und geleitete ihn aus der Halle. Einen kleinen Abzweig nur liefen sie, ehe die einstige Brutmutter ihn auf einen Balkon führte. Schwarzer Obsidian bildete den Boden, ein Säulengeländer schuf sicheren Halt und der Magier löste sich völlig eigenständig aus dem Griff der Harpyie, die ihn nunmehr selbst die Schritte voran zur Brüstung setzen ließ. Sicherlich an die hundert, vielleicht sogar zweihundert Meter ging es unter ihm in die Tiefe. Bei den Göttern – vielleicht sogar noch mehr! In einem schrecklichen Moment der Erkenntnis begann Drakimh zu begreifen. Das Beben, das sie gespürt hatten – es war der Moment gewesen, in dem sich diese schwarze Zitadelle aus dem Boden gerissen hatte. Machtvolle Runen sah er auf dem Stein glühen. Unzählige Tonnen Erde und Gestein hatten sie mit aus dem Boden gerissen, als die Festung sich erhob. Wie ein Zipfel klaffte noch immer ein Teil des Landes unten an der Bastion, die nunmehr schwebend über dem Land verharrte. Und in diesem Moment begriff Drakimh auch, dass die zierliche junge Frau, die jenen Thron besetzte, nicht einfach nur eine Dienerin der Spinne war. Sie war eine Gesandte des Ceteus, sein Avatar, sein Wort und seine Hand in der Welt der Sterblichen. Sie war eine Macht... gegen die weder er noch Ashes noch sonst irgendwer ankommen konnte. Die bitterste Erkenntnis ließ ihn am Geländer des Balkons auf die Knie brechen. Er hatte Orykene an sie verloren. Die Klaue der Harpyie legte sich auf seine Schulter, als die einstige Brutmutter hinter ihn trat. „Es kommt der Zeitpunkt, an dem jedes Land, jedes Volk und jeder König bekommt, was ihnen zusteht. Es ist nicht an uns, zu beurteilen, ob das gerecht ist.“ säuselte die Harpyie leise in sein Ohr, während ihre Klaue sich von seiner Schulter zu seinem Haupt hob und ihm über das Haar strich. Kapitel 5: Wandlungen --------------------- Es war einfach nicht auszuhalten! Schon seit vier Tagen fühlte er sich eingepfercht wie Vieh und Thorin kam nicht umhin, Ninafer dafür mehr als nur zu grollen. Sie wusste es, verdammt nochmal, sie wusste es nur zu gut. Vermutlich war das ihre Art von Strafe dafür, dass er sie hatte stehen lassen. Er hätte sich natürlich fragen können, ob er zu weit gegangen war, doch in Ninafers Fall war das nicht einfach nur 'relativ', es war sogar gänzlich überflüssig. Was diese Frau schon getan hatte und was mit ihr getan worden war überstieg vermutlich nahezu alles, was er ihr je anzutun fähig gewesen wäre. Zumindest sah Thorin das so. Aber der verstand ja auch nichts vom Innenleben einer Frau, zumindest nicht, sobald es über ihren Unterleib hinaus ging. Vier Tage und er hatte keinen neuen Auftrag bekommen. Vier Tage und er konnte nichts weiter als schlafen, essen, trainieren und wartend hier in seinem Zimmer herum sitzen, auf und ab laufen und... noch mehr warten. Er hasste warten. Geduld war nie eine seiner Stärken gewesen. Er war ein Mann der Tat, er wollte etwas zu tun haben, er wollte Ablenkung. Vor allem Ablenkung! Er brauchte etwas, das ihn auf andere Gedanken brachte. Wie schon so oft zuvor hatte sich etwas ereignet, das er nicht in seinen Geist einlassen wollte. Erinnerungen brannten sich in seinen Schädel, aber das bedeutete nicht, dass er ihnen zusehen oder zuhören wollte. Er hatte sich genommen, was er wollte. Ein einfacher Satz, den er bei jeder Hure, mit der er es über die Jahre getrieben hatte, sicherlich auch hingenommen hätte. So manche der leichten Mädchen hatte er um ihr zugegeben schwer verdientes Geld geprellt, andere hatten einen wesentlich leichteren Job und waren geradezu fürstlich dafür bezahlt worden. Meist hing das von seinen Launen ab – die glücklichen Damen waren also sehr viel seltener. Aber nicht bei ihr. Für sie galt das nicht. Natürlich wollte er sie, bei Ceteus, wie konnte man das verleugnen? Ihr reizvoller Hüftschwung, die federnden Schritte, ihr zierliches Erscheinungsbild, der dralle Busen, wie konnte irgend ein Mann verleugnen, sie anzusehen und sofort zu begehren? Doch so sehr sie auch versucht hatte, so sehr sie mit ihm gespielt und ihre kleinen, kranken Scharaden geführt hatte, er war nie geworden, was sie scheinbar wollte: Ein Tier. Er besaß die Kontrolle über sich. Nicht die Schatten, nicht die Instinkte, er allein! Doch vor vier Tagen hatte sie das geändert. Sie hatte wieder eines ihrer verdammten Spielchen getrieben und er war ihr dieses Mal blindlings in die Falle getappt. Sie hatte seinen Zorn und seinen Hass ausgenutzt, sie hatte seine eigenen Waffen gegen ihn verkehrt und ihn auflaufen lassen, sie hatte seine Selbstkontrolle und Vernunft ausgehebelt. Dann... hatte er sich genommen, wonach ihm der Sinn stand – und sie hatte es genossen. Es wäre für sie beide weitaus schmerzhafter geworden, wäre dem nicht so gewesen, doch sie hatte es genossen. Er hatte sich eingereiht. In eine Linie mit den Männern, denen er zu jeder Gelegenheit die Kehlen aufriss. Mit den Männern, die er ohne zu Zögern abschlachtete. Sogar mit seiner kleinen, kranken Majestät, diesem widerwärtigen Gnom, mit dem er niemals irgendetwas gemein haben wollte. Schlimm genug, dass sie beide Menschen und Männer waren – das waren für seinen Geschmack der Gemeinsamkeiten wahrlich genug. Nun verband sie auch Ninafer. Ein Schaudern durchfuhr den Krieger. Er führte seinen harschen, ungeduldigen Schritt zurück zu seinem Bett, packte eine der fünf auf dem Nachttisch stehenden Flaschen und nahm einen kräftigen Hieb. Schnaps, aus einer Zwergendestille. Das Problem war nur, dass er kaum noch wirkte. Wann immer er versuchte, die Erinnerungen zu ersäufen, kamen die Schatten und flüsterten auf ihn ein. Vielleicht hatte Ninafer sie geschickt, vielleicht war ja DAS ihre Strafe für ihn. Spielte das wirklich eine Rolle? Er hasste es, ein Spielzeug zu sein. Es war nicht abstreitbar, dass er seine neue Position bisweilen zu schätzen gewusst hatte. Er hatte in der langen Zeit seines Lebens schon viel schlimmere Gesellschaft ertragen müssen als Ninafer. Sie weckte Ekel und Widerstand in ihm, vieh'sche Begierde – die ihrerseits den Widerstand vergrößerte. Doch er hatte sich schon mit schlimmerem Volk umgetrieben. Und anders als diese Bastarde konnte sie ihm etwas geben, das auf dieser Welt ein sehr kostbares und rares Gut geworden zu sein schien: Einen Platz. Eine Aufgabe. Eine Funktion. Sie besaß die Macht, etwas zu verändern und bei den Schatten, der würde sie nicht ausbremsen, im Gegenteil. Hoffnungen besaß der Krieger längst nicht mehr. Lumiél starb, das war ihm klar. Aber Ninafer war vielleicht die Einzige, die dem Land ein qualvolles Dahinsiechen ersparen und ihm einen harschen Gnadenstoß geben konnte. Ihre Befehle waren ein Segen für ihn, jeder Auftrag wurde mit Eifer und Inbrunst erfüllt. Aber nie, weil er ihr nahe stand. Der Schnaps brannte in der Kehle, aber er wirkte nicht. Wie erwartet, krochen die Schatten aus den Ecken des Zimmers, dämpften das Licht, drängten es zurück zu ihrem Ursprung an den Kerzen und krochen zu ihm herüber. Sie umschmeichelten ihn, sie drängten sich an ihn, gegen ihn, durchfluteten ihn... und dämpften die Wirkung des Alkohols. Er sollte nachdenken, er sollte sich erinnern, er sollte... leiden?! Er wusste es nicht. Er wusste nicht, was dieses Spiel wieder zu bedeuten hatte. Vielleicht, so wurde er sich schmerzlich klar, hatte er es nie gewusst. Er hatte sich einen Gutteil seines einstmals geradezu brillanten Verstandes weggesoffen. Darüber war er sich völlig im Klaren und angesichts der Lage bedauerte er es fast. Fast. Es gab zu viele Momente, in denen er dafür dankbar war. Er riss die Tür seines Zimmers auf, wanderte durch die Korridore der Zitadelle. Schwarzer Obsidian, eine ebene, leicht spiegelnde Fläche, am Boden, die Wände, an der Decke. Vereinzelte, geradezu antik wirkende Möbelstücke sollten das Bild der karg wirkenden Gänge auflockern. Ein paar Rüstungsständer, ein paar Zierblumen, Ninafers... Unrat. Aus einer Laune heraus verpasste er einer der Blumenvasen eine Schelle, sah sie über drei Meter fliegen, ehe sie scheppernd am Boden zersprang. Die Blumen würden sterben. Sie hatten kein Wasser mehr... auch so war ihre Zeit schon abgelaufen, ganz ohne Wurzeln. Vielleicht waren ihm die Blumen ähnlich, mutmaßte der Kahlkopf, während er anhielt und sein Werk betrachtete. Er hatte längst keine Wurzeln mehr. Das Gefühl, irgendwo heimisch zu sein, fehlte einfach. Wie lange würde es dauern, bis ihn jemand verdursten ließe? Eine Mischung aus Sehnsucht nach diesem Moment, nach dem Ende und der möglicherweise wartenden Erlösung und dem Gefühl der Rastlosigkeit überkam ihn. Harsch setzte er seinen Weg fort. Alles Unsinn! Es waren nur verdammte Blumen, nicht mehr, nicht weniger. Zur Hölle mit dem Grünzeug. Er stieß eine kleine Pforte auf, die gegen den Stein schlug und wieder zurück ins Schloss schwang, nachdem er bereits eingetreten war. Der Trainingsraum hatte schon viele seiner Flüche zu hören bekommen, viel gesehen, viel erlebt – hauptsächlich seine Frustration, seinen Zorn, seine Kraft. Auch dieses Mal zögerte er nicht. Thorin besaß keinen 'Trainingsplan' oder dergleichen. Für Pläne war Ninafer zuständig. Und sie ließ ihn warten. Der Gedanke spornte ihn neu an. Die Geräte mussten leiden, er zerschlug einen der Sandsäcke völlig, er warf eine Hantel durch den Raum, als er frustriert feststellte, dass nicht genug Gewichte da waren, um sie noch weiter zu beladen. Kein Schlaf, kein Alkohol, keine Erschöpfung. Er wollte am liebsten etwas töten, groß, stark, etwas, das gut austeilen konnte. Aber es war wie mit den letzten vier Tagen auch: Er hatte keinen Auftrag und ohne den wusste er nicht, wohin er gehen sollte. Jede Tür und jedes Tor stand ihm offen und er hatte... nichts. Dort draußen war nichts für ihn. Eine fremde Welt, sterbend, mit der ihn nichts mehr verband außer schalen Erinnerungen, die er allmählich immer weiter in Alkoholika zersetzte. Und hier? Hier war... sie. Thorin setzte sich auf der Bank auf und versuchte einen kurzen Moment – wie schon so oft zuvor dieser Tage -, sich den Geschehnissen zu stellen und aus ihnen schlau zu werden. Sie hatte sich ihm angeboten. Keine Hure der Welt hätte armseliger dabei wirken können... sie hatte in seinem Kopf gewühlt, sie hatte Erinnerungsfetzen gegen ihn verwendet, sie hatte... sich 'verkleidet'. Er wusste, das dies der Moment gewesen war, in dem er alle Kontrolle über Bord warf und ihr nach dem Leben trachtete. Damals, bei ihrer ersten Begegnung, er hätte sie sofort erwürgen sollen, das verdammte Stück...! Konzentriere dich. Erinnere dich. flüsterte es hinter ihm. Er wedelte herum, als würde er die Schatten wie einen lästigen Fliegenschwarm vertreiben können, doch ihre Mahnung fruchtete zumindest und sie schwiegen wieder. Sein Hass wurde abgelenkt, zerstreute sich, ehe er sich neu aufbrandend verfestigen konnte. Sie hatte einen speziellen Platz für sich eingefordert. Einen Platz, von dem Thorin nicht einmal wusste, ob es ihn noch gab. Sie hatte mit ihm gekämpft, zumindest kurz. Es wäre ihr zu keinem Zeitpunkt schwer gefallen, ihn zu töten – das war ihm klar. Genauso, wie er wusste, dass er für sie wertvoll war. Vielleicht nicht unentbehrlich, aber doch zumindest wertvoll. Zu wertvoll, dass sie ihn angreifen und vernichten würde. Bestrafen vielleicht, aber sie würde nicht zulassen, ihn zu verlieren. Dafür war er einfach zu... erfolgreich. Also war alles, was geschehen war, durchaus in ihrem Sinn gewesen. Warum saß er dann hier herum und wartete vergeblich auf die nächsten Anweisungen? Du hast sie stehen lassen. - Na und? - Sie spielte nicht. - Ninafer spielt immer. - Diesmal nicht. - Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er dann die Wahrheit spricht! Geradezu entsetzt schnaubte Thorin und erhob sich von der Bank. Wie armselig! Jetzt war er schon so weit, sich mit dämlichen Bauernweisheiten zu verteidigen, die man Kindern beibrachte. Er zog sein Hemd aus, warf den an der Haut klebenden Stoff achtlos in eine Ecke. Irgendwann würde einer ihrer Lakaien diesen Raum aufsuchen, ihn finden, reinigen und in sein Zimmer räumen. Sonst verwendete ja kaum jemand diesen Raum. Kühle Luft umschmeichelte die noch immer von Anspannung glühenden Muskeln und dennoch war er alles andere als zufrieden. Es war nicht genug. War es möglicherweise nie, aber was ihm fehlte war... die Aufregung. Das Adrenalin. Das Gefühl, noch zu leben. Das Gefühl, etwas zu bewirken. Das Gefühl... nützlich zu sein. Während er den Weg zurück suchte, versuchte er den Worten der Schatten einen Moment zu lauschen, ohne vor Zorn das nächste Möbelstück zu zertrümmern. Er hatte sie also stehen lassen. Na und? Was hatte sie denn erwartet? Dass er ihr jauchzend in die Arme fiel und sie ein glückliches kleines Pärchen werden würden, mit Heirat, eigenem Häusschen am Stadtrand von Samara und drei kleinen Kindern? Schon der Gedanke ließ neuerlichen Brechreiz in ihm aufkommen. Wenn sie nicht gespielt hatte, gut, dann hatte er also ihre Gefühle verletzt. Kaum vorstellbar, das ein wertloses Stück wie sie so etwas besaß, aber einerlei. Vielleicht hatte sie so die zehn Jahre ertragen – indem sie irgend eine pervertierte Form von Gefallen an all dem gefunden hatte, was man mit ihr trieb. Mochte Ceteus wissen, was in ihrem Kopf vor sich ging, zumindest wusste er, das da schon manches Mal ein paar Dinge nicht mehr ganz richtig liefen. Gestört hatte es ihn nie, aber es hatte ihn bisher auch nie bewogen, sich zu fragen, wie diese 'Dinge' geartet sein mochten. Vielleicht hätte er nach ihrem ersten Treffen schon genauer darüber nachdenken sollen, als sie ihm so klettenhaft nachgelaufen war. Wie konnte er die Situation bereinigen? Überlege nicht, was du tun kannst, sondern was du getan hast. - Bist du Philosoph, oder was? Raus aus meinem Kopf! In der Regel half es, die Schatten zurecht zu weisen. Manchmal waren sie hartnäckig, doch auch er war von ihnen auserwählt. Natürlich nicht annähernd im gleichen Maße wie Ninafer. In einer Zeit, als sie noch erbärmlich und schwach war, als sie noch das war, was ihn gerade am Anfang so angewidert hatte, war er auserwählt worden, sie zu beschützen. Im Grunde tat er das noch heute, nur in weiter gefasstem Bogen als zuvor. Sein Schritt wurde langsamer, vorsichtiger – als würde er sich vor irgendetwas in dieser Zitadelle je fürchten müssen. Dann hielt er zur Gänze an und versuchte sich darüber klar zu werden, wo er überhaupt war. Die Gänge der Zitadelle waren mit Absicht so beschaffen, das man sich nur zu leicht darin verlieren konnte, aber gerade für Thorin war das üblicherweise nicht möglich gewesen. Die Schatten hatten ihn stets geführt, er hatte sich so sehr auf sie verlassen können, das er einen eigenen Orientierungssinn im Grunde gar nicht mehr benötigt hatte. Und nun stand er vor einem gewaltigen, doppelflügeligem Tor und wusste genau, was dahinter lag. Ihre Thronhalle, ihr Saal, ihr 'Empfangsbereich'. Aber das war nicht der Ort, wo er hatte hin gehen wollen. Ihm wurde schmerzlich bewusst, dass man ihn verraten hatte, ihn falsch geführt hatte. Was soll ich hier? blaffte er wütend, doch es erfolgte keine Antwort. Gerade diese Stille ließ ihn nur noch stärker zürnen. Er hob den schweren Stiefel, trat mit voller Wucht gegen das Tor, das ächzend aus dem Schloss sprang und aufschwang. Thorins Schritte trugen ihn in den Saal hinein. Zweifellos war diese 'Fehlführung' Ninafers Werk. Vielleicht wollte sie schon wieder was essen oder ihre dämlichen Kleider vorführen oder... einfach nur ihre Spielchen spielen oder... „Ach was weiß ich.“ maulte der Krieger verdrossen und warf wütende Blicke zu allen Richtungen. Er sah sie nirgendwo, er hörte sie auch nicht. Sie war nicht hier, er spürte auch ihre Präsenz nicht in den Schatten und der Thron lag verwaist vor ihm. Ihre Privaträume also – na noch besser. Offensichtlicher konnte es wohl kaum werden. Sie lockte ihn von einer Scharade zur Nächsten. Derartig hartnäckig war sie schon früher gewesen, es hätte ihn längst nicht so wundern sollen, wie es das hier und jetzt tat. Am hinteren Teil der Halle war eine kleine, geradezu unscheinbar gefertigte Tür eingelassen, angestrichen in tiefem Nachtschwarz, sodass man sie ohne einen näheren Blick oder das Wissen um ihre Existenz kaum hätte sehen können. Thorin stieg mehrere Treppen empor, die sich im Kreis in einer Spirale empor rankten. Ihre Räumlichkeiten boten mehr Platz, als man vielleicht vermutet hätte, aber Ninafers Äquivalent zu dem, was für Thorin der Trainingsraum war, befand sich ohnehin im 'Keller'. Als er die Tür zu ihrem Gemach aufstieß, verharrte der Krieger einen Moment aufrichtig überrascht. Die Wut, die er eben noch verspürt hatte, irrte ziellos umher, obwohl die Herzögin direkt im Zentrum seines Blickes war. Einen langen Moment verstand Thorin nicht, wollte es auch nicht recht verstehen. Sie lag auf ihrem Bett, die seidenen Laken und die federleichte Decke völlig zerwühlt. Auf dem Rücken ruhend, schien sie sich mit der Linken im Laken zu verkrallen – und nicht eine Spur von Stoff verhüllte irgendeinen Zentimeter ihres Leibes. Thorin sah die Spuren ihrer Misshandlungen, sah die Narben und die Spuren von Blutergüssen, die nie wieder verschwinden würden. Selbst wider all dieser Zeichen ihrer letzten Jahre konnte man ihr den Reiz nicht absprechen, den sie ausübte, aber hier und jetzt war der Kahlkopf dafür völlig unempfänglich. Vielleicht musst du näher heran, um zu begreifen... flüsterte der Schatten ihm zu. Es gab zahlreiche Arten, wie die Dunkelheit zu sprechen befähigt war. Harsche Befehle, die mit Nachdruck und Gewalt durchgesetzt wurden, waren fähig, den Geist eines Lebewesens zu zerbrechen. Danach blieb nur eine leere Marionette, die zwar direkte, explizite Befehle befolgen konnte, jedoch kaum zu weiteren Handlungen fähig war – und das ließ sie meist an Durst, Hunger oder Erschöpfung sterben. Subtiler waren die Dialoge, die die Schatten führten. Und diese Worte waren das Hinterhältigste schlechthin – Einflüsterungen, die dem Zuhörenden vorgaukelten, dass es sich um seine eigenen Gedanken handeln würde. Von dem Vorhaben getrieben, etwas zu begreifen, ohne zu wissen, was es zu begreifen galt, näherte sich Thorin dem Bett und achtete nicht weiter darauf, leise zu sein. Ninafer schlief nicht, dessen war er sich sicher. Das alles hier war ihr verdammtes Spiel – sie konnte gar nicht schlafen! Denn wenn sie das täte, dann... wäre es nicht ihr Spiel gewesen. Sie wirkt friedlich. - Sie schauspielert eben gut. - Sie schläft. - Sie kann nicht schlafen. - Sie schläft. Allein die resolute Art, wie die Finsternis die letzten Worte wiederholte, ließ Thorins Widerstand verstummen. Ninafer schlief. Nun – aber er hatte ihn dann hierher gelockt? Ihm war klar, dass die Schatten einen eigenen Willen besaßen. Thorin konnte manche Tricks damit anstellen, hatte aber nie das gleiche Verständnis für ihre Präsenz erlangt, er war nicht annähernd so stark eingebunden und durchdrungen wie Ninafer – denn sie allein war die Gesandte, er nur ein Lakai. Als ihm dämmerte, das möglicherweise Ceteus selbst ein Interesse an seinem Hiersein hatte, schnaufte der Krieger verächtlich. Den Göttern schenkte er nichts, weder seinem früheren Herrn noch Ceteus oder Mermerus, sollten sie alle in die Niederhöllen fahren und dort Dämonen regieren! Die Götter hatten seine Heimat im Stich gelassen, sie hatten seine Familie im Stich gelassen, sie hatten auch ihn im Stich gelassen. Sie braucht dich. - Sie braucht niemanden mehr. - Jeder braucht jemanden. - Unfug! Ich habe Jahre überlebt, ohne jemanden zu haben. - Um das reine Überleben geht es hierbei auch nicht. Sieh, wohin es dich brachte... Unwillkürlich zuckte Thorin zusammen, als ein stechender Schmerz sich in seine Stirn bohrte. Bilder zuckten vor seinen Augen auf, Bilder von entstellten Körpern, gefallener Krieger, leerer Augen, Bilder voller Blut, Geschrei und dem Geruch verbrannten Fleisches, Bilder von Tränen und rastloser Gewalt, von mehr Alkohol als eine Stadt voller Zwerge hätte trinken können. Wie schon zuvor, endete es damit, dass er abermals durchleben musste, wie seine Welt damals zerbrochen war. Er eilte zu seinem Haus, durchstrich die in Blüte stehenden Äcker, riss die Tür auf... fand sein Weib, seine Tochter. Sie riecht wie sie. - Unsinn, tut sie nicht. - Bist du dir da sicher? Wie weit hatte der Alkohol seine Erinnerungen bereits zerstört? Wie viel war noch übrig von dem, was einstmals Thorin gewesen? Wie viel lebte noch von dem Mann, den diese Frau einst geheiratet hatte? Er traute den Schatten nicht länger über den Weg. Hatte er nie, aber hier und jetzt beschloss er, sich in Zukunft wieder auf seinen eigenen Orientierungssinn zu verlassen. Sein Blick fiel auf Ninafer, unwillig und doch zweifelnd. War das möglich? Nein, oder? Aber vielleicht erklärte es einen Teil ihrer Anziehungskraft, die ihm seit jeher suspekt vorgekommen war. Vorsichtig trat der Krieger den letzten Schritt an ihr Bett, nahm auf der Kante Platz. Er sank in den Stoff ein, befand es für schrecklich weich und scherte sich doch nicht darum. Er beugte sich vor, bemüht, die Herzögin nicht zu stören. Bis an ihren Hals brachte er seine Nase, sog ihren Geruch ein und... kam dennoch keinen Schritt weiter. Er wusste es nicht. Ninafer öffnete die Augen. Ganz langsam fuhren ihre Lider empor und mit einem Schlag realisierte Thorin, wo er sich befand, wie nahe er ihr war, wie... verfänglich alles wirken würde. Sie sagte kein Wort, verzog keine Miene. Sie sah ihn nur an und einen langen Moment blickten sie einander in die Augen. Er sah... nichts. Nur, falls überhaupt, einen Spiegel. Er konnte nicht aus ihr lesen, er hatte noch nie aus irgendwem irgendwas lesen können. Sein Metier war eher, Informationen auf andere Weise zu erhalten. Ninafer dagegen sah einen Schmerz, der ihr wohlbekannt war. Sie hatte ihn unzählige Male gestreift auf ihren Beutezügen durch seine Erinnerungen. Sie wusste, dass er sich der Existenz dieser Quelle nicht einmal völlig bewusst war... und hier und jetzt, da wurde sie Zeuge des Momentes, in dem er sie bemerkte. Thorin erinnerte sich nicht mehr. Er hatte den Duft ihres Haares vergessen, den Geruch ihrer Haut. Seine prankenhafte Hand hob sich an ihre Wange, strich über die zarte Haut der Ceteustochter. Er hatte das Gefühl vergessen, wie es war, sie zu streicheln. Er hatte vergessen, wie es schmeckte, sie zu küssen... Der Kahlkopf beugte sich herab, doch ehe ihre Lippen einander berühren könnten, legte sich seine Hand um ihren Hals. Er übte keinen Druck aus, er presste ihr nicht die Kehle zu – aber er hielt sie auf das Bett gedrückt, von sich fern. Bemüht, selbst die Feder zu führen, schüttelte er den Kopf, als würde er damit etwas los werden können. Zorn flackerte in seinen Augen auf. Er begriff die Quelle nicht, er sah das Ziel nicht. Er hatte vergessen, alles, er hatte es zerstört, er war hier und gab ausgerechnet ihr die Chance, Erinnerungen zu erschaffen, die dem Verlorenen so erschreckend ähnlich zu sein schienen. Das war nicht gerecht, das war nicht in Ordnung, das... das war... gar nichts, das war... einfach falsch und niederträchtig und dumm und... Er war nie ein Mann großer Reden gewesen. Rhetorik überließ er lieber anderen – und so fehlten ihm nun jegliche Worte, während völliges Chaos in seinem Inneren ausbrach. Irgendwo in seinem Hinterkopf war er sich der verfänglichen Situation bewusst. Er saß an ihrem Bett, er drückte sie in das Laken und er haderte ganz offenkundig. Was würde sie davon halten? Es scherte ihn nicht, versuchte er sich einzureden, doch die Lüge glitt ab wie Wasser an einer geölten Fläche. Sie erwies sich indes als erstaunlich geduldig, sagte nichts, rührte sich nicht, wartete lediglich ab und... sah ihn an. Bei den Schatten, warum konnte sie nicht aufhören, ihn anzustarren? Erneut mischten sich die Schatten ein – und diesmal war sich der Krieger nicht sicher, ob Ninafer mit ihm spielte oder sie noch immer ihrem eigenen Willen folgten... oder ob es da überhaupt einen Unterschied gab. Fragen wie diese brachten seinen Kopf zum schmerzen und ließen seine Kehle sich trocken und durstig anfühlen. Erinnerungen prasselten auf ihn ein. Kein Vergleich zu dem, was vorher geschehen war. Sie waren... frisch. Vollständig. Er sah Ninafer an der Tafel, die Beine gespreizt, sah auf ihre Rückfront und spürte das eigene Verlangen in erschreckendem Ausmaß und schier unbeugsamer Präsenz. Er roch sie, als sie erbebend sich gegen ihn drängte. Er hörte ihr leises Wimmern, dieses verlockende Gemisch aus Schmerz und Lust. Er spürte die Hitze in ihrem Schoß, den Puls ihres rasenden Herzens konnte er an ihrem Hals ausmachen. „Hört auf...“ zischte der Kahlkopf, doch die Schatten beugten sich seinem Willen nicht. Weiter drängten sie auf ihn ein, ließen ihn durchleben und durchleiden, was er vor vier Tagen sich an vermeintlicher Schuld neu aufgeladen hatte. Abermals befahl der Krieger ihnen, zu stoppen, doch er wurde weiterhin ignoriert. In völlig übersteigerter Sinneswahrnehmung führten sie ihn erneut zum Beginn dessen. Ein tiefes Kribbeln zog durch seinen gesamten Leib, als er sich in ihren zierlichen Leib drängte, sie mit einem leisen Schrei sich aufbäumen ließ, nur um sie wieder herab zu drücken. Die Hitze, die ihn umschloss, die Zeichen ihrer Bereitwilligkeit dessen, er durchlebte es einmal mehr und gleich, wie sehr er Herr seiner Selbst zu bleiben versuchte, kämpfte er hier gegen ganz andere Kräfte an. „Hör auf!“ schrie er Ninafer an – und die Bilder verebbten. Ein winziger Moment der Erkenntnis hatte genügt, zu begreifen, dass sie die Macht besaß, die Stimmen zum schweigen zu bringen. Erstmals reagierte die Ceteustochter wieder – wenn auch nicht wie erwartet. Sie sagte kein Wort, einzig ihr Blick schweifte ab, zog über seinen Oberkörper bis hin zu seinen Lenden. Die Folgen der Erinnerungen waren unverkennbar, doch Thorin hätte sich darum nicht geschert, hätte sie nicht plötzlich die Hand gehoben. Der Druck seiner Hand um ihren Hals verstärkte sich mit jedem Zentimeter, den sie ihre Finger näher an sein Becken heran brachte. Er wusste, dass sich an der Situation nichts geändert hatte. Er würde ihr nie etwas tun können, solange sie es nicht auch zuließ – und obgleich er ihr die Kehle fast zuschnürte, war ihr das Atmen nicht völlig unmöglich, als ihre Finger ohne jede Hast oder Mühe den Knoten der Schnüre lösten, die für dieses einfache Kleidungsstück einen Gürtel ersetzten. Sie befreite, was eingepfercht lag und der Krieger kam nicht umhin, um Kontrolle bemüht die Augen halb zu schließen, als ihre Finger erschreckend geübt zu Werke gingen. Sie verdient deine Verachtung nicht. - Jeder verdient sie, sie ganz besonders! - Warum? Die Frage blieb selbst dann noch in seinem Kopf haften, als ihr gesteigertes Tempo es ihm schwerer machte, überhaupt noch klare Gedanken zu fassen. Er wusste, woher sie sich damit auskannte, er wusste, warum sie so gut in dem war, was sie zu tun im Begriff war, er wusste... einfach zu viele Dinge über sie. Dennoch schickte sich ein altbekannter Freund an, ihm einen Besuch abzustatten. Diesen Schleier aus Gedanken- und Sorglosigkeit kannte er sonst nur vom tiefsten Rausch, das Ausbleiben aller Erinnerungen, die sonst wie hungrige Wölfe um seinen Geist kreisten. Er ahnte, dass die Schatten ihre Finger im Spiel hatten. Sie hatten ihn 'trocken gelegt', vielleicht versuchten sie ihm nun einen Ersatz anzubieten, er wusste es nicht. Er konnte es unmöglich mit Bestimmtheit sagen – doch ihr Tun ließ das Verlangen erwachen, das er seit jeher verspürt hatte. Was genau ihn an ihr eigentlich anzog, wusste er nicht zu sagen. Ihr üppiger Busen, die zierliche Statur, er redete sich ein, dass es ihr Erscheinungsbild war und dem hätte man nur zu leicht glauben können. Aber Thorin war kein Mann der Rhetorik. Er konnte nicht einmal überzeugend lügen. Zumindest nicht sich selbst gegenüber. Sie starrt schon wieder... Mit einem Ruck umgriff er ihren Hals, gab ihr genau den einen Atemzug, den sie Zeit hatte, während er ihren Kopf heran zog und auf seinen Schoß presste. Ein schweres Schlucken, während er die Augen schloss. Geahnt hatte er in dem Moment, als er an ihrem Bett Platz nahm, dass es kaum eine Chance gab, unverfänglich diesem Zimmer wieder zu entgehen. Vielleicht trug sie weit weniger Schuld an alledem, als er ihr zuschob, doch selbst wenn dem so war, machte sie sich dennoch mit ihrer bloßen Existenz schuldig. Sie und ihre kleinen Helfer hatten ihn eingefangen wie die Spinne mit dem Netz die Fliege fängt. Er hasste es, Spielzeug zu sein. Ruppig riss er sie von sich, drückte sie wieder auf die Laken nieder. Es brauchte nicht lange, ehe er über ihr war. Sie sagte kein einziges Wort, fuhr sich jedoch als Nachhall ihres Treibens mit der Zunge über die Lippen. Ekel und Verlangen – das Gemisch wog gleichauf, er konnte sich nicht entscheiden, was davon ihm stärker zusprach, während er sie ansah. Er wollte ihrem elenden Leben ein Ende setzen... und er wollte sie für sich. Sie drückte den Rücken aufkeuchend durch, als er sich ihrer bemächtigte. Sie schlang die Schenkel um ihn, doch das hielt ihn nicht davon ab, selbst zu bestimmen, in welchem Takt dieses 'Spiel' ablaufen würde. Ihm war nicht einmal klar, welche Tragweite ihre Geste hatte, die Beine um seine Hüfte zu schlingen – weil er von ihr weit weniger verstand als umgekehrt. In rüden Stößen trieb er sie an, packte ihre Brust mit der Linken, ließ die Ceteustochter leise wimmern, als er ihre Knospe leicht biss. Sie scharrte mit den Händen über die Laken, erweckte den Eindruck, nach Hilfe zu suchen, nach Halt. Fast hatte sie ihn erreicht, da packte er ihre Arme, hob mit der Rechten ihre Handgelenke über ihren Kopf, band sie, lieferte sie sich aus. So harsch der Rhythmus war, so zügig steigerte es sich dem Ende zu. Doch dieses Mal ging er nicht. Zumindest... nicht sofort. Thorin stützte sich mit den Ellbogen ab, lag jedoch ab den unteren Rippenpartien auf ihrem Leib auf. Das Gemisch blieb stets das Gleiche, wann immer ihre Haut einander berührte – das redete er sich erfolgreich ein. Hier und jetzt war es schwer, das auch weiterhin zu glauben. Er schnaufte, rang nach Atem und war mit dem Grad an Erschöpfung doch weit besser weggekommen als die Ceteustochter. Sein Blick fiel auf sie nieder. Sie hielt die Augen geschlossen – warum? Sie starrte ihn doch sonst immer an! „Sieh.“ verlangte er und ihre Lider schlugen auf. Thorin war... erstaunt. Er konnte nie aus anderen Menschen lesen. Die Meisten waren einfach zu geschickt darin, sich zu verstellen und zu verstecken. Dieser Tage eine überlebensnotwendige Fähigkeit. Doch Ninafer gab sich keine Mühe, irgendetwas zu verstecken. Sie... hatte Angst? Sie spielt nicht. kamen ihm die Worte der Schatten wieder in den Sinn. Aber das war unmöglich! Es musste unmöglich sein! Einen ausgedehnten Moment verharrten sie so, doch ihr Blick änderte sich nicht. Keine Scharade, kein Schauspiel – oder das Beste, das sie je abgeliefert hatte. Das war schließlich auch gut möglich. Dein Weib ist tot. Eine grundlegend richtige, fundamentale Erkenntnis – für den Frevel, die auszusprechen, Thorin dennoch jeden ohne zu Zögern zerstückelt hätte. Er beugte sich herab, bis sein Gesicht dem Ihren auf wenige Millimeter nahe war. Er konnte ihren Atem spüren, noch immer im Begriff, sich zu beruhigen. Er sah ihre Brust sich heben und senken und widerstand dem Verlangen, sich erneut mit ihr zu beschäftigen. „Du wirst niemals ihren Platz einnehmen!“ fuhr der Krieger sie harsch an. Er verweilte einen Moment länger, ehe er sich aus und von ihr zurück zog. Wie schon zuvor, verschwand er aus dem Zimmer und ließ sie zurück. Doch dieses Mal, als die Tür sich schloss, wagte die Herzögin den Anflug eines unsicheren Lächelns. Er war ihr Beschützer. Er würde nicht zulassen, dass sie den Platz einer Toten einnahm. Die erste Schlacht in einem womöglich langen Krieg war gewonnen. Kapitel 6: Ungewöhnliche Freundschaften --------------------------------------- In der Ferne ragten sie bereits auf, die Tore von Varakas. Es war die inzwischen vierte Station seiner Reise, nachdem Thorin Eichenschild einen Überfall auf die Kerker der Hauptstadt gewagt und notdürftig überlebt hatte. Er wollte nach Samara, der größten Stadt des Landes, die südlich von La Coeur lag. Doch dazu musste er einen Umweg einschlagen, die Hauptstadt großräumig umwandern. Zadiora, dieses kleine Bauernnest, war nur der erste Schritt gewesen. Es folgte ein kurzer, aber erschreckend nervenaufreibender Aufenthalt bei den Goblins und Gnomen von Bruchberg, dann folgten endlich die Zwergensiedlungen. Varakas war unscheinbar, wie es dort vor ihm lag. Es trug nicht die gleichen, gewaltigen, massiv aufragenden Bollwerke und Festungsmauern, die man in Nothrend oder Dwolgareth fand. Nein, Varakas war einfach nur ein grün bewachsener Erdhügel in einer recht ebenmäßigen Landschaft, in den man eine Kuhle getrieben und ein schweres Tor eingesetzt hatte. Zumindest war das der überirdische Teil. Doch auch hier spürte man die Veränderungen. Thorin genoss den Wind, der seinen kahlen Schädel umspielte. Er freute sich auf die Gelegenheit, in einem weichen Bett zu schlafen, einen guten Tropfen seine Kehle herunter gleiten zu lassen – oder besser, sehr viele sehr schlechte, aber dafür ungemein billige Tropfen. Seine Laune war fast so weit, das man sie hätte 'gut' nennen können. Schuld daran war keineswegs etwas, das ihn begleitete, im Gegenteil. Er war so hochgradig erfreut, weil etwas fehlte. Als er an das Tor heran trat, versteinerte die Miene des Axtkriegers wieder. Die Elben aus Nephilim, Jegurath und sogar Esgaroth hatte man abgeschlachtet oder deportiert. Vermutlich wusste nur Phillipe selbst, wohin oder wozu. Doch vorher, bevor die Elben aus allen Gesetzestexten gestrichen worden waren und man sie zu Freiwild erklärte, da waren ihre Siedlungen schon unter die Besatzungsmacht gefallen. Die Truppen seiner Majestät hatten große, massive Steinhäuser mitten in ihren grünen Waldsiedlungen hochgezogen und ohne Skrupel unter den hassenden Blicken der Spitzohren ein paar Bäume gefällt oder abgebrannt. Kasernen, Wachstuben, Kommandaturen. Natürlich nur zum Schutz der Zivilbevölkerung vor Revolten, Aufständen, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Doch als die Elben fielen, da waren genau diese Bastionen im Herzen ihrer Siedlungen es, die ihren Widerstand und ihre Wehrfähigkeit brachen. Als hätte all dies zu einem lang angelegten Plan zur Ausrottung aller Nichtmenschen in Lumiél gedient. Und heutzutage? Heute waren die Elben rar geworden, wahrlich rar. Man fand sie oft noch in Sundergrad – als Eigentum auf den Sklavenmärkten. Phillipes Griff hielt die Kehle der gesamten Welt gepackt. Die Elben waren nicht sicher, egal, wo sie sich verkrochen. Aber die Geschichte wiederholte sich. Thorin war alt genug, zu wissen, dass sie das im Grunde immer tat. Er trat langsam auf das Tor von Varakas zu und sah, dass dort keine Zwerge standen. Es waren keine Zwerge, die die Zölle am Tor kassierten. Keine Zwerge, die die Ein- und Ausreisenden kontrollierten. Keine Zwerge, die Übergriffe ungestraft verübten. Nein, es waren Menschen in den Rüstungen und Waffen der Stadtwache, es waren Soldaten seiner Majestät. In den Zwergenstädten gab es seit einigen Jahren... Kasernen. Wachstuben. Kommandaturen. Natürlich nur zum Schutz der Zivilbevölkerung vor Revolten, Aufständen, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Zwerge aus den Rechtstexten verschwanden. Aber anders, als bei den Elben, so vermutete Thorin, würde das hässlich werden. Blutig, vor allem sehr sehr blutig. Elben ehrten das Leben. Verdammte Baumknutscher, sie heulten sogar herum und dichteten drei Tage lange Trauerlieder, wenn sie mal einen Käfer zertraten. Zwerge aber waren wesentlich pragmatischer. Sie duldeten viel, ertrugen mit eiserner, stoischer Ruhe – aber wenn man sie angriff, würden sie kämpfen. Alle. Vielleicht würden sie verlieren... gewiss sogar. Aber sie würden einen Flächenbrand auslösen, sie würden alle Zwerge der Welt zu den Waffen rufen und sie würden seiner Majestät vor seinem Sieg über das Steinvolk einen Arschtritt verpassen, von dem er mehrere Jahre bräuchte, um sich zu erholen. Nur machte es das auch nicht besser. Schwermütige Gedanken über einen verlorenen Freund plagten den Kahlkopf. Er war fast froh, das Snorri nicht hier war, um zu sehen, was aus Varakas geworden war. Wortlos sortierte sich Thorin in die Schlange ein, trat immer wieder ein paar Schritte vor, wartete, wieder ein paar Schritte – bis auch er an der Reihe war. „Grund des Aufenthaltes?“ fuhr der Wächter ihn gelangweilt mit seiner Standardphrase an. „Auf der Durchreise.“ erwiderte Thorin. Der Wächter musterte ihn kurz. Ein breit gebauter Kerl, muskulös. Die Lederrüstung wirkte mehr als schäbig, hatte diverse Ausbesserungsarbeiten nötig, sah jedoch aus, als hätte sie auch schon ein langes, bewegtes Leben hinter sich. Die Axt auf seinem Rücken dagegen war eindrucksvoll, ein gut gearbeitetes Stück. Ein Söldner vielleicht, die gab es dieser Tage öfter. „Du solltest dir gut überlegen, was du treibst.“ mahnte der Wächter ihn an, ehe er Thorin abermals musterte, „Wenn du gut verdienen willst, melde dich bei Kommandant Kurl. Jemand wie du könnte es in die Stadtwache schaffen.“ legte der Zöllner ihm nahe, ehe er die Hand öffnete und die Frechheit von zwei Silbermünzen Bezahlung entgegen nahm. „Kurl?“ erkundigte sich der Kahlkopf erneut und der Wachmann nickte. „Kommt aus Kruk.“ ließ er den Fremden wissen, ehe er ihn durchschleuste und den Nächsten aufforderte, heran zu treten. Kruk also. Jetzt schafften es die Barbaren aus Übersee nicht nur in Lumiéls diplomatische Kreise, sondern brachten ihre ungehobelten Kraftprotze auch noch in die Offizierslaufbahn dieses Landes. Die Vorstellung, was ein xenophober Barbar mit einer Zwergenfrau anstellen könnte, brachte selbst den erschreckend gleichgültigen Krieger kurz zum Schaudern. Nein, über solche Sachen sollte er nicht nachdenken. Dafür waren die Tage zu gut. Er war sie immerhin endlich los geworden und das musste entsprechend gefeiert werden! Thorin schritt am Tor vorbei und ließ die wartende Schlange und die Gruppe Bettler hinter sich. Unter der Erde öffnete sich Varakas vor ihm. Eine Treppe führte hinab zum großen Saal, getragen von wuchtigen, mächtigen Säulen. Umbauarbeiten der letzten Jahre. Mehrere Gänge zweigten in die verschiedenen Ebenen der Stadt ab und erlaubten raschen Zugang zu allen Schlüsselpunkten der Zwergenmetropole. Mühsam wühlte er in seinen von übermäßigem Alkoholkonsum zerfressenen Erinnerungen herum und versuchte, sich zu erinnern, wo es gute Getränke gab – gut und billig. Wobei 'gut' ohnehin definiert war als 'man braucht wenig, um unter dem Tisch zu landen'. Der 'Zum Sternsaphir' erschien ihm aus seiner Erinnerung heraus zu nobel, zu teuer. Dort würde er zu sehr auffallen. Da eher schon der 'Zum roten Rubin'. Eine ziemlich üble Kaschemme, in der man besser seine Augen auf dem eigenen Tisch beließ. Thorin trat den Weg dorthin an und ignorierte das, was die meisten Besucher an Varakas so faszinierte: Zwergische Baukunst. Massige Säulen, allesamt graviert und mit allerhand Geschichten verziert. Hohe Decken in schweren Tonnengewölben. Ein System von Fackeln, Deckenlöchern und Spiegeln erhellte die Hallen und Korridore. Der Stein war glatt und ebenmäßig gehauen. Nicht so ein wirres Zertrümmern mit Hammer und Meißel, wie es in Goblinstädten der Fall war. Hier wurde noch echtes Handwerk betrieben. Aber Thorin kannte diesen Anblick schon. Der Kahlkopf hatte viele Jahre in vielen Städten dieser Art verbracht und seit Snorris Tod bedeutete ihm all das ohnehin nichts mehr. Zur Hölle mit den kulturellen Sehenswürdigkeiten. Er war hier, um sich zu betrinken. Tatsächlich gab es das von ihm angesteuerte Lokal noch und er hätte es nicht geglaubt, hätte er es beim Öffnen der Tür nicht selbst gesehen: Es war noch weiter herunter gekommen, als es bei seinem letzten Besuch schon der Fall gewesen. Ihm konnte es nur recht sein. Er trat einen Schritt bei Seite und gewährte den zwei sich prügelnden Gestalten, ihren Kampf kullernd und raufend draußen fortzusetzen. Daraufhin trat er ein, schloss die Tür und blickte sich um. Ein kleiner Ring hinten im abgelegenen Teil wurde offenbar für Faustkämpfe und illegale Wetten benutzt. Dergleichen wurde geduldet... solange die Stadtwache ihren Anteil bekam. Das gleiche galt für die Würfelspiele, die einige überaus zwielichtige Gestalten mit ein paar ahnungslosen Idioten abzogen. Thorin hatte gute Laune – aber nicht gut genug, sich auf solchen Unsinn einzulassen. Entsprechend ging er zum Wirt und bestellte zunächst ein Zimmer, ein deftiges Mahl und einen Krug Zwergenschnaps. Natürlich überraschte die Bestellung und der hagere Mensch hinter der Theke fühlte sich berufen, Thorin darüber aufzuklären, das Zwergenschnaps die meisten Menschen tötete. Der Kahlkopf aber winkte ab und dem Wirt war es gleich, ob er den Schnaps bezahlte oder seine Leiche es tat. Er suchte sich einen Platz nahe der Tür, rein aus Gewohnheit. Es war ihm lieb, mögliche Feinde gleich dort anfallen und rasch durch die Pforte entkommen zu können, statt sich noch durch den gesamten Raum wühlen zu müssen. Kurz darauf kam die Bedienung und Thorin stellte gleichermaßen frustriert wie erfreut fest, dass sich in Varakas wirklich viele Dinge geändert hatten. Bei seinem letzten Besuch war der Wirt noch ein Zwerg gewesen – was auch für die Dienstmagd galt. Nun aber lächelte ihm dieses Weib in gespielter Schüchternheit zu. Der Krieger machte keinen Hehl daraus, sie zu mustern. Ansehnliche Hüften, ein strammer Hintern, feste Brust und zierlicher Hals – dazu lange, schwarze Haare und ein gewisses Temperament im Blick. Ein rundum schöner Anblick, wie er feststellte. Als sie alles abgestellt hatte und sich zum gehen wand, rutschte der Krieger ein Stück vor und gab ihr einen Klaps. Allein daran, wie bemüht sie mit dem Rücken zu ihm stand, konnte er erkennen, dass es ihr schwer fiel, das zu ignorieren. Dann bemühte sie sich um einen ersten Schritt und ging weiter. „Gefällt mir.“ nuschelte der Kahlkopf in der Erkenntnis, das ihr Hintern so stramm war, wie er gewirkt hatte. Sein Blick wanderte über den Teller. Lammkeule, Erdäpfel und Gemüse, alles eingerührt in eine ölige, fette Soße. So, wie das verdammt nochmal zu sein hatte! Thorin packte Messer und Gabel getrost ignorierend zu und begann, die Keule nach und nach auseinander zu reißen. Er wischte so viel Soße mit dem Fleisch vom Teller, das sie teilweise auf die Rüstungsteile seiner Oberschenkel tropfte. Verschwendung zwar, aber nicht tragisch – die Portion war überaus üppig. Das Gemüse verschmähte er, selbst dann noch, als von Soße, Erdäpfeln und Keule nichts mehr übrig war außer den Knochen des Fleisches. Gesättigt schob er den Teller von sich und spülte mit dem ersten Schluck aus dem Humpen nach. Ein gutes, solides Tongefäß, wie es von Zwergen stammen konnte. Was wohl dem alten Wirt zugestoßen war? Vielleicht hatte er die falsche Gasse passiert... oder wollte seine monatlichen Abgaben an die Stadtwache nicht zahlen. Wer wusste das schon? Und dann hatte ein Mensch geschickt 'investiert'. Einerlei. Das Getränk brannte sämtliche Geschmacksnerven aus. Es spülte die Soße von seiner Zunge, puhlte Fleischreste zwischen den Zähnen hervor und schickte alles mit einem Brennen wie dem flüssigen Bleis seine Kehle hinab. Sofort entstand ein heiß gärender, wirbelnder Tumult in seinem Magen und der Kahlkopf lehnte sich vergnügt im Stuhl zurück. So hatte das zu sein! Er spürte bereits, wie die Wärme sich rasch ausbreitete und begann, die wenigen, kleinen Ärgernisse des Tages von den Küsten seines Bewusstseins zu spülen. Wie überaus... angenehm. Einen dreiviertel Humpen später erschien die Bedienung erneut. Ihr Kleid, so befand Thorin, stand ihr gut. Es schnürte ihre Hüfte und gab ihr das Aussehen einer ranken, schlanken Frau von gewiss ein paar Jährchen weniger, als sie eigentlich hatte. Außerdem wurde ihr Busen ansehnlich hochgeschoben, was einen feinen Ausblick gab. Während sie den Teller an sich nahm und abräumte, verkniff sich der Krieger, sie zu sich zu ziehen. Dennoch fasste er einen Entschluss. Er beobachtete sie eine Weile, wie sie zwischen den Tischen umher schlich. Immer bemüht, niemanden zu berühren, niemanden zu stören, niemandes Aufmerksamkeit zu erregen. Aber dafür trug sie wirklich die falsche Kleidung. Er stellte schließlich den Krug auf den Tisch, leer, wie es sich gehörte, und erhob sich. Ein angenehmer Schleier hatte sich um seine Sinne gewickelt und seine Erinnerungen sanft erdrosselt. Es gab nur das Hier und Jetzt, die Wärme in seinem Bauch und das Kribbeln in seinen Lenden, wenn er dieses Weib anstarrte. Er wartete, bis sie an seinem Tisch war, um den Krug weg zu schaffen. „Ich denke, ich werde mich nach oben begeben.“ erklärte er scheinbar unnötig. Sie nickte, nahm den Krug und Thorins Pranke schnellte vor, um ihr Handgelenk zu umschließen, „Und ich denke, du willst mit mir kommen.“ Es gab Grenzen. Selbst für einen Thorin Eichenschild. Er hätte sie sich nehmen können, gewiss. Er hätte sie hier auf den Tisch drücken, ihren Rock raffen und sie vor aller Augen nehmen können. Aber abgesehen vom möglichen Ärger mit ein paar der Gäste, die sich eventuell beteiligen wollten – und Thorin teilte nie -, war da noch der Umstand, dass ihm ein Tisch einfach zu unbequem erschien. Nein, er hatte noch nie eine Frau gezwungen. Das gehörte sich nicht – befand selbst der Suffkopf noch. „Nun, ich...“ hob die Bedienung an. Er verfolgte überrascht, wie ihr Blick zur Seite weg glitt. Er folgte ihr und bemerkte, wie der Wirt in Richtung Treppe nickte. Wie fein – offenkundig war der rote Rubin gar keine Taverne mehr. Es war ein halbes Bordell geworden. Er durfte sie einfach so mitnehmen, weil der Wirt sie wie einen Teil des Inventars behandelte. Einen Stuhl durfte man benutzen, um sich darauf zu setzen. Einen Krug durfte man benutzen, um daraus zu trinken. Und die Magd durfte man benutzen, um seine Gelüste zu stillen. Nun, er störte sich nicht daran. Noch immer war es so, das er sie zu nichts zwang. Wenn sie nicht die Stärke besaß, sich gegen ihren Arbeitgeber durchzusetzen oder wenigstens den Versuch startete, aufzubegehren, dann war das ja wohl nicht sein Problem! Ihr Blick fiel wieder herab auf die Dielen und sie nickte folgsam. Thorin ging voran... und vergaß, dass er in der Absicht, zu zahlen, seinen Geldbeutel auf den Tisch neben den Krug gelegt hatte. Als sie die Treppen passierten, hörte er noch, wie der Wirt in den hinteren Räumen sprach: „Helena, raus aus den Federn, du musst heute früher anfangen!“ Er brachte die Magd nach oben in das ihm zugewiesene Zimmer, schloss die Tür und verriegelte sie. „Zieh dich aus. Ich will dich sehen.“ erklärte er schlicht. Er lehnte sich gegen den Türrahmen und sah ihr zu, wie sie die Schnürung öffnete. Wenn ihm nicht gefiel, was er zu sehen bekam, nun, dann hätte er sie immer noch rauswerfen können. Doch ihm war nicht danach, allein zu schlafen, entsprechend würde er ein paar Abstriche hier und da in Kauf nehmen. Tatsächlich erwies sie sich aber durchaus als ansehnlich, auch wenn ihm klar war, dass sie schon in einem etwas... 'besseren Alter' war. Vielleicht Mitte dreißig? Er hatte Alter nie schätzen können. Zumindest sah sie gut aus. Das genügte wirklich völlig, es stellte ihn zufrieden. Langsam löste er sich vom Türrahmen und trat dicht an die Magd heran. Sie hielt den Blick auf den Boden gerichtet, doch als er so nah stand, spähte sie zur Seite weg, um nicht seine Hüfte anzugaffen. „Auf die Knie.“ Eine einfache Anweisung. Vielleicht etwas ruppig, aber Thorin war neugierig auf ihre Reaktion. Sie sah auf, einen Moment flackerte so etwas wie Angst in ihrem Blick, doch schließlich... ließ sie sich nieder sinken. Wie überaus gefügig. Der Kahlkopf spekulierte nicht darüber, was der Wirt getan hatte, um sie derartig gefügig zu machen. Vielleicht bedrohte er ihre Familie, wer wusste das schon? Ihm jedenfalls war es völlig gleich. Seine Hand vergrub sich in ihrem Schopf und gab ein Tempo vor, das nicht annähernd so zögerlich war wie Jenes, das sie zunächst bevorzugt hatte. Sie ließ es tapfer über sich ergehen, das musste er ihr lassen. Schließlich zog er sie wieder auf ihre Füße empor und lotste sie zum Bett. Er entledigte sich der Rüstungsteile, der Hose und des Leinenhemdes, bestieg ebenso die Matratze und bemerkte zufrieden, dass sie angenehm weich war – zumindest weicher als Waldboden. „Bitte...“ brachte sie leise und zittrig hervor. Daran hättest du denken sollen, bevor du seiner Anweisung gefolgt bist. rügte Thorin sie für ihre Folgsamkeit gegenüber dem Wirt. Tatsächlich jedoch war er fast ein wenig beleidigt davon, dass sie vor ihm Angst zu haben schien. Es war ja nicht so, als würde er ihr Schmerzen zufügen! Zumindest keine, die sie nicht auch zu genießen wissen würde. Als er sich in ihren Leib zwängte, verbiss sich die Schwarzhaarige im Kissen. Sie schlug die Finger krallenhaft hinein und eine Weile schien sie durchaus nicht gewillt, sich mehr daran zu beteiligen, als zwingend nötig war. Doch Thorin hatte es schon zuvor im Gespür gehabt. Ihr Temperament machte ihr all das ein Stückchen leichter und ließ sie später zunächst leise keuchen, ehe sie ihre Hemmungen mehr und mehr verlor. Spätestens, als er sie auf alle vier brachte, ihre Mähne mit der Hand packte wie Zügel, da war von ihrem Widerstand nicht mehr viel übrig geblieben. Ein rascher, harter Rhythmus brachte sie überraschend zügig an ihre Grenzen, doch der Kahlkopf störte sich daran nicht. Er war nicht fertig, also war sie es verdammt nochmal auch nicht, so einfach. Tatsächlich erreichte sie einen zweiten Höhepunkt, als er sich schnaufend erstmals zufrieden gab. Er zog die Hand aus ihrem Haar und ließ zu, dass sie sich auf die Matratze fallen ließ. Er selbst setzte sich einen Moment und betrachtete sie. Ein geschmeidiger Rücken, gepflegte Haut und ihr Haar roch angenehm. Sie würde schlafen und sich erholen können – hier, an seiner Seite. Entsprechend legte er sich ebenfalls nieder, wühlte die Decke hervor und legte sie auf Hüfthöhe um die zwei Leiber. Er umschloss ihre zierliche Gestalt auf Bauchhöhe, umgriff mit der prankenhaften Hand ihre Brust und zog sie näher an sich heran. Ihre Haut glühte, ein leichter Schweißfilm lag darauf und er glaubte sogar noch das leichte Zittern als Nachbeben ihrer Ekstase zu spüren. Ein beruhigendes, angenehmes Gefühl. „Schlaf. Ruhe dich aus.“ ließ er sie wissen. Natürlich hätte sie alles Mögliche versuchen können. Ihn zu bestehlen beispielsweise. Aber er hatte nichts, das zu stehlen sich lohnen würde. Sie könnte versuchen, ihn umzubringen, aber das erschien ihm unwahrscheinlich. Damit würde sie dem Geschäft des Wirtes schaden – und so folgsam, wie sie dem gegenüber war, würde sie sich das nicht trauen. Nein, er war völlig sicher. Es brauchte nicht lange und sein Geist glitt befriedigt und erschöpft in tiefen Schlaf ab, der, umschmeichelt von den Nebelschwaden des Alkohols, völlig traumfrei blieb. Ein rundum schöner, angenehmer Tag neigte sich damit dem Ende zu. Der Morgen begann so, wie es sich für den vorigen Tag gehörte: Als reinster Racheakt. Oh gewiss, die Magd hatte ihn nicht bestohlen und nicht versucht, ihm in der Nacht die Kehle aufzuschlitzen. Nein, sie war einfach nur... weg. Das bemerkte er schon in den ersten Augenblicken, in denen das Bewusstsein in seinen Körper zurückkehrte. An der Lage hatte sich nicht viel geändert: Er ruhte seitlich auf dem Bett und hatte einen zierlichen Leib im Arm. Aber wenn der Busen dieser Magd nicht über Nacht ein paar Nummern angewachsen war, dann hatte er eine dumpfe Ahnung, wer sich da gerade so vertrauensselig an ihn drückte. Oh bitte nicht... Er blinzelte vorsichtig. Da Varakas wie jede gute Zwergensiedlung unter der Erde lag, gab es kein Tageslicht, das ihn hätte blenden können. Er sah die große Kerze, die dem Raum Licht spendete, auf die Hälfte abgebrannt flackern. Der Leib in seinen Armen aber... war ganz gewiss nicht die Magd. Nein, sie war es. Das darf doch nicht wahr sein!... Es ist einfach zu früh für so einen Mist. Er zog die Hand von ihrer Brust und ignorierte den Wunsch, sie zu waschen. Stattdessen hob er das Knie empor und drückte gegen den deutlich kleineren, schmaleren Körper. Vorsichtig schob er, bis ein dumpfes Poltern ertönte, als sie kurzerhand einfach aus dem Bett fiel. Thorin dagegen gab sich vorläufig damit zufrieden, drehte ihr den Rücken zu und versuchte, wieder Schlaf zu finden. Das durfte doch einfach nicht wahr sein...! Wie zum Teufel hatte sie es geschafft, ihn zu finden? Wie hatte sie sich von den Seilen befreien können? Und beim Gestank seiner Majestät, wie war sie in ein verriegeltes Zimmer gelangt? Sie raus zu werfen, hätte keinen Sinn. Das war ihm völlig klar. Sie aus dem Bett zu werfen, war zumindest eine kleine Genugtuung. Doch so recht fand er nicht mehr in den erholsamen, traumlosen Schlaf zurück. Er konnte sich nicht einreden, dass es sich nur um einen schlechten Traum handelte. Spätestens, als er spürte, wie jemand sich ihm näherte. Er versuchte es zu ignorieren, wahrlich, aber es gab eine Verschiebung auf dem Bett und er wurde sich selbst mit geschlossenen Augen darüber klar, dass sie vor ihm saß. Vorsichtig öffnete er die Lider und sah Ninafer, wie sie im Schneidersitz vor ihm saß. Zum Glück hatte sie wenigstens wieder etwas an! Sie kratzte sich verlegen an der Schläfe, offenbar war sie sich nicht ganz sicher darüber, warum sie aus dem Bett gefallen war. Das dieses Weib nicht ganz dicht war, hatte Thorin schon bei ihrem ersten Treffen bemerkt. Doch er war sich nie darüber klar gewesen, was für Folgen es haben würde, ihr vorzugaukeln, sie wären Freunde... dann hätte er lieber ausgeharrt, an den Baum gefesselt, und gewartet, bis einer von Phillipes Bellatoren an ihm ausprobierte, ob Köpfen ihn denn würde töten können. Seither folgte sie ihm wie ein Schatten. Egal, was er unternahm, um sie abzuhängen oder los zu werden – sie kam immer zurück. Sie fand ihn. Immer. Wusste Ceteus, wie sie das machte! „Wo ist die Magd?“ verlangte er zu wissen. Als sie bemerkte, das er wach war, trat ein strahlendes Lächeln auf ihre Lippen, das ihn die Seinen verziehen ließ. „Ich habe ein paar Münzen gefunden! Die habe ich ihr gegeben und sie heim geschickt...“ erklärte Ninafer völlig ernst. In Varakas aber fand man nicht einfach so mal eben ein paar Münzen! Thorin dämmerte allmählich, dass ihn die Erwähnung von Geld an etwas erinnern sollte und mit Schrecken begriff er, welche – oder besser wessen – Münzen sie da 'gefunden' hatte. Ein kurzer, hastiger Blick über die Schulter versicherte ihm, dass sein Geldbeutel nicht zwischen den Kleidern und Rüstungsteilen lag. „Verdammt.“ nuschelte er noch und ließ sich kraftlos wieder sinken. Er hatte mit Ninafer allerlei Dinge angestellt, um sie los zu werden. Gute Güte, er war sogar so weit gesunken, mit ihr eine Runde 'Verstecken' zu spielen. Sie hatte sich verstecken sollen und er war 'suchend' derweil nach Varakas aufgebrochen. Unterwegs hatte sie ihn aber wiedergefunden. Es war schier unmöglich, dieses Weib los zu werden. Außer natürlich, er würde sie töten. Auch das hatte er einmal versucht, doch was daraufhin geschehen war, war... kurios. Er begriff es noch immer nicht ganz. Schließlich setzte er sich auf und angelte das Leinenhemd herbei. Mochte sein, dass sie vor wenigen Augenblicken noch an ihm gelegen und die Beschaffenheit seines Körpers gespürt hatte, dennoch befand Thorin, war sie die letzte Person auf dieser Welt, der er das freiwillig zugestehen wollte. Lieber würde er splitternackt vor seiner Majestät stolzieren! „Ninafer... warum folgst du mir eigentlich?“ „Freunde halten zusammen!“ erklärte sie fest überzeugt und selig lächelnd. Scheinbar war es ihr schon ein Hochgefühl wert, sich und ihn als Freunde zu bezeichnen. Ein Umstand, der Thorin einen kalten Schauer bescherte. Er wollte mit dieser Irren nichts zu tun haben. Nicht einmal unbedingt, weil sie irre war. Sondern, weil sie so eine erbärmliche, schwache Hure war. Weil das halbe Königreiche eine Griffel an ihr hatte und sie alles erduldet hatte. Sie hatte es nicht gestoppt, sich nicht gewehrt... oder nicht genug. Noch immer glaubte er, den Geruch der Kerkerwachen und seiner Majestät an ihr kleben zu spüren. Einfach widerwärtig. Das Gefühl des Ekels wurde sogar so groß, dass er dem Bett entstieg und sich völlig einkleidete, Hose, Rüstung, Axt. „Wenn ich dein Freund wäre, hätte ich dich dann bei unserem Spiel stehen lassen?“ „Du hast nur in der falschen Gegend gesucht!“ bekräftigte Ninafer ihren Glauben. „Hätte ich dich dann in einer gottverlassenen Gegend an einen Baum gebunden?“ „Oh, das war lustig! Eine wirkliche Herausforderung!“ erklärte sie und begann schon wieder auf ihren Fingernägeln herum zu kauen. Er hasste diese Geste. Bei ihrem ersten Treffen hatte sie das schon getan und er wollte wirklich nicht wissen, was zu diesem Zeitpunkt alles noch daran... klebte. „Hätte ich-“ hob er erneut an, beendete den Satz aber nicht. Stattdessen strich er sich müde über das Gesicht und betrachtete Ninafer einen Moment. Sie schien gespannt auf seine Worte, aber ihr Blick sagte ihm auch, dass es nichts gab, womit er sie überzeugen könnte. Entsprechend wandte er sich wortlos um und riss die Tür auf. Er wusste, das sie ihm folgte. Wie ein Hund. Das tat sie immer, wenn sie ihn schon einmal wiedergefunden hatte. Leider. Sehr zu Thorins Verdruss genügte es auch nicht, durch die Mengen der Straßen zu eilen. Das Gedränge war zu dicht, um zu rennen, aber immerhin zügig zwischen den einzelnen Händlern, Reisenden und Dieben hindurch schlängeln und drängen, das konnte er. Dennoch war Ninafer immer in Sichtreichweite. Er bemühte sich, sie auf Marktplätzen abzuhängen, er bestieg die Bühne einer kleinen Sklavenauktion und sprang in dem Moment herab, als einer der Sklavenhändler ein nächstes Objekt auf die Bühne bitten wollte – und Ninafer in dem Bemühen, ihm zu folgen, die Stufen empor stieg. Das hatte für einige Verwirrungen gesorgt, aber dem Sklavenhändler war es im Grunde gleich. Thorin hatte diese Aktion mehrere Minuten Ruhe verschafft, die er nutzen wollte, um aus Varakas zu entkommen. In der Annahme, dass sie genau das von ihm erwartete, wollte er aber nicht sofort zum Ausgang steuern. Sie würde ihn unterwegs abfangen. Nein, er würde zunächst tiefer in die Stadt laufen und dann über Umwege und Gassen nach oben ziehen. Dummerweise war Ninafer nicht annähernd in vernünftig nachvollziehbare Denkmuster zu pressen. Sie rechnete scheinbar mit gar nichts oder aber mit Dingen, mit denen kein geistig gesunder Mensch rechnen würde. Was auch immer in ihrem Kopf vor sich ging – sie fand ihn wieder. Wie immer. Ein paar Minuten hatte er sich erkaufen können, nicht mehr. Schließlich spürte er, wie seine Laune sich zunehmend verfinsterte. Er wollte mit ihr nichts zu tun haben, konnte sie das nur einfach nicht begreifen? Doch ihm fehlte es scheinbar an den nötigen Mitteln, ihr das klar zu machen. Er hatte sie bei ihrer ersten Begegnung fast erdrosselt und ihre Reaktion bestand darin, ihm dafür verbunden und dankbar zu sein, weil sie sich den Tod gewünscht hatte. Sie hatte zehn Jahre in den Kerkern und unter der 'Obhut' seiner Majestät zugebracht, mochten die Schatten wissen, wie viel sie erlitten hatte. Schmerz konnte sie jedenfalls nicht bezwingen oder zur Einsicht bringen, das war ihm klar. Thorin war ein geradliniger Mensch, er war kein sonderlich kreativer Kopf und er konnte all seine Probleme bisher mit einem Humpen, der Faust oder seiner Axt lösen. Ninafer dagegen war eine völlig andere Liga. Sie stellte ihn vor eine echte Herausforderung und der Kahlkopf gehörte nicht zu den Menschen – oder zumindest nicht mehr -, die Herausforderungen zu schätzen wussten oder gar suchten. Nein, er wollte einfach nur seine Ruhe haben und einen Ort, an dem er trinken konnte, bis von seinem Verstand nicht mehr als eine verwitterte, zerklüftete Ruine übrig wäre. Ein Blick über die Schulter versicherte ihm, dass sie an seinen Fersen klebte. Und sie strahlte schon wieder so abartig... als würde sie das alles für ein verdammtes Spiel halten! Die Wut übermannte Thorin und er drehte um, steuerte direkt auf sie zu. Ein Mann seiner Statur, der finstersten Blickes auf einen zugeschritten kam, hätte so manchen dazu gebracht, zu fliehen, ängstlich drein zu schauen, irgendwie zu reagieren. Aber nicht Ninafer. Natürlich nicht. Sie stand da, blickte ihn unumwunden lächelnd an und wartete ab, was jetzt kommen würde. Noch so ein Punkt, der ihn aufregte – er konnte sie nicht einmal anständig einschüchtern! Er besaß schließlich nichts, das sie noch hätte fürchten müssen. Was ihm fehlte, war eine gute Waffe gegen sie. Für Menschen gab es Äxte, für Trolle gab es Feuer, für Lykantrophe gab es Silber, für Ninafers... tja, das war die zentrale Frage. „Wir sind keine Freunde!“ fuhr er sie unwirsch an, doch Ninafer widersprach. Natürlich tat sie das, sie war ja fest überzeugt, dass es sich anders verhalten würde. In Folge ihrer Reaktion wurde der Kahlkopf nur umso wütender und stieß dieses störrische Weib von sich. Er hatte in Zorn seine Körperkraft schon immer schlecht dosieren können, sodass das vermeintliche Antippen etwas stärker ausfiel als gedacht. Sie taumelte zurück, einige Schritte, suchte nach Gleichgewicht – und fand es in den Armen eines anderen. „Huch, danke!“ erklärte sie geradezu verlegen lächelnd. Offenbar begriff sie nicht einmal, in welcher Gefahr sie schwebte. Stattdessen richtete sie sich aus den Armen des überaus unerfreut drein blickenden Wachmannes auf und zupfte an ihren Ärmeln herum, bis wieder alles dort saß, wo es hingehörte. Dabei schien sie nicht einmal zu bemerken, wie die vier Männer, die ihn begleiteten, sie langsam einkreisten. Erst, als sie fertig war, versperrten die Rüstungen ihre Sicht auf Thorin. „Entschuldigung, ich, uhm, müsste mal da durch?“ bat sie freundlich, doch aus den Kehlen der Wachen drang nur Gelächter. „Soso, musst du das. Nein, glaub uns, du musst erstmal was anderes. Mitkommen, beispielsweise.“ griente der Wächter und erhielt verschwörerisches Grinsen auch von seinen Kameraden. „Aber ich wollte doch-“ hob die einstige Herzögin an, doch da packte man sie bereits und zog sie davon. Einer der Wachmänner blickte sich um, doch die vorbei strömende Menge versuchte, sich nicht darum zu scheren. Es gab nichts Bemerkenswertes zu sehen, außer vielleicht diesen Kahlkopf, den der Wachmann als den Neuankömmling vom Vortag erkannte. Offenbar zog der gerade in Richtung der Marktplätze davon. Sie brachten Ninafer auf kürzestem Wege zur Wache. Wobei 'kurz' sich über einen Zeitraum von einer Stunde erstreckte und bedeutete, dass sie die großen Straßen mieden, um nicht mehr Zeugen als nötig zu haben. Varakas war eine große Stadt. In großen Städten verschwanden ständig Menschen... das war nicht einmal ungewöhnlich. Zumal König Phillipe der Dritte den Wachmannschaften viel Spielraum gab. Fast so, als würde es ihn nicht scheren, das ein jeder von ihnen sich aufführte, als würden sie sich für Götter halten, denen alles gehörte und die sich überall bedienen konnten. Nun – bedienen konnten sie sich ja tatsächlich. Varakas hatte viele stillgelegte Stollen, in denen nichts und niemand mehr unterwegs war. Außer eben die gelegentlichen Wächter, die den Müll entsorgten. Weiber, mit denen sie fertig waren. Beispielsweise. Oder Zwerge, die die Gelder nicht zahlten. Oder ihnen im Weg waren. Oder einfach zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Müll eben. Man schleppte Ninafer über einen Hintereingang in die Wache und brachte sie in einen größeren Raum, der offenbar als Aufenthaltssaal für die anwesende, vollzählige Wachmannschaft galt. Gewiss hätten bei dieser Anzahl an Stühlen und Tischen um die dreißig Leute hier ihren Platz gefunden. Auf Schränken an den Wänden standen allerlei Flaschen und Kartensets lagen umher. Ein Ort der Entspannung... wie passend, das dieses unvorsichtige Weib ihren Teil dazu beitragen würde! Man schubste sie in den Raum hinein und die Wächter begannen, zumindest ein paar ihrer Rüstungsteile abzulegen. Der dienst in Varakas war nicht sehr schwierig, aber man verspannte sich dabei immer so leicht...! „Los, auf die Knie und brav den Mund auf!“ gröhlte einer der Männer und erhielt zustimmendes Gelächter von seinen Kumpanen. Ninafer jedoch blickte lediglich irritiert um sich und schien nicht zu begreifen, was man von ihr erwartete – also half einer der Wächter nach. Ein Tritt in ihre Kniekehlen ließ sie einbrechen, er packte ihren Schopf, zwang ihn in den Nacken und riss ihren Kiefer auf. „Geht doch!“ herrschte er sie an. Sie versuchte sich zu wehren, als sie zu begreifen begann. Das waren nicht die royalen Kerker, nicht ihre Wachen, hier lief etwas nicht richtig...! Doch gegen die Körperkraft ihrer Peiniger gab es kein Ankommen. Einer der Wächter lehnte sich zufrieden gegen die Wand, als man Ninafer an ihn heran zwang. Ein unwilliges Gurgeln ertönte und der Wächter lachte auf. „Dummes Stück, erstick' mir nur nicht!“ forderte er und ließ sich vom Gejohle seiner Kameraden bestärken. Kurz darauf brach die Tür in einem Regen von Holzsplittern aus allen Fugen... Wenn Ninafer so ungeschickt war und unbedingt in eine Gruppe patrouillierender Wächter stolpern musste, dann war das ja wohl verdammt nochmal nicht sein Problem! Du hast sie geschubst. flötete eine ihm unbekannte Stimme in seinem Hinterkopf. Doch der Krieger ignorierte sie schlicht. Nein, sie musste ihm ja unbedingt nachrennen, sie war also völlig selbst schuld an dem, was immer ihr nun widerfahren mochte. So! Er wandte sich brüsk ab, als er ihren geradezu hilfesuchenden Blick bemerkte und fand raschen Schrittes seinen Weg durch die Gassen der Stadt. Er besichtigte den Markt, sah mit leeren Augen über die Auslagen der Stände, fuhr darüber und erkannte und bemerkte doch nicht ein einziges Stück davon. Sie war weg. Er war frei. Er könnte zum Ausgang gehen, fliehen, Varakas verlassen. In einer oder zwei Wochen könnte er in Samara sein. Möglicherweise war Ninafer dann längst tot. Doch so lohnenswert das auch hätte klingen müssen... irgendetwas hielt ihn zurück. Er war sich nicht sicher, was es war, versuchte aber, diesen Widerstand irgendwie zu bezwingen. Sein Weg führte ihn schließlich zurück zum roten Rubin und schon als er die Tür erspähte, sah er die schwarzhaarige Magd vom Vorabend. Oh dieses miese kleine Stück würde er sich vornehmen, sie hatte Ninafer in sein Zimmer gelassen, sein Geld genommen und sich davon gemacht...! Seine Schritte beschleunigten, sie bemerkte ihn, sah sich nach Hilfe um, nach Fluchtwegen... und verharrte. Ihr war rasch klar geworden, dass sie einer Naturgewalt wie ihm nicht entkam. „Mein Geld!“ verlangte er und nahm den dargebotenen Beutel entgegen. Dem Gewicht nach fehlte keine Münze. „Und eine gute Erklärung!“ forderte er ein. „Sie sagte, sie kennt euch. Sie sagte, der Wirt wäre nicht erfreut, wenn sie vor eurer Tür ausharren müsste. Sie... sie sagte, es sei in Ordnung, wenn ich das Geld nehmen würde.“ stammelte die Bedienung unsicher und mit zittriger Stimme. „Und ihr habt ihr diesen Unfug wirklich geglaubt, nich wahr?“ fauchte Thorin sie erzürnt an. Sie wollte sich offenbar abwenden, da schlug seine Faust an die Wand und blockierte ihren Weg. Erschrocken riss sie die Augen auf und starrte zu ihm empor. Angst war alles, was er sah. Ein Ausdruck, den er zu schätzen gelernt hatte, einfach, weil er ihm am häufigsten begegnete. „Du wirst-“ hob er an. Du musst ihr helfen! „Einen Dreck muss ich!“ schrie er der Bedienung regelrecht entgegen. Doch die verstand nicht, sah ihn verstört an und erkundige sich, ob es ihm gut ginge. Erst da bemerkte Thorin, dass sie ihn nicht angesprochen hatte. Sie ist in Gefahr! „Verschwinde!“ fauchte er abermals, doch sehr zu seinem Verdruss, fühlte sich auch diesmal die Magd angesprochen, die unter seinem Arm hindurch schlüpfte und davon hastete. Da ging ein Schäferstündchen für die Mittagsstunden dahin – wie ärgerlich. Umso aufgebrachter betrat er die Schänke und wählte eben, alternativ zum Vergnügen der Fleischeslust, den zweiten Weg, um unliebsame Stimmen tot zu bekommen. Er bestellte zwei Krüge Zwergenschnaps und eine wesentlich jüngere, blonde Bedienung mit üppigem Busen drapierte sie vor ihm. Er hätte sie auf sein Zimmer schleppen können, doch er hatte sich für den Alkohol entschieden und der Kahlkopf hasste es, Entscheidungen rückgängig machen zu müssen. Unverwandt hob er den Krug an die Lippen und zog in einem Schluck die Hälfte seine Kehle herab – unter den geradezu entsetzten Blicken der Magd und des Wirtes. „Glotzt nicht so!“ maulte er sie an und alle gingen wieder geschäftig ihren Arbeiten nach, während Thorin mit einem zweiten Hieb den ersten Krug leerte. Sein Körper rebellierte. Das war viel zu viel auf einen Schlag und dennoch hörte er nicht auf. Mit dem dritten Zug leerte er den zweiten Krug zur Hälfte, sein Magen streikte, wollte sich verweigern. Thorins Rekord lag bei vier Krügen Zwergenschnaps. Normale Menschen waren nach einem Krug tot. Er hatte diesen Rekord vor langer Zeit aufgestellt und teuer bezahlt. Monatelang hatte er sich kaum aus eigener Kraft bewegen können. Er hatte jedwede Form von Nahrung ausgespien, weil die Welt wochenlang nicht aufhörte, sich zu drehen. Er hatte über Tage hinweg nicht einmal einfaches Wasser trinken können. Und er hatte Blut gepinkelt – einer der etwas peinlicheren Nebeneffekte, die er ungern anführte, wenn er prahlerisch seinen Rekord vorhielt. Doch je mehr er trank, umso lauter und zahlreicher wurden die Stimmen. Sie hatten ihn am Anfang um etwas gebeten. Doch jetzt zögerten sie nicht mehr. Sie drängten. Sie beengten. Sie stimmten Choräle an. Sie versuchten, ihn zu zwingen... Thorin weigerte sich. Er wollte nicht nachlaufen. Er wollte Ninafer nicht helfen. Er wollte nicht einmal aufstehen. Er wollte schon gar nicht begreifen, was diese Stimmen eigentlich waren, woher sie kamen, was sie darstellten. Er versuchte sich einzureden, dass es Halluzinationen waren. Die Folgen seines ständigen, übermäßigen Alkoholkonsums. Aber das war nicht so einfach – das begriff er spätestens, als er nach zweieinhalb Krügen Zwergenschnaps die Augen kurz schloss... und sich wenige Momente später, da er die Lider wieder öffnete, auf den Straßen und in Bewegung vorfand. Er wusste nicht, wo er war... oder warum er hier war. Er erkannte aber die Tür, die zur Wache führte. Du musst ihr helfen! schrien ihm tausende Stimmen entgegen. Die Kopfschmerzen waren unerträglich, er presste sich unter von Schmerz verzerrter Miene die Hände gegen die Schläfen, doch nichts half. Der Schmerz kam von innen, die Stimmen kamen von innen, er würde sich den Schädel aufschlagen müssen, um heran zu kommen... und einen Moment spielte er tatsächlich durch den Alkohol beflügelt mit diesem Gedanken. Erneut schrien sie ihn an und Thorin setzte einen Schritt voran, nur um vor den Stimmen zu fliehen. Es wurde erträglicher, aber kaum blieb erstehen, schwoll ihr Chor wieder an. Helfen sollte er, helfen, vorwärts, vorwärts, durch diese Tür, weiter, diesen Wächter niederschlagen, vorwärts, diese Tür, weiter! Sie trieben ihn an. Sie zwangen ihn, wie der Hirte das Vieh in die Ställe treibt. Sobald er zögerte, wurden die Schmerzen ihres Geschreis geradezu unerträglich, selbst für jemanden wie ihn. Der Alkohol, in dem er Hoffnung gesehen hatte, machte alles nur schlimmer. Fahrige Bewegungen, schwere Reflexe, träge Hiebe, deren Wucht aber von keinerlei Hemmungen oder Schmerzempfinden gebremst wurde. Thorin brach dem Wachmann in der Vorstube die Nase, kugelte seine Arme aus und zertrat ihm die Innereien, als er mehrfach auf seinem Bauch herum stampfte wie eine halbe Elefantenherde. Kaum gewonnen, trieben ihn die Stimmen weiter. Wenn er ihnen entkommen wollte, wenn er die Schmerzen verhindern wollte, musste er in Bewegung bleiben – soviel begriff er selbst betrunken. Er zog die Axt, besah sich die Tür nicht einmal genauer. Wozu auch? Sie wollten, dass er dort hindurch ging, also würde er dort hindurch gehen! Er hob die Axt zu einem wuchtigen Schlag, aber Thorin begriff, das etwas nicht stimmte. Bei aller Kraft, die in seinen Armen steckte – zu einem solchen Hieb war er nicht fähig! Niemals! Die Tür wurde regelrecht aus den Angeln gefetzt, Splitter regneten in den Raum hinein, eines der Trümmerteile traf einen Wächter am Kopf und warf ihn ohnmächtig zu Boden, da preschte die Gestalt des Kriegers schon in vollem Lauf in den Raum hinein. Von dem Splitterregen gedeckt, erkannten die Wächter zu spät, was da nahte. Der erste Hieb traf perfekt die schmale Linie zwischen dem unteren Rand des Helmes und dem Stützkragen der Rüstung – und trennte Kopf von Torso. Ersterer segelte noch durch die Luft, da kam Letzterer schon scheppernd auf. Thorin aber riss die Waffe herum und zerteilte einem Wächter, der in Vorfreude auf Ninafer die Rüstung abgelegt hatte, das gesamte Rückgrat. Er schlug die Klinge in einen Nacken und zog sie mit kraftvollem Ruck bis zum Steiß hindurch. Dann näherte sich der Krieger dem Verbliebenen. Sein Weg kreuzte den Bewusstlosen am Boden und ein aufstampfender Schritt zerquetschte alles, was ehemals noch als Hals erkennbar gewesen wäre. Er würde aus seiner Ohnmacht niemals erwachen. Der vierte Wächter allerdings stand noch immer an der Wand. Verdammte Hure... fuhr es Thorin durch den Kopf, als er Ninafer vor ihm auf den Knien sah. Es waren seine eigenen Gedanken, dessen war er sich sicher. Das war die Stimme, die er kannte! Er wollte gerade vermuten, ob er vielleicht wieder frei wäre, als sich die quälenden Choräle wieder zu Wort meldeten. Du musst ihr helfen! Er trat direkt hinter die einstige Herzögin, packte mit seiner prankenhaften Hand das Gesicht des vor Angst erstarrten Wächters und riss seinen Kopf vorwärts, nur um ihn Sekunden später mit voller Wucht gegen die Wand zu schmettern. Wieder und wieder. Er achtete nicht darauf, wie Blut aus Mund und Nase sickerte, wie die Augen sich ungesund verdrehten, er ignorierte das schmatzende Geräusch, wenn der völlig zertrümmerte Schädel auf die Wand traf und kleine Fetzen von Knochen, Haut, Haar, Blut und Hirnmasse hinterließen. Er sah nur, wie sein gesamter Körper zuckte, wie Ninafer zurück wich und die Hinterlassenschaft des Toten halb im Gesicht verteilt trug. Die Wut, die ihn dabei packte, war selbst für Thorin von Größenordnungen, die er noch nicht gekannt hatte. Für dieses Weib bin ich hier...! ereiferte er sich, schmetterte die breiige Masse des Kopfes noch drei Mal gegen die Wand, ehe er den leblosen Körper zur Seite fort warf. Er riss Ninafer an der Schulter zurück, das sie auf den Boden stürzte. Umgeben von Leichen und sich vergrößernden Blutlachen, sah sie zu ihm auf und er konnte nicht einmal abschätzen, was ihr Blick ihm sagen sollte. Bedauern? Dank? Scham? Es war ihm einerlei! Er wollte dieses Leben beenden. Jetzt, hier, sofort. Er hob die Axt, um Ninafers elende, wertlose Existenz endlich zu beenden. Sein Blick schweifte in Sekundenbruchteilen über ihr Gesicht, über den Ausdruck ihrer Augen, über die Flecken, die der Wachmann hinterlassen hatte. Sein Ekel kannte keine Grenzen mehr, doch als er die Axt noch ein Stück weiter hob, brandeten sie mit voller Kraft auf. Da waren sie wieder! Als er getobt hatte wie ein Orkan, da hatten sie ihn nicht belästigt, ihn in Ruhe gelassen, sie hatten ihn sein Werk vollbringen lassen. Und nun waren sie zurück. Die verdammten Stimmen, die ihn noch immer anschrien. Er müsse ihr helfen. Ausgerechnet er! Wenn dem schon so sein musste, bei Ceteus runzligem Arsch, warum dann ausgerechnet sie? Warum nicht die kleine Hure aus der Taverne? Warum nicht das blonde Flittchen? Gab es nicht genug andere Weiber, denen er irgendwie irgendwann würde helfen können? Warum musste es ausgerechnet die Dirne des Königs sein, das Spielzeug von halb La Coeur? Er wollte zuschlagen. Er wollte es so sehr, doch die Stimmen zwangen ihn in die Knie. Sein Gesicht verzerrt von den Schmerzen, die andere Menschen längst umgebracht hätten, sank er neben ihr nieder und verlor jegliches Gefühl für seinen Leib. Die Axt entglitt seiner Hand, die sich taub und träge gegen seine Schläfen pressten. Es war Strafe, das begriff er irgendwie. Weil er die, der er helfen sollte, töten wollte. Er wollte es noch immer – deshalb bestraften sie ihn noch immer. Und mit einem schlag verebbte alles. Die Stimmen, die Choräle, alles war weg. Thorin blinzelte die Sterne vor seinen Augen weg. Was war geschehen? Nun, er hatte resigniert. Er hatte sich gedacht... Wenn ich es versuche, bin ich tot. Ich kann ihr nichts tun. Und in dem Moment war der Spuk vorbei gewesen. Thorin war viel zu betrunken, um zu begreifen, was das für ihn bedeutete – er war einfach nur erleichtert, das die Schmerzen verschwunden waren. Er nahm sich fest vor, irgendwann einmal genauer darüber nachzudenken, was diese Stimmen eigentlich waren... irgendwann, wenn er nicht völlig betrunken war. Irgendwann, wenn sein Schädel sich nicht wie verkatert anfühlte und er im Blut von ein paar Wächtern kniete. Blut von Wächtern! Gute Güte, ich muss aus Varakas raus! erkannte er mit plötzlichem Schrecken. Du musst ihr helfen. erklang die Stimme. Doch sie war wieder wie am Anfang: Leise. Allein. Bittend. Und Thorin wusste zumindest, dass sie das bleiben würde, bis er die Stadt verlassen hatte. Dann würden die Stimmen kommen und ihn zwingen, zurück zu gehen. Noch immer verweigerte sein Schädel, zu erkennen, was das bedeutete – doch es genügte für den Anfang, damit er ihre Hand packte und sie ruppig auf die Füße zog. „Mach dich sauber. Wir müssen gehen.“ fuhr er sie ruppig an. Kaum aber drang jenes 'wir' über seine Lippen, zog ein Lächeln in Ninafers Gesicht auf und entlockte Thorins Kehle ein mehr als enerviertes Seufzen. Wenn es je eine Chance gegeben hatte, sie rein argumentativ los zu werden, dann hatte er sie spätestens jetzt wohl völlig verspielt. Jaja... jetzt waren sie wieder beste Freunde... Kapitel 7: Tanz mit Teufeln --------------------------- Es gibt ein Sprichwort in Lumiél. Es besagt, dass die Uhren in Sundergrad schneller ticken als im Rest des Königreiches. Wenn auch nur ein Fünkchen Wahrheit darin läge, so könnte man sich gewiss sein, dass diese Uhren in Samara gebaut worden waren... Er hat sich nicht irgendwie heraus geputzt. Gut gekleidet ist er immer, feinste Seide von den teuersten Märkten der Stadt. Er trägt sie mit Vergnügen, mit Genuss. Ein wenig ist es wie eine zweite Haut – hat er sie an, dann fühlt er sich sicherer. Es ist bequem. Wer immer den Spruch schmiedete, man müsse für Schönheit leiden und Eleganz habe ihren Preis, der hat ganz offensichtlich noch nie einen guten Schneider getroffen. Natürlich war der Schnitt einmalig. Solche Muster gebraucht in der Welt sonst kaum jemand und in der Regel wissen die Magier, die einstmals den Zirkeln angehörten, durchaus ihre Gewänder zu hüten und zu pflegen, zu flicken – falls nötig. Aber dieser Tage waren ein paar Dinge anders bestellt. Die Zirkel waren zerbrochen und er... hatte noch nie Interesse am Nähen aufgebracht. Gute Güte, dafür gab es geschickte Kinder- und Frauenhände! Er hielt sich nicht zurück. Aufsehen folgte ihm auf den Straßen. Das verworren geschlungene Gewand war nicht dazu gedacht, unauffällig zu sein – das musste er hier auch nicht. 'Dezente' Töne von sattem Wiesengrün und ein paar Striche und einfache, fast ornamenthafte Muster in Violett. Eine skurrile Mischung, aber wenn man ein Auge für Mode hatte, durchaus kleidsam – zumal es seine gute Statur betonte. Nicht muskulös, aber durchaus trainiert. Sein Weg führte ihn in das Noblenviertel der Stadt. Große Anwesen, viel Land mit Grün und teilweise sogar ein paar Wäldchen. Einige Beete und Gärten – natürlich ein einer kleinen Horde an Bediensteten und Tagelöhnern bewirtet. Sklaverei gab es in Lumiél nicht... die Abhängigkeit von Lohn und Nahrung dagegen hatte bei so manchem, der hier wohnte, ein durchaus legitim vergleichbares Verhältnis zwischen Arbeitern und Besitzern geschaffen. Aber auch das störte ihn nicht. Seine Laune war einfach zu gut. Er spitzte die Lippen und begann ein kleines Liedchen zu trällern, während er Hausfriedensbruch beging, über den Zaun hinweg setzte und den kleinen Kies- und Schotterweg zum eigentlichen Anwesen hinauf lief. Ganz ohne Eile, verstand sich. Solche wunderbaren Kleider, die schwitzte man nicht durch einen unüberlegten Dauerlauf voll, das wäre ja entwürdigend. Zumal es keine Veranlassung gab, zu rennen. Die Herren dieses Hauses würden gewiss nicht Selbiges packen und mitsamt des ansehnlichen Gebäudes sich einfach in Luft auflösen. Überhaupt...! Er hielt einen Moment inne, fasste die Hände hinter dem Rücken und blieb stehen. Sein Blick glitt empor. Der kleine Springbrunnen vor dem Anwesen war ja schon recht imposant. Zwergentechnik pumpte irgendwie Wasser von irgendwo – wussten die Götter, wie das funktionierte! Es war schick anzusehen und neu. Solcherlei Innovationen fand man selbst im verschwenderischen Nobelviertel nicht überall. Doch das Haus selbst war... geradezu skurril. Einerseits fand das geschulte Auge darin ohne jede Mühe viele Details, die auf den Baustil der zahllosen, weit verbreiteten Fachwerkshäuser schließen ließen. Ein Baustil, der in Samaras bester Wohngegend einfach nichts zu suchen hatte. Solche Häuser gehörten Krämern und Handwerkern und vielleicht ein paar wohlhabenderen Bauern, aber ganz sicher sollten sie keinen Platz hier finden! Andererseits war die Fassade auf geradezu kunstvolle Weise von eben diesen Details abgebracht worden. Auf dem Dach fanden sich keine Ziegel, es lief nicht spitz zu. Nein, flach wie ein geschliffener Stein. Er kannte das System bereits, war nicht zum ersten Male hier. Dort oben gab es eine Art von... Saal. Nur eben ohne Wände, ohne Decke. Grünzeug wucherte in kleinen Senken, ein System von kleinen, eingelassenen Kanälen beförderte das Regenwasser zu den Seiten, wo es über Rinnen und Röhren zum Boden geleitet wurde. Das obere Stockwerk war sehr stabil, sehr massiv gebaut – damit selbst sintflutartige Regenfälle keinerlei Gefahr darstellen konnten. Auch damit hob sich dieses Haus deutlich von allen anderen dieses Viertels ab. Es war, als würde hier irgend so ein exzentrischer Künstler leben! Bei diesem Gedanken musste er schmunzeln, zufrieden und breit. Das Haus erweckte ganz eindeutig genau den Eindruck, den es auch erwecken sollte. Da hatte jemand wohl gute Arbeit geleistet. Den Schritt wieder aufnehmend, trat er über eine Reihe flacher, breiter Stufen langsam zur Haustür empor und klopfte dezent. Ihm öffnete keine Magd, kein Diener, die Bewohner dieses Hauses vermieden solcherlei Verhältnisse. Noch. Es war vermutlich nur eine Frage der Zeit. Irgendwann würde die Gartenarbeit zu viel werden, zu lästig, irgendwann würde die Bibliothek zu groß werden, würde der Weinkeller zu üppig bestückt sein, würde die Küche zu viele Gerätschaften fassen, würden die Festlichkeiten zu umfangreich werden. Irgendwann würden weitere, helfende Hände einfach nötig sein. Das war immer so. Nach einer Weile des Wartens wurde geöffnet. Er kannte das bereits – sonst wäre er möglicherweise nervös geworden, hätte befürchtet, dass seine Ziele geflohen wären. Doch das taten sie nicht. Nicht mehr. Er trat ein und schmunzelte. Bei seinem ersten Besuch war er über die Maßen empört gewesen, war regelrecht außer sich, als er gespürt hatte, wie die dünnen Fäden des magischen Gewebes sich von ihm lösten. Er hatte geschrien und gegeifert und war so völlig aus seiner sonst ruhigen und beherrschten Rolle gefallen – weil er sich in einem Hinterhalt wähnte. Doch niemand hatte ihn angegriffen. Damals nicht. Heute nicht. In jedem der Besuche seither nicht. Es war einfach eine Sicherheitsvorkehrung des Hausherren, es war... sein Ausdruck von Paranoia, und wer konnte ihm die schon verdenken? Als die Tür geöffnet wurde, lächelte er und bekam ein Lächeln zurück. Nicht künstlich, aber auch nicht freundschaftlich. Sie waren keine Freunde, so leicht stülpte man nicht die ganze Welt um. Er musterte noch im Eintreten den Hausherren. Ein weites Gewand, seiden, aber von einer matteren, gedeckteren Farbwahl. Offenbar hatte er nicht mit Besuch gerechnet. „Ihr kommt früher als sonst.“ eröffnete der Besitzer munter und konnte doch nicht verbergen, dass ihn offenbar der unerwartete Besuch aus einem Nickerchen in der Bibliothek gerissen hatte. Er schmunzelte, nickte nur und bestaunte – wie schon oft zuvor – die Eingangshalle. Sehr hübsch anzuschauen, wie die Treppe sich weitläufig in die oberen Stockwerke wand. Ihre Schritte hallten dumpf in der verwinkelten Halle wieder, als ihre Schritte sie über polierte Marmorfliesen einem kleinen Arbeitsraum entgegen führten. Regale voller Bücher säumten die Wände. Und dabei war das hier nicht einmal die Bibliothek, es war nur ein Arbeitszimmer. Ihm wurde ein Sitz angeboten und er nahm ihn gerne in Anspruch. Ein mit rotem Samt bespannter Ohrensessel. Diese gewaltigen Dinger vermittelten stets gekonnt den Eindruck einer heimischen Atmosphäre, von Gemütlichkeit und gelöster Entspannung. In weiser Voraussicht zog er den kleinen, dreifüßigen Tisch aus kunstvoll bearbeitetem Kirschholz heran, ehe er sich zurück lehnte und auf die Rückkehr seines Gastgebers wartete, der sich für einen kurzen Augenblick entschuldigt hatte. Sein Blick glitt über die unzähligen Bücher. Anatomische Studien, Fachlektüre, alles, was ein aufstrebender Künstler brauchte, um sich mit Inspiration zu versorgen und zeitgleich nicht zu erschaffen, was andere schon in ihren schöpferischen Phasen fabriziert hatten. Die wirklich interessanten Werke, die über das Brauen von Tränken, über rituelle Anrufungen und vor allem die Bücher, die vor lauter Zauberformeln überquollen... die würde man gewiss nicht hier finden. Vermutlich auch nicht in der Bibliothek, wenn... dann gab es einen sehr gut gesicherten Raum dafür. Ein geheimes Versteck, irgendwie, irgendwo. Er suchte nicht danach, nicht mehr. Das hier war keine Schlacht, die sich auf die klassische, altbewährte Weise gewinnen ließ und sie wussten das alle. Der Hausherr kehrte zurück, balancierte ein kleines Silbertablett, das er auf dem Kirschholztisch abstellte. Der wunderbare Duft von würzigem Tee entströmte einer dampfenden Kanne. Das Gemisch wurde teilweise auf zwei edle Porzellantassen verteilt. Er nahm sich seine erst, nachdem er das zusätzliche Angebot geprüft hatte. Kandis, Zucker, ein paar Sorgen von anderen Gewürzen, die der Verfeinerung des Aromas zukommen könnten. Alles recht klassisch, aber nicht unbedingt sein Geschmack. Er entschied sich stattdessen für den Honig, gab einen kleinen Teelöffel der zähen Flüssigkeit in seine Tasse, rührte sorgfältig um und labte sich daran, wie der Duft der vom dampfenden Gebräu aufsteigenden Flüssigkeit sich veränderte. Süße, ja, das war jetzt genau das Richtige. Er rührte sorgfältig, wartete, bis der Tee ein wenig abgekühlt war, ehe er den Löffel weglegte und die Tasse erstmals an die Lippen setzte. Viele Minuten, die die zwei Herren einfach schweigend einander gegenüber sitzend verbrachten. Insgeheim musste er wieder über das Gewebe nachdenken. Bei Überschreiten der Türschwelle waren ihm seine magischen Kräfte genommen worden. Galt das auch für den Hausherren? Er wäre mehr als dumm, wenn er sich der eigenen Kräfte beraubte. Nicht zuletzt, weil sie ansehnlich stark waren – er hatte schon lange keinen so angemessenen Gegner mehr gehabt. Nein, wahrscheinlicher war, dass es sich um Runen handelte. Vermutlich gefüttert mit dem Blut der Drei, die hier wohnten – damit für sie eine Ausnahme gemacht wurde. Damit sie nicht ihrer Kräfte beraubt wurden. Und dazu, quasi als kleine, doppelt absichernde Beigabe, irgendeine Form von Tarnung. Magiefähige spürten einander, wenn sie sich berührten. Ein zartes Kribbeln im Bauch und unter der Haut der Finger. Selbst aus dem Gewebe gelöst, waren manche in ihrer Sensorik fein genug, das zu begreifen – aber selbst der Händedruck beim zweiten Besuch hatte nichts klingeln lassen. Vermutlich war das ganze Haus ohnehin mit Magie nur so vollgepumpt. „Warum kommt ihr eigentlich immer wieder hierher?“ eröffnete Alandor Lamerak, Besitzer des kleinen, aber ungewöhnlichen Hauses im Nobelviertel Samaras, schließlich das Gespräch mit seinem Gast. „Nun, um ehrlich zu sein – ich schätze, was mir geboten wird. Der Tee ist einfach köstlich.“ merkte Iangeon an, seines Zeichens Geistmagier im Dienste der Abtrünnigen, einstmaliger Zirkelmitglieder, die sich beim erstbesten Angebot auf die Seite des Königs geschlagen hatten. Er hatte Alandor und seine Tochter Selina schon über Wochen und Monate hinweg gejagt – und Vivica Aandergast, Alandors einstmalige Begleiterin, sogar über Jahre. Sonderliche Eile, seinen Auftrag zu erfüllen, hatte er dagegen nie an den Tag gelegt. Er war ein überaus geduldiger Jäger – und ein Gentlemen, trotz allem. „Eine Mischung von Wildkräutern aus dem Norden. Das Rezept stammt natürlich von Vivica.“ erörterte Alandor mit einem Lächeln, in das Iangeon durchaus ehrlich einstimmte. Ja, die kleine Firnhexe hatte immer wieder die besten Ideen – schon damals, als sie seiner Obhut entwischt und ihn über Tage hinweg zum Narren gehalten hatte. „Ist die Dame des Hauses denn anzutreffen?“ erkundigte sich der machtlose Geistmagier. Einen kurzen Moment wurde sein Gegenüber ernster, doch die Situation löste sich recht schnell wieder. „Der Stadtvogt, der Beirat, der Kommandant der Wache, diverse äußerst wohlhabende Handelsleute, ein paar vom Klerus und sogar mancher aus den drei einflussreichsten Adelshäusern der Stadt...“ hob Alandor ohne scheinbaren Zusammenhang und in geradezu gelangweilter Manier an. „Ich kenne die Liste eurer Förderer und Unterstützer. Nein, wirklich, ihr braucht mir diesmal nicht misstrauen. Heute bin ich nicht hier, um euch zu ärgern. Ich weiß, dass ihr schon rein politisch betrachtet schneller weit größere Geschütze gegen mich auffahren könntet, als ich auch nur die Anklageschrift geschrieben hätte. Überdies wisst ihr genauso gut wie ich, dass mir die nötigen Beweise fehlen, um einfach mal so jemanden aus Samaras Oberschicht anzuklagen. Ihr habt... euch ein hübsches Heim eingerichtet. Weit schneller, als ich es erwartet hatte und es ist gut gesichert, also macht euch vorerst keine Sorgen. Fühlt euch nicht zu sicher – aber vorerst bin ich nicht als euer Jäger hier. Ein wenig schade ist es ja schon, für mich zumindest. Jegurath hat mich weit länger aufgehalten, als ich gedacht hätte. Hm.“ erörterte Iangeon in aller Ruhe. Und obwohl sie einander Feinde waren – im Grundsatz zumindest, in der Theorie -, kam der Bannmagier und Hausherr nicht umhin, diese Gespräche, die in der Regelmäßigkeit eines Mondzyklus stattfanden, durchaus zu genießen. Iangeon war ein Abtrünniger, aber das würde er nie einsehen. Er hatte seine Ausbildung als Magier der Zirkel absolviert, die Abschlussprüfung überstanden und durfte sich Zirkelmagier nennen, aber anders als die Meisten, hatte die intensive Gehirnwäsche und Umerziehung, die den Adepten während ihrer Ausbildung beigefügt wurde, bei ihm einfach nicht gefruchtet. Er fühlte sich den Zirkeln nicht verbunden, nicht ihren Herren, nicht ihrem Kodex, nicht ihrer Abneigung gegen Hexen. Er war hier, weil er einen Auftrag hatte – genau genommen war er also kaum besser als ein Söldner. Befand zumindest Alandor. Aber es war nicht abstreitbar, dass er sich schon aus alter Gewohnheit heraus sehr nach Gesprächen mit seinesgleichen sehnte. Keine Beleidigung gegenüber Vivica – einer Eishexe -, sondern einfach das Zugeständnis, dass die Adligen, Kaufleute und Künstler Samaras gewiss ein gehobenes Niveau hatten, einem Zirkelmagier aber dennoch nicht das Wasser reichen konnten. Die Art, wie ein Gespräch geführt wurde, war unter ihresgleichen einfach einzigartig und anders als bei Iangeon, vermisste Alandor diese Zeit durchaus hin und wieder. „Es ist so,“ hob der Geistmagier schließlich an, „neben dem unbestreitbar köstlichen Tee wird mir in diesem Haus geboten, was ich sonst nirgendwo finde: Höflichkeit und Ehrlichkeit. Will ich Erstere, gehe ich zurück an den Hof nach La Coeur und geselle mich zu den anderen verbohrten alten Magi – dummerweise ist die ganze Bande so intrigant und verlogen wie die einfachen Höflinge dort. Will ich Ehrlichkeit, dann treibe ich mich in Gasthäusern herum und lasse mich vom Pöbel mit seinen verdreckten Griffeln betatschen. Ehrlich sind sie, gewiss – solange sie nicht wissen, mit wem sie es zu tun haben. Ehrlich, aber leider schrecklich ungehobelt. Ich gebe es ungern zu, aber wenn die Jagd eines Tages von Neuem los geht, wenn eure kleine Welt hier zusammenbricht und wir wieder sind, was wir waren, bevor ich in Jegurath eure Spur verlor, nun... ich glaube, mir werden unsere Treffen fehlen.“ Fast wirkte es so, als wäre Iangeon geradezu rührselig geworden. Er blickte in seinen Tee hinab und trauerte bereits jetzt für etwas, das noch nicht einmal im Ansatz absehbar war. Der Anblick allein irritierte Alandor. Sie waren einander seit der Flucht aus der einstigen Elbenstadt mit einer distanzierten, ehrlichen Höflichkeit begegnet, gewiss, aber er hätte nicht vermutet, dass dem Magier diese Treffen so viel bedeuteten. Nein, er hätte nicht einmal vermutet, dass sie ihm überhaupt etwas bedeuteten. „Warum hört ihr dann nicht einfach auf, uns zu jagen?“ erkundigte sich Alandor, die Antwort kennend und nippte erneut am Tee. „Ach ihr wisst doch. Die Alten würden einen riesigen Aufstand machen, irgend einen Stümper auf eure Fährte setzen. Ihr seid gut... aber nicht fehlerlos. Wenn er euch findet, würde er gewiss ein heilloses Chaos anzetteln und mit der Eleganz eines hysterischen Trolls aufwarten. Möglicherweise kommt die kleine Selina oder Vivica dann noch zu Schaden – das kann ich so natürlich nicht zulassen.“ Früher hätte er ihn erdrosselt. Allein dafür, dass er wagte, diese zwei Namen in den Mund zu nehmen. Andererseits waren früher einige Dinge anders gewesen. Er hatte beispielsweise guten Grund gehabt, Iangeon Conster zu hassen, er hatte dagegen keinen Grund gehabt, ihm zu glauben, dass ihm tatsächlich etwas an Vivicas oder Selinas Wohlbefinden lag. „Ich hörte, ihr gebt heute Abend einen Ball?“ erkundigte sich Conster und Alandors Miene wurde zum Spiegel seiner aufziehenden Erkenntnis. Natürlich – deshalb kam der Geistmagier ein paar Tage früher als sonst. „Ja. Eine kleine Festlichkeit. Die Oberen der Stadt sind eingeladen, viele Künstler, Adlige. Kontakte pflegen und knüpfen, ihr kennt dieses Spiel ja.“ Eine Weile trat Schweigen ein. Iangeon wartete – das war ihm anzusehen. Und Alandor erwog genau die Schritte, auf deren Ergebnis der Gast wartete. Es war offensichtlich, worauf nun alles hinaus laufen sollte. Der Geistmagier langweilte sich in Samara zu Tode. Niemand konnte ihm hier das Wasser reichen, niemand seine Neugier fesseln. Ein Ball dagegen wäre zwar nicht ganz seine Kragenweite, bot ihm aber die Möglichkeit, Selina und Vivica wieder zu sehen und sich ein paar weitere Stunden mit Alandor zu beschäftigen, es bot ihm die Chance, sich einen schönen Abend zu machen. Die Frage war, ob der Bannmagier den Geistmagier wirklich auf seiner Feier haben wollte. Offiziell wäre das so, als würde der Hase den Fuchs einladen – andererseits war so mancher Gast dabei, den er noch weniger leiden konnte und noch mehr zu fürchten hatte. Warum also nicht? „Ihr seid natürlich herzlich eingeladen, euch unserer bescheidenen Runde anzuschließen.“ eröffnete der Hausherr schließlich. Sein Gegenüber zuckte mit keiner Miene, zumindest vorläufig. Das Schauspiel musste perfekt sein. Für wen auch immer – es ging hier vermutlich einfach ums Prinzip. „Ich kann unmöglich annehmen. Ihr wisst, ich müsste euch im Falle von Verdachtsmomenten festnehmen und es wäre einfach nicht richtig, eure Gastfreundschaft auszunutzen.“ zierte sich der Geistmagier des Theaters wegen. „Ich bestehe darauf. Ich bin mir sicher, euch wird der Abend gefallen – es gibt eine kleine Überraschung zur Krönung der Feierlichkeiten.“ frohlockte der Bannmagier und spätestens jetzt hatte er Iangeon am Haken. Nicht einfach nur auf der Bühne ihrer unauffälligen Aufführung, sondern tatsächlich. Der Geistmagier war neu- und wissbegierig, er konnte sich dem Reiz einer Überraschung unmöglich entziehen. Entsprechend war der Rest schnell abgehandelt. Dem Jäger wurde von der vermeintlichen Beute eine Einladungskarte zugestanden, die am Abend als Eintrittsberechtigung dienen würde. Sie tranken ihren Tee zu Ende, fachsimpelten über ein paar Werke der hiesigen Schriftsteller und Künstler, stellten ein paar Gemeinsamkeiten in ihren ästhetischen Präferenzen fest, ehe Alandor Iangeon schließlich wieder zur Tür begleitete. Wie es sich gehörte, bedankte der sich artig für Tee und Unterhaltung, ehe er durch die Tür schritt und sich seinen Weg suchte. Schon als er einen Fuß über die Schwelle setzte, spürte er das angenehme Kribbeln, das zurückkehrte, als die dünnen, unsichtbaren Fäden des magischen Gewebes ihn wieder durchdrangen, ihn umschlangen und zurück in ihren Schoß führten. Jetzt war er wieder Magier – und dennoch war es ihm unmöglich, Geistmagier der er war, in den Gedanken des Mannes herum zu streunen, der kaum einen halben Meter hinter ihm stand und die Tür schloss. Ein beeindruckender Schutz, ganz gleich, wie er funktionierte. Die Vorbereitungen für die Festlichkeiten waren schon seit einer guten Stunde abgeschlossen und der Geräuschpegel aus dem Ballsaal stieg allmählich in Relation zur wachsenden Anzahl bereits eingetroffener Gäste. Bereits gegen frühen Nachmittag hatte sich das Haus nach und nach gefüllt – mit Tagelöhnern und Dienstmägden, die Alandor quer über die Stadt verteilt und aus verschiedenen Häusern und Geschäften aufgelesen hatte. Nun trugen sie alle feinste Gewänder, balancierten eifrig und geschäftig Krüge, Tabletts mit kleinen Vorspeisen, schafften Putzeimer aus dem Weg und wirkten dabei, als hätten sie seit Jahr und Tag nichts anderes getan. Kein Wunder: Sie waren überaus motiviert. Herr Lamerak war ein wohlhabender Künstler und obendrein bekannt dafür, mit den höchsten Kreisen zu verkehren. Außerdem trug er im einfachen Volk der Stadt inzwischen den Ruf, ein recht gönnerhafter Mensch zu sein. Die Bediensteten, die ihm an diesem Abend halfen, durften ihre feinen, handgeschneiderten Kleider behalten und wurden zusätzlich fürstlich entlohnt. Sie durften an Speis und Trank teilhaben, die für die gesamte Gesellschaft gedacht war – aßen also von den gleichen Tellern wie die Gäste. Nur... sollten sie das eben nach Möglichkeit tun, ohne dass diese es sahen. Mit solchen Hinweisen konnten alle gut leben, es war mehr, als man dieser Tage von einem solchen Arbeitgeber erwarten konnte. Nur eines, das bereitete dem Bannmagier fortwährend Sorge und fast wollte er erleichtert aufatmen, als er die zwei Pagen eiligen Schrittes auf ihn zuhalten sah. Doch schon ihre reumütig gesenkten Blicke machten ihm mehr klar, als sie mit Worten zu erklären fähig waren. „Herr, wir... wir haben alles abgesucht, wirklich, ich schwör's, aber... wir haben sie... wir haben... sie einfach nicht gefunden.“ stammelte der Erste und zuckte geradezu zusammen, als Alandor ihm sorgenvollen Blickes die Hand auf die Schulter legte. Vielleicht hatte er Schläge und Schelte erwartet, doch obgleich ihm schon ein minutenlanger Monolog über Ehrgefühl, Stolz und Arbeitswürde auf den Lippen lag, hatte der Bannwirker einfach keine Zeit dafür, diesem jungen Burschen die Angst aus- und etwas Stolz einzutreiben. „Habt ihr auf dem Dach nachgesehen?... In der Wäschekammer?... Draußen?“ „Ja Herr, überall!“ „Auch in der Küche?“ „...“ Noch bevor sie antworteten, wechselten die zwei Diener zweifelnde Blicke. Da waren sie nicht gewesen, aber... warum hätten sie auch dorthin gehen sollen? Die Hausherrin und die Tochter des Herrn waren gut betuchte Leute und die Küche quoll gegenwärtig über vor geschäftigen Mägden, die allesamt das Essen vorbereiteten, das Geschirr herbei schafften, spülten, bereit machten, wieder beluden. Warum sollten sich die Damen dieses edlen Heimes ausgerechnet am turbulentesten Ort dieses Abends verstecken? Alandor dagegen grinste schelmisch über beide Ohren. „Schon gut, ich danke euch! Geht zu den anderen und helft, wie ihr könnt.“ erklärte der Hausherr, drückte den zwei Ahnungslosen je eine Silbermünze in die Hand und schickte sie davon, während er selbst zunächst sein Zimmer ansteuerte, um etwas abzuholen. Kurz darauf durchschritt er die Tür zur Küche. Zwei hölzerne Flügel in einem Schnappverschluss, sodass die Tür auf- und zuschwingen konnte – gerade für einen stürmischen Frechdachs wie Selina war das ideal. Heute Abend herrschte geschäftiges Treiben, in der Tat. Alandors Gegenwart wurde kaum bemerkt und die Mägde, die an ihm vorbei mussten, sahen zwar auf und lächelten, aber bei all den Aufgaben hatten sie kaum Zeit, ihm die eigentlich nötige Ehrerbietung zuteil werden zu lassen. Der Bannwirker störte sich daran jedoch nicht im Geringsten – nicht zuletzt, weil unter einer der Hauben, die die Köchinnen verwendeten, damit keine Haare in das Essen kamen, ein verräterisches Rot hervor funkelte. „Vi-“ setzte Alandor an, um das Gepolter und Geklapper zu übertonen, da wurde auch schon sein Name gequietscht und eine kleine, wandelnde Mehlstaubexplosion kam auf ihn zugerannt. Bei den Göttern...! wanderte es dem Magier durch den Schädel, als er seine Tochter erblickte. Kaum war sein Name gefallen, sah auch Vivica auf. In routinierter Manier gab sie ein paar weitere Anweisungen, ehe sie sich für wenige Minuten aus dem Treiben zurück zog und zu Alandor trat, der inzwischen Selina abgefangen und hochgehoben hatte. Sie verteilte eine stattliche Spur Mehl in der gesamten Küche... „Was tut ihr denn hier?“ erkundigte sich der Bannwirker mit einer leichten Rüge im Ton. Während Vivica geradezu beschämt einen Moment den Blick senkte, kicherte Selina nur vergnügt auf. „Und du kleines Gespenst, hast du vielleicht meine Tochter gesehen? Sie sollte nämlich eigentlich ihr Kleid anziehen...!“ maßregelte er auch Selina, ehe er sie kurz durchkitzelte. Das helle, vergnügte Kichern des Mädchens übertönte ohne Mühe allen Lärm im Raum und ließ manche Magd mit einem Schmunzeln zu der kleinen Familie aufschauen. Ein reiches Haus, aber der Frieden schien wie aus einer der normalen Familien beschaffen... „Wenn du jetzt artig hoch gehst, dich sauber machst und dein Kleid anziehst, bekommst du nachher auch eine Überraschung!“ versuchte der Magier zu locken, doch seine Tochter schüttelte breit grinsend den Kopf. Als kleiner Mehlgeist durch die Küche zu spuken, war ihr ganz offenkundig ein viel größeres Vergnügen, als es der Gedanke je sein konnte, hübsch auszusehen und sich in einer Gesellschaft alter Männer und Frauen herum zu drücken und gut benehmen zu müssen. Als hätte er es nicht geahnt! „Du hast sie völlig verzogen, merkst du das?“ warf Alandor Vivica in gespielter Manier vor, die entrüstet nach Luft schnappte, jedoch nicht dazu kam, ihm trotzig zu antworten – zu schnell hatte er sich vorgebeugt und unter einem langgezogenen „Iiiihh!“ Selinas der Firnhexe die Lippen aufgedrückt. Der Bannwirker setzte schließlich das Mädchen auf dem Boden ab – und trat einen Schritt bei Seite. Es war nicht schwer, nachzuvollziehen, was daraufhin geschah. Das kleine Mädchen verstummte, beäugte völlig verwirrt, was es sah, ehe seine Augen groß und größer wurden, ein wunderbar anzuschauendes, glückliches Strahlen annahmen und dann vor stürmten. „Nicht so hastig! Es sind viele Leute hier, es ist laut – er hat Angst. Vielleicht solltest du ihn nach draußen bringen und ihm sein neues Heim zeigen?“ erkundigte sich Alandor bei Selina, während die voller Begeisterung nur noch halb zuhörend nickte und die von Mehl krümelnden Finger durch das weiche, kurze Fell des Hundes streichen ließen. „Darf ich ihn behalten...?“ fieberte das Mädchen mit einem wehleidig-bettelnden Blick, dem sich der Magier ohnehin nicht hätte entziehen können. Er nickte und sah zufrieden, wie sein Wildfang Nummer eins den Hund auf die Arme nahm und überglücklich strahlend mit ihm durch die Küchentür davon pirschte. Daraufhin wandte sich Alandor Wildfang Nummer zwei zu. „Und du? Du solltest doch oben sein, oder nicht?“ erkundigte er sich leise, „Was machst du hier?“ Vivica schlug einen Moment die Lider nieder, ehe sie sich zu dem regen Trubel hinter ihr umblickte. All die Mägde, die hier fleißig arbeiteten, schwere, schwierige Tätigkeiten in Akkord verrichteten... sie fühlte sich ihnen so viel zugehöriger als der fein herausgeputzten Gesellschaft dort draußen. „Ich... helfe?“ hakte sie geradezu zögerlich nach. Der Bannmagier jedoch kam nicht umhin – sein rügender Blick weichte auf, bis ein zartes Lächeln seine Lippen verzog. „Das hast du gestern und du wirst es morgen wieder. Ich weiß, wie du dich fühlst, ich weiß, wie... unangenehm dir das ist. Aber ich bitte dich... nur diesen einen Abend...!“ flüsterte er leise. Ein letztes Mal blickte die Rothaarige zurück, ehe sie zögerlich nickte. Gemeinsam Seite an Seite verließen sie die Küche. Bis zur Treppe brachte er seine Herzdame, wo sie sich schließlich trennen mussten. „Sie hat sich schon seit Monaten einen Hund gewünscht.“ setzte Vivica an, als wolle sie so lange wie möglich hinaus zögern, die Stufen empor steigen zu müssen. „Ach naja, ich dachte mir, einen Wachhund brauchen wir sowieso schon lange und ehe sie sich auf dem Empfang langweilt und Streiche spielt...“ hob ihr Liebster an, doch da brachte sie ihn auch schon zum Schweigen. Den Zeigefinger auf seine Lippen gelegt, trat sie zwei Stufen wieder herab, bis die Letzte dafür sorgte, dass sie auf Augenhöhe waren. „Du brauchst dich nicht rechtfertigen. Nicht vor mir. Du liebst sie über alles und... du glaubst, dass du ihr jetzt endlich das Leben schenken kannst, dass sie immer schon verdient hätte... und bei mir glaubst du genau das Gleiche.“ Es waren kostbare Momente wie dieser, die ihm ein ums andere Mal klar machten, warum er sie so abgöttisch liebte. Vor über einer Dekade hatten sie einander erstmals getroffen und Jebis wusste, es war nicht gut verlaufen. Er hatte sie über den Tisch gezogen, sie hatte ihn belogen, sie waren wie bissige Kampfhunde aufeinander losgegangen, sie hatten ihre Reise gerade so hinter sich gebracht, als ihr Zerwürfnis nicht mehr größer hätte werden können. Sie trennten sich, nur, um zehn Jahre später wieder übereinander zu stolpern – und siehe da, sie verliebten sich. Genauer genommen, gestanden sie einander nur die Gefühle ein, die sie schon früher entwickelt hatten und die noch immer unbewusst in ihren Gemütern geschwelt hatten. Inzwischen konnte Alandor mit Fug und Recht behaupten, dass kein anderes Wesen auf dieser Welt ihn besser verstand als dieses Weib – und sowohl jene Erkenntnis, als auch das Gefühl, ertappt worden zu sein, ließen ihn am Absatz der Treppe stehend erröten. Vivica lächelte, machte einen kleinen Scherz darüber, dass seine Wangen ihrem Haar bald die Aufmerksamkeit stehlen würden, ehe sie sich abwandte und die Stufen hinauf schritt, um ihm den zugesicherten Gefallen zu tun: Einen Abend lang würde sie das Mädchen aus reichem Hause spielen, die manierlich-sittsame Frau eines wohlhabenden Künstlers, die kokett zu lächeln und ihrem Gatten den Rücken zu stärken wusste. Für Vivica eine schwere Rolle, kam sie doch aus völlig anderen Verhältnissen. Alandor hingegen begab sich zum Empfang. Es war ohnehin längst Zeit geworden, sich persönlich auf der eigenen Feier blicken zu lassen. Auf dem Weg zum Ballsaal passte ihn ein weiterer Page ab und informierte ihn wie gewünscht darüber, das Iangeon ebenfalls eingetroffen war und sich bereits unter die Gäste gemischt hatte. Nun, dann war wenigstens einer in diesem Raum, dem gegenüber er ein wenig mehr Offenheit und Ehrlichkeit walten lassen konnte. Als der Bannwirker den Ballsaal betrat, brandete ihm das Geschwätz ausgelassener Gespräche entgegen, zarte Musik legte einen Teppich über das rege Treiben und viele der Gäste waren zweifellos in irgendwelche Absprachen vertieft. Anlässe wie dieser waren selten – wenn mehr als die Hälfte der Oberschicht Samaras zusammen kam, bot das Zunder. Hier wurde die wahre Politik geschmiedet, hier wurden Thronerben gestürzt, Länder befreit oder bezwungen, Allianzen geschmiedet und so manche Ehe beschlossen. Doch nicht heute. All das hätte Alandor viel Geduld abverlangt, aber er hätte sich direkt ins rege Treiben geworfen und wäre darin nach ein paar sehr anstrengenden Stunden aufgegangen. Er hätte sich in den Tenor ihres Spieles eingefunden und hätte es als Gewinner verlassen, mit unzähligen neuen Freunden, ein paar wenigen, machtlosen Feinden und Absprachen, wie sie nur ein in Diplomatie und Rhetorik befähigter Zirkelmagier hinbekommen konnte. Heute aber ging es um etwas anderes, etwas völlig anderes! Er machte zunächst einmal die Runde und begrüßte all seine bisher eingetroffenen Gäste persönlich. Viele Künstler, die ihm nacheiferten, ein paar, zu denen er in oberflächlich-freundschaftlicher Korrespondenz stand und – wie es sich gehörte – natürlich auch ein paar Konkurrenten. Zudem fanden sich einige Kaufleute, die bereits über die neuen Steuer-, Zoll- und Handelsbestimmungen sprachen, die erst nächsten Monat offiziell bekannt werden und in Kraft treten sollten. Die Götter wussten, dass man alles, aber auch wirklich alles kaufen konnte – man musste nur wissen, wo, bei wem und für wie viel. Auch einige Adlige hatten sich zu kleinen Grüppchen zusammen gefunden. Hier und da wurde über die Inneneinrichtung seines Hauses hergezogen, etwas, das Alandor nicht ernst nahm. Hätten sie über das Wetter gesprochen, hätte es genauso lästerlich geklungen. Er wurde sogar kurz Zeuge, wie an anderer Stelle die Sabotage einer Ehe erwogen wurde, indem man dem Gatten vorschlug, ein Galan – einer der Höflinge, der in der Gesprächsrunde anwesend war – könne sich an seinem Weib zu schaffen machen. Mancher hätte es für tiefste, niederträchtigste Teufelei gehalten. Da fand sich ein Ehemann auf einem Ball ein, ohne sein Weib, und beriet mit anderen, wie er es anstellen könne, seinem Weib Schuld aufzuladen. Aber auch das war Politik. Alandor merkte sich so viel davon, wie er konnte, sog die Gesprächsfetzen um ihn herum auf und versuchte dennoch zugleich, konzentriert zu bleiben. Als Magier war das ein leichteres Spiel als für jeden anderen, aber dennoch deshalb längst nicht unkompliziert. Er stellte sich vor, hieß sie willkommen, wünschte einen angenehmen Abend, schlug spezielle Speisen vor – eine Standardphrase, die er jedem Gast in stets leicht abgewandelter Form zuteil werden ließ, bis er auch die letzte Hand im Raum geschüttelt hatte – die von Iangeon Conster. „Ich bin keiner eurer anderen Gäste, ihr müsst mir nicht die Haifischhäppchen empfehlen!“ flüsterte der Geistmagier mit verschwörerischem Grinsen. Erst da bemerkte der Hausherr, dass er auch das obskur verzerrte Äquivalent eines 'Freundes der Familie' in der gleichen Manier begrüßt hatte, wie alle anderen Gäste auch. „Verzeiht bitte. Es ist fast wie ein Mantra. Hat man die ersten Fünf hinter sich, kommt der Satz ganz von allein wieder und wieder. Wie in Trance.“ entschuldigte sich Alandor und lud seinen Gegenüber auf einen Trunk ein. Sie genossen einen Becher warmen Met von feinster Qualität, angenehm süß, man schmeckte im Nachgang eine Spur des Alkohols, aber er war nicht aufdringlich. Für Alandor war das Maß an Alkohol für diesen Abend damit bereits erreicht – rein aus Sicherheitsgründen. Er ging lieber kein Risiko ein, schon gar nicht an einem solch gewichtigen Tag. „Nun rückt schon mit der Sprache heraus!“ forderte Iangeon, während er mit dem Gastgeber einen kleinen Rundgang im Ballsaal machte. Ihr Weg führte sie außen herum, an den meisten Grüppchen vorbei. Sie beobachteten während ihres Spazierganges, wie die Wölfe im Saal die Beute zerrissen – sei es mit Worten, sei es mit Plänen. Immer wieder sah man geschäftige Bedienstete hier und da zwischen den Grüppchen herum huschen, von Zeit zu Zeit wurde ein Tanz angestimmt und die Menge gab sich die Ehre, ihre Künste in einstudierten Schrittfolgen zu beweisen, doch Alandor reizte dergleichen nicht. Er bot hier die Fläche, einander wie eitle Pfauen zu umgarnen, doch daran teilhaben... nicht heute. „Was wünscht ihr denn zu wissen?“ erkundigte sich der Bannmagier und tat erfolgreich unwissend, sodass selbst Iangeon einen Augenblick verwirrt die Stirn runzelte. „Na ihr wisst schon! Was eure große Überraschung ist!“ rückte der Geistmagier schließlich mit der Sprache heraus. Als hätte er damit ein geheimes Signal gegeben, trat ein sich aus der Menge lösender Page auf die zwei Herrschaften zu und verneigte sich huldvoll, bis Alandor ihn zum sprechen aufforderte. „Sie wäre dann so weit.“ erklärte dieser und wurde vom Gastgeber angewiesen, sie zu holen. Daraufhin wandte er sich Iangeon zu. „Seht selbst.“ erklärte er und folgte mit zügigen Schritten dem Bediensteten bis zum Absatz der zweiten Treppe, die direkt vom Ballsaal in die oberen Stockwerke des Hauses führte. „Werte Damen, meine Herren,“ begann Alandor laut genug, sodass die Musik verebbte und die Mehrheit der Gespräche rasch erstarb – binnen Sekundenbruchteilen war er Zentrum der Aufmerksamkeit, „ich danke ihnen für diesen Moment ihrer Aufmerksamkeit und möchte ihnen nun den Juwel dieses Hauses vorstellen.“ Bei jenen Worten trat die rothaarige Firnhexe an den oberen Absatz der Treppe heran. Hier und da hörte man, wie Luft eingesogen oder hörbar ein Atem angehalten wurde. „Meine Verlobte, Vivica Aandergast... und in einer Woche, wenn uns das Glück hold ist, Vivica Lamerak.“ Irgendwo im Saal, ein gutes Stück hinter ihm, hörte Alandor ein Glas zu Bruch gehen. Mit Erstaunen und Überraschung hatte er gerechnet, aber das jemand vor Schreck gleich sein Glas fallen ließ...? Er sollte die Sauerei beseitigen lassen, ehe sich jemand Splitter in die Füße trat...! Vivica schritt die Stufen herab, langsam. Es war ihr unangenehm, so im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Dutzende Augenpaare, die aus dem unverhohlenen Gaffen nicht mehr heraus kamen. Sie war eine zierliche Gestalt, mit ihrer roten Mähne und ihren grün funkelnden Augen eine exotische Schönheit obendrein und das Kleid, obgleich von schlichtem, geradezu puritanischem Schnitt, unterstrich in seiner Form nicht einfach nur die Aspekte, die sie ohnehin auffällig machten, es umschmeichelte zudem, was sie war: Eine junge Frau, voller Reiz und Grazie. Die sanften Grüntöne, vermischt mit der Farbe der Unschuld, bildeten einen perfekten, einen geradezu gekonnt edlen Kontrast zu ihrer Frisur – es konnte keinen Zweifel geben, sie war eine Augenweide, sie war das Juwel dieses Abends. Als sie die letzte Treppenstufe hinter sich ließ und Alandor sich an ihre Seite gesellte, begann Iangeon damit, ihnen zu applaudieren. Rasch stimmten immer mehr Mitglieder der Gesellschaft ein, Damen nickten Vivica anerkennend und manches Mal auch neidvoll zu, Herren bekamen die Augen kaum von ihr gelöst – die Verlautbarung ihrer Verlobung und die Ankündigung der baldigen Hochzeit waren nach Alandors Einschätzung mehr als gelungen und dürften ohne jeden Zweifel so manches in der Stadt kursierende Gerücht über wilde Leidenschaften und haltlose Polygamie zerstören. Doch selbst abseits der weiterhin gefestigten eigenen politischen und sozialen Position... war dies ein Schritt, den der Bannmagier schon lange im Sinn gehabt hatte. In Jegurath, nachdem sie nur knapp den dortigen Gefahren entkommen waren und deutlich wurde, dass niemand Lumiél ohne die Einwilligung seiner göttlichen Majestät verlassen würde, hatte er ihr einen Antrag gemacht – und nie hätte er damals auch nur geahnt, dass die Hochzeit im Nobelviertel Samaras stattfinden würde, dass es dazu solche Umstände gäbe. Mit diesem Schritt... hatte er fast alles erreicht, was ein kleiner Junge, der bei Meister Halon im Erzmagierturm eingesperrt, sehnsüchtig aus dem Fenster starrte, sich einstmals gewünscht hatte. Er war ein großer Magier geworden, mächtig und wissend, er hatte eine stattliche, eigene Bibliothek, ein bezauberndes Mädchen und eine hinreißende Verlobte, ein eigenes Heim und ein gutes Ansehen. War war jemand und viel wichtiger noch – er hatte jemanden an seiner Seite, dem genau das nahezu gleichgültig war. Für Vivica wäre er noch immer der Richtige, selbst wenn die Flucht wieder beginnen würde. Allein dieses Wissen war ihm kostbar und so kam er nicht umhin, in diesem Moment, da die Hochzeit so greifbar nahe war, so glücklich zu strahlen, wie Selina es vorhin bei Erhalt ihres Geschenkes getan hatte. Er würde diese Frau heiraten... der bloße Gedanke, dieser harmlose Satz, ließ ihn verzückt lächeln. Nach und nach fand die Gemeinschaft wieder zu ihren Gesprächen zurück und Alandor konnte nicht anders, als Vivica inbrünstig zu danken. Auch Iangeon trat herbei und verneigte sich huldvoll vor der Firnhexe. „Es ist mir eine Ehre, der baldigen Braut zu dieser Verlautbarung gratulieren zu dürfen und wenn der Hausherr erlaubt, ohne mich gleich hinaus zu werfen – das Kleid ist eine Zierde an euch!“ erklärte der Geistmagier, ergriff ihre Hand und nötigte der Firnhexe einen Kuss auf Selbige. Nach Alandors Meinung war der Tag damit ein voller Erfolg gewesen. All der Aufwand, all die Kosten, all die Mühen und Planungen – es hatte sich gelohnt. Allein schon, zu sehen, mit welcher Grazie Vivica die Treppe herab trat, sie in ihrem Kleid zu erblicken, war all das wert gewesen. Er fühlte sich... beschwingt und durchströmt von purem Glück. Sollte der Abend nun ruhig enden. Am liebsten hätte er sie alle hinaus komplementiert und Vivica die Stufen wieder hinauf gejagt, doch... solch ein Ball verlangte ein gewisses soziales Protokoll. Ein paar Stunden würde nun alles nachwirken, die ausgelassene Stimmung würde abflauen, die Gespräche nach und nach verebben. Der Höhepunkt war erreicht und nun brauchte alles nur noch ein wenig Zeit, bis die Ersten sich zu gehen trauten und rasch der Rest der Meute folgte. Alandor konnte gut damit leben. Er hatte alles, was er wollte, alles, was er brauchte und selbst ihr Jäger, Meister Conster, gestand ihnen offenbar neidlos dieses Glück zu. Es hätte nicht schöner werden können. Und genau das war immer schon das Problem mit solchen Momenten. Wenn man den Höhepunkt der Stimmung erreichte, was blieb dann noch anderes, als das Absinken eben jener? Es hätte der schönste Abend sein und bleiben können, doch dazu war er nicht bestimmt worden. Stattdessen folgte, was früher oder später ohnehin hätte folgen müssen – nur hatte Alandor erwartet, das Iangeon dann der Auslöser dessen sei. Mehrere schwere Explosionen zerrissen Teile der Hauswand und ließen den Boden erzittern. Gläser stürzten um, überraschte Schreie drangen schmerzhaft schrill aus Damenkehlen und binnen Sekunden brach schiere Panik aus. Das Personal floh, genauso wie die Gäste. Sie drängten und schoben sich in aller Eile in Richtung der Ausgänge, während fremde Gesichter aus allen Türen – und davon führten so Einige zum Ballsaal – Selbigen erstürmten. Schwerter, Bögen, Armbrüste, schäbige Lederpanzer und ein paar zerzauste Lumpen. „Rebellen!“ erkannte Alandor mehr als überrascht, ehe sein Geist einsetzte und zu schalten begann, „Vivica, bring Selina in Sicherheit!“ forderte er und deutete in Richtung der Treppe. „Alle raus hier!“ blaffte eine weibliche Stimme. Der Bannwirker und Iangeon sahen einander an. „Zeit zu gehen, würde ich sagen.“ meinte dieser einladend. Beide zuckten mit den Schultern. Wenn es nur um einen Raubüberfall ging, gut, dann sollten sie doch in aller Ruhe das Haus plündern! Alandor tat genau einen Schritt zum Ausgang, als ein kleines Metallprojektil die Büste direkt neben ihm in einem Regen kleiner Steinsplittern zerfetzte. „Ihr nicht!“ tönte die Stimme eines Weibes. Alandor sah sich um, fand rasch die Quelle und hätte am liebsten lachen wollen. Was für eine überaus schlechte Parodie einer Piratin sollte das denn bitte werden? Hatte sie zu viele Ammenmärchen über romanische Seefahrten und Freibeuter verschlungen, oder war sie wirklich so närrisch? Es vergingen einige Minuten, in denen auch die letzten Gäste durch die Türen ins Freie verschwanden. Einzig Selina kehrte zurück, drängte sich zwischen all den Flüchtenden hindurch und wurde von Vivica in die Arme geschlossen, die das Mädchen in Sicherheit brachte – hinter den zwei Magi, die ihrerseits einen Wall zwischen den Damen des Hauses und den sie umzingelnden Rebellen bildeten. „Wie kommt es eigentlich, dass ihr an meiner Seite steht?“ erkundigte sich Alandor mehr als überrascht, dass Iangeon seine Chance auf Flucht nicht genutzt hatte. Der grinste schelmisch, wie man es von einem frechen Rotzlöffel von vielleicht zehn Sommern Alter hätte erwarten können und zuckte dann mit den Schultern. „Wenn euch einer zur Strecke bringt, mein Freund, dann werde ich das sein, niemand sonst!“ erklärte der Geistmagier grinsend seinen Beistand und spürte, wie das Gewebe in durchdrang. Entweder hatten die Rebellen absichtlich oder unabsichtlich die Runen beschädigt oder vielleicht sogar zerstört, die ihm seine Kräfte geraubt hatten, oder aber, der Gastgeber der zersprengten Gesellschaft besaß eine Art von mentaler Kontrolle über diesen Schutzmechanismus. Ein weiteres, interessantes Detail, das Iangeon sich für später zu merken gedachte. Falls es denn ein 'später' geben würde. Oh er zweifelte nicht daran, dass sie das hier überlebten. Alandor hätte sie alle mit einem einzigen Zauber töten können und auch Iangeon wusste, wie er die eine Hälfte dazu bringen könnte, die andere Hälfte zu erschießen und zu erstechen. Nein, die Frage war viel mehr, wie es sich in Samaras Oberschicht wohl darstellen würde, dass die Rebellen, von denen man bisher nur allerlei Gerüchte ins Nobelviertel hatte schwappen hören, ausgerechnet dieses Anwesen an diesem Abend heimsuchten. Welches Urteil würden sich die Reichen und Schönen da wohl bilden...? „Ich verlange zu wissen, was ihr in meinem Haus zu suchen habt!“ forderte Alandor diese Parodie einer Piratin auf, die lediglich einen Moment zornig funkelnd versuchte, ihre Lage abzuschätzen. Noch bevor sie sich jedoch tatsächlich zu Wort melden konnte, ertönte von ganz anderer Seite die verlangte Antwort. „Verlangen? Einen Dreck wirst du!“ blaffte ein anderes Weib. Erneut wanderten ihre Blicke. Es war überraschend, unter einer Bande von offenkundigen Bauern, denen man nur mit Notdurft erklärt hatte, wie sie sich beim Heben eines Schwertes nicht selbst enthaupteten, eine Elbe zu finden. Noch dazu eine Elbe, die die Statur und Bewegungen eines erfahrenen Kriegers und Kämpfers hatte. Noch dazu eine Elbe, die nur ein Auge hatte. Ob sie damit überhaupt noch etwas sehen konnte? Räumlich sehen? Und wie wollte man mit einem Schwerthieb treffen, wenn man die eigene Position in Relation zu der des Gegners falsch einschätzte? Vielleicht sollte er es einfach auf einen Versuch ankommen lassen, um diesem vorlauten Weib zu zeigen, wie überaus dümmlich es war, sich ausgerechnet am Gut und Leben eines Magiers vergreifen zu wollen. „Die Männer und das Kind brauchen wir nicht.“ erklärte die Elbe ohne Umschweife und funkelte Alandor kalt und boshaft an. Noch bevor die Piratin eingreifen konnte, löste sich von der Armbrust eines Rebellen bereits der Bolzen und Sekunden später spürten alle im Raum, die das Gewebe wahrnahmen, das Kribbeln von Magie. Eine kleine Bannmauer schloss sich um den Körper des Schützen und schrumpfte in Sekunden dahin – sie zerquetschte den Mann, presste ihn bis auf die Größe einer Fingerkuppe zusammen und als das Bannfeld brach, 'explodierte' der Inhalt sich rasch ausbreitend förmlich. Der Bolzen dagegen wurde von einer weiteren Bannmauer schlicht abgeschmettert. Vivica hielt Selina weiter an sich gepresst, um zu vermeiden, dass das Kind die Sauerei mit ansehen musste, doch als ihr klar wurde, dass dieses Geschoss das Mädchen im Rücken getroffen hätte, da veränderte sich auch in ihr etwas... und es wurde kalt im Raum, kalt und kälter mit jeder Sekunde. „Magier!“ spukte Ashes angewidert und voller Hass den Begriff aus. „Abschaum!“ erwiderte der Hausherr, während kalte Berechnungen kalkulierten, wie schnell er wie viele dieser Witzfiguren töten könnte – und welche Risiken dabei für Selina und Vivica bestanden. „Alandor!“ spie plötzlich eine weitere Stimme seinen Namen. Verdutzt über den Klang eben dieser, über diesen bekannten, wohlvertrauten und verhassten Einschlag, wechselte die Aufmerksamkeit des Bannmagiers den Besitzer und er gewahrte, dass offenbar nicht alle Gäste des Balles den Saal fluchtartig verlassen hatten. Es war schwer, die Gesichtszüge nach all den Jahren zu erkennen, doch diese Stimme... Das verbrochene Glas, als du die Verlobung bekannt gegeben hast... „'Adamant'!“ spottete der Bannwirker zurück und wünschte sich in diesem Moment, da er Peter wieder sah und für den Angriff der Rebellen verantwortlich machte, nichts mehr, als dass er ihm damals nicht die Nase, sondern das verdammte Genick gebrochen hätte... Langsam begann der Bannmagier seine Kräfte zu sammeln. Das statische Aufladen der Energien, abgezapft aus dem Gewebe, umgab das einstige Zirkelmitglied wie eine bedrohliche Wand, die immer härter wurde, immer stabiler, immer weiter anwuchs. „Keiner von euch wird diesen Raum lebend verlassen...!“ Kapitel 8: Einigkeit -------------------- Leer und dumpf hallte ein schweres Ächzen in jenem verwaist wirkenden Korridor wieder. Erst Sekundenbruchteile später löste sich eine Gestalt aus dem scheinbaren Nichts der Finsternis und stürzte zu Boden. Die Rüstung der Figur schepperte leicht, das Leder darin knarzte und ächzte. Es war nicht gewohnt, steif gefroren solche Belastungen aushalten zu müssen. Die Elbe kam nicht auf die Beine – zumindest nicht sofort. Sie stützte sich mit den Ellbogen vom Boden ab und schien zu warten, einen angestrengten Blick in den Gang werfend. Er war direkt vor ihr gewesen, er hatte sie angegriffen, sie in dieses... sie wusste nicht einmal, wohin er sie gezerrt hatte. In etwas hinein, für das sie keine Worte fand. Noch jetzt spürte sie, wie diese grässliche Kälte ihr durch Mark und Bein kroch. Nicht wie der Reif an einem frühen Wintermorgen – dieser Frost kam nicht von außen und sog die Wärme aus der Haut, bis Fleisch und Knochen darunter nach und nach abkühlten. Es war durchdringend. Als würde sie ohne Widerstand durch jede Faser dringen und die Kälte in allen Schichten zugleich verteilen. Ein widerwärtiges Gefühl, das Ashes in ähnlicher Weise durchaus kannte – es fühlte sich wie sterben an. Bisher war sie Ereshkigal immer von der Schippe gesprungen, aber einen kurzen Moment, zwischen ihrem unfreiwilligen 'Flug' und dem Aufprall am Boden, da wähnte sie, das dies nie knapper war als hier. Sie erinnerte sich noch zu gut an die Worte, die dieses kleine Flittchen gebraucht hatte. Wie sie ungeniert und zweifellos sogar in bestem Wissen in offenen Wunden bohrte, von denen niemand hätte wissen dürfen. Sie hatte ihren Wachhund von der Kette gelassen – 'um sie zu beschäftigen', wie sie gesagt hatte. Ashes wusste, wie viel Hohn und Spott allein in diesen Befehlen lag. Beschäftige sie – ich habe Dringlicheres zu tun. Sie konnte nicht sagen, wie dieses Weib und der Magier in Beziehung zueinander standen, doch dergleichen interessierte sie ohnehin nicht. Sie war ihm hierher gefolgt, um Alistair zu finden... und das würde sie auch! Mit grimmiger Entschlossenheit im Blick richtete sich die Elbe wieder auf. Ihr Auge tastete noch immer den Korridor ab, doch er war leer und schien es auch zu bleiben. Dieser Krieger, den man ihr auf den Hals gehetzt hatte, war stark, stärker als erwartet. Muskeln allein konnten so etwas nicht vollbringen und sie spürte das leichte Kribbeln, wann immer er einfach so 'verschwand'. Magie... oh sie hasste Magie und die Feiglinge, die ihre Kämpfe nicht anders gewinnen konnten, als sich derer zu bedienen! Es gab kein Geräusch. Die Fackeln an den Wänden flackerten monoton in ihrem stetigen Rhythmus und dem verzweifelten Aufbegehren, nicht von der völligen Schwärze der Obsidianfeste verschlungen zu werden. Hier war nichts, das ihn hätte verraten können – aber sie spürte es. Sie spürte seine Gegenwart, seine... Nähe. Das Schwert riss sie gerade rechtzeitig empor, noch während sie herum wirbelte. Sie konnte einen schweren Axthieb gerade noch abfangen, sich jedoch nicht verteidigen, als Thorin den gepanzerten Stiefel hob und ihr wuchtig in den Magen trat. Wieder stürzte sie, wurde von den Beinen geworfen. Ihre Finger umklammerten mit aller Macht krampfartig das Schwertheft. Wenn sie ihre Waffe verlor, würde sie gegen diesen Muskelberg noch schlechtere Karten haben als ohnehin schon. Doch warum beendete er dieses Trauerspiel nicht? Ashes wusste, das sie gut war. Sie prahlte nicht damit, weil dergleichen Idioten gebührte, die dafür die Rechnung erhielten. Aber sie wusste es. Dennoch – ihm war sie nicht gewachsen. Vielleicht in einem ehrlichen, fairen Kampf. Er mit seiner Lederrüstung und der schartigen Axt, sie mit ihrem Schwert und der Kettenrüstung. Es hätte ein schweres, unsicheres Duell werden können, eines, dessen Ausgang offen war. Aber immer wieder verschwand er, teleportierte sich oder wie immer er das anstellte. Mit diesem Vorteil und der nötigen Geschwindigkeit hätte er sie ohne Mühe längst niederringen können. Er hatte sie bereits in seine Sphäre entführt, an einen Ort, an dem ihre Sinne völlig überreizt und überlastet waren, unfähig, die Eindrücke zu verarbeiten – und er hatte sie daraus hervor gestoßen, just bevor die Kälte ihr Herz erdrosselt hätte. Er spielte mit ihr, das war der Elbe klar – sie wusste nur noch nicht, warum. Doch allein der Umstand, das man sie offenbar nicht völlig ernst nahm, reizte sie nur weiter. Ihre Hiebe wurden zu keinem Zeitpunkt von Verzweiflung geführt, dafür umso mehr von Zorn. Sie würde diesem Bastard irgendwann, irgendwie den Arsch aufreißen, wenn er sich weiter so anstellte – und danach wäre dieses Weibsstück dran! In all dem Durcheinander hatte sie ihre Umgebung aus den Augen verloren. Nur gelegentlich hatte sie bemerkt, das sie beobachtet wurden. Nicht von Augen, die einem Körper aus Fleisch und Blut angehörten. Es war, als würde die Dunkelheit selbst aus den Nischen jedes Raumes mit dutzenden von neugierigen Augen ihnen zusehen. Doch sie hatte nur das Publikum bemerkt, nicht den Pfad. Es fehlte der Festung an Treppenstufen. Schmale Gänge fielen in Wendelpfaden seicht abwärts oder stiegen auf, glatt geschliffen, poliert, aber mit genug Profil, damit Schuhe auch Haftung fanden – es war schwer, inmitten eines Kampfes zu bemerken, wie viele Stockwerke man schon hinter sich gebracht hatte. Bewusst wurde ihr der Ortswechsel erst, als sie sich einem weiteren Tor näherten. Erstmals trat Thorin wieder aus den Schatten hervor, ohne sofort die nächste Attacke zu führen. Ashes gönnte sich ein tiefes Durchatmen und kam nicht umhin, zu bemerken, wie erschöpft sie bereits war. Dieser Kampf verlangte ihr alles ab – und dieser Ochse wagte noch zu lächeln! „Sei nicht beleidigt.“ hob er an, während er mit der Axt hantierte, als wäre sie ein Bestandteil einer akrobatischen Einlage, „Die Kräfte, mit denen du hier spielst, die durch sie fließen, durch mich, durch den Stein unter deinen Füßen... sind nichts, das du mit Schwert und Zorn in die Knie zwingen kannst.“ „Das werden wir sehen.“ spie die Elbe erbost. Obgleich sie versuchte, sich zu sammeln, wieder zu Kräften zu kommen, musste sie noch immer Atem schöpfen. „Was hast du denn noch, hm? Sieh es dir doch einmal an. Deine Rebellen fliehen als Bettler und Obdachlose nach Süden. Was denkst du, wie weit sie kommen werden? Vielleicht schaffen sie es bis zu den Wüsten – aber hindurch? Vorbei an Amon Selona? Du hoffst auf Sundergrad, auf deine kleine Piratenfreundin. Erinnere dich, wie weit Hoffnung dich in den letzten Jahren gebracht hat.“ Thorin war kein Mann vieler Worte. Es zählte nicht unbedingt zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, mit dem Feind zu reden, eine kleine, schicke Predigt zu schwingen und weitschweifig auszuführen, warum Widerstand nutzlos und dumm gleichermaßen wäre. Doch Ashes war ein Sonderfall. Sie war von Bedeutung, nicht nur für ihn, auch für Ninafer. Sie war... anders. Und obendrein beschäftigte sie auch jedes Wort, das er sprach. Er wollte sich mit ihr messen. Ein ordentlicher Kampf, das war zu Beginn sein Bestreben gewesen, doch nur zu schnell erkannte er, das dergleichen gar nicht mehr möglich war. Die Kraft, die in seinen Schlägen steckte, die Geschwindigkeit, die seine Beine aufbrachten... gewiss, ein Teil davon entsprang seiner eigenen, körperlichen Konstitution – aber eben nicht alles. Er hätte sich mit ihr nicht fair messen können, selbst wenn er sich redlich bemüht hätte. Also führte er mit schnellen Schritten alles den nächsten Punkten entgegen. Ihm war klar, das Ashes für Worte nicht empfänglich wäre. Sie war in dieser Beziehung... ihm sehr ähnlich. Hatte er denn auf Ninafer gehört, als sie verlangte, er solle niederknien? Nein. Er hatte gekämpft, bis zum letzten Atemzug, bis Blutverlust und Erschöpfung ihn bezwangen... und ausgerechnet auf die Knie stürzen ließen. Sie hatte es als einen Sieg gewertet. Ashes würde einen ähnlichen Weg beschreiten müssen. Vielleicht war er nicht ganz so lang wie der Seine. Sturheit, Torheit und Trotz hatten sich über die vielen, vielen Jahre tief in sein Gemüt eingegraben. Ashes war 'nur' restlos verbittert. Man hatte ihr alles genommen, immer und immer wieder. Ihren Geliebten. Ihre Familie. Ihre Wurzeln in Volk und Heimat. Ihre Freiheit. Ihre Freunde. Ihre Rebellen. Und nun, scheinbar als Krönung dieser Serie... Alistair. „Hör sofort auf!“ mahnte die Elbe an. Thorin wusste, worum es ihr ging. Er wühlte völlig ungeniert in ihrem Kopf herum und jemand wie sie, mit einem grundsätzlichen Gespür für Magie, bemerkte dergleichen zweifellos. Aber er hatte wiederum keine Veranlassung, auch nur eine Sekunde auf sie zu hören. Was sollte sie schon tun? Ihn erneut angreifen? Früher oder später würde das ohnehin geschehen, sie würde sich selbst damit nur kostbare Zeit zur Erholung nehmen. Er dagegen interessierte sich längst nicht für das, was sie zu beschützen versuchte. Ihre Zeit in den Kerkern Sundergrads, die Stunden mit diesem schmächtigen Nordmann, was war ihm das doch gleichgültig! Nein, er wollte wissen, was sie konnte. Was man ihr gelehrt hatte, was sie in all den Jahren ihres Lebens geleistet hatte. Mit dem, was er auf jener Suche fand, war er durchaus zufrieden, wenngleich die Elbe seine Bemühungen auch vorzeitig unterbrach. „Schluss!“ keifte sie ihn zornig an und setzte vor. Ihre Klinge fuhr nieder, ins Nichts hinein und durch nichts hindurch, nur, damit sie wenige Augenblicke später von einem kraftvollen Kinnhaken von den Füßen geholt wurde. Der Aufprall am Boden war hart und schmerzhaft, aber nichts im Vergleich mit dem Tritt, der ihr danach in die Magengrube gegeben wurde. Eine Lache aus Galle und einer Spur Blut keuchend, krümmte sich die Elbe einen Augenblick zusammen, während sie mit aller Macht dagegen ankämpfte, das Bewusstsein zu verlieren. Thorin ließ ihr keine Zeit, sich zu fangen, auf die Füße zu kommen, wieder kampfbereit zu werden. Er trat an sie heran, packte bar aller Zurückhaltung mit der Pranke in ihren Haarschopf und zerrte die Elbe, die einen Moment überrascht aufschrie, durch den Torbogen in eine weitere Halle hinein. Sie war wesentlich kleiner und tiefer als der Thronsaal Ninafers, diente jedoch auch ganz offensichtlich völlig anderen Belangen. Wachen fand man hier, wie in der gesamten Zitadelle, nirgendwo. Es gab weder überborderte Teppiche, Selbstportraits oder Büsten, noch Waffenständer oder Rüstkammern. In diesem Saal befand sich das hiesige Äquivalent einer Folterkammer. Unzählige skurrile Kreationen aus Holz und Metall. In mancher kleinen Kuhle brannte ein Feuer, das offenbar irgendetwas warm oder in Bewegung hielt, das leise Klicken und Rattern von Ketten und Mechanismen hielt die Geräuschkulisse monoton am Leben und war damit gewissermaßen zumindest eine Verbesserung gegenüber der Totenstille in den Gängen. Irritiert bemerkte die Elbe aus dem Augenwinkel heraus, das in einer Ecke des Raumes sogar ein Schrank stand, neben dem ein kleines Bett postiert war. „Mir ist klar, das du keiner Vernunft zugänglich sein wirst. Nicht jetzt. Aber wir haben Mittel und Wege.“ eröffnete Thorin in geradezu nebensächlichem Tonfall, ehe er harschen Schrittes auf die Elbe zusetzte. Sie versuchte sich aufzurichten, kam jedoch gerade einmal bis auf die Knie, als ein Fausthieb sie direkt an der Schläfe traf und alle Lichter löschte. Sie spürte noch die Erschütterung, die Verschiebung von Gleichgewicht und Wucht, doch schon beim Aufprall am Boden war sie bewusstlos. „War das wirklich nötig?“ flüsterte die Dunkelheit dem Krieger zu. Thorin jedoch schnaubte nur verächtlich. Von Notwendigkeiten konnte man nur zu leichtfertig sprechen, um andere zu rügen. Er kannte Ashes auf einer Ebene von Parallelen in ihrem Geist und ihrer Vergangenheit – er wusste, das er bestimmte Dinge klar stellen musste, bevor irgendwelche weiterführenden Schritte unternommen werden konnten. Eines, was nun deutlich genug in ihrem Kopf herum schwimmen sollte, war die schmerzliche Erkenntnis, ihm im Kampf einfach nicht gewachsen zu sein. Ashes hatte verloren, auf ganzer Linie versagt. Jemanden zu retten, dafür war sie hierher gekommen. Sie hatte weder erfahren, wo Alistair war, noch ihn befreien können. Alles, was sie erreicht hatte, war der Aspekt, diesem Magier eine Eskorte bis hierher gewesen zu sein. „Bereite alles vor. Ich sehe nach, wie weit sie mit dem Magier ist.“ befahl der Kahlkopf und wandte sich rasch von dem erschöpften, zerschundenen Elbenleib ab. Seine Schritte trugen ihn wieder zurück in die höheren Stockwerke der Zitadelle. „Hier entlang...“ flüsterte man ihm leise ein. Unter all den Lakaien, die Ninafer inzwischen gefunden hatte, unter den gebrochenen, verlorenen, zerschundenen Seelen erkannte er ihre Stimme allzeit wieder, selbst durch die Schleier und Schwaden der Schatten, durch die sie zu ihm sprach. Er folgte ihrer Anweisung zielsicher zurück in die Halle. Schwere Schritte trugen ihn den Teppich entlang und schließlich auch die Stufen zu ihrem Sitz herauf. So manch anderer wäre für diesen Frevel bereits bestraft worden. Er hielt nicht inne, er erwies ihr keinerlei Respekt, keine Verbeugung, nichts. Doch er war nicht irgendwer. Gewissermaßen war die Herrin dieser Festung mit diesem Klotz vertrauter, auf einer skurrilen Ebene intimer, als mit jedem anderen Geschöpf hier. Und immer wieder gab es Tage, an denen sie das gleichermaßen bedauerte und erfreute... „Wo ist der Magier?“ erkundigte sich der Krieger ohne Umschweife und ließ seinen Blick wandern. Aulet, die von Ashes Dolch gefällt und die Stufen rückwärtig herab geworfen worden war, war offenkundig verschwunden. Vermutlich wurde sie gerade... behandelt. In ihr unseliges, verfluchtes Leben zurückgerufen. Irgendwo weit über ihnen erklang das rhythmische, schwache Schlagen von Flügeln. Zweifellos schwärmten die Harpyien noch immer um die Zitadelle wie der Krähenschwarm um den Turm der Friedhofskapelle. „Er führt eine Unterredung. Es wäre mehr als unhöflich, ihn zu stören, findest du nicht?“ eröffnete Ninafer in einem Tonfall, der ihm trotz aller Höflichkeit und Freundlichkeit klar machen sollte, wie unangemessen und töricht es wäre, ihn jetzt aufsuchen zu wollen. Sie kannte ihn. Es war nicht schwer, aus Thorin zu lesen. Er spürte es, geriet darüber oft in Zorn und griff sie gelegentlich sogar an, wenn er sich einmal mehr zu stark fühlte – dieserlei kleine Kabbeleien gab es von Zeit zu Zeit. Bei einem Menschen wie ihm war das wohl unumgänglich, obwohl es natürlich auch andere, ruhigere und angenehmere Zeiten gab. Er misstraute Drakimh... aber der Kahlkopf misstraute auch Orykene, Aulet, allen anderen. Gerade so, als hätte er sich nunmehr unbemerkt in ihre Gedankenwelt eingeschlichen, hob der schroffe Fels die Stimme an. „Ich traue ihm nicht. Er ist Magier... keine Gefahr sicherlich, aber er könnte auf dumme Ideen kommen. Irgendwelchen Unfug anstellen. Von all den Lachfiguren in diesem fliegenden Stück Fels hat er noch das größte Potenzial, unbequem zu werden.“ Ich könnte das ändern, dieses 'Problem' lösen... Er sprach es nicht aus – aber Ninafer brauchte diese Worte nicht aus seinem Geist heraus zu lesen wie die Passage eines alten Buches, es genügte, auf seinen Tonfall zu hören und die Andeutungen in seinem Blick zu erspähen. Er hatte gegen Ashes gekämpft und er hatte sie ohne jede Mühe bezwungen – weil die Elbe ihm im Nahkampf vielleicht ebenbürtig war, es jedoch nicht mit den Mächten aufnehmen konnte, die inzwischen in ihm wüteten und ihn stärkten. War es so profan? Suchte er einfach nur die nächste Herausforderung? „Orykene passt auf ihn auf. Vorläufig wird er nirgendwo hin gehen. Er hofft noch immer, sie retten zu können – also wird er auch nichts anstellen. Du bist schon wieder so unruhig... setz dich doch und-“ „Ihr traue ich auch nicht.“ unterbrach der Muskelberg sie schlicht und ging mit keiner Silbe auf ihr Angebot ein. Ninafer seufzte schwach, ein wenig enttäuscht. Sie hatte gehofft, er wäre ihrer Freundlichkeit vielleicht diesmal ein klein wenig zugänglicher, doch er bewies auch diesmal eine unerfreuliche Kontinuität in seinem Verhalten. „Wie geht es unserem neusten Gast?“ verlangte sie daher schlicht zu wissen. Natürlich war die Frage überflüssig. Wenn sie es wünschte, wäre sie in wenigen Augenblicken selbst in der Folterkammer und könnte sich davon überzeugen. Sie könnte auch einfach in die Erinnerungen des Kriegers einbrechen und sich anschauen, ob er im Kampf gegen sie vielleicht zu weit gegangen war, doch bei all den Möglichkeiten und all der Macht... wollte sie es nicht übertreiben. Und Ninafer wusste, das sie ihren Hoffnungen nie näher kommen würde, wenn sie ihn weiter verprellte. „Der Kampf war nicht fair. Sie ist völlig fertig und ich gab den Auftrag, sie zu binden. Sie... ist stark.“ War die Zusammenfassung der Geschehnisse vielleicht noch das erforderte Minimum, so schien der letzte Zusatz keineswegs typisch zu sein. Doch auch dergleichen kannte sie gut – es war ein Ansatz, ein Auftakt. Er begründete oberflächlich, ehe er zu etwas anhob... in der Regel zu einer Bitte. „Ich will sie haben.“ Einen kurzen Moment lagen diese vier Worte bleischwer in der Luft, ehe das leise, verhaltene und helle Kichern der Herzogin erklang. Oh sie war sich durchaus darüber im Klaren, wie fürchterlich unangemessen und kindisch es war, wegen solcher Dinge derartig amüsiert zu reagieren. Doch es war irgendwie befremdlich, Thorin davon sprechen zu hören, das er etwas – jemanden sogar! - „haben“ wolle. In der Regel waren sie an einem Punkt angelangt, an dem er nichts mehr erstrebte, nichts mehr begehrte und nur noch für die Aufträge zu leben schien, die sie ihm erteilte. Woher also die plötzlichen Ambitionen? „Willst du das? Nun, du hast sie ohnmächtig zurückgelassen, nicht? War das doch deine beste Chance...“ setzte sie auf ihr Amüsement das Sahnehäubchen und beobachtete wohl unterhalten, wie er mit den Kiefern mahlte. Er glaubte wieder, von ihr vorgeführt zu werden, glaubte wieder, sie würde sich einzig und ausschließlich auf seine Kosten amüsieren, obwohl er es doch so ernst meinte und... ach dieser Mann war manchmal fürchterlich anstrengend. „Du könntest wenigstens lächeln.“ seufzte Ninafer, als sie sich langsam beruhigte und ihre gute Laune im Angesicht der steinernen Miene ihr gegenüber auch ebenso rasch wieder zerfiel. Was für ein Spaßverderber. „Sie ist mir an Kraft vielleicht gewachsen. Mit den Fertigkeiten, die mir zuteil wurden, könnte sie unserem Ziel bestens dienen. Vielleicht würden wir dann sogar noch rascher die notwendigen Schritte angehen können und-“ Thorin war kein Mann vieler Worte. Oder guter Worte. Das merkte man schnell – er bemühte sich redlich, vernünftig zu argumentieren und das nun ausgerechnet in einer Situation, in der selbst der weltbeste Rhetoriker schlicht und ergreifend versagt hätte, einfach, weil es von vorn herein keinerlei Chance auf einen Sieg gegeben hatte. Dementsprechend versuchte sie auch, den Schaden zu begrenzen und hob flink die Hand, um ihn zum schweigen zu bringen, ohne ihm dafür ins Wort fallen zu müssen. Sie konnte sich gut vorstellen, wie er ihr das wieder auslegen würde, obwohl er sich umgekehrt fortwährend dieses Recht heraus zu nehmen schien... daran sollten sie bei Gelegenheit arbeiten. „Du kannst sie nicht haben.“ „Warum? Mit Schmerz kennt sie sich aus, mit Kampf und Gewalt... ich werde sie zu nichts überreden können. Du aber kramst doch mit Vorliebe in den schmerzhaften Erinnerungen und Gedanken anderer herum... du könntest sie überzeugen.“ Der unterschwellige Vorwurf war geradezu niedlich. Selbst nach der langen Zeit, die sie nun so exzellent zusammen arbeiteten, konnte er es nicht sein lassen, von Zeit zu Zeit immer noch darauf hinzuweisen, wie alles begonnen hatte. Vielleicht war er ja ein wenig nostalgisch und wünschte sich die Zeiten zurück, als diese Pranken sich noch um ihren Hals gelegt und mit der Kraft eines Schraubstockes geschlossen hatten? „Ashes ist eine zerschundene Seele, sie ist für eine Elbe noch so jung und dennoch im Geiste bereits so schrecklich gealtert. Bitter bis ins Mark und verletzt...“ „Macht es das nicht leichter?“ „Durchaus. Aber es gibt Pläne für sie – die den Deinen im Wege stehen. Thorin, du musst verstehen, ich- nein, warte doch! Thorin!“ Sie hatte den Augenblick genau erfassen können. Den Punkt, an dem er erkannte, das er nicht bekommen würde, was er wollte. Mehr noch. Sie hatte gesehen, wie es in ihm arbeitete, noch bevor er auf der Hacke kehrt machte und einfach wieder aus der Halle verschwand. Er ließ sie zurück, frustriert von diesen abgebrochenen Unterredungen. Sie hätte ihn dafür mahnen können, sie hätte ihn aufhalten können, selbst jetzt noch wäre es in ihrer Macht gewesen, ihn zurück zu bringen... doch wozu? Für noch mehr Streit? „Ihr könntet unzählige Männer haben. Ich begreife nicht, warum ihr euch mit ihm solche Mühe gebt.“ erklang eine leise flüsternde Stimme. Ein leises Zischeln schien unterschwellig darin zu liegen. Kurz darauf führten lautlose Schritte die Figur Aulets wieder die Stufen herauf, an die linke Seite des Thrones. Ihre reptilienhaften Augen fingen den Schein des Feuers ein und funkelten dem Tor entgegen, durch das der Kahlkopf so rüde verschwunden war. „Ach das ist... kompliziert.“ erwiderte Ninafer lediglich seufzend. Es war nicht so, das Aulet nicht mit ihren Worten Recht hatte, nur... Thorin! - Thorin! Geh nicht! - Wir verbieten es! Du hast dort nichts zu suchen. - Verschwinde! Lass sie! - Das geht dich nichts mehr an! Ein penetrantes und diffuses Gewirr aus Stimmen bemühte sich, ihm die Orientierung zu rauben, ihn die falschen Gänge entlang laufen zu lassen, während der Krieger immer rascher seine eigenen Überlegungen zusammen stellte. Es gab Pläne für Ashes... Pläne... das war das Schlüsselwort. Es war nicht so, das er unbedingt in alles eingeweiht werden wollte, er brauchte keine Kontrolle über die vollständige Situation – diese Zeiten hatte er hinter sich gelassen. Doch er empfand eine gewisse... Verbundenheit mit diesem Weib. Sie war ihm in mancherlei Hinsicht ähnlich. Welche Pläne es auch waren, selbst Ninafer hatte nicht sonderlich begeistert geklungen... oder hatte er sich das nur eingeredet? Der Krieger ahnte, das er zu spät käme oder in jedem Fall machtlos wäre, doch er wollte es zumindest auf den Versuch ankommen lassen. Das Ziel der Zitadelle, Ninafers, sein Ziel war die Säuberung dieses Landes. Dabei hätte es bleiben sollen. Ashes aber war kein Einwohner Lumiéls, sie war eine Söldnerin mit Wurzeln irgendwo in Übersee und ohne es auszusprechen, formte sich aus allerlei wirren Gedanken heraus allmählich eine Ahnung. Es würde alles passen – nur wäre es für ihn völlig inakzeptabel. Sein harscher Schritt ging allmählich in einen zügigen Trab über, bis er weiter an Tempo aufnehmend die Korridore der Zitadelle entlang stürmte. In den Treppengängen nahm er drei Stufen auf einmal, wählte damit einen anderen Pfad, als er die Elbe zuvor auf die untere Ebene herab geführt hatte und hoffte, damit etwas schneller am Ziel zu sein. Tatsächlich traf er an der Kammer ein, gerade, als die Tore sich zu schließen begannen. Noch während er sie wieder aufstieß, zog sein Arm in einer flüssigen Bewegung empor und zückte das scheinbar schartige Blatt der Axt von Neuem. Ashes lag auf einem Sockel aufgebahrt, einer Art Altar ähnlich scheinend. Die eisernen Ketten um ihre Hand- und Fußgelenke hielten – noch. Doch es war deutlich, das die Ohnmacht sie nicht lange halten konnte und die blanke Sturheit und der Trotz sie dazu brachten, gegen das Metall zu arbeiten. Sie hatte sogar bereits einen recht ansehnlichen Effekt erreicht – die Schrauben lösten sich langsam aus dem Stein und je mehr Freiraum sie bekam, umso schneller kam sie voran. Thorin störte sich daran herzlichst wenig, er hatte andere Sorgen. Dieses Mal würde er von Angesicht zu Angesicht gegen sie kämpfen. Nicht, weil er es unbedingt und um jeden Preis wollte, sondern, weil die Schatten ihm jegliche Hilfe verweigerten. Sie ließen ihn nicht mehr ein, sie stärkten ihn nicht – er handelte wider ihres Willens, also straften sie ihn ab... oder versuchten es zumindest, in dem sie sich nicht einmischten. Er hatte es schon bemerkt, als er die Thronhalle verließ und versuchte, sich in den Schatten schneller zur Kammer zu bewegen, als ihm im Laufschritt möglich gewesen wäre. Gerade, als er den Sockel erreichte, riss sich die Elbe mit einem Arm los. Thorin holte aus und schlug zu, doch sie vermochte es, sich auf die Seite und damit nah an den Rand des Altars zu rollen. Kleine Steinsplitter rieselten durch die Luft, als die Axt auf blanken, soliden Stein traf. Findige Finger öffneten die einfachen Riegelverschlüsse und noch vor seinem zweiten Angriff hatte sich Ashes völlig befreit. „Du wirst die Zitadelle nicht verlassen!“ fuhr der Krieger sie an, während er sich in einer bereit machte, ihr erneut im Kampf zu begegnen. Ashes jedoch, so zornig ihre Augen auch funkelten, hatte auch nicht vor, zu gehen. Sie hatte durchaus begriffen, das sie ihm vielleicht nicht gewachsen war, doch sie war nicht bis hierher gekommen, um jetzt aufzugeben und einfach abzuziehen. Sie würde finden, weshalb sie gekommen war – und dieser Klotz am Bein würde sie zweifellos nicht davon abhalten können, außer er brachte sie um. Das jedoch, so vermutete sie, lag außerhalb seiner Interessen – sonst wäre sie nach dem ersten Kampf nicht wieder aufgewacht und hätte sich in der Lage einer Gefangenen wiedergefunden. Ein Gefühl, das gleichermaßen bekannt wie verhasst war. Der Worte waren genug 'gewechselt' worden. Ashes sprang unter seiner ersten Attacke hindurch und vollbrachte es, mit wenigen Schritten einen der Waffenständer zu erreichen. Es war nicht unbedingt ihre favorisierte Waffe, aber sie hatte nicht alle Zeit der Welt. Rasch packte sie zu und wirbelte geschickt herum. Der Hüne entkam in seinem Ansturm nur knapp der Klinge der Hellebarde und sah sich einen Augenblick in die Defensive gedrängt, als die Elbe ihn geschickt und flink auf Distanz hielt. Das sie damit nicht wirklich zu kämpfen vor hatte, war offensichtlich. Zu oft schweifte ihr Blick ab, musterte den Raum, durchsuchte ihn... nach einer Waffe, mit der sie besser umzugehen wusste. Thorin wiederum passte einen solchen Moment ab, preschte vor und packte die Lanze knapp hinter der Klinge. Er schlug mit der Axt die Waffe entzwei und wollte schon nachsetzen, schlug die Elbe mit dem zersplitterten Holzstück zu, als hätte sie eine Trollkeule in der Hand. Tatsächlich war ihr Hieb überraschend stark und das gesplitterte Ende hinterließ ansehnliche Kratzer auf seiner Wange. Nichts, was seine Kampfbereitschaft beeinflusste, aber es verschaffte ihr die nötigen Sekunden, sich eines der Schwerter anzueignen. Nunmehr schien der Kampf deutlich ausgeglichener – sehr zu Thorins Unwillen. Hoch oben über ihren Köpfen arbeitete die Zitadelle längst. Die Schatten, die die Festung belebten, in der Luft hielten, sie bewachten und jeden Stein passgenau auf dem Anderen hielten, hatten erkannt, das der Krieger sich durch dezente Nichteinmischung nicht bremsen ließe. Doch das Werk war noch nicht vollbracht, er war noch nicht... 'fertig'. Unruhige Bewegung herrschte an der Raumdecke. So, wie Drakimh fähig war, eine Kugel gleißenden Lichtes zu beschwören, schienen sich dort ihre völligen Gegenteile zu tummeln. Kleine Punkte, Singularitäten, die jegliches Licht in sich einzusaugen schienen, die eine finstere, lichtlose Spur hinter sich her zogen. Dutzende, Hunderte, die knapp unter der Decke aufgeregt wirbelten und immer schneller wurden, das Chaos ihrer Bahnen vergrößerten, je rascher der Kampf unter ihnen vonstatten ging. Ninafer hatte sie zur Eile angetrieben, sah sie doch noch immer eine Möglichkeit, das alle mehr oder minder heil aus dieser Situation heraus kommen konnten. Einstmals war Diplomatie ihre Stärke gewesen – vielleicht war es an der Zeit, das von Neuem zu beweisen. Metall scharrte über Metall, als Thorin den Streich der Elbe nur knapp parieren konnte. Sein Panzerstiefel hob sich, er rammte sein Knie in ihre Richtung, doch die Elbe entkam flink genug, wich zur Seite aus und zog die Schneide schon zum nächsten Hieb seitlich heran. Immer häufiger erklang das Geräusch der Waffen und Paraden, beide Kämpfer waren mehr als warm gelaufen und hoben ohne jede Gnade aufeinander ein. Nur einen einzigen Schwachpunkt bräuchte es, nur einen Augenblick der Unachtsamkeit, um all das zu beenden, doch... bisher war keiner dieser Augenblicke ausreichend gewesen. Ashes blutete aus einer kleinen Schnittwunde am Oberschenkel, noch immer rang sie mit der Erschöpfung und den Schmerzen des vorherigen Gefechtes und ihre Schulter fühlte sich von einem Fausthieb leicht lahm an, doch auch Thorin war bislang nicht ohne Spuren davon gekommen. Sein Rücken brannte wie Feuer von einem Streich, den sie erfolgreich quer darüber geführt hatte. Sein alter Lederpanzer hatte die Schneide abfangen, die Wucht jedoch nicht bremsen können. Schließlich zog der Kahlkopf seine letzte Trumpfkarte. Er verlagerte sich deutlich in die Defensive, beschäftigte sich damit, Ashes Angriffe abzuwehren, während er sich selbst in seine Erinnerungen zurück fallen ließ. Ninafer und ihre Schatten hatten zahllose Bilder und Begebenheiten rekonstruiert, nachdem man ihm den Alkohol erst einmal großteilig ausgetrieben hatte. Alles, was zerstört und vergessen worden war, war zu ihm zurückgekehrt. Es waren schreckliche Momente gewesen, doch gerade hier und jetzt nützte ihm die damals durchlittene Pein. Vor vielen Jahrzehnten hatte der Krieger von einem seiner besten und engsten Freunde gelernt, was es mit zwergischen Berserkern auf sich hatte. Krieger, die gelernt hatten, einen unbändigen Zorn zu entfesseln und dennoch ansatzweise Herr ihrer Sinne zu bleiben. Er hatte gelernt, es ihnen gleich zu tun – und nichts schürte seine Wut mehr als die Erinnerungen, die Ninafer ihm zurückgegeben hatte. Bilder von Kriegern in blutroten Rüstungen, die er unter widrigsten Bedingungen und trotz besseren Wissens in die Schlacht gegen die grüne Flut geführt und dort auf dem Feld verloren hatte, Männer und Frauen, die unter seinem Kommando gestorben waren, all die Gefährten, die bei dem Versuch ihr Leben ließen, gegen seine Majestät vorzugehen, all die Freunde, die er verloren hatte. Ein Marathon schlechter Erlebnisse und scheinbarer Schicksalsschläge, eine sich stetig steigernde Kette von Fehl- und Tiefschlägen, von Gesichtern, von Blut und letzten Worten, die an Geschwindigkeit aufnahm, bis die letzten Bilder geradezu quälend lange in seinem Geist verweilten. Er kehrte heim... grünes Gras, weite Äcker in voller Blüte... alles wirkte so unberührt. Nur die Haustür, die offen stand, verwunderte ihn... die schlammigen Spuren von Stiefeln auf der Schwelle... Die Erinnerungen an jenen schicksalhaften Tag, als er Weib und Tochter geschändet und nieder geschlachtet in seinem eigenen Heim fand, die Stunde, als das Schicksal eines Mannes neu geschrieben wurde – sie weckte noch heute, Jahrhunderte später, schiere Raserei in ihm. Thorin brach so abrupt aus der Starre hervor, das Ashes die nötige Zeit fehlte, zu kontern. Hatte er eben noch in scheinbarer Trance ihren Hieb pariert, so packte er plötzlich ihr Handgelenk, zerrte sie ruppig und überraschend schnell hervor und rammte seine Stirn gegen die Ihre. Schmerz blitzte in seinem Kopf auf, doch nährte er nur, was in seinen Venen brannte. Die Elbe taumelte ein Stück zurück, versuchte sich wieder zu sammeln, da war der Kahlkopf auch schon direkt vor ihr. Sie riss gerade noch rechtzeitig die Klinge empor, als die Axt mit ungemeiner Wucht nieder fuhr. Sie konnte gerade noch zurück setzen, war ihre Parade doch gescheiterte – weit genug zurück, damit sein Stiefel sie hart im Bauch traf. Mit einem Schlag war die Erschöpfung wieder da und rang damit, sie in die Knie zu zwingen, doch trotzig wie eh und je, stellte sie sich erneut. Als der nächste Schlag kam, riss sie abermals die Klinge empor. Nun wissend, worauf sie sich einließ, fasste sie die Spitze ihrer Linke in ihre Hand, um dem Metall mehr Widerstandkraft zu bieten. Es gelang ihr, den Schlag abzufangen, doch die Kraft hinter jener Attacke trieb ihr die Klinge schmerzhaft, wenn auch bislang ohne Wunde, in die Hand. Zudem wollten ihre Knie einen Moment nachgeben. Immer schon hatte sie viel ausgehalten, ihre Kondition war der ihrer Feinde oft überlegen gewesen, doch hier nun stieß sie an ihre Grenzen. Zwei so schwere Gefechte direkt aufeinander überstand selbst Ashes nicht. Sie fand nicht mehr die Zeit zu kontern, sie kam nicht einmal mehr aus ihrer Parade heraus. Thorin hob mit vor Hass glühenden Augen auf sie ein, wieder und wieder und wieder, seine schiere Kraft zwang sie auf die Knie, die Klinge trieb sich in ihre Hand hinein, Blut rann ihren Arm herab, bis der Krieger die Monotonie durchbrach. Seine Faust durchbrach die Parade und erwischte die Elbe unvorbereitet. Sie wurde zurückgeworfen, landete unsanft auf dem Rücken – und konnte nur einmal mehr gerade rechtzeitig die Klinge heben. Der letzte Hieb, den der Kahlkopf austeilte, entschied den Kampf. Die Wucht dieses Schlages übertraf noch, womit er zuvor die Elbe und ihr Schwert traktiert hatte. Wie in Zeitlupe sah Ashes die Klinge beben, zittern, sah die haarfeinen Risse sich ausbreiten. Die Klinge zerbarst unter der Kraft des Schlages, das Heft entglitt ihrer Hand, das Klingenstück dagegen schnitt sich noch tiefer in ihre Wunde und eine Reihe von Splittern sauste wie Geschosse umher. Sie bohrten sich in Thorins Oberschenkel, der sich kaum dafür zu interessieren schien, sie fraßen sich in den Boden – und in Ashes Schulter. Sie wurde erneut zurück geworfen. Sie wusste, das ihr Leben davon abhing, dem nächsten Schlag zu entgehen. Sie könnte sich zur Seite rollen, ihm gegen die Knie treten und... nein. Sie könnte nichts dergleichen. Ihre Kräfte waren schlicht erschöpft. Sie lag am Boden, sie war besiegt – einmal mehr – und spürte, das sie sich vielleicht noch zur Seite hätte drehen können, aber was hätte ihr das schon gebracht, außer einem kleinen Aufschub? Sie wäre zu fliehen gezwungen gewesen und dazu besaß sie nicht die Kraft. Sie bezweifelte, das sie sich überhaupt gegenwärtig eigenständig auf den Beinen hätte halten können. Die Axt hob sich ein letztes Mal und erstarrte, während der Krieger auf sie herab spähte. Just in jenem Augenblick beendeten die Schatten ihr Werk. Eine kleine Kugel, jene physische Ausprägung der Abwesenheit von Licht, schnellte von der Decke herab, aus dem Wust des chaotischen Wirbelns heraus. „Das war nicht der Handel!“ wurde ihm vorgeworfen. Doch der Krieger war völlig unzugänglich für Vernunft und Worte. In seinem Kampfrausch sah er nur noch den Feind vor sich, der ausgelöscht werden musste. Handel? Was für ein Handel? Die Klinge rückte in Richtung der Elbe hervor und erstarrte nach einem kurzen Zucken bereits wieder, als unzählige Schlingen sich um den Leib des Kriegers banden. Binnen Sekundenbruchteilen war der Hüne völlig fixiert und die Szenerie erstarrte. Die Kugel schwebte vor ihm – und damit über Ashes. Der Glatzkopf schnaufte wie ein Stier in der Arena, während seine Augen noch immer voller Inbrunst die Elbe fokussiert hielten. Nur leise, aber durchdringend erklang die Stimme vom Tor der Halle her. „Thorin... hör auf.“ Langsam schritt Ninafer über den schwarzen Obsidian der Halle bis zu ihrem Getreuen herüber. Sein Blick wanderte, langsam, träge. Er hatte sich so tief in diesen Rausch hinein gesteigert, das in seinem Kopf ein kreischendes, zorniges Chaos herrschte. Kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen – fast bemitleidete sie ihn dafür, in diesem Zustand am stärksten zu sein. Ihre zarten, schlanken Finger legten sich auf seinen Unterarm und eine Reihe der Fesseln aus Schwärze und Schatten löste sich von ihm. Längst nicht alle – jeder im Raum war zu vorsichtig, ihm mehr Freiheit einzuräumen, als gut war. „Beruhige dich.“ bat die Herzogin ihren Leibwächter mit sanftem Tonfall, und so zuwider ihm ihre Gegenwart und ihre Anwandlungen von Nähe zumeist auch waren... er bemühte sich, zu gehorchen. Es war schwierig, etwas einzufangen und zu beherrschen, das man entfesselt hatte, weil es unbezähmbar war. Fast wäre er ihr dankbar dafür gewesen, das sie sich in seinen Kopf eingrub und ihm half. Fast. Denn sie hatte dort trotzdem nichts zu suchen, sie... Sein Blick fiel auf Ashes herab und obgleich es schwer war, das einzugestehen... fiel es ihm nicht mehr so leicht, Ninafer zu grollen. „Ich weiß das zu schätzen, wirklich. Und nun komm... wir haben noch zu tun.“ Auch die letzten Schatten zogen sich langsam zurück. Sie war umsichtig genug, die Hand von seinem Arm zu nehmen und wies ihm stattdessen den Ausgang. Ein letzter Blick auf die Bezwungene herab, ehe die Axt auf den Boden fiel und ein Scheppern hinterließ, dessen Echo mehrfach im Raum auf und ab wallte, von den Säulen und glasglatten Wänden reflektiert. Das Duo ließ die Kammer hinter sich und nun, wie schon vor dem Erscheinen des Kriegers angedacht, schlossen sich die Tore hinter ihnen. Zurück blieb Ashes, die sich ächzend am Boden wand und versuchte, wieder zu Kräften zu kommen. Sie begriff nicht, was eben geschehen war. Zuerst hatte er sie nur fern halten sollen und sie hierher geschafft, wo er sie ohnmächtig schlug und anbinden ließ. Als er dann zurückkehrte, nahm er den Kampf wieder auf – und diesmal ganz offensichtlich bemüht, sie zu töten, bis dieses Flittchen auftauchte und ihren Köter zurück pfiff. Was ging hier eigentlich vor sich? „Sie ist kein Flittchen.“ eröffnete eine leise Stimme ihr. Ashes versuchte die Quelle zu erkennen, doch mit der Kraft, die sie fand, um ihren Kopf zu heben, erkannte sie lediglich, das der gesamte Raum leer war. Mit purem Willen zwang sie sich, ihren Körper bis zur nahe gelegenen Wand zu schleifen, an der sie sich halb aufsetzte und mit dem Rücken gegen den angenehm kühlen Stein lehnte. Noch mehr Feinde? Noch mehr Schatten, die sich mit ihr prügeln wollten? „Wo... ist Alistair?“ brachte sie erschöpft hervor. Wenigstens eine Antwort. Nach allem, was hier geschehen war, wollte sie wenigstens eine verdammte Antwort haben! „Näher als du glaubst.“ erwiderte die Stimme lediglich. Die kleine Sphäre, die von der Decke herab gerauscht war, um in den Kampf einzugreifen, begann nun Ashes Aufmerksamkeit zu erregen. Obgleich es klang, als würde die Stimme von allen Seiten zugleich kommen, wähnte ihr gutes elbisches Gehör die Quelle darin gefunden zu haben. Just in diesem Moment expandierte die Kugel, wuchs heran, vergrößerte sich, bekam Arme, Beine, Kopf. Nachdem die Konturen ausgeprägt waren, schienen die schwarzen Schaden wie die Reste eines nicht länger benötigten Kokons abzufallen – und gaben frei, weshalb die Elbe hierher gekommen war. Es gab keine Wörter für den Schmerz, den sie empfand, als ihr dieser Anblick zuteil wurde. Blass war er, wie immer. Seine Beine gerade, der rechte Arm ohne irgendeine Verletzung. Er hatte zu ihr gesprochen, mit einer Stimme, die von den Schatten verzerrt worden war – nun aber stand er dort, lächelte milde und war zweifellos in der Lage, ihr alles zu erzählen, was immer er erzählen wollte. Er hatte schon immer eine geschwätzige Ader gehabt. Der Blick der Elbe wurde glasig und hart zugleich. „Was haben sie dir angetan...?“ Alistair seufzte leicht und das Lächeln verlor sich. Er trat einen Schritt auf Ashes zu, nur um den Widerwillen in ihrem Blick wachsen zu sehen. Also zog er es vor, sich vor ihr im Schneidersitz auf den Boden zu begeben. „Es ist einiges schief gelaufen, nicht wahr? Ich habe es mir von Ninafer erzählen lassen. Während ich schlief... suchte ich nach dir. Nach Kat, nach... irgendwem, den ich kannte. Die Rebellen sind tot, Ash. Die Zentauren haben sie abgefangen, bevor sie Sundergrad erreichten. Vielleicht eine lächerliche Rache dafür, was die Harpyien ihrem Volk antaten. Von Kat fehlt jede Spur. Wenn sie klug ist, sorgt sie dafür, dass das so bleibt. Oder sie hat Lumiél bereits verlassen, vielleicht ist sie nach Anadyr zurück...“ Erklärungen. Fakten. Beobachtungen. Aber nichts, was die Elbe wirklich interessierte. Nicht jetzt. Wichtig war im Moment eher... „Warum?“ „Sie hat eine recht überzeugende Art. Denke nicht so schlecht von ihr – es waren weder Folter noch Verlockung nötig. Das zweite Mal in meinem Leben wurden mir Wunden beigebracht, die ich unmöglich ohne Folgen hätte überstehen können. Schon nach dem ersten Mal war ich... zerstört und... nun, du hast ja gesehen, wie ich in Sundergrad hauste und lebte, du hast erlebt, wie ich... war. Ich hätte das nicht noch einmal überstanden. Sie bot mir an, all das rückgängig zu machen. Sie bot mir mehr an, als ich je wollte. Rache an Aedan – das war mir gleich. Rache an den Wächtern aus Sundergrad, selbst nach ihrem Tod – ich war nie sehr nachtragend. Geschehen ist geschehen, sie zu quälen brächte mir meine Hand und meine Zunge nicht zurück, es würde mir nicht die Schmerzen nehmen, die ich jeden Tag empfand. Also bot sie mir genau das: Gesundheit. Jetzt und so lange ich lebe. Ich... habe dich nie vergessen. Ich handelte mit ihr, so gut ich es konnte, ich... Ash, bitte... sieh mich nicht so an.“ „Und was jetzt? Soll ich für sie arbeiten und wir spielen heile Welt?“ fuhr die Elbe den Mann an, den sie liebte. Sie war sich nicht darüber im Klaren, ob er überhaupt noch dieser Mann war... „Nein. Ich weiß, du traust mir nicht mehr. Wir dürfen gehen... ich habe meinen Teil des Paktes erfüllt und sie erfüllt den Ihren. Ich möchte... dich begleiten. Wir könnten Lumiél verlassen, endlich fort aus diesem verdammten Land, das uns nur Ärger gebracht hat. Irgendwo neu anfangen... uns wieder etwas aufbauen und vielleicht... schaffe ich es sogar, dein Vertrauen ein Stück weit zurück zu gewinnen, ich meine... du erinnerst dich doch, das wir...“ Hatte Alistair eingangs noch recht sicher und überzeugt geklungen, so musste die Elbe mehr und mehr die alten Züge ihres Liebsten in ihrem Gegenüber wiederfinden. Sie hörte, wie die Verzweiflung seine Stimme für sich einnahm, wie er leiser wurde, um zu verbergen, das seine Stimme erstickt klang, belegt. Sie sah ihm die Nervosität an, die... Angst. Er fürchtete sich schrecklich davor, allein zu sein, all dies auf sich genommen zu haben und nun keinen Platz mehr in ihrem Leben zu haben, er fürchtete sich... vor viel zu vielen Dingen, wie immer schon. Und dennoch steckte in jeder Zeile diese hoffnungslose Romantik und der Idealismus, der sie an so vielen Tagen bis aufs Blut gereizt hatte. Wenn diese Gestalt nicht Alistair war, dann war es der beste Schauspieler, den sie in ihrem Leben je gesehen hatte. Doch wie sollte es weiter gehen? Würden sie wirklich einfach die Segel streichen und dieses Atoll hinter sich lassen können? War Alistair überhaupt wieder oder noch ein Mann aus Fleisch und Blut? Wollte sie überhaupt gehen und alles hier hinter sich lassen? Sie könnten Kathryn folgen... und endlich den vor über zehn Jahren geschlossenen Pakt einlösen, ihre Heimat von einer Hochstaplerin zu befreien. Sie könnten viel, wenn die Welt ihnen erst einmal wieder offen stünde... „Wir sollten erst einmal von hier verschwinden.“ fasste die Elbe ihre Überlegungen knapp zusammen. Sie wusste es schon vorher und sah sich nur bestätigt, als sie einen Blick in sein Gesicht warf. 'Wir' war das Schlüsselwort. Sie hatte ihm nicht seine Ängste genommen, aber sie zumindest ein kleines Stück weit beschwichtigt... „Los, hilf mir hoch.“ forderte sie. Eine kühle Hand schloss sich um die Ihre, kühl – aber nicht kalt. Sie griff nicht durch ihn hindurch, er war keine wandelnde Leiche, er war... 'echt'. Während sie die Halle und kurz darauf auch die Zitadelle verließen, wagte Alistair zaghaft zu hoffen. Um Lumiél war es geschehen – das hatte Ninafer ihm gesagt. Dieses Land würde keine Rettung mehr erfahren. Wie viele Königreiche zuvor, würde es unter der Macht eines Gottes erzittern und zerbrechen. Aber die Welt war groß und vielleicht, nur vielleicht, würden Ashes und er noch eine zweite Chance bekommen. Mehr wollte er doch gar nicht. Nur eine zweite Chance... Kapitel 9: Auf- und Abstieg, Teil 1 ----------------------------------- Dumpf hallten die schweren Schläge in der Eingangshalle wider. Thorins Knöchel schmerzten einen Moment. Mit einem kaum deutbaren Blick bedachte er eben jene, musterte seine Hand. Er streckte die Finger, zog sie zur Faust zusammen. Auch so ein Aspekt, an den er sich einfach schwer wieder gewöhnen konnte. Das selbst so kleine Dinge… schmerzten. Es war nur eine Tür. Einfaches Holz. Keine Steineiche oder dergleichen, nein. Dennoch schmerzten seine Knöchel. Eine Weile schien es zu dauern, ehe Regung in das Haus kam. Er nutzte die Zeit, ließ seinen Blick schweifen. Lauter Trubel schallte hinter ihm, von allen Seiten schien er auf ihn einzudringen. Das Treiben einer lebendigen Stadt. Samara ging es gut, besser als jemals zuvor - keine Frage. Der König tat, was er konnte, um die Blüte seines geschundenen Landes zu fördern. Es war… eine Wohltat, all die Menschen zu sehen, all die Zwerge, ja selbst über die Elben hätte er sich freuen können - oder sollen? Man bemerkte viel häufiger Gelächter, kichernde Kinder, ein sonniges Lächeln hier und da. Aber all das berührte ihn nicht. Für genau diesen Anblick hatte er so bitter gekämpft, aber jetzt, da der Moment gekommen war… da er sich nur umzudrehen brauchte, um den Preis anzunehmen, um mit vollen Zügen seinen Sieg anerkennen zu können und sich im Ruhm zu sonnen - da tat er es nicht. Dieser Sieg war falsch wie eine Schlange. Und niemand wusste es. Niemand außer ihm. Als endlich die Tür geöffnet wurde, betrachtete er einen Moment das Gesicht. Es wirkte vertraut und doch fremd. Er hatte Alandor Lamerak schon weit früher kennen gelernt, als dieser sich zu erinnern glaubte. Ein Magier, blasiert, arrogant, wie alle Magier eben so waren. Aber ein begnadeter Künstler auf seinem Gebiet. Damals hieß ‚sein Gebiet‘ noch, das er hervorragend eine defensive Zauberschule verwenden konnte, um mit einem Dutzend Männer die grässlichsten Dinge anzustellen. Es war Krieg gewesen… und hatte daher seine Berechtigung und seinen Nutzen gehabt. Heute… heute war Frieden. Alle lächelten. Kauften Gemüse für abendliche Suppen und Brühen, erwarben an den vielen Ständen Samaras Schreibfedern für ihre literarischen Ergüsse, Eisen für ihre Schmelzen und besprachen in den zwielichtigeren Winkeln der schäbigen Gasthäuser, wen es als nächstes zu bestehlen galt. Allen ging es besser. Selbst den Diebes- und Assassinengilden. Heute war Alandor Lamerak ein anderer. Einer dieser sorglosen Grundbesitzer. Er hatte die Schmiede längst in ein Wohnhaus umbauen lassen. Es gab noch genug Grund und Boden, auf dem Lamerak als Besitzer eingetragen war. Eben dieser, einmal vermietet an ein halbes Dutzend geschäftstüchtiger Männer und Frauen, brachte ihm mehr Geld ein, als er auszugeben fähig war. Selbst für einen Magier, die in Thorins Vorstellung ständig alchemistisches Allerlei und magischen Tand kaufen mussten. Kräuter, merkwürdige Steine und solches Zeug eben - er hatte sich nie dafür interessiert. Magie war feige… ein vernichtendes Urteil, das sich selbst im Angesicht des maßlosen Nutzens Alandors nie geändert hatte. „Thorin? Welche Überraschung! Komm doch herein, bitte.“ Die Höflichkeiten, die Floskeln, es war ihm zuwider. Dieser Mann behandelte ihn, als wären sie gute alte Freunde. Saufkumpane, die schon ihre Lieder aus gemeinsamen Schlachten im Chor durch die Tavernen der Stadt gegröhlt hatten. Vielleicht erinnerte er sich sogar, dass dem so gewesen sei. Prüfen ließ sich das natürlich schwerlich. Der Krieger aber sah nur einen Mann vor sich, dessen er sich anders erinnerte. Mit hartem Gesicht und kaltem Blick. Der den Tod so vieler befohlen hatte, ohne Skrupel. Es hatte ‚der Sache‘ gedient. Keine Frage - auch an seinen Händen hatte viel Blut geklebt. Aber er hatte Alandor zweimal kennen lernen müssen. Es war verwirrend gewesen, damals, als er plötzlich… die gleiche Person mit einem identischen Namen vor sich stehen hatte. Beide nebeneinander, beide ungehalten - aber nur einer von ihnen war über den Aspekt verwirrt, im wahrsten Sinne des Wortes neben sich zu stehen. Frei heraus folgte er der Einladung, betrat das ausladende Haus. Der Geruch von Holz schwang ihm entgegen, frisch poliert wohl. Ein paar Duftöle hier und da, nette Wandbehänge, Dekoration, wohin das Auge sah. Blumensträuße in kunstvoll gewundenen Vasen - er kannte diese Blumen. Sie wuchsen nur um Norwingen herum. Vermutlich ein kleiner Tribut an Vivicas Herkunft. Möglicherweise wäre es höflich gewesen, irgendetwas zu sagen. Wie schön doch alles eingerichtet sei. Oder sollte er eine Frage stellen? Eine von diesen Belanglosen, deren Antworten ihn eh nicht interessierten? Etwas wie „Wie geht es Vivica? Und Peter?“ Nein, sicher nicht. Er war nicht hier, um mit solchem Unsinn seine Zeit zu verschwenden. Er war der grobe Klotz, der geistlose Krieger. Alles beim Alten. Er konnte es sich leisten, mit der Tür barsch ins Haus zu fallen. „Ich brauche deine Hilfe.“ Ein Satz, der einen Moment bleischwer in der Luft hing. Alandor vergaß vor Schreck wohl, die Tür zu schließen. Das Brett fest im Griff, blickte er ihn an, während die Stirn des Magiers sich langsam in Falten legte. Erst dann erwachte er, schloss die Tür und trat an ihm vorbei. Thorin Eichenschild war ein Bär von einem Mann. Kräftig wie zwei, breit wie ein Schrank, voller Muskeln und von rundum imposanter Erscheinung. Man sah ihm an, dass er nicht nur stark war, sondern auch, dass diese Stärke in Erfahrung gestählt worden war. Er hatte die Ausstrahlung eines mies gelaunten Trolls - roh, angriffslustig, gefährlich. Die meisten Menschen hielt das immer auf Abstand. Ein Detail, für welches der Kahlkopf überaus dankbar war. Doch gerade diesen Mann, der mit seiner ‚Kopf durch die Wand‘-Taktik bisher so viel erreicht und so viele Bollwerke durchbrochen hatte, stand nun hier und… bat um Hilfe. Nun - genau genommen hielt Alandor es ihm zu Gute. Er legte es ihm so aus, das er darum bitten würde. Thorin bat nicht, nie. Sein Tonfall war eine Anweisung, ein Befehl - doch der Magier glaubte ihn lange genug zu kennen, um ihn nie anders sprechen gehört zu haben. Der Krieger wusste es besser. Sie hatten einander mit dem Wort ‚Hilfe‘ erstmals kennen gelernt. Er lag in Räumlichkeiten des Königs. Tagelang. Wie viele, das wusste niemand. Vielleicht waren es vier, vielleicht zehn. In einer dicken, trockenen Lache seines eigenen Blutes hatte er dort gelegen, bemüht tief und flach geatmet und wann immer er Laut jenseits der Tür gehört hatte, hatte er gerufen. Um Hilfe. Tagelang. Doch dieser Flügel des Schlosses wurde kaum noch benutzt und eben jener Raum beinhaltete nur eine Abstellkammer. Niemand hatte gewusst, wie er dorthin gelangt war - und der Hüne hatte es ja auch nie erzählt. Man hatte ihn, unterernährt, völlig dehydriert und schwer verletzt, sofort zu einem Heiler gebracht. Drei Wochen war er an ein Bett gefesselt gewesen, ehe er überhaupt erst wieder hatte aufstehen können. Jene, die sich als seine Freunde bezeichneten, hatten ihn besuchen wollen. Sie waren überrascht, ihn in Lumiél anzutreffen. Er war doch fortgegangen, zurück nach Kruk! Wie kam er ausgerechnet nach La Coeur? In dieses Zimmer - und in diesen Zustand? Doch er hatte geschwiegen, er hatte sie alle angeschwiegen. Und danach den Heiler angewiesen, niemanden mehr zu ihm zu lassen. Drei Wochen. Sie waren nicht so quälend gewesen wie die Tage in der Kammer, aber auch sie waren… zu viel Zeit gewesen, über die Dinge nachzudenken. Er hätte fragen können, doch die Ahnungen waren zu dunkel, zu schwerwiegend, um es der Stimme eines Fremden zu überlassen. Er hatte sich selbst davon überzeugen müssen. Aufstehen durfte er, kurz ein paar Schritte gehen, zur Probe. Das waren die Anweisungen des Heilers gewesen, bevor Thorin ihn bewusstlos geschlagen hatte. Er hatte seine Sachen gepackt, seine alte Rüstung angelegt und das Haus verlassen. Und sich umgesehen. La Coeur, Zadiora, Samara, Herothing. Er hatte einige Orte bereist und sich nirgendwo erkennen lassen. Eine harte Lektion seiner ersten Station. Zadiora. Alle dort hatten ihn… ja was? Wie einen Helden gefeiert? Menschen, deren Namen er nie gehört hatte und deren Gesichter ihm fremd waren, hatten ihn gebeten, ihre Kinder zu segnen, hatten ihn beglückwünscht oder verwirrender noch, auf die Hilfe angesprochen, die er ihnen früher gewährt hatte. Es hatte viele Tage gebraucht, all das zu begreifen. Und mit jedem Teil, das sich in das Mosaik einfügte, wurde seine Laune düsterer. „Was benötigst du denn?“ erkundigte sich Alandor und führte seinen Gast in die Wohnstube zum Kamin, „Setz dich nur. Ich bin überrascht, dass du wieder in Samara bist. Man hörte so wenig von dir in letzter Zeit.“ „Musste nachdenken“, gab der Hüne einsilbig zurück und nahm Platz. Das Feuer prasselte in der Stelle, warm, angenehm. Ein besänftigendes, rotes Flackern, irgendwie einlullend. Selbst die Wärme schien ihn nicht zu erreichen. Das Gefühl von Gemächlichkeit, von Bequemlichkeit - es zog einfach vorbei. Zu tief saß… etwas. Er konnte es nicht einmal benennen. Es war keine Frustration. Es war kein Hass. Es war keine Resignation. Mit all diesen Dingen kannte er sich so verdammt gut aus, dass er sagen konnte, dass es sich nicht darum handelte. Aber Rastlosigkeit, die kannte er auch - und die bildete einen guten Teil dessen, was ihn wie ein Schildwall umgab. „Ich muss das Orakel finden.“ Als würden die Botschaften nicht merkwürdiger werden. Zumindest für Alandor war diese ganze Situation überaus bizarr. Sie fanden ihn, mehr tot denn lebendig, in einer Kammer in der Feste in La Coeur, er wies alle von sich, sprach kein Wort, verschwand mit Gewalt und wortlos, nur um… jetzt wieder vor seiner Tür aufzutauchen, ausgerechnet vor seiner, und nach dem Orakel zu fragen? Und überhaupt… „Welchem?“ Die sonst ausdruckslose, steinerne Miene des Hünen bröckelte einen kurzen Moment. Sie verzog sich, zu einem Anblick, den man nie gerne an solchen Menschen sah: Zorn. Vermutlich, so stellte Alandor für sich fest, war der Krieger ungeduldig. All dies ließ sich an jemandem wie ihm stets schwer ablesen, woher also hätte er es wissen sollen? Die Frage selbst war indes nicht völlig unsinnig. So dumm sie auch klingen mochte, hatte sie ihre Berechtigung. Zumindest konnte der Krieger wohl froh sein, dass er überhaupt bar aller Höflichkeiten sofort auf sein Anliegen einging, statt sich noch über dessen barsche Art zu beschweren. „Dem Orakel. Es gibt nur eines. Das eine Weib, das noch heute wehklagend und voller Kummer bedauert, Kaleran Sturmfürst je die Hand gereicht zu haben.“ Ehrliches Erstaunen packte den Magier. Erstaunen… und Neugier. Das Orakel war existent, es war real. Viele aus dem einfachen Volk - selbst unter Elben und Zwergen - hielten es für eine Mär. Er als Magier der Zirkel wusste es besser. Doch das Orakel zu finden, war ausgeschlossen. Sie lebte mit ihrer Qual, so gut sie es konnte. Doch sie litt so sehr, dass sie sich von der Welt und all ihren Fragen über die Zukunft zurückgezogen hatte. Sie wechselte stets den Ort, war nie zu erkennen, versteckte sich als einfache Reisende, quartierte in Höhlen, verlassenen Festungen und an Orten, die die ganze Welt vergessen hatte. Sie kannte sie alle, ihre Geschichte, ihre Zukunft. Man fand sie nicht. Schon wenn man sie suchte, dann wusste sie davon - und würde nicht gefunden werden, wenn sie das nicht auch wollte. Thorin, der Krieger, der Magie hasste - er saß hier in seiner Wohnstube und forderte von ihm, dieses Wesen zu finden. Wenn er von ihr wusste, was schon überraschend genug war, dann musste er auch wissen, dass es unmöglich war, seiner Forderung nachkommen zu können. Doch gerade, als Alandor ansetzen wollte, ihm zur antworten, ihm die völlige Nichtigkeit seiner Bitte zu erklären, erhob sich der Krieger wortlos wieder. Er trat an ihm vorbei zur Tür, noch lange bevor er ihm auch nur einen Tee hätte anbieten können. „Ich bin für drei Tage im Gasthaus zur goldenen Rose. Liegt südöstlich, knapp außerhalb der Stadt. Der Wirt kennt meinen Namen nicht, beschreib mich.“ Kein ‚bitte‘, kein ‚danke‘, kein ‚es war schön, dich mal wieder gesehen zu haben‘ und erst Recht keine Erklärungen. Eine Forderung hatte es gegeben, völlig unmöglich, und der Hüne zog wieder seiner Wege. Er zog die Tür auf, trat in das Straßengewirr hinaus und noch während er sie ins Schloss zog, warf er eine alte, staubgraue Kapuze über, die so tief ins Gesicht hing, das nichts und niemand ihn erkennen könnte. Alandor hatte ihn gesehen. Er hatte die Ansätze der Lederrüstung erkannt, der alte Harnisch seines Vaters. Die Axt war nicht zu sehen gewesen - nicht in der Hand, nicht am Gurt, nicht auf dem Rücken. Vielleicht lag sie im Gasthaus. Aber dieses Gewand, diese Lumpen… warum war er noch immer so bemüht, nirgendwo erkannt oder gesehen zu werden? Alandor blieb mit Fragen zurück. Mehr als er in seinem verwirrten Geist stellen konnte und mehr, als er Antworten je würde einfordern können. Aber er kannte Thorin. Ein rauer Gesell, übellaunig gegen jeden Elb, Magier und jedes Blaublut, aber im Herzen ein guter, gerechter Bursche. Jemand, der loyal war, der jede Unterstützung verdient hatte. Vor allem, nachdem er so maßgeblich zum Sturz Phillipe des Dritten beigetragen hatte. Damals hatte man Thorin krönen wollen… doch er hatte abgelehnt. Seine Reise hatte er fortsetzen wollen. Unsicher schüttelte der Bannwirker den Kopf. Er würde Antworten nur bekommen, falls er Thorin wieder aufsuchte. Und sobald er das tat, hätte er wohl besser etwas dabei. Irgendetwas. Würde der Krieger durch den Mangel an Informationen frustriert sein, würde er kein einziges Wort aus ihm heraus bekommen. Etwas ging mit dem Kahlkopf vor sich. Er… hatte sich verändert. In kurzer Zeit. Keiner der vielen, die ihn kannten, konnte es recht benennen. Aber als sie an seinem Krankenbett gestanden hatten, als seine Besucher und er einander angestarrt hatten… Alandor hatte es gesehen. Wie er Gesichter, alt vertraut und liebgewonnen, anstarrte als würde er sie zum ersten Mal erblicken. Etwas ging hier vor sich - und es war die Natur aller Magier, solchen Mysterien auf den Grund gehen zu wollen. Rasch ließ er einen Boten kommen, sandte eilig aufgesetzte Schreiben in alle Himmelsrichtungen und packte seine Sachen, um für zwei Tage in die Bibliothek zu ziehen. Er würde dort essen und schlafen müssen, Stunde um Stunde im Eiltempo arbeitend, würde er etwas Vorzeigbares aufwerfen wollen. Thorin selbst kehrte zurück in die Schenke. Zur goldenen Rose. Der malerische Name wurde dem Gasthaus nicht wirklich gerecht, wie es so oft der Fall war. Aber eine schöne Geschichte steckte dahinter - wie so oft. Sie interessierte ihn nicht. Die Betten waren frei von Wanzen und die Keller frei von Ratten. Selbst wäre das Bett aus Stein gewesen, er hätte damit leben können. Es galt zu warten und warten, das hatte er gelernt. Tagelang im eigenen Blute liegend und wochenlang wie ein hilfloser Krüppel vegetierend… warten hatte er gelernt. Die Sachen waren längst gepackt. Viel gab es nicht, das zusammen geräumt hätte werden müssen. Der Lederharnisch, den trug er längst. Eine alte Eisenaxt, schartig - ein Geschenk. Er hatte den Schmied gefragt, wie viel das Stück kosten solle. Er hatte es von dem Wenigen bezahlen wollen, was er bei sich trug, doch als dieser ihn erkannte, ließ er nicht mehr mit sich reden. Thorin konnte wohl froh sein, dass es nur die Axt war, die man ihm aufgedrängt hatte. Obwohl er gerne mehr genommen hätte. Eine bessere Waffe vielleicht, in besserem Zustand. Doch die Zeiten, da er schamlos nahm, was er wollte… waren vorbei. Denn es herrschte Frieden, nicht wahr? Die Zeiten des Sonnenscheins und Überflusses, der lachenden Kinder und der lächelnd gackernden Marktweiber. Die Zeit, in der viele den Bund schlossen, Kinder zeugten oder aufzogen und in der sich jeder über alles freute, was er besaß oder erwarb oder geschenkt bekam. Ihm wurde schlecht beim Gedanken daran. Die Dämmerung war längst herein gebrochen. Der Himmel dunkelte zusehends ab und die letzten Tagesstunden verstrichen. Es war Zeit, zu gehen. Aber irgendwie musste er es wohl geahnt haben. Als es an der Tür klopfte, verhalten, leise - als wolle der Ruhestörer keinen Schlafenden wecken -, da atmete der Krieger erleichtert auf. Er wusste nicht, wie viel Zeit ihm blieb. Nun, da das Alter doch zuschlug und seinen Tribut forderte, nun… da hätte es schmerzlich werden können, Spuren und Gerüchten nachzujagen, bis seine Knochen alt und morsch genug geworden waren, damit ein Bär oder ein paar Wölfe ihn würden reißen können. Alandor war ein guter Anhaltspunkt gewesen, wobei der Weg schrecklich einfältig gewesen war, der ihn an dessen Tür geführt hatte. Magier waren kluge Menschen mit unzähligen Büchern - und was sie nicht wussten, konnten sie von anderen Magiern oder aus deren Büchern binnen kürzester Zeit erfragen. So stellte sich der Kahlkopf Arbeiten auf der Ebene des Zirkels vor. Tatsächlich kam das der Wahrheit überraschend nahe. „Komm rein“, forderte er schlicht. Wie erwartet - nein, erhofft! - trat Alandor ein. Der Bannmagier lächelte und brachte einen Gruß hervor, halb gestammelt. Seine Augenringe hätten sich mit dem Graben von Quentloas messen können und waren so rot wie das Blut in seinen Adern. Er hatte sich zu Tode geschuftet in den vergangenen Tagen. Für den Kahlkopf war das einerlei - wichtig waren nur die Ergebnisse. Es waren immer nur die Ergebnisse wichtig… nicht wahr? „Was hast du?“ verlangte er sofort zu wissen. Alandor aber schloss in Ruhe die Tür, besann sich einen Moment und trat dann, noch immer schweigend und damit die Geduld Thorins auf die Probe stellend, näher. Schließlich zog er sich einen kleinen Schemel nahe des Bettes herbei und nahm dem Hünen gegenüber Platz. „Zuerst…“ hob er an und hielt dabei, wie dem Krieger jetzt erst auffiel, ein kleines Notizbuch an sich gepresst, „wirst du mir Rede und Antwort stehen. Ich will Erklärungen. Von dem Moment an, als wir dich in La Coeur fanden!“ Ein ungeduldiges Seufzen drang aus der Kehle des Hünen. Irgendwann, so hatte er befürchtet, hatte dieser Punkt ja einmal kommen müssen, nicht wahr? Das Problem war… der zeitliche Rahmen, den der Bannmagier gesetzt hatte. Nichts anderes. Der Moment, in dem sie ihn fanden - und alles weitere - waren nur die Symptome. Deren Wurzel aber verbarg sich im Schatten… und reichte viel, viel tiefer, viel weiter zurück. „Was glaubst du, ist in den letzten Jahren geschehen?“ verlangte der Krieger zunächst zu hören. Eine Frage, die Alandor mehr als nur aus dem Konzept brachte. Was geschehen war? Er wusste es doch selbst am besten, oder nicht? Er hatte schließlich all diese Dinge ins Rollen gebracht, er allein hatte… aber gut - sein gegenüber wusste vermutlich all diese Dinge selbst am besten. Er wollte auf etwas hinaus und der Bannwirker war gewillt, das Spiel mitzuspielen. Immerhin war er der Antworten wegen hierhergekommen. „Wie weit soll ich zurückgehen?“ „Bis zum Anfang.“ Alandor seufzte. Die Nacht würde lang werden, das hatte er befürchtet. Hätte Thorin ihm nicht einfach sagen können, er suche nach einem legendären Schatz oder dergleichen? Überhaupt war es erschreckend, was er schon bis jetzt gehört und gesehen hatte. Thorin war immer schon ein Tavernengast gewesen. Kannte man den Krieger näher, hätte man nur zu gerne seine Witzchen darüber gerissen, dass er bei der Geburt über den Schanktresen direkt ins Schnapsfass gerutscht sei. Er trank gerne und viel, er raufte gerne und er ging in den Gasthäusern als gerne gesehener Gast ein und aus. Aber der Wirt unten… dem hatte er Fragen gestellt. Nicht nur, ob der von ihm beschrieben Gast hier ein Quartier hätte und welches es sei. Nein, er hatte mehr wissen wollen. Der Wirt war mit seinem Gast unzufrieden. Er aß wenig und er trank nur Säfte. Keinen einzigen Schluck Bier oder Schnaps, er saß allein und schweigsam in seiner Ecke und starrte auf den Tisch herab. Das alles passte so wenig zu Thorin wie der Blick, mit dem er die Krankenbesuche gemustert hatte - oder die Frage, die er ihm nun stellte. „Du bist nach Lumiél zurückgekehrt. Heimweh, vermute ich. Du hast uns nie erzählt, warum. Du hast dich umgehört, dich am Hof eingefunden und vom neusten Wahnsinn seiner Majestät gehört. Du hast… dich entschlossen, dagegen vorzugehen. Ein Ball war der Beginn deiner Rebellion gewesen. Dort hast du damals erste Kontakte zum Adel geknüpft. In Samara schließlich hast du dich der Rebellion angeschlossen und rasch das Ruder übernommen. Mehrere Kämpfe hatte es gegeben, du hast über zwei Jahre hinweg die Kräfte gesammelt. Willige, die dir und der Sache nutzen konnten, hast sie um dich geschart und wie deine Familie zu hüten gewusst. Du hast Samara aus dem Untergrund regiert, mit Ashes und Alistairs Hilfe Sundergrad befreit und als Verbündeten gewonnen. Du… ach Thorin, du kennst diese Geschichte besser als jeder von uns! Du hast all das initiiert, du allein hast das Heer schließlich von der Kreuzwegfeste nach La Coeur marschieren lassen und es war deine Hand, die die Axt führte und den Kopf von den Schultern dieses miesen kleinen Cholerikers schlug. Was soll das hier?“ Thorins Blick hatte sich nicht verändert. Während der ganzen Erzählung nicht. Die steinerne Maske blieb und erst jetzt, da Alandor selbst die Geduld ausging, schüttelte er vage erkennbar den Kopf. Langsam nur hob er sich vor, stützte sich mit den Ellbogen auf die Knie und blickte, so vornüber gebeugt, dem Magier wie ein lauerndes Raubtier entgegen. „Du irrst. Alles, woran du dich erinnerst, ist eine Lüge.“ Hatte der Magier zunächst geglaubt, sich verhört zu haben oder einem Scherz aufzusitzen, dessen Pointe an ihm vorbei zog, so bemerkte er doch nachträglich den Ernst in der Stimme seines Gegenübers. Wie aber konnte er das nur ernst meinen? Hatte er vielleicht irgendetwas entdeckt? Gerade als er sich erkundigen wollte, hob der Kahlkopf von alleine an. „Wir wurden alle betrogen…“ Es begann, wie es sein sollte. Ich kehrte zurück nach Lumiél, zurück zum Hof und vernahm die neusten Befehle seiner Majestät. Aber ohne es zu wissen, wurden wir erwartet. Wir alle. Es war ein abgekartetes Spiel. Eine Hand voll entkam, als er den Befehl gab. Nicht der König, nein. Der war längst nur noch eine Marionette. Sein Handlanger, sein… ‚Berater‘. Duncan. Du kannst dich nicht erinnern. Du kennst diesen Namen nicht einmal mehr, ich sehe es in deinen Augen. Er war Chronist. Ein Mensch, gesegnet von den Kräften der weißen Halle. Er beherrschte die Zeit. Etwas, das wir schmerzlich zu spüren bekamen, ohne es zu wissen. Er hatte den Befehl gegeben, uns alle zu erschießen. Armbrustbolzen zerfraßen Dutzende Leiber. Ich entkam. Ich weiß bis heute nicht, ob er mich entkommen lassen wollte, oder ob er einfach keine Option gefunden hatte, bei der ich starb. Als mir der Irrsinn klar wurde, versuchte ich, einen Widerstand aufzubauen. Ich hörte Gerüchte von Rebellen in Samara. Du kannst dir das nicht vorstellen. Hunderte Rebellen. Zehn Jahre strichen ins Land. Nicht zwei - zehn. Wir zogen von Gefecht zu Gefecht. Wir bekamen keine Unterstützung. Alle, die diese hätten leisten können, waren tot. Ersetzt worden. Verschleppt, bestochen. Und wir verloren. Er hatte seine Männer immer gut instruiert. Wartet dort, hinter dem Hügel. Genau dort. Versteckt euch an diesen Bäumen - nicht an jenen. Wo wir glaubten, einen Hinterhalt zu legen, wurden wir stets bereits erwartet und selbst zur Beute. So viele Jahre… und wir verloren viele Leben. Mitstreiter… Bekannte… Freunde. Die Liste ist lang. Aber bei den Toten hört es nicht auf. Es genügte ihm nicht, und Mann für Mann auszurotten. Er verhinderte, dass wir überhaupt erst zur Bedrohung wurden. Vielen Leuten bin ich nie begegnet. Diese… diese Ashes? Ja, ich hörte von ihr. Sie war eine Elbe, nicht wahr? In Sundergrad. Mit ihrem Freund hatte sie versucht, die Stadtwache zu beklauen. Es wäre ihnen fast gelungen. Aber eben nur fast. Drei Jahre, nachdem alle Welt sie zur persönlichen Hure gemacht und sich an ihr bedient hatte, war man ihrer ständigen Widerworte überdrüssig. Nach den ganzen Bälgern, die man ihr hatte rausschneiden müssen, war eh nichts übrig geblieben, das man noch begehrte. Du und dein Freund… Drakis? Ihr wart dort. Zehn Jahre, nachdem der Niedergang der ganzen Welt begonnen hatte. Die Dunkelheit breitete sich aus, die Götter schwiegen, starben im Stillen und Lumiéls Heere packten die Welt im Würgegriff. Land um Land brach ein… und stärkte den Gottkönig. Wir waren ein kleiner Haufen, vielleicht noch ein Dutzend. Nicht viel übrig von einigen Hundert. Wie die Welle sich am Felsen bricht, wollten wir im Kampf sterben. Ein letztes Mal aufbegehren. Wir wollten La Coeur angreifen, uns bis in den Palast vorkämpfen. Von Duncan… wussten wir noch immer nichts. Dann kamt ihr zwei. Aus dem Nichts, um uns zu erzählen, dass ihr aus einer… einer anderen Zeit kommen würdet. Einer anderen, aber gleichen Welt. In der alles seinen Weg genommen hätte, wie es vorbestimmt war. Ihr erzähltet uns von Duncan, dem Zeitstromlenker, der uns um unser Schicksal betrogen hatte. Wie er die Jahre der Welt, der ganzen verdammten Welt, nach Belieben vor- und zurückgedreht hatte. Um all die Ereignisse vorher zu sehen und uns ein ums andere Mal in offene Messer rennen zu lassen. Ihr habt behauptet, ihr wärt gekommen, um uns zu helfen. Mit eurer Hilfe griffen wir an. Wir befreiten sie aus dem Kerker. Ninafer. Noch ein Name, an den du dich nicht erinnern kannst. Du hast ihn nie vernommen. Wie Ashes in Sundergrad, war sie ein Spielzeug geworden. Früh gefangen genommen, hatte sie mehr auszustehen gehabt als die Elbe. Sie war… des Königs Liebling. Als ich sie erstmals sah, war sie ein zitterndes, verwirrtes Bündel Fleisch, das widerlich nach zu vielen schmutzigen Händen und dem Samen zu vieler Männer stank. Sie erinnerte mich an mein Weib, an das, was mit ihr geschehen war. Ich hielt es nicht aus. Ihre Gegenwart, euer närrisches Gefasel von einem Sieg, einer Perspektive, ich musste fort. Ich betrank mich, wie so oft. Mehr als je zuvor. Aber sie folgte mir… immer, überall hin. Erst sehr viel später erkannte ich, was sie war, was sie… zu werden drohte. Aber da war es schon zu spät. Wer ist Ceteus, frage ich dich. Und ich weiß, was du mir antworten wirst. Ich habe die Schreine und Altäre gesehen. Die Tempel. Schwarze Roben auf offener Straße. Kennst du eine Delilah? Sie war eine Dryade, eine Dienerin des natürlichen Gleichgewichtes… eine Vertreterin des Willens Phylias, der Göttin der Natur. Du runzelst die Stirn - ich kanns dir nicht verdenken. Phylia? Ceteus allein gewährt den Dryaden doch ihre Macht! Magier beten zu Jebis, damit er ihnen Weisheit schenkt. Aber nein, wartet - ihr betet zu Ceteus, damit er euch das Wissen schenkt, eure Feinde zu zermürben. Es gab ein ganzes Pantheon von Göttern. Damals begann es. Ninafer ging einen Pakt mit Ceteus ein. In ihrem Fleisch wandelnd, würde sie seine Macht nutzen können. Sie… wollte Lumiél helfen. Auf die einzige Art, die verblieben war. Es wie ein Geschwür heraus schneiden, ehe die ganze Welt daran erkrankte und starb. Du und dein Kumpane, ihr habt versucht, uns zu erzählen, dass alles enden würde, wenn wir nur Duncan töten könnten. Er, der die Zeit manipuliert hätte. Gegen den die Bewahrer der weißen Halle machtlos gewesen seien. Sie hätten euch geschickt, ihre Drecksarbeit zu erledigen. Ich konnte euch diese wilde Geschichte nicht abkaufen… Ninafer aber tat es. Sie wusste jedoch auch, dass ihr euch das zu einfach vorgestellt habt. Duncan war kein Dummkopf, der ungeschützt über die Straße schlenderte. Sie sammelte Kräfte. Die Harpyien aus dem Süden, Untote aus hunderten Kriegen und dutzenden Schlachtfeldern, sie sammelte die Rebellen aus Samara ein, alles, was sie finden und unterwerfen konnte. Ich war stets an ihrer Seite, ihre rechte Hand, ich… teilte ihre Vision. Als es so weit war, schlugen wir zu. Ein einziger, präziser Schnitt - so hatte sie es genannt. Wir brannten ganz La Coeur nieder. Jedes Herz, das darin schlug, war verdorben. Die Mauern, die Häuser… ich erinnere mich an das Geschrei, an so viel Blut und Qualm, an die Feuer. Ich erinnere mich, wie ich ihr voran die Tore erstürmte, wie diese Marionette reglos zu Boden fiel. Unser Ziel war ein anderes. Sie hatte diesen Pakt geschlossen, um Lumiél zu retten. Das, was sich noch retten ließe… was zu retten noch wert war. Den Rest hatte sie Dunkelheit und Feuer überantwortet - und ich gab ihr Recht. Sie hatten es verdient, sie alle. Jahrelang hatten sie uns im Stich gelassen, wenn wir um Nahrung, Unterschlupf, Unterstützung bettelten und nun mussten sie brennen für ihren Verrat, für ihre Untätigkeit. Aber der Pakt gab ihr nicht nur die Macht, eine Armee um sich zu scharen und die Zitadelle zu errichten, von der aus sie alles kontrollierte. Er forderte sie ein. Als Duncan und Ninafer ihre Kräfte maßen… wurde ich überflüssig. In diesen wenigen Augenblicken wurde alles entschieden. Das Schicksal der Götter, das der ganzen Welt. Meine Dienste wurden nicht länger benötigt… und er nahm mir alle Geschenke, die ich erhalten hatte, ihm besser dienen zu können. Er nahm mir die Unsterblichkeit, die schnelle Heilung, die Dunkelsicht, die Kraft - alles. Die Kräfte, die in diesem Raum wüteten, richteten mich binnen weniger Augenblicke so zu, wie ihr mich vorgefunden habt. Ninafer konnte Duncan nicht töten. Das… war vielleicht ihr Ziel gewesen - aber nie das Seine. Ceteus schwächte den Chronisten, bis er unvorsichtig wurde… und schlüpfte in ihn hinein. Während diese verräterische Schlange hatte, was er wollte - und nahezu sofort verschwand - stürzte Ninafer. Sie war schon so oft gestorben, aber Ceteus‘ Gegenwart hatte sie immer gerettet. Jetzt war er fort… und all die Wunden aus den Jahren taten sich wieder auf. Duncan verschwand und kurz darauf… veränderte sich die Welt. Ich kann es nicht in Worte fassen. Häuser wuchsen, Brände verebbten, unzählige Male sah ich Sonne und Mond einander jagen, fast im Takt meines Herzschlages. Er manipulierte alles, wie es ihm gefiel und als es endlich aufhörte, da forderte er seinen Teil des Paktes ein. Seine Bezahlung dafür, ihr diese Macht gegeben zu haben. Er holte sie zu sich. Du kennst sie nicht, hast sie nie getroffen… und ich will jede Wette eingehen, dass ihr einander hättet kennen müssen. Ihr alle erinnert euch an einen Thorin, der ich nicht bin und nie war. Vielleicht war das seine Strafe für mich, vielleicht auch nur Gehässigkeit… aber während er die ganze Welt veränderte, Häuser, Städte, Kontinente, bis hin zum Gedächtnis jedes einzelnen Lebewesens… blieb ich davon verschont. Ich erinnere mich an all das Blut, an die hässlichen Notwendigkeiten, an die unglaublichen Kräfte, die ich wirken sah… und an die lange Dunkelheit. Doch es war mehr als das, nicht wahr? Er erinnerte sich nicht nur dieser Dinge. Sie allein waren es nicht, die ihn so rastlos anspornten, hier zu sitzen und doch aufspringen zu wollen. Sie allein trieben die Gedanken nicht voran, Alandor einfach nieder zu schlagen und sein Buch zu nehmen. Sie allein hatten ihn auch nicht an die Türschwelle des Magiers getrieben. Da war mehr. Während Alandor das Gesprochene auf sich wirken ließ, es überdachte, versank der Krieger in Gedanken. Erinnerungen, genauer gesagt. Er sah sie noch immer so deutlich und klar vor sich. Sein Blick hing an den Händen, mit denen er ihre Haut berührt hatte. Er hatte ihren Kopf gehalten, feucht vom Blut, eine Wunde an ihrem Bauch abzudrücken versucht. Alles war hoffnungslos, er hatte es gewusst. Der Tribut des Paktes war fällig geworden. So oft hatten sie gestritten und sich gehasst, einander angeschrien und angefaucht, sie hatten oft gegeneinander gearbeitet und nur selten akzeptiert, aus der Not heraus Alliierte zu sein. Sie hatte ihre Spielchen mit ihm zu treiben versucht und er hatte ihr dafür das Leben schwer gemacht. Gemeinsam hatten sie Großes vollbracht, aber hatten doch immer den Anschein von tief empfundener Feindschaft bewahrt. Als sie aber dort lag, in seinen Armen, und starb… zerbrach etwas. “Ich hatte nie die Gelegenheit, dir zu sagen… ich-“ hörte er sich noch einmal flüstern. Doch ehe er den Satz hatte beenden können, riss die Niederhölle selbst auf. Eine Kraft, die er nicht in Worte fassen konnte, riss ihn von Ninafer fort, warf ihn wütend gegen die Wand. All die gebrochenen Rippen, all die tief klaffenden Wunden schmerzten schrecklich und ließen ihn fast das Bewusstsein verlieren. Nur sein eiserner, zäher Wille ließ ihn sich daran klammern und er sah, wie der brennende, schwarz wirbelnde Schlund Ninafers Leib in sich zerrte, wie die abgemagerten, rissigen Arme und Hände der Verdammten sie hinein zerrten. Er wusste, was sie dort erwarten würde. Niemand, der in Ceteus‘ Reich eintrat, hatte es dort mit einem Ort ruhiger Entspannung zu tun. Qual und Marter in alle Ewigkeit, denn die Verdammten hatten ihre Sünden zu zahlen. Er hatte mit dem Gedanken nicht leben können, ihr diese wenigen Worte nicht zuteilwerden zu lassen. Und dann, plötzlich, hatte er damit leben sollen, sie dieses Schicksal erdulden zu lassen. Wenn er zu dem einen schon nicht fähig war… wie hätte er sich zum anderen in der Lage sehen können? „Dir ist bewusst, wie… wirr, lückenhaft und abwegig das alles klingt, oder?“ erkundigte sich Alandor. So, wie der Bannmagier endlich aus seinen Gedanken erwacht war, riss er auch Thorin aus der Starre der Erinnerungen hervor, die ihn seither marterten. Er trank nicht mehr. Ninafer hatte es ihm abgewöhnt. Stattdessen meditierte er, um die Bestie, die so sehr Feind wie notwendiges Übel war, bezähmen zu können. Hätte er es Alandor erzählt, vielleicht hätte er unterstreichen können, wie wenig er mit dem Mann gemein hatte, den dieser zu kennen glaubte. Doch es war nicht nötig, ihn zu überzeugen. Alandor würde es nie begreifen, nie akzeptieren können. Er war Skeptiker, er brauchte Beweise, die aufzubringen unmöglich war. Zumindest das sah der rationale, kühle Verstand des analytischen Magiers ein. Er vermutete mehr hinter alledem, er vermutete eine andere Geschichte, vielleicht etwas Einfacheres, vielleicht nicht einmal das. Es war einerlei - Thorin war nicht bereit, mehr zu sagen. Nicht mehr als das wenige Wirre, was er schon berichtet hatte. Alternative Zeitlinien noch und nöcher, mehrere Alandors, fehlgeschlagene Raubzüge und Hinterhalte, die zu Hinterhalten wurden - so sehr sich der Magier seines brillanten Verstandes rühmte, gingen diese Dinge doch weit über sein Verständnis hinaus. Er begriff nur, wie schrecklich ernst dem Krieger alles war. Seine Geschichte… sein Anliegen… und was immer daraus resultieren mochte. Tatsächlich fiel es Alandor mit am schwersten, zu glauben, dass Ceteus selbst je ‚Konkurrenz‘ gehabt haben könnte. Es gab nur den einen, wahren Gott - und er geizte nicht mit Beweisen seiner Existenz. Wo waren all diese anderen Götter verblieben? Wo waren… Phylia und Jeb? Es war kaum vorstellbar, dass eine solch mächtige Existenz, ein Gott, sich vom Treiben eines mit der Zeit spielenden Magiers oder Hexers oder Chronisten beeindruckt zeigen würde. Oder gar davon niederringen ließ. Aber selbst wenn Sterbliche oder die Mächtigen Götter hätten töten können, hätte es doch Spuren geben müssen. Irgendwelche. Die Götter wurden seit Jahrtausenden verehrt. Wenn Thorins Geschichte stimmte, hätten all diese Jahrtausende manipuliert werden müssen, oder nicht? Während der Kopf des Magiers zu rauchen begann, erkundigte sich der Krieger nach dessen Ergebnissen. „Es gelang mir nicht, das Orakel zu finden. In keiner Bibliothek gibt es einen Verweis darauf, der zu einem aktuellen Versteck führen könnte. Tatsächlich war es der Bibliothekar, der darauf aufmerksam wurde, das ich immer wieder Werke zum selben Thema erfragte. Er erzählte mir von einem Burschen, der wohl vor einigen Tagen vorbei gekommen sei. Dieser hätte ebenfalls nach solchen Werken gefragt und das damit begründet, dass eine Räuberbande in Kal Terrika ihr Unwesen treiben würde. Ständig würden sie Karawanen überfallen, Reisende für horrende Lösegeldforderungen als Geiseln nehmen und der Wache entwischen. Angeblich rühmen sich die Räuber sogar, niemand könne sie unvorbereitet treffen - weil das Orakel ihnen dienlich sei. Ver-… versteh mich bitte nicht falsch. Ich habe mich wirklich bemüht und wünschte, ich könnte dir mehr präsentieren als die Gerüchte aus dritter Hand. Aber es ist die einzige Spur, die ich überhaupt habe. Es könnte auch sein, dass dort nicht mehr ist als ein Haufen Halsabschneider mit viel Glück.“ Alandor hatte so inständig gehofft. Er hatte die Enttäuschung in Thorins Gesicht gesehen, trotz der steinernen Fassade, und hatte zu hoffen gewagt, dass er sein irrsinniges Unterfangen aufgeben würde. Doch kaum von diesem Gerücht begonnen, das er aus reiner Gründlichkeit und seinem eigenen Gewissen heraus nicht hatte unterschlagen können, da keimte neuerlich Hoffnung in den Augen des alternden Kriegers auf. Und nun war ihm klar, was der Hüne zu tun beabsichtigte. „Thorin, ich bitte dich… lass das sein. Du selbst hast mir gerade erzählt, diese… diese Geschenke von Ceteus oder was auch immer seien alle fort. Ich weiß nicht, was das für dich bedeutet, aber auch du wirst nicht mit einer ganzen Gruppe fertig - nicht, wenn sie so gut organisiert sind und eine Festung für sich eingenommen haben.“ Der Hüne ließ nicht mit sich reden. Ganz wie erwartet, wedelte er die Einwände, Hinweise, Ratschläge und Mahnungen hinfort wie einen Schwarm lästiger Fliegen. Egal, wie oft, wie eindringlich der Magier ihm nahe legte, es zu überdenken - der Krieger packte seine sieben Sachen. Erst, als es fast zu spät war, eilte Alandor mit wenigen, hastigen Schritten zur Tür und stieß diese - bereits halb geöffnet - wieder zu. Er ertrug das zornige Funkeln in den Augen des Mannes mit Geduld. „Das ist ein Himmelfahrtskommando… zumindest, wenn du so gehst. Gib mir zwei Tage. Nur zwei weitere Tage. Ich will… mein Möglichstes tun, das du dort wenigstens heil wieder hinaus gelangen kannst.“ Es war ein Strohhalm, das war Alandor klar. Und mehr noch, wusste er schmerzlich einzusehen, dass der Krieger über alle Dächer verschwunden wäre, sollte er auch nur wagen, jemanden hinzu zu ziehen. In Alandors Erinnerungen hatten sie stets ein rein professionelles Verhältnis gepflegt. Keine Freundschaft oder dergleichen, der Krieger war ihm gegenüber stets etwas barsch und unterkühlt gewesen und hatte ihn spüren lassen, wie hoch Magier der Zirkel in seiner Meinung standen. Es musste einen Grund gegeben haben, warum er ausgerechnet zu ihm gekommen war. Möglicherweise, weil er eben diese Professionalität gesucht hatte. Keinen warmen Händedruck und freundliche Fragen von weiteren Personen, an deren gemeinsame Geschichte er sich nicht erinnern konnte. „Zwei Tage“, bekräftigte der Kahlkopf, zog die Tür auf und bat Alandor hinaus, um ihm das Holz vor der Nase zuzuschlagen. Nicht in Hast, wohl aber in gewisser Eile wandte sich der Bannwirker ab und schritt davon. Er würde jede Stunde davon brauchen. Bei Ceteus, wenn diese Tage erst einmal vorbei wären, würde er in sein Bett fallen und mindestens einen Tag durchschlafen, ganz gleich, was Vivica dazu sagen würde. Die Zeit verstrich. Angesichts der Umstände wohl eine bemerkenswert mehrdeutige Anmerkung. Auf den Morgen folgte der Mittag, der Nachmittag, der Abend - die lange, dunkle Nacht. Träume gab es keine. Thorin träumte schon seit vielen Jahren nicht mehr. Er war dankbar dafür - so ließ ihn zumindest ein Teil der Dämonen zufrieden, die ihn plagten. Erst als Ninafer seinen Geist wieder erschütterte, heraufbeschworen aus unwillkürlich aufsteigenden Erinnerungen, konnte er sich sicher sein, wirklich zu schlafen. Die Erinnerungen hatten seine Träume ersetzt - sie waren der andere, der verbliebene Teil seiner Marter. Zwei Tage und keine Stunde mehr. Alandor hielt sein Wort und brachte ihm, was er in der kurzen Zeit hatte auftreiben können. Er überreichte dem Kahlkopf ein kleines Amulett, welches die Sicht von Bogenschützen verschleiern sollte. Zwei Fläschchen eines Trankes, die ihn durch Wände laufen lassen sollten, allerdings jeweils nur wenige Herzschläge hielten - sie sollten seinen Weg hinein und heraus sichern. Das letzte Stück war ein kleiner Stein, der - sobald anderes Licht erlosch - einen grellen Blitz von sich geben würde. Ein kleines Geschenk Drakimhs an den Hausstand Lameraks und zweifellos ein Scherz - denn er hatte ihn in einer lichtdicht verpackten Box erhalten und sein blaues Wunder erlebt, als er die Box geöffnet hatte. Thorin dagegen würde er nützen… vielleicht… irgendwie. Mehr war für diese kurze Zeit aufzutreiben nicht möglich gewesen, sodass der Bannwirker auch wahrlich nicht zufrieden mich sich war, als er den Hünen doch ziehen lassen musste. Ein letztes Mal versuchte er sich daran, auf ihn und sein Gewissen einzureden, doch all die Finten, all die Zugänge, die seine Erinnerungen ihm nahe legten… scheiterten. Mehr und mehr schien er sich darüber klar zu werden, dass etwas an der Geschichte des Kriegers wahr sein könnte - das dies eben doch nicht der Thorin Eichenschild war, den er kannte. Dieser war ein rauer Mann, selten froher Laune, doch selbst diese Beschreibung spottete dessen, was er hier sah. Der Kahlkopf ließ sich nicht umstimmen - riss sich aber zumindest so weit zusammen, sich für die Dreingaben zu bedanken. Er wollte sie bezahlen und Alandor hätte sein Geld gerne abgelehnt. Als der Krieger jedoch mit jenem gewichtigen Unterton erklärte, er könne sein Geld dort nicht verwenden, wohin er zu gehen gedachte… nahm der Magier es schweren Herzens doch an. Sein Freund - ob sie einander nun kannten oder nicht, woher und wie auch immer - schickte sich an in den Tod zu ziehen. Er wusste es, ganz offensichtlich, und wollte dennoch aufbrechen. Was sollte er dazu sagen? Was konnte er schon noch anderes tun, als ihm in das Gewissen reden zu wollen, zu dem er plötzlich keinen Zugang mehr zu haben schien? Als der Hüne das Gasthaus verließ, war es plötzlich der Bannmagier, der mit einem Becher Apfelsaft in der Hand am hintersten Tisch in der Ecke saß. Er konnte nicht zurückkehren. Noch nicht. All die Geschehnisse der letzten Tage wühlten ihn zu sehr auf. Das Orakel, die Dinge, die er darüber gelesen hatte, die Geschichte dahinter, die Gerüchte über die Räuber in Kal Terrika, nicht zuletzt aber die Worte Thorins. Alles, woran er sich erinnerte… eine Lüge? Gesponnen und konstruiert von Ceteus. Dem einzigen Gott, den diese Welt noch kannte. Wer Kampfesglück wünschte, betete zu ihm. So wie jeder, der Wissen suchte, Liebe oder Erlösung, Diebesglück oder reiche Beute beim Gräberplündern. Sie alle kannten nur seinen Namen. Nur seine Priester. Konnte ein Gott selbstsüchtig sein? Wie maß man eigentlich die Motive eines Gottes? Hatte er überhaupt welche, die man rational und mit dem Verstand eines Sterblichen nachvollziehen konnte? Wieder und wieder stellte er sich ohne jeden Ansatz von Erfolg die immer gleichen Fragen. Alles eine Lüge. Er und Drakimh, die in eine hoffnungslose, dunkle Zeit kamen, von der weißen Halle geschickt, um einen abtrünnigen Chronisten zu stoppen. Wie sie es sich zu einfach vorstellten, wie Ninafer den Pakt einging, eine Armee aufstellte, gegen die Hauptstadt zog, wie Duncan nicht getötet wurde, sondern man die ganze Welt betrog. Zwei Personen, deren Schicksal nicht wie versprochen ‚zurückgesetzt‘ wurde. Der Gott erhob sich über die Zeit und den Willen dessen, der sie manipuliert hatte. Zum eigenen Vorteil? Thorin hatte gesagt, er sollte Ninafer kennen. Wenn nur zwei Menschen auf der ganzen Welt ‚fehlten‘, wie weit konnten diese Kreise reichen? Diese eine Frage beschäftigte ihn mit am Meisten. Ein Mann konnte Bettler, Handwerker und König sein. Er konnte in der Gosse erfrieren, unbemerkt, oder einen Würdenträger zum Nachdenken bringen. Es gab so viele Möglichkeiten, so endlos scheinende Variationen - nur zwei Menschen und doch war es denkbar, dass die ganze Welt mit ihnen eine andere wäre. Für Alandor gab es keine Ruhe. Nicht in dieser Nacht, in der er vor Erschöpfung auf dem Tisch einschlief und nicht in den Tagen und Wochen darauf. Thorin aber zog nach Kal Terrika. Oh er kannte die Gegend gut und er kannte auch die Festung. Er erinnerte sich daran. Ninafer war ihm nachgelaufen, wie ein getretener Hund, der nicht wusste, wohin er schon sonst sollte. Sie war ihm nach Zadiora gefolgt, nach Bruchberg, nach Varakas. Dort hatte er sie los zu werden versucht, als Ceteus‘ Präsenz in ihr noch schwach gewesen war. Nur ein Teil ihrer Selbst, den sie bis dahin bekämpft hatte. Er hatte sie betäubt und in ihre Heimat heim zu schicken versucht. Erst sehr, sehr viel später hatte er erahnen können, was er ihr damit angetan hätte. Beste Absichten schützten nicht davor, Katastrophen einzuläuten. Sie war zurückgekehrt… und gestorben. Irgendwo auf einer Straße, niedergeschossen von einfachen Wegelagerern. Weil der Schatten nicht gewusst hatte, wann er besser den Mund halten sollte. Er war schließlich der große Gott, den niemand anzurühren und dem niemand etwas zu befehlen hatte - Thorin erinnerte sich noch an die große Wunde auf ihrer Brust, als er sie in den Armen gehalten hatte. Wie sie plötzlich wieder aufgerissen war und zu bluten begonnen hatte. Der Schnitt in ihrer Kehle… all das Blut überall, ihres, vermischt mit dem Seinen… Wenige Tage war er nach Varakas allein unterwegs gewesen. Erst in Nephilim hatten sie einander wieder gesehen. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits nicht mehr nur Ninafer gewesen. In den Tagen dazwischen jedoch hatte er die alte Feste ‚besichtigt‘. Das traf es wohl. Er hatte eine tiefe Verbundenheit mit dem Gemäuer verspürt. Es war alt, verwittert. Es hatte seine besten Tage lange hinter sich und obwohl es dem Zahn der Zeit noch immer trotzte, konnte man seinen Mauern ansehen, dass es nicht mehr lange dauern würde. Es hatte viele Gemeinsamkeiten gegeben. Als er diesmal in die Nähe der Festung kam - er war querfeldein marschiert, um die Gesellschaft der lästigen Spitzohren in Nephilim umgehen zu können -, da wurde er bereits… nun, ‚erwartet‘. Es war merkwürdig, wie man ihm abseits der Wege einen gut ausgedachten Hinterhalt stellte. Offenbar hielt man drei Mann für völlig ausreichend. Sie forderten Geld, das er nicht mehr besaß und zeigten sich mit seiner offenherzigen Antwort ebenso unzufrieden, wie sie ihm nicht glauben wollten. Seine Taschen selbst kontrollieren, das schlugen sie vor - und er meinte, sie könnten es gerne versuchen. Der Kampf war kurz gewesen, kurz aber schmerzvoll. Er selbst hatte lediglich von einem Sterbenden einen unangenehm harten Ellbogen in die Rippen bekommen, doch mit diesen drei Halunken machte er kurzen Prozess. Vielleicht nicht mit allen dreien. Einer, den Rücken bereits von der Axt gespalten, ließ er noch leben, bis dieser ihm alles gesagt hatte, was er wissen wollte. Tatsächlich handelte es sich bei dieser Räuberbande um zwei Dutzend Mann - drei lagen hier schon vor ihm. Verblieben zwanzig Mann und ihr Anführer. Der Krieger erreichte Kal Terrika bei Nacht - wie er es erhofft hatte. Es war nicht schwer, die ahnungslosen Wachen zu überrumpeln. Zumindest die am äußeren Tor. Er hatte sich lediglich durch eines der vielen Löcher in der Wand schleichen müssen, immer an der Wehranlage entlang, damit die Bogenschützen oben auf dem Wehrgang ihn nicht zu Gesicht bekamen. Seine Axt war schartig, stumpf und nicht im Ansatz mit seiner früheren Waffe zu vergleichen - aber sie reichte, um den zwei Wächtern am Eingang den Schädel einzuschlagen. Leider ging das nicht ganz so leise vonstatten, wie er sich das erhofft hatte. Letztlich wurden die vier Bogenschützen doch noch auf den Eindringling aufmerksam und eröffneten sofort das Feuer. Das Amulett bewies seinen Wert, das ließ sich nicht abstreiten. Es war dunkle Nacht und der Krieger in seinen Lumpen schwer auszumachen, doch einen sich bewegenden Schemen dieser Größe konnte man als geübter Schütze dennoch schwer verfehlen - so konnte er nur das Amulett vorschieben, als die Pfeile als Querschläger an Steinen um ihn herum abprallten. Tatsächlich wagte er sogar, einen faustgroßen Stein aufzugreifen und mit aller Wucht zu schleudern. Danach schmerzte ihm zwar die Schulter, doch er traf einen der Schützen. Wo, das sah er nicht - er sah nur, wie dieser taumelte, um Gleichgewicht bemüht und letztlich doch vornüber die Mauer herab stürzte. Als er Aufschlug, brauchte es nicht einmal das Krachen der Knochen, damit der Krieger wusste, dass nur noch siebzehn und ihr Anführer verblieben. Doch selbst das war noch wahrlich genug, nicht? Er stürmte so eilig er konnte in Richtung der Tore und schaffte es, auf halbem Wege zu einem Seiteneingang abzudrehen, der auf die letzten Meter aus dem Augenwinkel heraus erspäht hatte. Dort eingetreten, sah er sich der nächsten Hürde gegenüber. Die Bogenschützen würden nur wenige Minuten brauchen, ehe sie von der Mauer herab gekommen wären. Sie würden sich vermutlich kurz absprechen - einer würde nach den Toten am Tor sehen, ob sie noch zu retten waren, einer würde den Rest der Bande warnen und der Letzte ihm wohl nachsetzen. Zumindest wäre das klug gewesen. Wie sich herausstellte, wurden die Räuber ihrem Ruf gerecht - sie waren nicht klug. Alle drei stürmten dem Krieger nach, der ihnen, ein paar Quergänge und Räume als leer und sicher abgesucht, eine Falle stellte. Als sie im Gebäude ankamen, lehnte er sich nur kurz aus dem Türbogen eines Raumes, der ihnen wohl eigentlich als Wachstube hätte dienen sollen und warf die Axt. Sie konnte vielleicht nicht durch Rüstungen oder gar in Fleisch dringen, aber sie brach dem Burschen mehrere Rippen, sodass er heulend zu Boden ging. Pfeile surrten daraufhin in seine Richtung, doch Thorin war bereits wieder verschwunden. Vorsichtig schlichen ihm die Verbliebenen nach - von einer Misere in die Nächste. Die Tür offen stehend, flog direkt bei ihrem Eintreten zu. Der Zweite bekam sie gegen den Schädel gedonnert, hatte er doch anders als sein Mitstreiter nicht schnell genug zurück weichen können. Taumelnd senkte er den Bogen, griff nach der Stirn, hinter der der Schmerz explodierte. Der Hüne aber war längst hervor geschossen, packte den im Nahkampf ungeübten dritten Mann am Handgelenk. Mit dem Dolch, den dieser gezogen hatte, erstach er den Zweiten, jagte ihm die Klinge in die Kehle, ehe der Krieger seine Pranke auf das Gesicht des Dritten legte und ihn drei Mal mit großer Kraft gegen die Wand hinter ihm donnerte. So lange, bis sein Hinterkopf matschige Flecke am Stein hinterließ. Dem Ersten, der die Axt abbekommen hatte, brach er schlicht das Genick. Vierzehn und Anführer. Die Taktik erwies sich noch einmal als tauglich, als er einen weiteren, diesmal besetzten Wachraum passierte. Beide saßen, offenbar in Kartenspiele vertieft. Dem weiter Entfernten warf er die Waffe entgegen, während er sich auf den Ersten stürzte. Er schlug ihn halb besinnungslos, ehe sein Kumpan dazu kam, das Schwert zu ziehen. Thorin wurde zwar mit einem langen, unschönen Schnitt am Unterarm getroffen, schaffte es jedoch im nahen Gerangel, dem Gegner die Waffe abzunehmen - und beide damit zu töten. Das Schwert in der Linken, die Axt in der Rechten, bahnte er sich weiter seinen Weg und platzte - irgendwann hatte ihn das Glück wohl zwangsläufig verlassen müssen - unabsichtlich in den Speisesaal. „Alarm!“ brüllte sofort jemand und fast der gesamte Rest der Truppe sprang auf. Acht Mann und ein Ruf, der zweifellos Echos in jedem Gang und jedem Raum warf. In aller Eile zog der Krieger den Stein hervor. Aus dem Dunkel seiner Tasche kommend, brach sich das Licht unbeugsam Bahn - ehe er kurz darauf in den Fingern des Kriegers zu kleinen Splittern barst. Ein verirrter Bolzen, wie der Krieger blinzelnd gewahrte. Mit aller Hast und Eile warf er sich auf die Gegner, hackte und stach, so oft er nur konnte - doch nur vier gingen nieder, ob tot oder schwer verletzt war ihm gleich, ehe sie sich von der Blendung erholten. Als der Rest die Situation begriff, kehrte unliebsame Ordnung ein. Zwei Mann, mit Rundschilden und Breitschwertern, postierten sich vor den verbliebenen Zweien, die ihrerseits Armbrüste luden. Rasch hatte der Krieger eine der kleinen Flaschen gezückt - und verschwand. Nicht unsichtbar, nein, er sank schlicht durch den Boden ein wie ein Gespenst und stürzte. Er befürchtete schon, er würde weiter fallen und irgendwann mitten im Erdreich ‚stecken bleiben‘, doch der Bannmagier hatte über die Kurzlebigkeit der Tränke nicht gelogen - noch während er durch das untere Stockwerk fiel, verebbte die Wirkung und er landete hart auf dem Untergrund. Ächzend erhob er sich und gewahrte rechtzeitig eines Mannes, der nackt aus dem Bett sprang und sofort zum Dolch auf dem Nachttisch griff. Er konnte die Attacke abwehren und obwohl ihn dies beide Waffen kostete, vermochte er doch auch seinem Gegner die Klinge zu entreißen. „Wer bei Ceteus seid ihr?!“ fauchte sein Gegenüber. Der Räumlichkeit nach, reich verziert und dekoriert, zweifellos das beste Zimmer in der ganzen Anlage, wähnte sich der Krieger wohl dem Anführer dieser Räubertruppe gegenüber. Wenn jemand wusste, ob das Orakel hier war - und wo - dann er. „Das Orakel, wo ist es?“ erwiderte der Krieger kurz angebunden und blickte sich bereits um. Es gab zwei Türen. Eine führte vermutlich zu einem Treppengang aufwärts, die andere möglicherweise… abwärts? Die Waffen waren allesamt zu weit verteilt, um ohne große Mühen an sie heran zu gelangen - es würde also entweder auf einen Nahkampf mit Fäusten hinaus laufen, bis einer in die Nähe einer Klinge käme und der andere damit unweigerlich in Probleme geriete, oder aber sie würden sich vielleicht einigen können. Obwohl der Kahlkopf es vorzog, sich nicht mit Halunkenpack einigen zu müssen. Leute wie diesen Bock hatte er oft genug getötet - meist, nachdem sie Ninafer gegeben hatten, was sie verlangte. Nur eines war für ihn von Relevanz: Das Grinsen im Gesicht dieses Hurensohnes. Er verstand ihn, er wusste sofort, wovon er sprach. Der Krieger hoffte inständig, dass das daran liegen mochte, weil das Orakel tatsächlich hier war. Und er sah sich bestätigt, als das Narbengesicht mit einem „Ach ihr seid das also“ begann. Was er danach auch immer hatte sagen wollen, beide sahen sich in ihrem philosophischen Diskurs unterbrochen, als Getrappel laut wurde. Kurz darauf stürmten die verbliebenen Männer der Bande das Quartier ihres Hauptmanns, schwer gerüstet, voll bewaffnet und mit gespannten Armbrüsten und Bögen. Dieser wiederum, den Vorteil nun zur Gänze auf seiner Seite, wandte sich wieder grinsend um - doch der Krieger war längst verschwunden. Keiner hatte ihn das zweite Fläschchen trinken sehen. Die Anlage von Kal Terrika erwies sich als riesig. So groß, das der Hauptmann mit seinen verbliebenen Männern Tage brauchen würde, jeden Winkel abzusuchen. Ebenso erging es aber Thorin, der nun jeder Waffe beraubt - außer seinen Fäusten, verstand sich - weiterhin auf der Suche nach seinem Ziel war. Im Verlaufe zweier weiterer Tage, in denen die Besetzer und der Gejagte Katz und Maus miteinander spielten, tötete der Krieger zwei weitere Männer und eignete sich einen Dolch an, ehe er endlich sein Ziel fand. Wer etwas suchte, sollte stets dort beginnen, wo er zuletzt nachzuschauen gedachte. Kal Terrika besaß einen tief gelegenen, verzweigten Kerker. Warum das Orakel hier war, wusste er nicht. Er trat vor die Zelle und wollte seinen Augen nicht trauen. Sie saß dort, auf einer Bank. Direkt hinter den Gittern ein Teller mit Essen - nicht angerührt. Sie starrte ihn an, weder fuhr sie zusammen, noch schien sie überrascht. Erst nach einigen Minuten wanderte ihr Blick, wie ein Hinweis. Er folgte ihm - und fand den Zellenschlüssel. Als er eintrat, ging sie nicht auf ihn los. Nur leise raschelten ihre Flügel. „Du bist meinetwegen hier, Thorin“, hauchte ein dünnes, zerbrechliches Stimmchen in einer Melancholie, die sich nicht in Worte fassen ließ. Der Kummer der Welt und die Trauer aller Menschen schienen in diesen wenigen Worten zu liegen. „Du wirst mir antworten!“ verlangte er harschen Tones. Sie brauchte nicht versuchen, an sein Mitleid zu appellieren. Viele hatten das getan, allesamt umsonst. Wer mit der Spinne paktierte, konnte sich Mitleid nicht leisten. Das Orakel aber… überraschte ihn. „Ich werde es dir zeigen. Und danach… wirst du dem ein Ende setzen“, konstatierte sie schlicht, erhob sich von ihrer Bank und schritt völlig hüllenlos, wie sie war, an ihm vorbei. Was sie hier erlebt hatte, wollte er nicht wissen. Er hatte zu viele traurige Schicksale gehört, gesehen, herbeigeführt oder selbst erlebt. Es war ihm völlig gleich geworden. Vermutlich war sie wie so oft als unscheinbare Reisende unterwegs gewesen, diesmal aber auf der falschen Straße. Möglicherweise hatte sie diese Straße sogar gewählt, weil sie wusste, dass er sie suchen würde. Was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Sie war hier und wollte Erlösung. Er wusste es - weil sie schon viel zu lange danach suchte. Jede Legende berichtete davon. Das Orakel, die Geliebte Kalerans, die jeden, der sie enttarnte, vor eine einfache Wahl stellte. Sie könne ihm die Zukunft vorher sagen - wenn er sie danach töten möge. Doch alle hatten sich immer dafür entschieden, sie am Leben zu lassen, sie weiter zu benutzen, immer mehr wissen zu wollen. Bis ihr Schicksal sie alle ereilt hatte. Nun war er an der Reihe. Diese eine Frage würde sie ihm beantworten - doch Thorin trachtete nicht nach Weisheit. Es verlangte ihm nicht mehr nach Macht, Genugtuung, Reichtum oder Folgschaft. Er wollte nichts mehr für sich erringen und die Welt nicht mehr verändern. Alles war ihm gleich geworden mit Ausnahme dieser einen Sache. Auf einer Karte Lumiéls, die zwischen einem Stapel billiger Schundromane versteckt lag, deutete sie ihm auf einem Tisch ausgebreitet auf einen Ort, der von aller Zivilisation so weit entfernt lag wie Kal Terrika selbst. „Gehe dorthin. Grabe zwei Tage lang und du wirst finden, was du suchst.“ Der Krieger nahm den Dolch zur Hand und ritzte ein kleines Kreuz in die Karte, ehe er sie faltete und in einer Tasche verschwinden ließ. Das Messer wog plötzlich so schwer in seiner Hand. Jenes Weib, wissend und sehend und zermürbt unter eben dieser Last, wandte sich ihm zu. Sie sagte nichts… nur ihre Augen zeugten von einem hoffnungsvollen Glanz. Als seine Finger sich fester um den Schaft schlossen, alle Möglichkeiten, alle Verlockungen Lügen und Nichtigkeiten straften, da deutete sich auf ihren kummerschweren Lippen ein Lächeln an. „Ist es nicht merkwürdig? Wärst du der Mann, dessen sich alle erinnern, hättest du eine Unbewaffnete nicht einmal töten können, hätte sie dich angebettelt.“ Er zog das Weib an sich, drückte ihren Leib gegen den Seinen - und stieß zu. Die Lippen nahe an ihrem Ohr, sprach er die letzten Worte, die sie je hören würde. „Ich bin nicht dieser Mann.“ Mit einem seligen Lächeln sank sie, bis sein Arm sie stützte. Er bettete sie in ihrer Zelle, die Arme verbargen die tiefe Wunde, während ihre Hände sich über ihrem Bauch falteten. Es galt nur noch der Festung zu entkommen. Keine große Hürde, bedachte man, wie zerstreut die Männer des Räuberhauptmanns waren. Überhaupt war es eine Frage der Zeit und nicht mehr. Thorin allein - ein alternder Söldner mit einer stumpfen Axt - hatte seine Truppe überrumpelt und fast halbiert. Nun aber, da die Seherin auch noch tot war, da das Orakel nach so endlos langen Jahrhunderten ihrer Pein diese Welt endlich in Frieden hatte verlassen können, würde sein Glück rasch schwinden. Verpatzte Überfälle, Gerüchte über ein Schwächeln ihrer Glückssträhne und es wäre nur noch eine Frage der Zeit, bis ein stattlicher Trupp Soldaten hier aufmarschieren und die kläglichen Reste dieses Packs zusammenfegen würde. Für Thorin aber war nur eine erste Station geschafft. Was er von Alandor mit auf den Weg bekommen hatte, hatte sich als nützlich erwiesen - doch jetzt blieb ihm nichts mehr davon. Die Kette hatte ihren Nutzen erfüllt und ob sie das weiterhin könnte oder auch nur würde, war fraglich. Wichtig war… nun - er war pragmatisch veranlagt. Wichtig war nun, eine Schaufel aufzutreiben. Die Karte war groß und grob. Er wusste weder, wonach er grub, noch, wonach er dabei eigentlich suchen sollte. Das Orakel aber, so war er sich sicher, würde ihn nicht grundlos irreführen. Woher er diese Sicherheit nahm… vielleicht waren es diese Augen gewesen, die ihn so sehnsüchtig willkommen geheißen hatten, die so dankbar glänzten, als sie von dem Menschen sprach, der er nicht war. Als der Hüne Kal Terrika hinter sich ließ, einen aufgescheuchten Haufen Banditen und Halsabschneider zurück ließ mit den Überresten der ‚Waffe‘, die ihnen bisher ihre Siege garantiert hatte, befiel ihn erstmals seit langer, langer Zeit so etwas wie… Geschäftigkeit. Er hatte ein Ziel gehabt, aber nicht gewusst, ob es überhaupt erreichbar war. Jetzt aber war er seinem tatsächlichen Ziel schon einen guten Schritt näher gekommen, indem er die erste Hürde genommen hatte. Das Unmögliche vollbringen… es schien sich allmählich zu dem zu entwickeln, womit er fortwährend seine Zeit vertrieb. Ganz gleich, ob man ganze Königreiche aufhalten und niederbrennen wollte, ob es eine legendäre Person zu finden galt oder… mehr noch als ‚nur‘ das - er packte die Aufgaben an und rückblickend war sein Schnitt bei der Lösung solcher Aufgaben bisher wohl recht stattlich. Vielleicht war es ja Zuversicht, die sein Herz beflügelte und seine Schritte beschleunigte, als er dem neuen Tag entgegen marschierte… Kapitel 10: Auf- und Abstieg, Teil 2 ------------------------------------ Man hätte eine epische Geschichte daraus spinnen mögen, nicht wahr? Der einsame Wanderer, ein Bär von einem Mann, stattlich, kräftig und mit der Ausstrahlung eines unerbittlich standhaften Felsens, der mit bloßen Händen den ausgehungerten Wolf bezwang. Oh gewiss, so wurden Helden geschmiedet - im tratschsüchtigen Maul von Weibern und Säufern. Es war nichts Heldenhaftes daran gewesen. Thorin hatte sich über eine Woche, selbst dem Hunger unterworfen, durch die Wildnis Lumiéls gekämpft. Vielleicht war es verkehrt, das Grünland als ‚Wildnis‘ zu beschreiben. Doch wer einmal versucht hatte, unter den gleichen Umständen wie der Krieger von Kal Terrika zu seinem Zielort zu gelangen, der musste feststellen, dass selbst das in Überfluss ertrinkende, grüne Herzland des Atolls seine Gefahren aufzubieten wusste. Er hatte keinen Proviant mehr. Von einer Waffe ganz zu schweigen. Den Wolf, der ihm stattliche Kratzer und sogar ein paar Bissspuren auf seinem Panzer eingetragen hatte, diente ihm nun Stückchenweise über dem Lagerfeuer rotierend als Ersatz für zumindest das Eine. Beide waren sie keine Feinde aus persönlichen Gründen gewesen, beiden ging es nur um das Stillen eines existentiellen Bedürfnisses. Doch als der Krieger das Tier zu packen bekam, seine Kehle mit dessen muskulösem Arm abpresste, als er den Todeskampf des Wesens sah, das mit den Krallen in weichem Boden scharrte und zu entkommen, sich zu befreien, ja selbst jetzt noch nach ihm zu schnappen versuchte… es musste kein Mitleid sein. Möglicherweise aber ein gewisses Gefühl der… Verbundenheit? Schon vor langer, langer Zeit hatte er fast alles verloren, was ihn an sein altes Leben erinnern konnte. Die Karte, uraltes Leder bedruckt mit dem Atoll selbst, eingetragene Städte und Pfade, die längst nicht mehr existiert hatten, war fort. Vielleicht existierte sie nun, um staunende Reisende an Ruinen heran oder verwilderte Schleichwege entlang zu führen. Vielleicht auch, um einem dieser verflixten Zirkelmagier zu zeigen, wo er nach Schätzen buddeln musste. Auch seinen Kompass besaß er nicht mehr. Das kleine, schlichte Holzkästchen, in dem sich die Nadel so unermüdlich bewegt hatte. Irgendwann war er nach all den Gaben, die man ihm verliehen hatte, überflüssig geworden. Und Thorin, pragmatisch wie er war, hatte keinen unnützen Tand tragen wollen. Jetzt orientierte er sich am Verlauf der Sonne, am Ort ihres Auf- und Niederganges. Es gelang ihm, in den weiten, sich wellengleich wiegenden Grasebenen nicht die Orientierung zu verlieren. Es gelang ihm sogar, den Bruchberg großzügig zu umgehen. Ganz gleich, in welcher dieser verdammten Zeitlinien man sich bewegte, Goblins und Gnome waren nie freundlich, nie feindlich - und nie ungefährlich. Diese kleinen Winzlinge wollten das vielleicht nicht einmal unbedingt, aber man konnte ihnen und vor allem ihren herzlichen Dreingaben einfach nicht trauen. Ständig kochte, ätzte, brannte oder explodierte irgendetwas, das laut seinem Schöpfer gar nicht dafür vorgesehen war. Man hätte sie für ein gewaltiges Volk von Stümpern halten können - und wären die Goblins allein für sich gewesen, vielleicht hätte man sogar Recht behalten. Die Gnome aber, obgleich nicht mit diesem technischen Genie gesegnet, wussten mit ihrem messerscharfen Verstand all die Merkwürdigkeiten irgendwie immer zu reparieren oder sogar einem tatsächlichen Nutzen zuzuführen. Einer der Gründe, warum eine einzige Goblinhöhle, ob bewohnt oder nicht, gefährlicher war als eine ganze Zwergenlegion. Fallen, eigenständig laufende Apparaturen, elektrische, aber ungesicherte Leitungen, Dampfkessel - genug Möglichkeiten, sich um Leib und Leben zu bringen. Irgendwo im Norden errichte er schließlich sein Ziel. Kein nennenswerter Ort. Wie das so häufig war, wenn man etwas suchte, das vermutlich sehr alt und längst vergessen galt: Es war Meilen und Meilen von der nächsten Lokalität entfernt, die man auch nur als ‚nennenswert‘ hätte titulieren können. Mitten im Nirgendwo, zwischen der nächsten Feste, ein gutes Stück im Osten, Audron weit im Norden. Die Ausläufer der gewaltigen Wälder waren bereits sichtbar, welche sich südlich der Frost- und Eisgrenze an Lumiéls Städte schmiegten. Er musste sie zu seiner Erleichterung nicht betreten - an den südöstlichen Ausläufern befand sich sein Ziel, knapp außerhalb eben jener gewaltig aufragenden, uralten Bäume. Wie das Orakel es ihm gewiesen hatte, grub er. Was hätte er sonst tun sollen? Erst am Ort des Geschehens eingetroffen, bemerkte er sein Dilemma: Es gab tatsächlich nicht nur auf der Karte keinerlei Anhaltspunkte. Er hatte auf etwas gehofft. Irgendetwas. Vielleicht einen besonders hohen Baum, vielleicht eine merkwürdig verzerrt gewachsene, knorrige Birke, vielleicht auch ein Steinmahl mitten in der Graslandschaft. Irgendetwas eben. Doch hier war nichts. Nur Gras und Gras und noch mehr Gras. Der Gedanke, das Orakel mochte ihn vor seinem Tod um die erbetene, nein, schlicht abverlangte Antwort betrogen haben, war durchaus gegenwärtig. Doch er wagte nicht ihm Raum zu lassen, um auch nur aufzukeimen. Stattdessen setzte er sich nieder, mitten im Grasland, fernab aller Straßen und Dörfer, in Niemandsland, und aß die letzten Reste Wolfsfleisch. Eine Schaufel hatte er inzwischen. Sie prangerte, wo einstmals die Waffen des Kriegers ihren Platz hatten finden müssen: Auf seinem Rücken, mit einem Ledergurt festgeschnallt. Er hatte sie unterwegs… gefunden. Geld besaß er keines mehr. Er hatte alles Alandor gegeben, fest überzeugt, es nicht mehr zu benötigen. Allerdings war er zu diesem Zeitpunkt auch davon ausgegangen, nicht graben zu müssen. Der Wanderhändler hatte versucht, ihm bestmöglich entgegen zu kommen. Er war kein schlechter Mensch gewesen. Genau genommen, war er gar kein Mensch gewesen. Ein rüstiger alter Zwerg, der sich mit seinem Vornamen vorstellte. Ein Kruti also, keine Frage, ein Ausgestoßener seines Volkes. Er hatte sich dennoch mit einem Stolz präsentiert, mit einem erhobenen Kinn und wohlgeflochtenem Bart, ganz so, als sei dergleichen nie geschehen. Vielleicht war er ein Revolutionär, der sich gegen die Traditionen aussprach, vielleicht diente er als Verbindung zwischen seinem Clan und der Oberwelt - was spielte es schon für eine Rolle, woher der Stolz rührte? Sie hatten einander nicht unsympathisch befunden, doch hatten sie ebenso feststellen müssen, dass der Krieger, dem die Not des Besitzes des Werkzeuges regelrecht auf die Stirn geritzt stand, einfach nichts besaß. Nichts zum Bezahlen, nichts zum Eintauschen, gar nichts. Am Ende hatte es nur eine Lösung gegeben. Als guter, aufrechter Händler hatte der Zwerg ihm die Schaufel ja schlecht schenken können. Und als jemand, der keine Zeit zu haben glaubte, nicht wusste, wann er das nächste Mal eine Menschenseele - einen Händler zudem! - überhaupt treffen würde und ob er dann etwas von Wert besäße, hatte Thorin den Zwerg auch ebenso schlecht einfach weiterziehen lassen können. Zumindest hatte er es kurz gemacht. Ein einziger, völlig unerwarteter Hieb streckte den Zwerg, so kräftig er auch gebaut war, schlicht nieder. Händler blieb Händler, ein Krieger hätte vielleicht nur keuchend auf die Knie brechen müssen. Der Hüne sah sich um, erblickte aber weder andere Reisende noch Bedrohungen sonstiger Art. Keine Bären, keine Wölfe, keine Zentauren, Harpyien oder Trolle. Nichts und niemand, weit und breit. Der Kurze könnte also seine Ohnmacht überwinden und in aller Ruhe wieder aufwachen und sich sammeln, ohne bis dahin gefressen oder zumindest getötet worden zu sein. Der Kahlkopf selbst indes nahm schlicht die Schaufel und ging. Es hätte mehr gegeben. Vielleicht würde er auf hartes Gestein stoßen? Dann hätte er die schwere Spitzhacke gebrauchen können. Oder wie wäre es mit neuer Kleidung? Einem wärmenden Hut? Möglicherweise ein paar neuen Stiefeln, die seine zugegeben nützlichen, weil beim Tritt schwer austeilenden Wanderstiefel hätten ersetzen können, die inzwischen so schrecklich durchgelaufen und abgetragen waren? Allerlei Tand und Krimskrams, der möglicherweise irgendwann irgendwie Wert besessen hätte. Nicht für andere Händler, sondern für sein Vorhaben. Doch… Thorin war genügsam. Er hätte sich nicht sich selbst gegenüber damit heraus reden müssen, dass er schlicht auf seinen Ballast achtete - tatsächlich war er schlicht genügsam. Noch so ein Punkt, welcher Alandor Lamerak erstaunt die Augenbrauen hätte heben lassen. Ein Eichenschild, so wollten dessen Erinnerungen ihm weiß machen, hatte nie genug. Gab es eine Prügelei, war er immer mittendrin und selbst, wenn er blutend und mit unzähligen Treffern sich gerade so wackelig auf die Füße stemmen konnte - selbst hätte er alle besiegt! - hätte er nach mehr verlangt. Und am Tische, bei Ceteus, da doch sowieso! Er konnte nie genug essen, trinken, nie genug Vergnüglichkeiten in sich aufsaugen und war um eine dralle kleine Hure nie verlegen gewesen. Sie würden diese Diskussionen nie wieder führen. Er würde sie mit niemandem mehr führen müssen - eine Erkenntnis, die ihm, wann immer sie sich wieder einschlich, ein mildes Lächeln abrang. Als er sein Mahl schließlich beendet hatte, schnallte der Hüne endlich die Schaufel von seinem Rücken, erhob sich unter einem Ächzen und drückte, die Hände auf den Hüften, das Kreuz durch. Es ließ sich einfach nicht länger leugnen… er wurde alt. Jetzt erstmals und sogleich endgültig. Ein merkwürdiges Gefühl. Vielleicht hätte er etwas sagen sollen. Ein ‚Na dann wollen wir mal‘ oder dergleichen. Aber es war ja ohnehin niemand hier, der es hätte hören können. Also hob er schlicht die Spatenkante an die Grasnarbe, setzte den Stiefel auf und rammte sie tief hinein. Vier Mal, dann hob er das erste Stück Erde aus. Das Gras bildete eine dicke, dicht verflochtene Decke, die mit der Schaufelkante zu durchbrechen weit mehr Kraft kostete, als es das eigentliche Ausheben tat. Der Boden war, wie es sich für das Grünland gehörte. Reich an allem, was Pflanzen zum Wachstum brauchten. Zwischen dem Gras fanden sich dutzende Kräuter. Inzwischen wusste der Hüne auch, welche davon sich für heilende Salben eigneten… und dank ihr wusste er auch ein paar davon, sollte je die Notwendigkeit bestehen, in absolut tödliche Salben und Tränke umzusetzen. Doch er achtete sie nicht. Stattdessen rammte er das Werkzeug wieder und wieder in den fruchtbaren Boden und hob im Verlaufe vieler Stunden eine ansehnliche Kuhle aus. Schweiß trat ihm auf Stirn und Leib, doch nur selten gönnte er sich Pausen. Nicht, weil das Alter sie nicht gefordert hätte - er hatte keine Zeit. Nicht eine Minute, die er sich tatsächlich lassen wollte. Je schneller er vorankäme, umso besser. Wie das Orakel ihn angewiesen hatte, grub er. Tagelang. Die Nächte waren kühl, aber nicht unangenehm. Sie sorgten dafür, dass er tief schlafen konnte, zugleich aber früh erholt erwachte und weiter machen konnte. Sein Magen dankte es ihm gewiss nicht, fortwährend ignoriert und auf ein diffuses ‚später‘ vertröstet zu werden, doch er musste graben. Weiter und weiter. Je mehr Stunden verstrichen, wie die Tage dahin flogen, musste er einfach Raum geben. Eben diesem einen Gedanken, das Orakel hätte ihn betrogen. Hatte sie sich ihre Erlösung etwa nur erkauft? War sie es leid gewesen, anderen zu helfen und hatte ihn daher in aller Absicht in diese Gegend geschickt? Gab es hier, irgendwo, überhaupt etwas zu finden? Die Zweifel waren da und mit dem Stand der Sonne erstarkten sie mehr und mehr. Doch was verblieb ihm anderes? So sehr er es sich auch gerne anders eingeredet hätte, er hatte nur diese eine Spur, nur diese eine Chance. Frustriert saß er an diesem Abend am Rande einer überraschend großen Mulde. Ein stattliches Gebiet, welches er umgewühlt und ausgehoben hatte. Die Arbeit von vier Mann hatte er in gleicher Zeit erledigt - und so fühlte er sich auch. Seine Hände, obgleich durch Kampf und Jahre der Arbeit und Erfahrung von Horn geschützt und gestählt, brannten wie Feuer. Kleine, blutige Blasen hatten sich daran gebildet. Sein Kreuz drohte ihn umzubringen. Es würde einfach aus dem Fleisch heraus springen und ihn mit seiner eigenen Wirbelsäule erschlagen, jawohl! Und dann war da noch immer… der Hunger. Am Rande seiner nutzlosen Arbeit sitzend, blickte er zum Himmel auf. Eine Pause, so sagte er sich. Er machte hier nur eine Pause. Dann würde er weiter graben. Vielleicht weiter in Richtung Wald. Vielleicht auch tiefer. Neugier war es weniger, eher eine Art von fast kaum vorhandenem Interesse, das sich einschlich, als er in der Ferne jemanden Bemerkte. Der Gestalt nach ein Mensch - oder zumindest etwas Menschengroßes. Die Silhouette kam näher und näher, im schwindenden Tageslicht einen wehenden Umhang tragend. Ein Wanderer wie er? Ein einfacher Reisender? Es galt eine einfache, wenn auch unschöne Entscheidung zu treffen. Er saß hier am Rand der Kuhle, in welcher er nichts Nennenswertes gefunden hatte, die Schaufel neben sich und am Ort, den das Orakel ihm gewiesen hatte. Er könnte weiter graben. Tage. Wochen. Jahre. Er würde sich vielleicht etwas Wild erjagen können, dann müsste er nicht einmal verhungern. Nur graben. Er würde irgendwann sterben und hätte das größte Loch Lumiéls ausgehoben… vermutlich, ohne irgendetwas gefunden zu haben. Nun ja, nichts außer das da. Ein abfälliger Blick streifte kurz seinen einzigen Fund, ehe er mit einem Seufzen seinen Körper in Bewegung brachte und sich auf die Füße stemmte. Er würde gehen. Das hier… das machte keinen Sinn mehr. Das Orakel hatte ihn betrogen, wussten die Götter, warum. Ja - die Götter. Nicht dieser eine, hinterhältige kleine Bastard, der sich nun feiern ließ als hätte er selbst die Welt und alles darin erschaffen. Thorin, der in alten, furchtbar lange zurück liegenden Zeiten immer nur einer Stimme gefolgt und willentlich oder nicht nur einem die Treue gehalten hatte, hätte nie gedacht, irgendwann einmal so trotzig auf das ganze Pantheon zu schwören. Die Schaufel… ließ er liegen, als er sich dem Wanderer entgegen bewegte. Je näher er der Gestalt kam, umso mehr Details erkannte er auch in der einsetzenden Dämmerung. Man hatte sich im Grünland immerhin schon aus weiter Ferne sehen können. Der Umhang war löchrig und ausgefranzt, zweifellos uralt - und obendrein aus einfachsten Leinen. Ohnehin weniger ein Umhang, eher ein großes, breites Leinentuch, das sich der Wanderer wie ein Beduine umgewickelt hatte. Als sie auf ein paar Meter aneinander getreten waren, lag es an Thorin. Er war derjenige, der schweigend, skeptisch und abschätzend starrte, unverhohlen und bar aller Höflichkeit - während sein Gegenüber ihn nur kurz musterte, ehe ein Lächeln auf seine Lippen zog. „Wer hätte das gedacht! Noch ein Reisender in dieser gottverlassenen Gegend!“ grüßte der Wanderer ihn, „Was treibt euch hierher?“ erkundigte er sich und warf einen Blick vorbei an der bulligen Gestalt des Kriegers, hinüber zu dem kaum übersehbaren Loch im Boden, „Schatzsuche?“ hakte der Reisende nach und schmunzelte angesichts der offenkundig ziellosen und obendrein erfolglosen Graberei. „So ähnlich“, gab der Hüne lediglich unter einem tiefen Seufzen zurück, „Wohin zieht ihr?“ „Ich? Hmmm. Die Frage ist… schwieriger zu beantworten, als sie vielleicht wirken mag. Ich sag euch was… wir ziehen ein Stück zusammen. Es wird ohnehin bald dunkel, dann können wir uns ein schönes Feuer machen, einen Happen essen und ich erzähle es euch. Ich… gebe zu, ich könnte vielleicht sogar etwas Hilfe gebrauchen.“ Hilfe? Das Wort schallte in Thorins Geist wieder und wieder von den Wänden seines Kopfes zurück. Hilfe. Die konnte er ebenso gebrauchen, nur war nichts und niemand mehr fähig, ihm zu helfen. Die einzige Macht, die das vermocht hätte, war durch seine Klinge gestorben. Aber warum? Warum abseits all der Wege, warum jenseits jedes Dorfes, warum mitten im Nirgendwo, warum gerade jetzt, gerade hier? Warum war dieser Wanderer dort vor ihm hier? Es konnte ein Zufall sein. Natürlich konnte es das. Aber wer so alt wurde wie der Kahlkopf, der begann irgendwann zu zweifeln. Sobald die Zweifel nicht mehr genügten, begann man unweigerlich den Glauben zu verlieren. Daran, dass es Zufälle denn überhaupt je gegeben hätte. Ceteus Wille? Nein, sicher nicht. Aber irgendjemandes wohl. Der Hüne antwortete nicht, ein einfaches Nicken gereichte völlig. Zusammen und allem voran schweigsam zogen sie ein gutes Stück an der Kuhle vorbei, die sein Tagewerk bedeutet hatte und bogen schließlich in den Wald hinein ab. Die Wälder Nordlumiéls. Sie waren gewaltig, viel größer als der Stille Wald zwischen Zadiora und La Coeur, viel größer und älter als die Sumpfwälder im Osten, hinter und in denen sich die Elben von Esgaroth versteckten. Und doch schienen diese uralten Bäume nie eine Dryade besessen zu haben. Man munkelte stets, woran das läge. Geschichten gab es darüber zuhauf und manche selbsternannte Erklärung war spannender als die andere. Thorin selbst glaubte keiner davon - einfach weil keine davon gute Beweise aufbieten konnte. Nur Vermutungen und Indizien. Als sie ihr Lager auf einer kleinen Lichtung aufschlugen, hatten sie sich bereits tief genug in den uralten Forst gewagt, um nicht mehr so einfach zwischen den Baumreihen hindurch auf das weite Grasland hinaus blicken zu können. Ebenso bildeten die gewaltig aufragenden Stämme auch einen guten Sichtschutz für sie selbst. Der König bemühte sich nach Kräften, das Land zu sichern und stabil zu halten. Politisch war vermutlich gegenwärtig ein großer Tumult ausgebrochen, Bündnisse wurden gekündigt, Neue geschlossen, die ganze Welt geriet in Unordnung, doch… auch das zählte zu den Dingen, die Thorin nicht länger interessierten. Nichts tat das mehr. Die Welt wollte unbedingt vor die Hunde gehen? Sollte sie doch. Sie wollte es nicht? Na dann sollte sie etwas dagegen unternehmen. So einfach war das… so einfach war das immer schon gewesen. Der Reisende nahm endlich dieses vergilbte Bettlaken ab. Er lächelte entschuldigend, erklärte den Aufzug damit, dass die Kälte ihm nicht gut täte. Erst, als das Leinen fiel, erkannte der Krieger die Wahrheit darin. Sein Gegenüber war kein gewöhnlicher Reisender, er war eher… ein Großväterchen. Eine aufrechte Gestalt von durchschnittlich-gutem Bau, aber sah man das Gesicht erst einmal entblößt, so bemerkte man unweigerlich ein paar Narben, tiefe Furchen auf Stirn, um die Augen und Lippen herum. Er litt zweifellos noch weit mehr unter dem, was Thorin erst zu plagen begonnen hatte - dem Alter. Und auch erst jetzt, im Schein des Feuers und einmal darauf aufmerksam geworden, bemerkte er die Hände seines Reisegefährten. Dünner gewordene Haut, von Altersflecken gezeichnet, spannte sich über mager werdenden Fingern. Als der Wanderer sich endlich setzte, lächelte er dem Hünen zu, kramte weiter in seinem Rucksack herum und zog ein kleines Paket hervor. Eingeschnürt und eingepackt in ein dünnes Leder, entwickelte er seinen Proviant. Wohlduftender, herzhafter Käse, ein gut abgehangener, salziger Schinken. Brot, ein Stück Fisch, aus dem Rucksack kamen ein paar Früchte hinzu. Äpfel, eine Orange, zwei, drei Tomaten. Ein kleines Festmahl. Schon beim Anblick dessen rebellierte der Magen des Kriegers, der sich viel zu lange ignoriert und vertröstet fühlte, lautstark vor sich hin. Obwohl dem Kahlkopf nichts so schnell peinlich wurde… musste er doch den Blick senken. Es grämte ihn eher, zu betteln, ohne das bewusst getan zu haben. Einzig sein Gegenüber erlöste ihn aus dieser Zwickmühle. Einen Moment blickte der Ältere seinen Landsmann an, ehe ein mildes Lächeln die faltigen Lippen glatt zog. „Seht, ich habe einfach kein Gefühl mehr. Früher stand ich in der Küche und habe für drei Personen gekocht. Ein Vergnügen, das sage ich euch, aber man gewöhnt sich so schlecht um. Noch immer packe ich mir ständig viel zu viel ein. Wollt ihr mir nicht vielleicht helfen? Es wäre doch schade, wenn das gute Zeug verdirbt!“ Der Hüne blickte auf und fühlte sich… überrascht. Überrumpelt von der Güte, die aus den Augen dieses Alten strahlte wie das Licht der Sonne vom Himmel. Mit einem wortlosen Nicken stimmte er zu, akzeptierte die Mildtätigkeit. Es nützte niemandem etwas, hier zu diskutieren und sich unnötig zu sträuben. Zumal er tatsächlich würde bei Kräften bleiben müssen. Das Orakel war vielleicht ein Fehlschlag gewesen, aber im Namen aller Dinge, die noch heilig galten - er würde nicht aufgeben! Gut, dann würde er eben andere Wege finden. Aber es gab sie. Und er würde sie finden. „Wer seid ihr?“ erkundigte sich Thorin, während er einen großen Bissen Brot mit einem weiteren, großen Bissen des herzhaften Käses in seinem Mund vermischte und so nur noch zuzuhören fähig war. Er versuchte, die Gier zu zügeln. Er wollte dem Alten schließlich bei aller Güte auch sein Mahl nicht gänzlich davon schlingen, „Und was treibt euch hier raus?“ „Nun ja“, hob der Wanderer unter einem leisen Auflachen an, „ich hatte es euch ja versprochen, nicht wahr? Zunächst einmal… ich heiße Wilbert. Ich bin… also nein. Ich war eigentlich Viehzüchter, drüben in Lairuinen.“ Ein Viehzüchter aus dem Norden. Der Hüne musterte den Alten erneut. Das dünne, wenige Haar, das auf dem runden Schädel verblieben war, wirkte tatsächlich, als könne es lange vor seinem Ergrauen einmal blond gewesen sein. Die Augen wirkten trotzig und eher rot - was allerdings dem Lagerfeuer zuzuschreiben war. Aber die Statur passte vielleicht zu den bärenhaften Hünen Lairuinens. Ein Viehzüchter also. Aber was trieb den hierher? Dennoch wollte der Krieger, trotz seiner sonstigen Art, nicht sofort mit der Tür ins Haus fallen. Nicht zuletzt als Dank dafür, an den Reisevorräten des Wanderers Anteil haben zu dürfen. „War?“ brachte er daher kräftig kauend hervor. Wilbert nickte und ein kummervoller Glanz legte sich langsam in seine Augen, die bis gerade eben noch vom Lächeln seiner Lippen erfasst waren. „“War“, wiederholte er leiser, „Seht, ich verstehe all diese Dinge ehrlich gesagt auch nicht ganz recht. Ich erinnere mich daran, wie schlecht es allen ging. Es waren dunkle, grässliche Zeiten, die wir viel zu lange erduldet hatten. Furchtbar, einfach furchtbar. Aber Lairuinen hat überlebt, das tut es in solchen Zeiten meistens. Dann aber kamen die Männer des Königs. Eine Abteilung des Heeres… ich weiß nicht, wie man so etwas nennt. Eine Kompanie? Soldaten in ihren blitzeblanken Rüstungen, mit Schwertern, Speeren, Bögen, Armbrüsten… und Katapulten. Sie hatten Magier dabei. Die Ältesten des Dorfes verweigerten, was auch immer die Soldaten eigentlich gefordert hatten und binnen eines Herzschlages brach Chaos herein. Plötzlich waren die Soldaten überall. Sie schlachteten einfach alle nieder. Aber… wenn ihr je in Lairuinen wart, kennt ihr die Einwohner wohl. Sie leisteten Gegenwehr. Selbst das einfachste Waschweib, die Küchenmagd und die Schwangere in ihrem Bett, sie alle packten Äxte, Schwerter, Küchenmesser - was immer sie greifen konnten. Wenige Stunden und der Boden war gepflastert mit den Leichen beider Seiten, während das halbe Dorf durch den Beschuss der Katapulte in Flammen stand. Dann erst kamen die Magier. Sie sollten aufräumen. Ich hatte den Wahnsinn losbrechen gesehen, ich wusste, dass wir keine Chance hätten. Also versteckte ich meine Frau und meine Tochter im Schlafzimmer, schloss die Tür ab und hielt davor Wache. Als der Magier eintrat, warf er einen Zauber gegen mich. Ich spürte Hitze und Kälte und unglaubliche Schmerzen. Ich… ich erinnere mich noch, wie ich auf die Knie brach und sah, wie sich plötzlich alles veränderte. Etwas erfasste den Magier, es riss ihm die Haut vom Fleisch… dann das Fleisch von den Knochen, ehe selbst die irgendwie einfach abgetragen wurden. Wie Staub, den der Wind verweht. Das Haus blieb bestehen, aber ich sah Vasen samt der Blumen darin verschwinden, ich sah draußen das Licht verrücktspielen, als könne sich die Welt nicht zwischen Tag und Nacht entscheiden. Als dieser Zauber endlich aufhörte, hatte sich das ganze Haus irgendwie… verändert. Tische standen anders herum, die Stühle sahen nicht nach den Meinen aus und Gemälde, die ich gekauft und aufgehängt hatte, waren verschwunden oder durch andere ersetzt worden. Ich wusste nicht, was für fauler Zauber das war. Aber es war mir einerlei, solange ich nur hatte beschützen können, was mir wichtig war. Ich erhob mich, tastete mich ab - unverletzt, wie ihr sehen könnt. Rasch zog ich den Schlüssel aus meiner Tasche, wandte mich um und schloss, noch dabei den Namen meines Weibes rufend, die Tür auf. Aus dem Bett aber sprangen zwei Gestalten auf. Ein Weib, welches nicht das Meine war. Als sie mich erblickte, als ihr Mann meinen Namen mit solchem Entsetzen aussprach, da kippte sie einfach in Ohnmacht. Er selbst schien leichenblass kurz davor, wusste sich aber zu beherrschen. Er… er tippte mich an, hier an der Schulter. Als würde er glauben, ich sei ein Nachhang eines bösen Traumes. Erst nach und nach, als er sich um seine Frau gekümmert hatte, brachte er die Geduld auf, meine Verwirrung, meine Wut, mein Zetern und Fluchen und meine Fragen zu beantworten. Ihr… werdet mich für verrückt halten, fürchte ich. Falls ihr das nicht längst tut. Er brachte mich in sein Speisezimmer. Ja - seines. Das Haus, so erzählte er mir, gehöre seit sieben Jahren ihm. Seit die Familie, die davor dort gewohnt hätte - meine Familie - von den Truppen Phillipe des Dritten deportiert und hingerichtet worden sei. Als Verräter an der Krone, als Verschwörer. Man… man erzählte mir, das mein Heim, das noch vor wenigen Stunden mir gehört hatte, seit Jahren nicht das Meine sei. Dass das Weib, mit dem ich noch letzte Nacht das Bett geteilt hatte, tot wäre. So wie meine Tochter. Und das auch ich es eigentlich sein sollte.“ Unglaublich. Ein Wort, das viele Bedeutungen besitzen konnte. Es war die erste und schließlich auch durchgängigste Reaktion, die sich im Geist des Hünen manifestierte, während er der Erzählung des Viehzüchters lauschte. Schon als er hörte, das Soldaten vor Lairuinen aufmarschiert wären, schwante ihm Übles - denn in dieser Welt hatte es diesen Angriff laut den Überlebenden, laut den Älteren und den Büchern der Geschichte, nie gegeben. Und hier nun saß ein einfacher Viehzüchter, ein alter Wanderer, der seine von Alter geplagten Hände am Feuer wärmte, und erzählte ihm vom Massaker von Lairuinen. Von einer verlorenen Schlacht, die er unmöglich hatte erleben können. Von einem Geschehnis, das nicht in seinem Kopf hätte existieren dürfen. Überhaupt hätte er, seinen Worten nach, selbst gar nicht hier sitzen können. Natürlich war die Erklärung all dessen naheliegend, nicht wahr? Magie war im Spiel. Magie machte immer alles kompliziert und wirr und undurchschaubar. Der Zauberer hatte einen Spruch gegen den Viehzüchter geworfen und während er selbst den Veränderungen zum Opfer fiel, die die Zeitmagie mit sich brachte, war er von diesem Zauber, der ihn quälen und wohl auch hätte töten sollen, beschützt worden. Ein zweifelhafter Schutz, bedachte man sich das unschöne Erwachen. Er kannte sich gut damit aus, wie es war, Weib und Kind zu verlieren. Eine Tochter vor allem. Eine Parallele in ihrer beider Leben. Der Zauber hatte ihn also geschirmt, so musste es ja sein. Welche Erklärung gäbe es sonst? Thorin ließ die Geschichte eine Weile sinken und ignorierte dabei den ungeduldigen und zugleich hoffenden Blick des Älteren. Dessen Augen bettelten regelrecht darum, nicht für wahnsinnig erklärt zu werden und tatsächlich hatte der Kahlkopf das auch nicht vor. Nein, nichts lag ihm ferner. Er hatte diese Gräuel gesehen. Nicht, als sie geschahen… aber er war über das Feld der Leichen gelaufen. Die Straßen waren gepflastert mit den Toten beider Seiten? Der Ausdruck hatte wortwörtliche Berechtigung gehabt! Nach einer ganzen Weile bemerkte der Hüne, wie er unabsichtlich begonnen hatte, das letzte Käsestück zwischen seinen Fingern zu zerdrücken. Die schmierige Masse wurde rasch von den Fingern genommen, ehe er sich zu einer Antwort auf diese Geschichte erhob, die jedem wüst und unglaublich vorgekommen wäre. „Was genau habt ihr nun vor, zu tun?“ erkundigte sich der Krieger lediglich. Thorin war kein Dummkopf. Ob die Geschichte sich nun genau so zugetragen hätte oder eben auch nicht, spielte am Ende keine Rolle. Wichtig war nur, dass dieser Alte sie für wahr hielt, „Und wobei soll ich euch helfen?“ Hilfe, ja. Darum hatte er gebeten. Aber wobei sollte er ihm schon helfen? Wollte er die Gräber seiner Familie finden? Die Särge ausgraben, um hinein zu schauen, ob die geliebten Wesen darin verwesten und von Würmern zerfressen wurden? Eine schlechte Idee. Der Anblick beim Öffnen der Särge würde ihm nicht einfach nur das Herz brechen. Wilbert nickte dankbar. Er war nicht für irre erklärt worden, Thorin war nicht panisch aufgesprungen um ihn zu erschlagen. Nein, stattdessen nahm er seine Geschichte hin. Er bestätigte sie nicht, zweifelte sie aber auch nicht an - stattdessen erkundigte er sich nach dem Naheliegenden. Ein Pragmatiker, durch und durch, daran konnte wohl kein Zweifel mehr bestehen. Abermals trat ein mildes Lächeln auf die alten Lippen, auch wenn es ob der bitteren Erinnerungen etwas schief hing. „Ich war schockiert und entsetzt, als ich eine Schwarzkutte auf der Straße sah. Ich traute mich nicht, einen Stein zu packen und nach ihm zu werfen… was gut war. Vermutlich hätte man mich dafür eingesperrt. Ceteuspriester lehren in den Tempeln lesen und schreiben und… die Anbetung des Gottes. Des einen. Ich… erkenne diese Welt nicht wieder. Sie wirkt vertraut, aber so absurd anders. Es hat mich viel Zeit und Mühe gekostet, alles Vermögen, was ich noch besaß und jeden Gefallen, der noch offen stand. Und natürlich viele Erklärungen, warum ich noch lebte. Aber ich fand ein Buch, völlig verbrannt, auf dem auf einer Seite das Gesuchte war. Ein Hinweis auf einen Schrein unbekannter Herkunft und unbekannter Verwendung. Als ich das Symbol sah, wusste ich es einfach. Vielleicht ist es der letzte Altar in Lumiél, vielleicht der Letzte dieser Welt. Aber er ist Arimasper geweiht, dem einzigen Gott des Krieges, den es geben sollte. Ich werde ihn finden, ich werde auf meine alten, starren Knie brechen und ich werde ihn anschreien. Bis er mir antwortet, womit ich dieses grausame Spiel verdient habe.“ Arimasper. Es verwunderte den Krieger über alle Maßen, diesen Namen zu hören. Er ließ sich äußerlich nichts anmerken, doch allein, dass der Viehzüchter wusste, wie der Kriegsgott hieß… der einzig Wahre, ganz wie er es gesagt hatte… war doch wohl mehr als genug Bestätigung für seine furiose Geschichte, nicht wahr? Dennoch ließ sich ein Punkt einfach nicht von der Hand weisen: „Ihr schreit da den Falschen an“, wandte der Krieger gegen das Vorhaben ein. Er wollte Wilbert keineswegs von seinem Plan abbringen, im Gegenteil. Hilfe oder nicht, er würde ihn begleiten. Oder notfalls alles Nötige an Wissen aus ihm heraus prügeln, alt und gebrechlich und hilfesuchend oder nicht. Nachdem das Orakel ihn betrogen hatte, war dieser Schrein der letzte verbliebene Hinweis auf die alte Zeit, die er noch hatte. Vielleicht eine Spur. Vielleicht hatte das Orakel ihn nicht einmal betrogen. Möglicherweise sollte er nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, damit er diesem Alten hier begegnen konnte? Vielleicht würde der ihn ja zu seinem Ziel bringen. Wer konnte das schon wissen - man hatte dem Orakel ja stets nachgesagt, das seine Aussagen vielfältig deutbar waren und obgleich eben schwer verständlich, doch meist zum Ziel führten. Als Wilbert auf seinen Einwand hin merkwürdig drein sah, hob der Krieger die Hand und winkte ab. Es war einerlei, er war nun wirklich nicht erpicht darauf, in einer ‚Hallo, ich bin Thorin und habe folgende schreckliche Dinge erlebt‘ - Runde damit anfangen zu müssen, seine Version ebenso darzulegen. Es ging niemanden etwas an, kein einziges Detail davon. Entsprechend lauschte er, wofür der Viehzüchter nun eine Hilfe wünschte. Sie war denkbar einfach: Er war allein und er war alt. Vor allem aber war er quasi unbewaffnet. Sicherlich, er hatte einen Dolch dabei, aber den verwendete er eher zum Schneiden des Käses und des Schinkens. Mit nahezu allem, selbst mit Häkelnadeln, ließen sich am Ende schreckliche Wunden verursachen - aber er war kein Kämpfer, ihm fehlte schlicht Wissen und Übung für dergleichen. Beides konnte Thorin aufbieten und so hatten sie rasch ein Arrangement geschlossen. Der Hüne stellte sich nachträglich ebenso mit seinem Namen vor und reichte seinem Landsmann die Hand. Er würde für ihn kämpfen, sollte es notwendig werden und ihn bis zum Schrein eskortieren. Im Gegenzug reisten beide gemeinsam und der Kahlkopf würde sich an den Vorräten des Wanderers mit bedienen dürfen. Gegenseitiger Nutzen, wie beide mit einem zufriedenen Lächeln befanden. Eine Weile kehrte Schweigen ein, wärmten sie sich und entspannten ihre Glieder. Erst deutlich später, als in beiden Köpfen schon der Wunsch nach Rast und Ruhe eingekehrte, erhob Wilbert noch einmal das Gespräch zur Kür. „Und ihr? Was trieb euch in diese Gegend?“ Ein verächtliches Schnauben war die erste Reaktion, die Thorin von sich gab. Ja, was trieb ihn denn hier her? Irrsinn? Dummer kleiner Kinderglaube? Ammenmärchen? Die sogenannte Hilfe eines stümperhaften Dummkopfes von Magier? Ein gedehntes Seufzen ließ ihn all die verschwendete - möglicherweise verschwendete - Zeit Revue passieren. „Ich suche etwas. Jemand, der schwer zu finden war und von dem ich mir klare Antwort erhoffte, schickte mich hierher und sagte, ich solle graben und würde finden, was ich suche. Ich kam hierher und grub.“ So einfach war das. Wie immer. „Und habt ihr gefunden? Ist es das dort?“ erkundigte sich der Viehzüchter mit einem Ton, den der Krieger gallig als völlig unberechtigt hoffnungsvoll befand. Was ging es ihn überhaupt an? Schlafen sollte er! Trotzdem wollte der Hüne das frische Bündnis nicht gefährden, indem er seine maulfaule Art wieder zum Strahlen brachte. Also hob er schlicht sein einziges Fundstück und warf es dem Wanderer vor die Füße. Ein schlichtes Stück Holz. Länglich, gut gearbeitet, aber von der feuchten Erde angegriffen. Morsch, brüchig, vermutlich mit einem ganzen Wurm- und Madenstaat darin. Es hätte ein Tisch- oder Stuhlbein sein können, das ließ sich kaum noch sagen. „Das ist mein glorreicher Fund. Und nicht, was ich suchte“, erwiderte der Krieger etwas harscher, als es vielleicht nötig gewesen wäre. Wilbert nickte verstehend, hob das Stück Holz und kratzte hier und dort etwas Erde davon herab, ehe er es drehend und wendend begutachtete und Thorin schließlich zurück reichte. Der spielte einen Moment mit dem Gedanken, es ins Feuer zu werfen… doch bemerkte er während dieser Überlegung den Blick des Wanderers. So… lauernd und… ernst? Als er das Stück wieder ablegte, schien sich Wilbert wieder zu entspannen. „Warum geht ihr nicht zurück und fragt erneut? Nach etwas Konkreterem? Und… wenn das nicht das Gesuchte ist, warum nehmt ihr es mit?“ Das waren alles verdammt gute Fragen, nicht wahr? Abermals seufzend streckte sich der Krieger zur Gänze aus und bettete den Kopf auf seinen hinter eben diesem verschränkten Händen. „Sie ist weg. Ich kann sie nicht mehr fragen“, erörterte er zunächst, wobei er offenließ, ob sich jenes ‚sie‘ nun auf eine Frau oder schlicht auf ‚die Person‘ bezog, „Und ich schleppe es mit mir herum, weil ich töricht bin. Ich will mir nicht eingestehen, dass die Tage des ununterbrochenen Grabens, die Schwielen an meinen Händen und der unausstehliche Hunger dieser Stunden völlig für umsonst gewesen waren.“ Eine Ehrlichkeit, die den Kahlkopf selbst mindestens so sehr überraschte und beeindruckte, wie sie das auch mit Wilbert tat. Der Wanderer nickte anerkennend, ehe auch er sich, ohne weitere lästige Fragen oder ach so gut gemeinte Ratschläge, endlich zur Ruhe bettete. Thorin hielt die erste Wache dieser Nacht und das größte Übel, welches ihm begegnete, war ein Waschbär, der Wilberts Vorräte gerochen hatte und sich bedienen wollte. Irgendwann kam der Wachwechsel und der Krieger schlief binnen weniger Herzschläge tief wie ein Stein. Mehrere Tage lang durchstreiften die zwei Alternden gemeinsam die Wälder. Mal mehr, mal weniger wirr. Thorin hatte längst jegliche Orientierung verloren. Hier im Wald, verborgen unter dem gewaltigen Blätterdach der hoch aufragenden, uralten Baumgiganten konnte er den Sonnenlauf schlecht einschätzen und Wilbert schien sich weniger an einer Karte, als vielmehr an rasch dahin gekritzelten Notizen zu orientieren - die sie, wie der Hüne mit Frustration bemerkte - auch manchmal zum selben Ort zurück führten. Erst nach einer ansehnlich großen Zeit erreichten sie endlich ihr scheinbares Ziel. Sie kämpften sich gerade zwischen Büschen hervor und der Krieger wollte Wilbert schon anfahren, ob es wirklich nötig gewesen war, sich in dieses Dornengestrüpp zu werfen, als ihm die Frage prompt quer im Halse stecken blieb. Gemeinsam traten sie, ein paar letzte lästige Zweige zur Seite schiebend, auf eine Lichtung hervor. Sonnenlicht flutete durch eine scheinbare Wachstumslücke im Blätterdach diesen Ort, der ausgetreten wirkte. Als hätte hier reger Verkehr geherrscht. Es gab keine Fuß- oder Wagenspuren, aber dennoch wagte hier seltsamerweise kein Grashalm zu wachsen. Ebener, weicher Boden. Zu weich, um fortwährend von der Sonne ausgetrocknet worden zu sein. Man merkte schnell, schon an der Ausstrahlung dieses Ortes, das er… besonders war. „Sind wir da?“ hörte sich der Krieger fragen und hätte sich dafür gut schelten können. Natürlich waren sie da. Selbst hätte er es nicht an Wilberts freudigem Gesichtsausdruck bemerkt, so stellte sich doch unweigerlich die Frage, über wie viele heilige Orte man in einem Wald wohl stolpern konnte - vor allem auf so kleinem Gebiet verteilt. Entsprechend überraschte ihn die Antwort nicht, dass dem so war. Gemeinsam schritten sie auf den Eingang einer aus dem aufsteigenden Hügelkamm ragenden Höhle zu. Massiver Granit formte kleine Quader, die einen schlicht behauen wirkenden Schlund bildeten. Der Schrein Arimaspers war also… unter Tage? In einer Höhle? „Es reicht“, konstatierte Thorin trocken und zog den Dolch hervor. Wilbert hatte ihn Thorin überreicht, als dieser sich in einer Nacht mit einem hungrig herum streifenden Bären konfrontiert gesehen hatte und scheinbar ‚vergessen‘, ihn wieder zurückzufordern. Hier und jetzt aber, da gewahrte der Hüne keinerlei Überraschung in den Augen des Wanderers. Und er konnte selbst nicht behaupten, dass er diesen Umstand nicht erwartet hätte. „Ich bin der Spielchen überdrüssig“ schob er nach und wartete auf Antwort. Wilbert aber neigte kurz das Haupt, abschätzend, so schien es. „Ich weiß nicht, wovon ihr redet“, gab er zurück und stachelte damit einen Moment den Zorn des Kriegers an, der aus eigentlich längst vergessenem Mangel an Beherrschung heraus einen drohenden Schritt näher trat, die Klinge weiter auf den Reisenden gerichtet. „Sie lehrte mich gut und glaubt mir, ich habe mit ihr oft und lange genug diese Art von Spielchen getrieben! Man weiß nie, wer Katze und wer Maus ist, bis einer zum letzten Stoß ausholt. Ihr seid kein einfacher alter Viehzüchter aus Lairuinen! Ihr habt auch das Massaker nie erlebt und wisst nichts von Arimasper, ihr könnt von alledem nichts wissen. Ich bin mit Magie vielleicht nicht vertraut, aber ein Dummkopf, das bin ich auch nicht. Ich wurde von den Veränderungen ausgenommen, weil ich ein Teil der Sache war, die Ceteus diente. Dieser hinterhältige Bastard hat mich ‚verschont‘, wissen die Teufel, warum, aber einfache Magie hätte euch niemals vor einem Zeitmagier beschützt - der Zauber wäre ebenso rückgängig gemacht worden. Wer also seid ihr wirklich? Woher wisst ihr all diese Dinge? Warum sind wir hier und was ist wirklich dort drinnen?“ Die Muskeln bis zum Zerreißen gespannt, war der Krieger bereit, sein altes Handwerk aufzunehmen. Mit Blut und Geschrei würde er diesem Tag seinen Höhepunkt verleihen, sollte es notwendig werden. Er bezweifelte, das ‚Wilbert‘, sollte er wirklich so heißen, so harmlos und gebrechlich war, wie es den Anschein erweckte. Nein, er war etwas oder jemand anderes. Vielleicht ein Dämon, vielleicht ein Zirkelmagier, wer konnte das schon sagen? Das spielte auch alles keine Rolle. Der vermeintliche Viehzüchter dagegen wirkte einen Moment verunsichert, rang sich ein verzerrtes, vages Lächeln ab, ehe sich abrupt alles… veränderte. Seine Miene erschlaffte, wurde reglos, starr. Emotionslos. Seine Haltung dagegen richtete sich auf, das Kreuz breit gestrafft. Ja, wahrlich - jetzt erkannte man einen Mann aus Lairuinen ohne große Mühe in ihm! Nur wirkte jetzt wiederum das hohe Alter völlig unpassend. „Er ist Wilbert aus Lairuinen, Viehzüchter und eigentlich tot“, bekräftigte der Wanderer plötzlich von sich selbst in der dritten Person redend. Für Thorin dagegen war das das ohnehin erwartete Eingeständnis. Etwas oder jemand hatte sich also dieses Körpers bemächtigt. Vielleicht auch eines alten, halb zerfallenen Leichnams, der nun regeneriert worden war. Oder es handelte sich um eine Illusion - wen scherte das schon? „Und du bist?“ verlangte er zu wissen, erntete jedoch nur ein breites Grinsen und ein leichtes Kopfschütteln. Stattdessen setzte der Reisende unter dem strengen, wachsamen Blick des Hünen den Rücksack ab und… zog den Stock hervor. Das morsche, madige Stück Holz, welches er vor Tagen jenseits des Waldes ausgegraben hatte. Thorin hatte es in der ersten Nacht nicht ins Feuer geworfen, nein - aber er hatte es eines Morgens, als sie aufbrachen, schlicht liegen lassen. Mit Absicht, denn er war überdrüssig geworden und seine Ansicht hatte sich verschoben. Statt nicht länger eingestehen zu wollen, dass er umsonst gegraben hatte, war er zu der Einstellung gelangt, dass er das Zeichen seines Scheiterns mit sich herum schleppte. Ein morsches Stuhlbein. Aber hier nun stand Nicht-Wilbert und hielt ihm das Stück entgegen, als wäre es der Schlüssel zur Weisheit. „Kein morsches Stuhlbein?“ erkundigte sich der Krieger ahnend. Das Grinsen wurde noch eine Spur breiter und diesmal nickte sein Gegenüber. Vorsichtig reckte der Hüne die Hand, das Messer immer zur Vorsicht hoch gehalten, griff zu und entzog dem Fremden das Stück Holz. Der angebliche Viehzüchter machte keine Anstalten, sich auch nur zu rühren. Er griff nicht an, aber er gab auch keine rechte Antwort darauf, wer er war oder was all dies hier sollte. „Die Antworten, die du suchst - alles, was du suchst - findest du dort drinnen, Thorin Eichenschild, Ehemann, Vater, Herzträger, König der Könige, Führer der Roten Legion, Laufbursche des Ceteus. Ich werde hier warten.“ All das Wissen brandete über ihn hinweg. Er hörte, er vernahm die Worte. Doch statt sie zu begreifen, schienen sie ihn zu erschlagen. Ehemann… Vater… Herzträger? Die Rote Legion? Thorin war es nie klar geworden. Wie sollte man sich auch des Fehlenden erinnern. Als der Schatten sie alle betrogen und Ninafer aus seinen Armen gerissen hatte, war weit mehr geschehen als nur das Offensichtliche. Er hatte ihn von ihr gestoßen, ihn gegen die Wand geschmettert und ihm Rippen gebrochen, aber der körperliche Schaden war mit nicht mit dem vergleichbar gewesen, was seinem Geist angetan wurde. Wissen und Gaben, die Ninafer ihm im Dienste der Spinne übertragen hatten, wurden brutal aus seiner Persönlichkeit heraus gerissen. Hatten sie sich anfangs gut eingefügt und viele Lücken einer versoffenen Persönlichkeit nach und nach aufgefüllt, so packte der Schatten sie nun an der Wurzel und versuchte, so viel Schaden wie möglich anzurichten, als er sich zurück nahm, was ihm allein gebührte. Viele Erinnerungen waren zerstückelt und zerrissen oder gänzlich verloren worden und hinterher… hinterher hatte sein Gedächtnis schlimmer ausgesehen als je zuvor. Während Ceteus sich seine Kräfte zurück nahm, hatte der Krieger das Vorgehen gespürt. Er hatte sich an alles geklammert, er hatte alles festzuhalten versucht und es war ihm unter der Hand hinfort gezerrt worden. Er hatte es nicht aufhalten können, also hatte er in den wenigen Sekundenbruchteilen eine Auswahl getroffen. Er hatte das Wenige erkoren, das zu schützen ihm wichtig war… während so Vieles vom Rest verloren ging. Nun stand er hier, einem namenlosen fremden Wesen im Körper eines längst verstorbenen Mannes gegenüber und eben diese Kreatur, die ihn geblendet und mit ihm gespielt hatte… schien so viel mehr über ihn zu wissen, als er sich erinnern konnte. Gerne hätte er gefragt. Wo wurde ich geboren? Wer waren meine Eltern? Lebte ich in einem Haus? Auf einem Hof? Was hat es mit diesem ‚Herzträger‘ auf sich? Und was war die Rote Legion? Alle Antworten - alles was er suchte - befände sich dort drinnen. Mit unsicher wankenden Schritten bewegte sich der Krieger voran. Der Dolch fiel achtlos zu Boden, blieb im weichen Erdreich stecken. Wilbert oder was immer er nun war, folgte ihm bis zum Eingang der Höhle und betrachtete zufrieden, wie Thorin Eichenschild, einem Traumwandelnden so ähnlich, in der gähnenden Leere verschwand. Lange Minuten in völliger Lichtlosigkeit tastete sich der Krieger voran. Er stürzte über einen Widerstand am Boden, orientierte sich am Klang des davon klimpernden Holzstückes und fand es, auf allen Vieren kriechend und tastend, in der Finsternis wieder. Dann, just als er aufsah und sich zu orientieren versuchte, woher er gekommen war und wohin er gehen sollte, sah er Licht. Kein Tagesicht - oder zumindest nicht das der davon gefluteten Lichtung. Er rappelte sich auf, schritt sich an der Wand entlang tastend vorwärts, bis er plötzlich aus der Wand heraus trat und sich auf einer Brücke befand. Ein steinerner Gang, kaum breit genug für zwei Mann nebeneinander, der sich in einem sanft erhobenen Bogen empor krümmte und wieder abfiel. Auf der anderen Seite hob sich eine dürre Säule aus dem nicht sichtbaren Boden der Kammer in der schwarzen Tiefe. Sie stieg empor, verschlankte sich bis zur Hälfte, verbreiterte sich danach wieder und trug direkt im Zentrum des kreisrunden Raumes eine Plattform, ein völlig ebenes Steinkonstrukt von der Fläche eines Hauses. Doch ehe er sich eben diesem Zentrum widmen konnte, fing der restliche Raum seine ganze Aufmerksamkeit ein… und sein Staunen. Lange war es her gewesen, das Thorin über irgendetwas hatte Staunen können… doch nun begriff er. Ein Altar, ein Schrein - wahrhaftig. Moose und Farne wucherten an den glatten Wänden. Löwenköpfe - das Wappentier Arimaspers, sein Symbol - spien, das Maul weit aufgerissen, gewaltige Sturzbäche in die schwarze Tiefe unter ihm. Dort unten, irgendwo in hunderten Metern wohl, musste es einen ganzen See geben. An den Wänden aber, kreisrund verteilt im ganzen Raum, brannten gewaltige, fest in die Wand gelassene Schalen. Kohlen, Öl, was immer darin war - es hätte nie brennen dürfen. Nicht mehr. Hier war niemand sonst, wer also hatte die Feuer entzündet? Wer also gab den Flammen neue Nahrung, wenn sie alle Grundlage aufgezehrt hatten? Doch er kannte solche Flammen. Die Schreine der Götter waren immer beleuchtet gewesen. Ihr Schein strahlte weithin… und hatte nie mehr bedurft als die bloße Existenz einer Person, die an die Gottheit glaubte. Hier nun stand er - der seinen Glauben schon vor langer Zeit verloren und auch nie wiedergewonnen hatte - und starrte auf Flammen, die nicht hätten existieren dürfen. Das flackernde Feuer beleuchtete die Löwenköpfe, beleuchtete die gewaltigen Wassermassen, die sie spien und beleuchtete den kunstvoll geschlagenen Stein der Brücke, über die er sich mit träumerisch-wandelnden Schritten bewegte, während er sich an der Glorie dieser Halle einfach nicht satt sehen konnte. Als er die Brücke überquert hatte, blickte er erstmals auf das eigentliche Zentrum der Halle. Eine Figur aus massivem Granit ragte vor ihm auf. Arimasper selbst, gepackt in seine mächtige Plattenpanzerung, eine gewaltige Streitaxt in beiden Händen haltend, zum mächtigen Schwung erhoben. Das Gesicht, so ehern und doch zornig. Es wirkte fast lebendig. Unter der Statue, zu Füßen ihres Sockels, lag ein kleiner Altar für Opfergaben und Spenden. Ob es hier irgendwann einmal ein Kloster gegeben hatte? Die Diener und Priester Arimaspers, so erinnerte sich Thorin vage, waren kampfgestählte Söldner gewesen, aber auch sie hatten eine tief religiöse Seite gehabt. Er hätte das nie gekonnt. Er diente Arimasper sein Leben lang durch das Vergießen von Blut und das Bringen von Tod, aber er hatte selten gebetet und ihm nie wirklich gedient. Sein Blick fiel auf das Holzstück in seiner Hand, wanderte zu dem kleinen Altar. Dort ruhten Splitter. Einen wagte er vorsichtig von der Steintafel zu nehmen. Fast hätte er sich an der Kante geschnitten - sie war noch immer messerscharf. Dann plötzlich, in einem Moment der vagen Erkenntnis, begann er zu begreifen und ein mildes, ja fast schon erfreutes Lächeln zog auf seinen Lippen auf. „So stehen die Dinge also“, flüsterte er leise. Die Worte im Angesicht des rauschenden Wassers kaum hörbar. „Hier nun kehrst du zu mir zurück, alter Freund.“ Er senkte das morsche Holz, von Maden und Würmern zerfressen, vollgesogen von der Feuchte viel zu kühler Erde, senkte es auf den Altar mit den zahllosen Metallsplittern, die plötzlich zu leben schienen. Sie ruckelten, zuckten, vibrierten und begannen sich zueinander zu bewegen. Das Stück in seiner Linken wollte folgen, so gab er es frei - und mit einem Schlag jagten alle Bruchstücke aufeinander zu. An der Spitze des vermeintlichen Tischbeines formten sie ein altvertrautes Klingenblatt. Rote Glut ließ gleißendes Licht aus den Bruchstellen brechen, die die Kanten verschmolz, spurlos, und die Klinge erneuerte. Von seinem Arm tropfte das Wasser, welches aus dem Holz gepresst wurde, als sich der Schaft seiner alten Kriegsaxt erneuerte. Doch es endete nicht bei der Waffe. Unter einem Aufschrei brach der Krieger in die Knie. Die Waffe ließ er nicht los, doch stützte er sich mit beiden Händen auf den Altar auf. Ein erneuter Schrei zog sich in die Länge, ließ ihn brüllen, dass man von einem furchtbaren Monstrum hätte ausgehen müssen. Seine Finger krampften gegen den Stein und die Veränderung erfasste auch seinen Körper. Etwas bewegte sich über ihn hinfort, er konnte es spüren, senkte sich auf ihn herab und noch bevor er sich versah, fegte ein Sturm alles hinfort. Die Fragen… die Zweifel… die Lücken in seinem Gedächtnis. Gleißendes Licht barst aus den Augen des Kriegsgeborenen, als dieser sich langsam erhob. Nur langsam ließ die Intensität des Scheines nach. Thorin Eichenschild… gab es nicht mehr. Den Schild hatte er schon vor langer Zeit verloren. Es gab Thorin… nur noch Thorin. Er blickte sich um und erkannte zufrieden diese gewaltige Kammer wieder. Alt und vertraut. Er hatte zugesehen, als sie errichtet worden war. Zu seinen Ehren. Der Hüne wandte sich um und verließ die tiefe Kammer wieder über die Brücke. Im Zentrum des Schreines stand eine gewaltige Statue auf einem Sockel aus Stein. Ein bärbeißiger Mann mit kahlem Schädel, gerüstet in einem abgewetzten Lederharnisch und bewaffnet mit einer Streitaxt. Er stand ehern dort, das Gesicht von Zorn geprägt, während er die Klinge zum Schlag erhoben seinen Feind nieder brüllte. Und an den Wänden der Kammer spien die Zähne fletschende Wolfsköpfe unablässig einen großen Wasserstrom in die schwarze Tiefe. „Die Welt wurde um ihr Sein und ihr Schicksal betrogen. Lange habe ich gewacht und die Fäden gezogen, habe die Unwägbarkeiten zu umgehen versucht. Viel musste geopfert, manches gerettet werden und am Ende habe ich doch versagt. Es kann Tage dauern, Thorin, oder auch Jahre, aber…“ Wilbert hatte gewartet, ganz wie versprochen. Er wirkte ernst und doch drückte sein Gesicht eine gewisse… Zufriedenheit aus. „… die Welt ist bereit für ein neues Pantheon.“ „Ich habe keine Jahre“, erwiderte der Krieger lediglich starr und schritt an dem Viehzüchter vorbei, die Axt in seiner Hand fest umschlossen. „Thorin, sei kein Narr! Niemand weiß, was jetzt geschehen wird! Wir wissen nicht einmal, was diese Veränderungen mit ihm gemacht haben, wir wissen nicht, ob er dich begrüßen, dulden oder bekämpfen wird, wir wissen zu wenig!“ ereiferte sich Wilbert in dem Versuch, seinem vermeintlichen Schützling Vernunft einzubläuen. Der Hüne aber wandte sich um, ein blutgieriges Lächeln in den Augen, welches seine Lippen nicht erreichte. „Hüte deine Zunge, Kaleran Sturmfürst. Nichts davon ist von Belang.“ Zurück blieb der Seher der Zeiten. Machtlos gegen die Pläne desjenigen, der in den Wald schritt und seines Weges zog. Thorin wollte nicht hören und würde es auch nicht. Es hatte keine Zeit für Erklärungen gegeben und derer waren doch eigentlich so viele nötig, oder nicht? So verblieb ihm nur das Eine: dem starrsinnigen Hünen Erfolg zu wünschen bei seiner… Suche. Kapitel 11: Auf- und Abstieg, Teil 3 ------------------------------------ Eine der größten Bürden eines jeden Wesens liegt in der Verantwortung begraben, die es gegenüber all jenen trägt, denen es wichtig ist, denen es nahe steht - die ihm wichtig sind. Jede Person, gleich ob Zwerg, Elb oder Mensch, hat einen Kreis der Seinen, den es zu halten, zu formen, die Bande zu stärken und ihn zu schützen gilt. Nicht jeder mag im gleichen Maße verantwortlich sein - denn so, wie man selbst einen solchen Kreis um sich zieht, tun es auch andere, zu deren Kreisen man selbst wiederum gehören kann. In der Theorie ergibt dies ein einziges, großes Netzwerk von Fürsorge, Vor- und Rücksicht. Eine Gesellschaft, die sich im Angesicht einer Göttlichkeit nicht ihrer verdorbenen Schattenseiten zu schämen bräuchte. Doch keine Zivilisation, gleich wie alt, gleich welche Hautfarbe oder Körpergröße, hatte es je zu solcher Perfektion gebracht. Denn allem, das da lebt und sterben kann, wohnt der ewiglich gleiche Makel inne: Sie sind behaftet mit den Fehlern beschränkter Geister und Weltsichten, eingekerkert in fleischliche Körper und abgeschnitten vom Verständnis ihres eigenen Seins. So gibt es in jeder Gesellschaft, ganz gleich ob eine Rasse, eine Stadt oder auch nur eine kleine Gruppe gemeinsame Wege beschreitender Gefährten, stets den einen oder anderen, der diese Netze durchbricht. Ob durch Rücksichtslosigkeit, Egoismus oder Gleichgültigkeit, ja selbst Unwissenheit genügt dazu. Thorin Eichenschild war Zeit seines Lebens ein Kuriosum gewesen. Er hatte als Ehemann einer Reihe von Menschen großes Glück beschert und als Krieger über Tausende und Abertausende Leid und Tod gebracht. Er hatte als König mit strenger Hand regiert, die nur ein Weib zu mildern und mit Mitleid zu erfüllen wusste und nun, da sein Leben sich dem Ende geneigt hatte, begann letztlich nur ein neues Kapitel. Es wäre ihm bestimmt gewesen, den Mann hinter sich zu lassen, der er war. Thorin Eichenschild war an einem Altar irgendwo in den nördlichen Wäldern Lumiéls gestorben. Ein anderer hatte die Höhle verlassen, geboren mit seinem Gesicht, mit seiner Klinge, mit seinem Alter und seinen Erinnerungen. Die Mächte, die ihm inne wohnten, brauchten Zeit. Um sich zu entfalten, um Wurzeln zu schlagen, um ihn zu der Macht und Größe zu erheben, die ihm fortan gebühren würde. Doch er sträubte sich. Bestimmungen gab es auf der Welt viele. Schon manches Mal war es ihm bestimmt gewesen, zu sterben. Von Pfeilen durchbohrt im eigenen Dreck zu verbluten. Doch sein eiserner Wille und seine schlichte Verweigerung, Ereshkigal die Hand zu reichen, hatten ihn mehr als einmal überleben lassen. Bestimmungen ließen sich überwinden. Oft waren es die Götter selbst, die ein Schicksal schrieben - aber niemand, so hatte der Hüne immer schon befunden, war an den Willen der Götter gekettet wie der Hund in den Zwinger. Er hatte immer geglaubt, es seien gewiesene Wege, Pfade, die sie willkommen heißen würden. Eine Bitte eben jener höheren Mächte. Bitten aber konnte man ausschlagen. Hier und jetzt, da seine Schritte ihn eisern durch den Wald führten, war er noch immer der Mann, der Sterbliche. Erfüllt von Macht und Wissen, aber sein Geist verweigerte den dargebotenen Pfad - noch. Es galt etwas zu erledigen. Aus purem Egoismus heraus, als Gleichgültigkeit gegenüber einer Welt, die seine Person so dringend benötigt hätte. Es galt eine letzte Sache in Ordnung zu bringen. Als er am südlichen Waldrand die Baumgrenze durchschritt, brach die Abendsonne über die Wipfel im Westen. Ihr Licht glänzte wie goldener Honig, der sich auf Gras und Bäume ergoss, auf das von ihm aufgewühlte Erdreich. In nur wenigen Stunden und ohne jede Orientierungshilfe hatte er die Wälder von der Kammer bis hierher durchquert. Er brauchte nicht fragen, wie ihm das gelungen war. Selbst hätte er das fragen wollen, wäre wohl dringlicher gewesen, warum er die ganze Strecke im Laufschritt hatte bewältigen können, ohne auch nur außer Atem zu kommen, ohne auch nur ins Schwitzen zu geraten. Er stieg in die Grube herab, in der er das Bruchstück seines alten Weggefährten auf Weisung des Orakels hin ausgegraben hatte. Früher, so erinnerte er sich einen Moment, hatte man ihm erzählt, Arimasper selbst sei es zur Rechten des Thrones des Mermerus gewesen, der prüfenden Blickes all die Seelen begutachtete, welche Ereshkigal vor den Sitz ihres Vaters führte. Und der Kriegsgott urteilte mit seinem Ahn, denn wer wusste besser denn jeder andere, welches Blut aus Gerechtigkeit und in Ehre vergossen worden war und welches aus Niedertracht und Bosheit seinen Weg an die Luft gefunden hatte - denn er war der Krieg, er war das Blut und er war der erste und letzte Schrei jeder Schlacht. Die Worte des Sturmfürsten hatten ihn den Weg bis hierher beschäftigt. Ein neues Pantheon… wie würde die Zukunft aussehen? Nicht alles Leben dieser Welt bestand aus Kriegern und Soldaten, aus Wächtern und jenen, die im Kampfe dahin schieden. Der Schluss war simpel. Er war es, weil Thorin das wollte - denn seine Welt, gelehnt an die Gedanken des Sterblichen, war immer simpel gewesen. Es würde andere brauchen. Er hob die Hand auf seinen Rücken und zog die Axt hervor. Mit einem nostalgischen Blick bedachte er das raue Klingenblatt, ließ seine Hand über den kalten Stahl fahren. Jetzt endlich begriff er es. So lange nur hatte er ein Werkzeug geführt, ohne je begriffen zu haben, woher es stammte. Aber er spürte jetzt die Macht, die darin pulsierte. Seine ebenso wie die der Anderen. Sie war in glühender Verehrung geschmiedet worden, gesegnet von seinen Vorgängern. Gemeinsam mit einer Rüstung aus sechs Teilen und einem Schild. Der Zahn der Zeit hatte vieles davon verschlungen, manches war nur in Vergessenheit geraten - doch nie wieder würden alle Teile beisammen sein können. Und er… er brauchte keine Rüstung. Sein alter Gefährte war alles, was er benötigte. Dieses Werkzeug zur Zerstörung, geschmiedet von den Zweitgeborenen und belegt mit mächtiger, alter Magie, die die Zirkel dieser Zeit, die Elben in ihren ewigen Hallen und selbst die Aasimar nicht würden begreifen können. Mit Leichtigkeit hob er die Klinge empor, ließ sie das Sonnenlicht einen Augenblick auffangen, es brechen, spiegeln, von sich stoßen, bis die Klinge nieder fuhr. Ein gewaltiger Schlag trag den Grund und Boden, auf welchem er Stand. Der Zorn verlieh ihm Kraft. Zorn führte seinen Arm, als er sich erinnerte. Mehr brauchte es nicht. Nur eine Erinnerung, die die Kammer ihm zurückgebracht hatte, gestohlen vom schwarzen Verräter selbst. Sie, wie ihr Leib ihm entglitt, das Bedauern und die maßlose Erschöpfung in ihren Augen. Das Bedauern vor allem. Und seine Klinge, wie sie in tausend Teile berstend Stück für Stück in eben jenem Wirbel verschwand, den er kurz darauf schon schloss. Kaleran musste die ganze Welt bereist haben, um alle Bruchstücke zu finden. Ob das Orakel Kaleran je vergeben hatte, was er ihr angetan hatte, war Thorin nicht klar. Selbst jetzt nicht, da er wissender war denn je. Sie hatte ihn hierher geführt, an diesen Ort und zum Schaft seiner Axt - aber hatte sie in Kalerans Willen gehandelt? Oder war sie nur einmal mehr eine Marionette gewesen, eine Spielfigur, die der alte Chronist nach Belieben umher geschoben hatte? Ceteus hatte versucht, ihm diese Waffe vorzuenthalten. Und noch immer versuchte er, ihn aufzuhalten. Was noch in seiner Macht stünde, ließ sich schwerlich sagen - zu beschränkt war noch immer seine Vorstellung von alledem. Wenn er los ließe, würde er begreifen. Er müsste sich nur treiben lassen, müsste all die Dinge, die ihn hielten, ziehen lassen. Die existenziellen Bedürfnisse, die allzu menschlichen Bestrebungen. Sein Vorhaben. Deshalb verstand er nicht. Er hielt es zurück, er verweigerte sich einmal mehr und schlug stattdessen auf den Grund ein. Die schiere Macht brach den Boden auf. Kleine Fontänen von Erdklumpen sausten herum, bis der nächste Schlag folgte. Tiefer und tiefer, bis Brocken puren Gesteines folgen, die einen Mann ohne Mühe hätten erschlagen können. Die Klinge der Axt aber verlor nicht an Schärfe - und sein Arm wurde nicht müde. Was er fand, war für niemanden sonst wahrnehmbar. Es handelte sich nicht um eine Tür, nicht um einen hölzernen Rahmen mit einem Brett darin. Es war kein Eingang zu einer geheimen Grotte oder eine Höhle, die zu einem längst vergessenen Reich führen würde. Es war eine Winzigkeit im magischen Gewebe, die selbst der beste Zirkelmagier, alt, weise und erfahren, nicht hätte finden können. Gut, wahrlich meisterhaft hatte er seine Spuren zu verwischen versucht, aber hier und jetzt war ein Rest gefunden worden. Der Krieger verbarg die Axt wieder auf seinem Rücken, presste mit aller Macht die Hände hinein. Wie merkwürdig es wohl für einen Sterblichen ausgesehen hätte - wie er dort, tief unten in der Mulde stand, und die Finger in etwas zu zwängen versuchte, das nur noch wenige Stunden davon entfernt gewesen war, auf ewig zu verschwinden. Doch er vollbrachte das Unverhoffte - einmal mehr - und riss unter einem brachialen Aufschrei den Nexus wieder herauf. Einen kurzen Moment nur brach gleißendes Licht aus dem Punkt hervor, Hitze und Kälte und Dunkelheit zusammen einhergehend, bis das schaurige, allen Gesetzen der Welt trotzende Spektakel verebbte. Zurück blieb eine tiefe Mulde im Boden, leer und verlassen. Der Kahlkopf aber eilte Stufen herab, endlose, flache Stufen, die ihn immer tiefer und tiefer führten. Ein Sinnbild, eine Illusion, ein dummes kleines Spiel und der lachhafte Versuch, ihn zu beschäftigen, ihn hinzuhalten, ihn zu entmutigen. Als die Treppen trotz seines immer schnelleren Schrittes kein Ende fanden, versagte ihm die Geduld ihren Dienst. Abrupt blieb er stehen, erlaubte sich zwei, drei Mal durchzuatmen, ehe er sich bedachte. Ceteus würde ihn nicht aufhalten können. Nicht mit solchem Schabernack. Und ohne jeden Zweifel wusste die Spinne das. Abermals schwang der Krieger die Klinge - gegen die Seitenwände des schwarzen Treppenganges. Die Wand widersetzte sich, erzitterte unter der Kraft, vibrierte wie Glas, bis erste Risse sich durch den Stein zogen und ein letzter Hieb das Gestein zersplittern ließ. Thorin trat hinaus aus der Augenwischerei, hinaus aus der Mäusefalle und dem lächerlichen Bemühen, ihn zu stoppen. Nie, so hieß es doch, sollte man sich größere Beute suchen als zu verschlingen man fähig war. Gewiss hatte niemand - er selbst ebenso wenig - ahnen können, welche Größe ihm durch den von seinem Feind überhaupt erst bewirkten Wandel zugedacht worden war. Oder zumindest, wozu er ihn befähigt hatte. Nun aber, da es so weit war, waren diese Verzögerungen nur noch eines: Lästig. Der Krieger sah sich im Handumdrehen auf einer gewaltigen Ebene. Unter seinen Stiefeln knirschte feiner Sand. Eine gewaltige Wüste, die sich in hohen Dünen in alle Richtungen erstreckte. Ein wolkenloser Himmel ließ eine gleißende Sonne unerbittlich nieder brechen. In Wunden schmerzte das Salz des Schweißes - eine Überlegung, die ihn nur noch grimmiger das Gesicht verziehen ließ, jene sonst so steinerne Maske der Gleichgültigkeit. Ihm gegenüber aber standen Hunderte, gar Tausende. Er erkannte sie alle. Menschen, Elben, Zwerge, Orks. Vor allem Orks… sehr viele davon. Ein paar Aasimar, ein paar Trolle. Falael Aldalithe. Es brauchte einen Augenblick, ehe sich eben dieser hoch gewachsene Elb aus der Masse löste, aus der Frontlinie dieses Heeres, und vor ihn trat. Thorin erinnerte sich gut an dieses Spitzohr. Er hatte ihm das Schlimmste angetan, das ein Führer seines Volkes erdulden konnte: Er hatte ihn lächerlich gemacht in dem Bemühen, jemanden aufzuspüren, der jene nieder schlachtete und spurlos verschwand, die zu schützen er geschworen hatte. Er hatte auch das Grässlichste getan, was ein Vater erdulden könnte: Er hatte ihm Weib und Kind genommen, hatte ihn in dem Wissen zurückgelassen, das geliebte Blut vergossen zu sehen und nimmermehr ihre Stimmen zu hören oder ihr Lächeln zu sehen. So, wie der Krieger glaubte, es von ihm angetan bekommen zu haben. Falael Aldalithe war es gewesen, der vor unzähligen Jahrhunderten die letzte Instanz gewesen war. Alle hatten auf ihn geblickt, alles hatte von seinem Wort abgehangen - und er allein trug die Bürde, als er den Angriff auf die von Osten her einfallenden Orkhorden befahl. Er allein hatte zu verantworten, dass die Elben von Esgaroth die grüne Flut landeinwärts getrieben hatten. Er allein hatte eine Bestie erschaffen, als er einem Mann aufbürdete, heim zu kehren und sein Leben in Trümmern zu finden, zerstört und geschändet. Erbittertere Feinde hätte es nie geben können, obgleich sie einander doch nur ein einziges Mal begegnet waren. „Du wirst keinen Schritt weiter gehen“, knurrte der Elb grimmig. Jähzorn brannte in ihm, Rachsucht, der maßlose Wunsch nach Vergeltung - Thorin konnte es spüren. „Stehe mir nicht im Wege, Verdammter“ mahnte der Kahlkopf kühl und sah sich die Lippen des Elben vor Schmerz und Raserei verziehen. Es würde hier keine Einigung geben und auch keine Einsicht. Die, welche hier vor ihm standen, hatte er selbst mit eigener Hand hierher geschickt. Sie waren der Abschaum ihrer Rassen gewesen, irgendwann einmal, oder in Kummer, Schmerz und Agonie gestorben, sie waren gefallen im Angesicht des Mermerus - und doch, so musste er erkennen, konnte dies nicht alles sein. Er erkannte Gesichter in der schieren Masse seiner Feinde, die unmöglich solch ein Schicksal verdient haben konnte. Männer und Frauen, die mit blanker Waffe ehrenhaft gegen ihn gekämpft und ihr Leben ausgehaucht hatten. Die Erkenntnis schmerzte. Ohne Ereshkigal gab es nur einen, der sich der verstorbenen Seelen annahm. Ohne Mermerus gab es nur ein Reich, in das sie gebracht werden konnten. Sie waren hier… alle. Die Guten und Rechtschaffenen erlitten die gleiche Behandlung wie die Verdorbenen und Unwürdigen. Wie falsch das alles doch war, wie ungerecht - es wurde Zeit, diesen Zustand zu beenden! Langsam zog der Hüne die Axt wieder vom Rücken. All jene, die ihm gegenüber verweilten, taten es ihm gleich, griffen zu ihren Waffen, das Unausweichliche gekommen wähnend. Thorin aber stürzte sich nicht, wie erwartet, blindlings in die Masse seiner Gegner. Stattdessen reckte er die Klinge hoch empor. „Eide habt ihr geschworen“, bellte die donnernde Stimme über die Ebenen hinweg, „Stolz und Ehre haben euer Leben bestimmt wie sie auch euren Tod erwählten! Krieger im Herzen, und sei es nur für den einen, letzten Moment - eine Halle wird es geben, die eurer würdig ist! Zu mir, meine Krieger, zu mir!“ Falaels Verwunderung, seinen Feind Reden schwingen zu sehen, verwuchs sich zu einem gehässigen Grinsen. Der alte Elb lächelte finster drein und warf einen Blick zur Linken, zur Rechten - niemand trat vor. „Keiner hier folgt dir“, giftete er zufrieden. Als hätte Thorin nur darauf gewartet, ihn Lügen strafen zu dürfen, kam ein Wind auf. Einem Sandsturm gleich, fegte er über das Heer hinfort. Festen Glaubens und Wissens schloss der Hüne die Lider, wartend, bis das körnige Prickeln der gegen seine Haut geworfenen Sandkörner abebbte. Mehrere Herzschläge lang vermochte nichts und niemand zu erblicken, was vor sich ging, hatten alle hier zu kämpfen, ihre Position im Angesicht der aufgewühlten Düne zu halten. Doch als der Wind verschwand, in das Nichts aus dem er gekommen und Falael die Augen aufschlug, hatte das Blatt sich gewendet. Hundertschaften folgten dem Elb… und Hundertschaften warteten grimmig die Waffen gereckt hinter Thorin. „Es gibt keine Erlösung für jene, die in Feigheit flüchten, sterben oder töten, Elb“, spie der Krieger seinem Kontrahenten ins Gesicht, ehe er die Klinge vom Himmel herab senkte und den ersten Schritt setzte. Sekunden später nur barst der erste Schild unter dem gewaltigen Schlag des Kriegers und die Armeen brandeten wie zornige Meereswellen übereinander hinfort. Falael versuchte zu flüchten, denn er wusste, was hier geschehen würde. Zwei Heere, die gegeneinander kämpften. Verdammte gegen die Erlösten - was würde wohl erst geschehen, wenn eine Seele, im Leben zu feige für ein aufrechtes Dasein, hier in der Ödnis dieses Reiches aufrechten Blickes sterben würde? Unsterblich waren sie alle, diese Schlacht würde für alle Zeiten toben können. Was einmal der Fleischlichkeit entschlüpft, konnte nicht mehr zerstört werden - doch Veränderung, das war eine Faser aus der Grundwurzel der Zeit. Jene, die hier fielen, würden neu erstehen können… auf der Seite des Feindes, der sie bezwungen hatte. Falael jedoch entkam seinem Wesen nicht. Er war klug genug, all das zu wissen, zu erkennen - und floh. Kämpfend zwar, sicherlich. Er mühte sich, sich selbst den Weg frei zu schaffen, doch just als er das Schlachtfeld hinter sich ließ, stand er abrupt Thorin selbst neuerlich gegenüber. „Schon damals sagte ich es dir: Du hast diesen Pfad für dich selbst gewählt“, hauchte der Hüne bedrohlich leise. Falael jedoch, von Pein, Furcht und Hass verzerrter Miene, spie ihm die gleichermaßen befürchtete wie erwartete Antwort entgegen. „Und du warst schon damals ein grausamer und herzloser Bastard, nichts von alledem, was du suchst und besitzt hast du je verdient!“ Ein einziger Streich nur und die Klinge trennte mit Leichtigkeit die Fasern des Textils auseinander… so wie die Haut unter dem Stoff und das Fleisch über den splitternden Knochen. Damals hatte er Falael mit dem Wissen um den Tod seiner Familie allein gelassen. Er hatte ihn nicht töten wollen, das hatte er nie gewollt. Er hatte gewollt, dass diese Missgeburt von einem Spitzohr begriff, wie er sich fühlte. Also hatte er ihm das Gleiche angetan. Er hatte ihm alles genommen und ihn zum Leiden zurückgelassen. Doch während Thorin durch die Welt zog, mal mehr, mal weniger willkürlich Blut vergoss, sich und seine Sorgen und Erinnerungen in Schnaps ersäufte und stets Streit und Gefahr suchte, um vielleicht ein halbwegs ehrvolles Ende zu finden, hatte Falael den Schmerz nicht ertragen können. Hier nun gab es das Ende. Der Elb lag vor ihm zu Füßen, röchelnd, sein eigenes Blut einatmend und streckte, flehend, die Hand zu ihm empor. Das wäre zweifellos der Moment gewesen, da er diese Hand ergreifen sollte, da er vergeben sollte. Doch so, wie sich der Krieger weigerte, seine neue Rolle schon jetzt anzunehmen, verweigerte eben diese Menschlichkeit auch, die blutverschmierten Finger zu ergreifen. Ein Teil von ihm hasste noch immer, erinnerte sich dank der Geschehnisse am Altar wieder all des Schmerzes und Kummers und verweigerte diesem Elb die Erlösung. Selbst hätte er seine neue Rolle bereits akzeptiert - hätte das Spitzohr sich denn einen Platz in seinem Gefolge überhaupt wirklich verdient? Auch hier war er geflohen und hatte sich verbergen wollen, während andere für ihn und seine Entscheidungen bluteten und ‚starben‘. Thorin wandte sich von Falael ab. Ließ ihn sterben. Irgendwann würden sie einander möglicherweise erneut begegnen und vielleicht, nur vielleicht, hätte sich bis dahin ja etwas geändert. Doch für den Moment gab es Wichtigeres. In dem Augenblick, in dem der Hüne sich vom Kampfgeschehen abwandte, verebbten die Laute des Kämpfens und Sterbens. Schreie, das Klirren von Metall und das Splittern von Holz und Knochen, es verstummte alles und machte der völligen Lautlosigkeit Platz. Die Leere erfüllte diese Wüste wieder und von der Schlacht gab es keine Spur mehr. Der Kahlkopf aber wusste, wie nahe er seinem Ziel war. Er konnte es spüren… und die Zeit drängte noch immer. Das tat sie schon von Anfang an, doch dies waren die letzten Schritte, die er würde setzen müssen. Eilig und bar aller Beherrschung rannte er die Düne herab, rannte die Nächste herauf. Wieder und wieder brüllte er aus vollster Kehle ihren Namen und mehr als nur einmal weckte er dabei, was besser nicht auf ihn hätte aufmerksam werden sollen. Phillipe der Dritte, umgeben von einer Garde einer Elitewache. Mehrere Männer, deren Gesichter und Namen Thorin nicht kannte. Hinter jeder Düne, so schien es, lauerten all die Schrecken und Ängste Ninafers, gut verteilt und verborgen, sodass sie nie würde sagen können, welche Marter sie als Nächstes erwartete. Entkommen aber war unmöglich - man konnte sich nicht auf dem Kamm der Dünen halten. Hatte man sie einmal bestiegen, musste man unweigerlich in das dahinter liegende Tal hinab und sich dem stellen, was dort lauerte. Es waren die Nachtmähr der Herzogin, es waren die Schrecken einer Wanderhure und es waren die größten Ängste einer Frau, die hier versammelt worden waren, sie zu quälen, sie zu brechen. Schließlich, nachdem Ungeduld und Zorn im Angesicht dieser Hinterhältigkeit und Grausamkeit ihn mehr und mehr angetrieben hatten, hörte er einen Schrei. Wohl vertraut war ihm die Stimme und allein der Klang des Schreies ließ ihm das Herz erzittern. Die letzte Düne schien ihm so widerspenstig, der Sand gab unter den hastig hinein geschobenen Stiefeln wieder und wieder nach, ließ ihn zurück rutschen, gewährte ihm kaum ein vorankommen, doch endlich, wie ein Tier auf allen Vieren kriechend, vollbrachte er es sich zum Kamm der Düne herauf zu kämpfen. Dort lag sie, die man ihm entrissen hatte. Zwei menschliche Gestalten hielten ihre Arme gepackt, weit auseinander gezerrt und auf den Boden gepresst. Duncan stand, ungerührt alles betrachtend, als Publikum anbei, während ein Zentaure sich anschickte, ihre Lenden mit Schmerzen zu fluten. Erst nach einem gurgelnden, hustenden Laut vermochte sie ein bettelndes Wimmern auszustoßen, als ein weiterer, der sich an ihr zu vergehen wagte, ihre Kehle wieder frei gab. Der Anblick selbst schnürte ihm die Kehle zu und ließ sein Herz mehrere Sekunden aussetzen, ehe es sich unter stechendem Schmerz verkrampfte. Warum? Warum war sie hier, warum wurde sie so gequält? Noch immer sah er ihre Augen, als der Nexus sie in dieses Reich gezerrt hatte. Erschöpft… müde… und so voll des unendlichen Bedauerns. Was hatte sie bedauert? Von ihm zu gehen? Diesen Pakt je geschlossen zu haben? Ihn erfüllt zu sehen? Er würde sie fragen… vielleicht… irgendwann. Doch für den Moment begriff Thorin nur eine weitere Wahrheit über sein neues Wesen. Er gewahrte derer erst, als Fell sich unter seine Hand schob. Im Herzen eines jeden Mannes, so hatte eine Geschichte aus seiner Jugend, von den Lippen seiner Mutter, ihm einst erzählt, rangen zwei Wölfe um die Herrschaft. Mitgefühl nannte man den Einen, Hass, Zorn, Raserei den Anderen. Man wurde dem Wolf ähnlicher, den man mehr nährte und so kam es, das aus dem scheinbaren Nichts heraus zwei Wölfe neben Thorin traten. Einer klein, mager und flink wie ein Wiesel, der andere groß wie ein Ochse, muskulös und stark. Beide aber starrten mit gezogenen Lefzen auf die Szenerie nieder, knurrten und geiferten und fauchten aus ihren Kehlen all die Wut heraus, die Thorin umtrieb. „Hetzt sie, hetzt sie bis ans Ende dieses Reiches und schlachtet sie tausendfach!“ brüllte der Krieger, dass seine Stimme über die Ebene schallte. Die Wölfe jagten in Windeseile den Sand herab. Jener, der sich anschickte, Ninafers Wehklagen und Betteln erneut zu ersticken, wurde von dem Kleineren zu Boden gerissen. Wie tollwütig verbiss sich der Wolf mehrfach in dessen Kehle, riss und rüttelte daran, bis der Kopf an nicht mehr als ein paar Fetzen hing, doch kaum so entstellt, erschien der gleiche Mann neuerlich - und wurde, flüchtend, doch gejagt. Der Rest versuchte ebenso, zu fliehen - ebenso erfolglos. Der Zentaure wurde von Ninafer fort gerissen, als der größere der zwei Wölfe sich gegen ihn warf. Die von unerschöpflichem Zorn geführten Kiefer rissen von seinem Leib fort, was eben noch gedacht war, Ninafer zu quälen, ehe auch dieses verdorbene Wesen die Zähne des Hasses zu spüren bekam. Sie sollten leiden, Jahr und Tag, sie sollten flüchten und sich nie wieder sicher fühlen! Thorin aber, des Blutvergießens ungeachtet, stürzte hernieder und ging auf die Knie vor dem zitternden, bitterlich weinenden Bündel Elend, das sich auf die Seite gewendet in seiner Blöße einzurollen versuchte. „Ninafer… ich bin hier…“ hauchte er mit leiser Stimme. Als er die Hand streckte, als er ihre Schulter berührte, blickte sie kurz auf. Sie erkannte ihn, sie wusste, wer er war, erinnerte sich - und fast im gleichen Augenblick jagte sie davon, versuchte sich kriechend und krabbelnd in Sicherheit zu bringen. Ein schmerzhafter Stich in der Brust ließ ihn die Wahrheit erkennen. Sie hatte ihm geholfen, die Bestie in sich zu bezähmen. Er hatte sie nie auslöschen können, aber er hatte sie dressiert und sie, sie hatte ihm dabei geholfen. Von den ersten Schritten an und entgegen manches Rückschlages. Sie hatte gekannt, wozu er fähig war, sie hatte kennen gelernt, was Thorin Eichenschild auf dem Tiefstpunkt seiner Existenz hatte tun können. Ohne jeden Zweifel gab es auch ihn hier irgendwo, ein Abbild seiner Selbst… die Bestie, die Ninafer quälte wie so vieles und so viele andere hier. „Ninafer… ich bin es…“ hauchte er unter halb erstickter Stimme. Die Qualen für ihn waren schier unaussprechlich, sie so zu sehen, so verängstigt, panisch. Sie sollte ihn nicht fürchten, nie wieder und doch lag sie dort und starrte ihn einen Moment lang an, als wisse sie doch nicht mehr, wer er war. Die Befürchtung trieb ihn um, er könne sich zu viel Zeit gelassen haben. Er hätte weniger schlafen sollen, weniger essen, vielleicht hätte er Kaleran sofort enttarnen und sich direkt zur Höhle führen lassen sollen, vielleicht wäre Alandor mit weniger Zeit für seine Recherchen ausgekommen, vielleicht - es gab so viele Variablen, so viele Punkte, an denen er sich möglicherweise mehr hätte straffen können. Was, wenn sie ihn nicht mehr erkennen würde? Vorsichtig nur, bereit, jederzeit davon zu springen und zu fliehen - lieber dem nächsten Monster in die Arme zu laufen - wagte sie sich auf allen Vieren an ihn heran zu kriechen. Vorsichtig hob sie die Rechte, ihr Gewicht verlagernd, hob sie seinem Gesicht entgegen. Kurz hielt sie inne, zuckte gar einen Moment zurück. Das Herz schwer vor Kummer, erduldete er, wartete ab. Was auch hätte er sonst tun können? Er wusste nicht, was sie hier alles gehört und gesehen, was sie alles erduldet hatte. Selbst jetzt noch war es wohl möglich, dass man ihr Streiche spielte. Doch als ihre Fingerspitzen seine Wange berührten, vermochte er nicht an sich zu halten. Langsam hob er seinerseits die prankenhafte Hand empor, führte sie ihren Unterarm herauf bis und drückte ihre Hand an sein Gesicht. Er war echt, er war hier und er war nicht der, den sie aus dieser Ödnis kannte. Die Erkenntnis brauchte lange, stieg in ihrem Geiste auf wie die Tränen in ihren Augen. „Was tust du hier…?“ hauchte sie verzweifelt und obgleich darin der Vorwurf lag, er hätte nicht hier sein sollen, stürzte sie ihm doch in die Arme und schlang sie um ihn, als könne er jederzeit wieder verschwinden, nur ein Trugbild ihres zerrütteten Geistes sein. Was tat er hier? Himmel und Hölle hatte er, wortwörtlich, in Bewegung gesetzt, um sie zu finden. Er hatte sein Leben hinter sich gelassen, hatte von neuem getötet und gejagt, er war als Marionette dem Willen Kalerans gefolgt und hatte zur Genüge Schmerz erduldet. Wofür? In all dem aufsteigenden Chaos fiel es ihm schwer, klare Gedanken zu fassen oder sich bestimmter Dinge zu erinnern. „Dort war Kälte gewesen… ein Wirbel aus Licht und Dunkelheit… ich… hatte dir etwas sagen wollen…“ hob er leise an und konnte den Blick nicht von ihren kummerschweren Augen nehmen. „Du hattest nie die Gelegenheit…“ begann sie sich für ihn zu erinnern. „Ich hatte nie die Gelegenheit…“ gab er ihr zum Echo. „… mir zu sagen…?“ führte sie fort und nun endlich erinnerte er sich all der Details, die man ihm zu rauben versucht hatte. Jedes Wortes, jedes Gefühles, jeder unscheinbaren kleinen Berührung, die sich über die Jahre hinweg angesammelt hatten. „… dir zu sagen, wie wichtig du mir bist“, hauchte er ihr leise entgegen. Die unausgesprochene Frage lag in ihren Augen, begann den Kummer abzulösen, begann den Keim der Hoffnung wachen zu lassen, bis er, statt weiterer Worte, ihr die Antwort in einem Kuss vermittelte. Tücke und Wahnsinn, Mitgefühl und Heilkunst, die Gegensätze vereint in einer Person, die am Wissen des Ersten Anteil erhielt. Als Thorin sich mit Ninafer auf seinen Armen erhob, die Ödnis zu verlassen, ihr Gefängnis zu durchbrechen und aus Ceteus‘ Reich empor zu steigen an ihren angestammten Platz, war der erste Stein gesetzt worden für ein neues Pantheon. Ein neues Paar erhob sich, neue Namen mit alten Mächten, verbunden von einem wiederkehrenden Motiv der boshaften Spinne, die dem Obersten das Weib streitig machte… Viele Monate später rätselte Alandor Lamerak noch immer über Thorins Besuch und die Bedeutung seiner Worte. Das Ende der Sommerzeit war angebrochen, die Tage wurden kürzer, kühler und er hatte sich in der Küche eine kleine Kräutermischung aufgesetzt, als er ein merkwürdig ungewohntes Geräusch hörte. Mit der Tasse in der Hand, wandte er sich um und folgte im plötzlich totenstill wirkenden Haus dem Laut. Er flüsterte leise Vivicas Namen, doch niemand antwortete ihm und dann, ganz plötzlich, traute er seinen Augen nicht. Dort, jenseits der Schwelle, lief ein… ein Wolf in seinem Hausflur vorbei? Ungläubig sah er das Tier entlang traben und verschwinden. Er hörte seinen Atem, er hörte noch immer die über die Holzdielen klackenden Krallen. Wie bei Ceteus kam ein Wolf in sein Haus? Hastig, damit er niemandem etwas würde zuleide fügen können, eilte sich der Bannwirker, dem Tier zu folgen - doch einmal in den Flur getreten, war er verschwunden. Keine Spur des Wolfes war verblieben, keine Erdabdrücke auf den Dielen, kein Atemgeräusch, nichts. Er hätte geglaubt, es sich eingebildet zu haben, vielleicht sogar den Tee in Zweifel gezogen, wäre dort nicht eine Veränderung gewesen. Nahe der Tür zur Besenkammer lehnte ein Stab an der Wand. Alandor hatte ihn nie zuvor gesehen und bei Ceteus, er war sich sogar sicher, dass dieses Ding heute Morgen, als er in die Stube herab getreten war, noch nicht dort gestanden hatte. Vivica war außer Haus - wo kam das Stück also her? Vorsichtig näherte er sich, stellte sorgfältig die Teetasse auf dem Schrank ab und besah sich das Stück aus der Nähe. Ein uraltes Holz musste das sein, aus dem er gefertigt worden war. Ein wundervoller, makelloser Stein von überwältigender Größe war am Kopfende eingefasst. Ein Artefakt, ohne jeden Zweifel - doch es strahlte keinerlei Magie aus…? Als er die Hand danach reckte, gab es einen Schlag. Der Stab selbst flog ihm entgegen, seine Finger packten zu und in dem Moment, da er eine altbekannte Stimme vernahm, brachen Erkenntnis über seinen Verstand herein wie gleißendes Licht aus seinen Augen brach. “Das Wissen der Jahrtausende und das Verlangen nach immer tieferem Verständnis aller Dinge…“ flüsterte ihm jemand ins Ohr, der nicht zugegen war, “Fragmente der Alten, Essenzen, vor dem Niedergang verborgen an geheimen Orten…“ Kapitel 12: Katz und Maus ------------------------- Regen, Dreck, Schlamm. Dazu noch die Kälte der Nacht, pfeifende Winde, die überall ein Knacken und Krachen hervorriefen. Man mochte fast meinen, die Schindeln der von Jahr zu Jahr schiefer werdenden Hausdächer mochten herab rieseln und einen in einem Tonhagel erschlagen. Ansgar Khorgir erinnerte sich noch gut der einen Nacht, als er von seiner Majestät auf die nächtlichen Straßen La Coeurs gesendet worden war, um dieses kleine Tieflingsmiststück zu finden. Er erinnerte sich an die Hetzjagd mit den anschlagenden Hunden, an das verdächtige alte Lagerhaus, an die flüchtenden Schemen oben am Fenster und wie widerstandslos Ximasxi sich hatte gefangen nehmen lassen. Wie sollte er es auch vergessen haben… das war gestern. Tatsächlich dröhnte ihm am Morgen darauf dermaßen der Schädel, dass die Geschehnisse der letzten Stunden vor seinem Schlaf irgendwie fern wirkten. Als wäre das alles schon vor Wochen geschehen, Monaten gar. Ein freier Tag, den hatte seine Majestät ihm zugesichert… und damit ihn auch ja nicht zufällig irgendein Bote ganz plötzlich und abrupt abfangen konnte, tat er das Einzige, was er für richtig hielt: Er verschloss die Tür, löschte die Lichter und begnügte sich damit, den ganzen Tag im Bett zu verbringen. Abgesehen davon, dass seine Frau die Zärtlichkeiten und die Aufmerksamkeit zu schätzen wusste, konnte sie sich so ja ohnehin besser um ihn kümmern. Lungenentzündungen waren eigentlich einfach zu vermeiden und trotzdem war nicht nur der Stand der einfachen Bauern und niederen Handwerker es, der unter ihr litt und fortwährend Leben an sie verlor. Für einen Hauptmann mochte sie nicht so gefährlich sein wie für einen seiner Untergebenen - weil man ihn brauchte. Weil man ihn lieber zu einem Heiler schickte, statt zu riskieren, seine Position schon wieder neu besetzen zu müssen. Zumindest das war ein Vorteil, aber noch… noch fühlte er sich nicht so elend, sich aus der Obhut seines Weibes reißen und in die kalten Hände eines Fremden, wenn auch Fachkundigen geben zu müssen. Ein Tag Ruhe, Entspannung. Eine Auszeit von der zunehmend stressigen Situation im Schloss La Coeurs. Ansgar ahnte schon bei Anbruch des Tages, als die ersten Sonnenstrahlen ihn wach kitzelten - und prompt niesen ließen -, dass er bei seiner Rückkehr als Ausgleich für die schöne ruhige Zeit irgendetwas höchst Unerfreuliches vorfinden würde. Er machte sich nur keine Vorstellung davon, wie sehr er damit richtig lag. Als die Nacht schwand, brachte man den Anweisungen Phillipe des Dritten folgend ein Bündel Fleisch zum Heiler. Blutend, zerschunden, kraftlos. Sie sank nieder, konnte sich nicht im Sitzen halten, nicht stehen - also ließ man sie einfach auf dem Boden liegen, bis man sie hinein in das Behandlungszimmer schaffen konnte. Dort angelangt, war der ältere Knabe keineswegs überrascht. Er sah solche Wunden nicht zum ersten Mal, man hatte ihn vor einiger Zeit erst in die Kerker geschickt. Dort hatte er Ximasxi bereits kennen gelernt, doch… auch ihm fiel auf, wie nah ihr Tod diesmal gewesen sein musste. Die fragenden Blicke prallten an den Wachmännern ab und niemand sprach mehr, als notwendig war. Er tat über mehrere Stunden hinweg, was er konnte und zuletzt kam der wirklich unschöne Teil: Er gab Ratschläge. Denn mehr konnte er nicht verfügen. Der Krone gegenüber hatte er kein Recht, das Weib hier zu behalten, damit sie sich erholen und zu Kräften kommen könnte. Tatsächlich ahnte er bereits, dass das auch gar nicht gewünscht war. Man zog sie vom Tisch herab, nickte gleichgültig, als er von der Not längerer Ruhephasen sprach und verließ das Haus wieder. Die ehemalige Attentäterin selbst… schwieg. Sie hatte sich, so schien es, ihrem Schicksal zur Gänze gefügt. Niemand begriff, warum. Es war auch allen gleich. Sie wurde der Weisung gemäß gegen frühen Abend zurück ins Schloss gebracht. Manchmal, so glaubten die zwei Wächter, spürten sie ihren Widerstand. Wie ein Fuß sich gegen das Pflaster zu stemmen versuchte, doch selbst ein Kind hätte sie unter solchen Bedingungen hinein zerren können. Nackt wie sie noch immer war, warf man sie - kaum die Tür geöffnet - in den Wachraum. Tatsächlich hatte das Schloss mehrere dieser Art. Ein Erster befand sich nahe des Einganges, um Eindringlinge und Reisende zu kontrollieren, selbst nachdem die Torwache das bereits hätte tun sollen. Durch eben diesen war vor nicht allzu langer Zeit ein rasender, kahlköpfiger Hüne gestürmt und hatte ein übles Massaker angerichtet. Einer der Gründe, warum sich niemand unbedingt freute, hier seine Schicht verbringen zu müssen - dabei waren die Zeiten doch ruhiger geworden. Der zweite Wachraum lag im zweiten Stockwerk, geschickt strategisch zwischen Thronhalle und den Gemächern seiner Majestät angeordnet. Dort hatte noch nie ein einziger Wachmann Schicht bezogen - es war eine Räumlichkeit, die zur Gänze den Bellatoren oblag. Neben dem Wachraum, der dem Eingang zu den tiefen Kerkern vorgeschaltet war, gab es nur noch einen Letzten. Den Vierten, der sich im Flügel der Wachunterkünfte befand. Die Männer dort waren mindestens so gelangweilt wie sie es am Eingang waren, aber hier war es sogar noch eine Spur stiller und ereignisloser. Er lag zu weit ab vom Schuss. Wer rein oder raus wollte, kam hier nicht durch. Wer dem König ans Leder oder die Juwelen wollte, kam hier nicht durch. Hier gab es nur Unterkünfte, nur Betten, Vorratskammern, die Küchen. Die Männer, die hier verweilten, spielten die meiste Zeit Karten. Sie kamen erst, noch müde, und nahmen ihre Plätze ein - oder hatten schon eine lange, ereignislose Schicht hinter sich. Mancher im Schloss hätte etwas dazu zu sagen gewusst, wie merkwürdig sich grassierende, massive Langeweile auf manche Gemüter auswirken konnte. Man stieß Ximasxi hinein und sie versuchte verzweifelt, auf den Beinen zu bleiben. Ungelenk tappte sie ein paar viel zu große Schritte, taumelnd, ehe sie gegen einen Tisch stieß, ihn umwarf und zwischen den Stühlen der hastig und empört aufgesprungenen Wächter liegen blieb. Diese sahen natürlich trotz aller Geschehnisse nicht wütend zu ihren Kollegen am Eingang, nein - sie funkelten das wohlbekannte Miststück am Boden an. „Was soll das? Was macht die hier?“ keifte einer der Männer, der gerade eine unglaubliche Glückssträhne hatte und im Begriff war, seine zwei Mitstreiter für diese Schicht restlos blank zu ziehen. Ein Monatslohn, so viel hatte er schon vor sich liegen - von jedem der zwei! „Befehl des Königs, sie bleibt hier. Keine Einschränkungen, tut was ihr wollt. Sterben darf sie nur nicht“, gaben die zwei Männer die Befehle wider. Während der Erste sich abwandte, um zu gehen, verweilte der Zweite noch einen Moment. Er starrte. Dessen war er sich auch völlig klar, aber was sollte dieses Ding jetzt noch tun? Sie war unten durch, sie war in Ungnade gefallen, sie war nun der Bodensatz. Schlimmer als jede Ratte in den von Unrat gefüllten Kanälen der Stadt. Er starrte ihre Brüste an, ihren straffen, wenn auch für seinen Geschmack deutlich zu dürren Bauch und ihre schmalen, zierlichen Lenden. Fast beneidete er diese Drei darum, hier Schicht zu haben. Er dagegen war am Eingang eingeteilt worden… nun - vielleicht später. „Hamman, komm endlich“, forderte sein Kollege ihn auf. Mit einem verstörend sehnsüchtigen, leisen Seufzen wandte er sich ab, die Hand an der Klinke. Langsam zog er die Tür zu. Fast wie in Zeitlupe hielt er Blickkontakt zu ihr, sah den Ausdruck in ihren Augen, panisch, verzweifelt, bettelnd. Kaum die Pforte ins Schloss gezogen, hörte er Bewegung, hörte einen kurzen, empörten Aufschrei aus einer Männerkehle, hörte Gekreisch, Fauchen und mit einem wissenden Lächeln schritt er zu seinem Mitstreiter, um wieder Posten zu beziehen. Später. Für Ximasxi jedoch begann der Punkt, an dem sie lernen sollte, was die Menschen unter den Niederhöllen wirklich verstanden - für sie nun wurde hier und jetzt eine eigene Hölle geschaffen. „Sebastian!“ schallte die Stimme des Hauptmannes aus der kleinen, aber nobel eingerichteten Kammer. Rasch erklangen Schritte vor seiner Tür und ein junger Grünschnabel, im ersten Jahr bei der Wache, trat durch die schwere Eichenpforte. Ansgar musste ihn auf die Tür hinweisen, damit er diese schloss. Khorgir wollte sie nicht sehen. Gute Güte, bei allem, was heilig war - er wollte nicht mal, dass sie hier war! Er hatte bei seiner Rückkehr von den… nun, ‚Entwicklungen‘ im Palast gehört. Er hatte die Wachstube betreten und ungläubig auf das Weib gestarrt, welches er zuvor noch so dringend hatte retten sollen. Dort kauerte sie, zitternd, bebend, von Zeit zu Zeit viel zu heftig atmend in einer Ecke, in einer kleinen Pfütze aus der Hinterlassenschaft der Männer und ihrem eigenen Blut. Er hatte sofort den Auftrag gegeben, jemanden zu holen, der… sauber machte. Sie, den Boden, die Stube. Am liebsten hätte er diese Leute angewiesen, sie einfach in einen der Leinensäcke zu stopfen wie den anderen Müll und auf die Grube zu schütten, doch… das ging nicht. Befehl war Befehl. Hauptmann Khorgir war jedoch kein Dummkopf. Dieses Weib war hier und laut den Informationen, die er bisher hatte, könnte sich das vielleicht auch wieder ändern. „Erzähl‘ mir davon, Bursche“, forderte Ansgar und nickte in Richtung der Steinwand, als könne er durch sie hindurch Ximasxi erblicken. „Jawohl, mein Hauptmann!“ erschallte viel zu steif, viel zu enthusiastisch die Antwort des Burschen. Er würde ihn bei Gelegenheit darauf hinweisen müssen, diesen Unsinn zu unterlassen. Aber hier und jetzt hatte er einfach… keine Nerven dafür. Stattdessen harrte er geduldig aus, die Ellbogen auf die polierte Tischplatte seines Schreibtisches gestützt, die Hände ineinander gefaltet und bedächtigen Blickes das Kinn auf diese Brücke gestützt. Er vernahm, wie man sie vergangene Nacht hierher gebracht hatte. Drei Mann hatten Schicht, das wusste Ansgar noch lange bevor der Jüngling ihm das vermittelte. Reimunds Männers. Er würde ihn darauf hinweisen müssen, dass es… neue Absprachen gab. Notfalls müsste er es ihm befehlen, doch bisher kannte er den Offizier als einen verständigen Mann. Er hatte selten mit ihm zu tun gehabt - Tag- und Nachtschicht kamen nur gelegentlich in Berührung. „Ich will, dass du neue Befehle ausgibst“, hob Ansgar mit einem schwerfälligen Seufzen an und rieb sich den Nacken. Wenn dieser kleine Puderball davon erfahren würde, gäbe es Ärger… und er wollte seinen Kopf wirklich nicht mit herausgestreckter Zunge auf einem Pfahl thronen sehen. Aber hatte er nicht auch eine Verantwortung gegenüber seinen Männern? Wenn sie dieses kleine Luder züchtigten, ihr die Seele aus dem Leib vögelten… was, wenn seine Majestät es sich anders überlegte? Er kannte diesen kleinen Wicht nicht als jemanden, der Gerechtigkeit walten ließ. Schon gar nicht, wenn es um sein Eigen ging. Er würde alle, die sich an ihr vergriffen hatten, hinrichten lassen - dessen war sich der Hauptmann recht sicher. Selbst würde er seine Entscheidung nicht revidieren, was war mit seinen Männern selbst? Die drei gestern Abend kannte er. Er hatte sich ihre Namen sagen lassen. Zwei von ihnen waren verheiratet. Gute Güte, einer hatte sogar zwei Töchter daheim! „Keiner rührt sie an, bis ich anderes befehle. Und sieh‘ zu, das niemand sonst von den Befehlen erfährt. Kein Bellator, kein Höfling, nur wir Wächter.“ Einen Moment schien Sebastian verwirrt. Er konnte sich offenbar keinen Reim darauf machen, nickte jedoch zögerlich. Ansgar bezweifelte, dass sich das Jungblut an Ximasxi heran gewagt hätte. Er war noch zu jung, um die Wärme eines Weibes zu kennen und würde gewiss nicht damit beginnen wollen, einen Tiefling zu schänden. Freiwild hin oder her, ihr fortwährendes Zusammenzucken, sobald eine Tür im Raum geöffnet wurde, sobald sich jemand vom Stuhl erhob oder einen Schritt in ihre Richtung setzte - das alles sprach deutlich genug. Der Junge verließ den Raum wieder, trug die Befehle in die Wachunterkünfte und zu den einzelnen Männern, während Ansgar Reimund aufsuchte und dessen Männer instruierte. Dann begann das große Warten. Über Tage hinweg, über Wochen. Ximasxi wurde eine Art… Möbelstück. Wie ein Stuhl. Man ignorierte sie, wie angewiesen. Nur selten kam es zu Auseinandersetzungen. Wenn einer der Männer in seiner Schicht zu viel vom falschen Fass getrunken hatte. Das kam selten vor, aber Ansgar kannte die Hintergründe. Verstorbene Elternteile, ein gestrichener Monatslohn, es gab immer irgendetwas. Meist deckte er solches Fehlverhalten, weil es einmalig war und er wusste, dass es nicht wieder vorkäme. Manchmal gab es Disziplinarmaßnahmen. Aber er sorgte stets für seine Männer, dafür, dass solche Informationen nicht an höhere Ohren getragen wurden. Sie bekam ein paar blaue Flecken, eine Platzwunde, hier und da ein Schnitt. Aber niemand vergriff sich an ihr. Dennoch spürte Ansgar über die drei verstreichenden Wochen hinweg, wie die Dinge sich… änderten. Eine Spannung, die in der Luft lag. Wenn er den Wachraum betrat, verstummten manchmal die Gespräche. Je nachdem, wer gerade beisammen saß und sie führte. Man blickte zu ihm auf, grüßte ihn, schwieg danach. Manchmal blickte man über Stunden zu ihr, starrte sie an - während es Ximasxi war, die nun jedem Blick auswich. Schlimmer noch war es im Thronsaal. Der Hauptmann konnte es die ersten zwei Wochen nicht direkt beim Namen nennen, doch er hatte das Gefühl, dass etwas nicht… stimmte. Er zog Erkundigungen ein, bei der Nachtschicht hauptsächlich, einem Verdacht folgend, den ihm seine Erfahrungen der letzten Jahre eingetragen hatten. Er sah sich, sehr zu seiner Frustration, nicht enttäuscht. Der König… schlief schlecht. Er ging weit später zu Bett als üblich, manches Mal hörte man jenseits der Tür ein Poltern, als hätte er etwas umgeworfen oder sei aus dem Bett gefallen. Selten sogar einen Aufschrei. Und weit früher, als für ihn typisch, sah man diese kleine Perücke wieder aus der Tür zurück in den Thronsaal huschen. Doch selbst dort wirkte er… zerstreut. Desinteressiert. Ansgar hatte sich anfangs noch redlich darüber zu freuen gewusst, wahrlich! Er wurde weniger angeschrien, es gab weniger Schelte, weniger merkwürdige Aufträge. Irgendwann jedoch… gab es kaum noch überhaupt irgendwelche Aufträge. Er wurde immer seltener gerufen und an diesem Tag, an dem er sich zu handeln entschloss, da saß er hinter seinem Schreibtisch und erinnerte sich des letzten Gespräches. Der König hatte ihn rufen lassen. Selbst all das Puder war nicht mehr fähig gewesen, die tiefen, bläulichen Furchen unter seinen Augen zu verbergen. Er hatte sich von ihm Bericht erstatten lassen. Über all die langweiligen Vorgänge, die ihn nie zuvor interessiert hatten. Und dann, einfach so, schien es fast, als sei er… eingenickt? Ansgar bat um neue Befehle und erhielt zur Antwort nur, „er möge sich nun entfernen“. Das war nicht normal und ganz gleich, was für ein kranker Bastard Phillipe sein konnte - es tat dem Königreich auch ganz gewiss nicht gut. Der kleine, geheime Harem seiner Majestät war fast halbiert worden. Nicht durch lange Nächte des Quälens und Blutens. Oftmals hatte er jemanden in seine speziellen Räumlichkeiten bringen lassen, das Zimmer nach wenigen Minuten wieder verlassen und ihre Exekution befohlen. Das alles ergab wenig Sinn - und zeichnete ein übles Bild. Was aber sollte er tun? Am Ende, so hatte sich Hauptmann Khorgir heraus zu reden versucht, war er eben nur genau dies: Hauptmann. Er war der Vorstand der Palastwache. Es oblag ihm, für die Sicherheit des Schlosses zu sorgen. In Folge dessen stand er als oberster Befehlshaber der Wache La Coeurs vor, die die Mauern, Tore und Straßen sicherte, befehligte die Männer im Schloss selbst und sicherte die Wachräume, die Kerker, die Schatzkammern. Gewiss, er könnte mit Wolfflin sprechen. Doch schon dieser Name rief tiefe Abneigung in ihm hervor. Rotdorff war nicht irgendein Mann, der zufällig im Schloss herum spazierte. Die Wächter hatten, allesamt, ein klares Feindbild. Der Feind waren nicht Rebellen dort draußen. Die waren fern, weit weit weg und das Problem anderer Wächter in anderen Städten. Hier war der Feind in den eigenen Mauern eingepfercht. Bellatoren - die königliche Leibgarde. Während Ansgars Männer den Palast und seine Schätze und Räumlichkeiten bewachten, bewachten die Bellatoren das Leben des Monarchen selbst. Über sechzig dieser Elitekrieger gab es gegenwärtig wohl. Ein Viertel diente wohl im Ausland, hechtete mit der Ausdauer von Bären über die Schlachtfelder verbündeter Nationen. Nochmal so viele dienten im Inland, erledigten für den König irgendwelche merkwürdigen Aufträge. Die Bellatoren waren altgediegene Veteranen - das war eine Voraussetzung für die Aufnahme in ihre Reihen. Tatsächliche, umfassende Kriegserfahrung. Sie waren die harten Hunde, für die sich viele der Wächter lediglich hielten. Khorgir wusste das und er hätte das respektieren können. Doch zu frisch noch waren die Erlebnisse, die in letzter Konsequenz zu seiner Beförderung geführt hatten. Er war dort gewesen, als man seinen ehemaligen Vorgesetzten zur Rechenschaft zog. Er war dort gewesen, als Wolfflin Rotdorff, der Anführer und Hauptmann der Bellatoren und damit der oberste militärische Befehlshaber im ganzen verdammten Staat, eine Haarspalterei darüber begonnen hatte, wessen Verantwortlichkeit nun dieses Desaster gewesen sei. Am Ende hatte Rotdorff so argumentiert, dass die Eindringlinge offenkundig nie das Leben des Königs zum Ziel gehabt hatten, sondern es sich um einen reinen Ausbruchsversuch gehandelt habe. Damit wären einzig und ausschließlich die Räume des Schlosses und deren Inhalt betroffen gewesen. Alle Schuld dieser Blutnacht, diese Schande für ganz La Coeur, läge also bei der Stadt- und Burgwache. Damit war das letzte Wort gesprochen gewesen… und ein neuer Körper hatte sich, in Teilen, im Garten seiner Majestät wiedergefunden. Ansgar glaubte noch heute, dass Wolfflin einfach nur den eigenen Kopf aus der Schlinge hatte ziehen wollen. Seine Männer waren ebenso gestorben, er hatte ebenso einzugreifen versucht, ebenso versagt. Vielleicht ging es ihm nur um das eigene Überleben - doch egal, wie sehr der Hauptmann ihm das anzurechnen versuchte, er kam über seine persönlichen Vorbehalte nicht hinweg. Immer schon hatte Ansgar kaum etwas mehr verabscheut als diese politischen Ränkespiele, das Herumschieben von Macht, Einfluss und Verantwortung, dieses ständige Austauschen von Gefallen und Schuldigkeiten. Konnte man nicht einfach ehrlich und aufrecht seine Arbeit machen und dafür gerade stehen? Andererseits, so musste er sich eingestehen, als er sich vom Tisch erhob - er tat das ja gerade auch nicht, oder? Nein, im Gegenteil. Er war dabei, tief und tiefer in eben diese verhasste Schlangengrube hinab zu klettern, sich die Größte und Fetteste davon heraus zu suchen und mir ihr einen Pakt zu schließen. „Ich muss wahnsinnig sein…“ nuschelte der Wächter, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und verließ sein Zimmer. Er warf einen Blick durch die Stube. Wieder verstummten ein paar Gespräche. Wieder diese geladene Anspannung. Blicke, die zwischen ihm und dem Weib umher wanderten. Er selbst hatte Ximasxi nie schlafen sehen. Musste sie das als Dämonenbrut überhaupt? Unwirrsch schüttelte er den Kopf und wandte sich ab. Darum ging es hier doch gar nicht, was spielte das schon für eine Rolle?! Der Weg durch das Schloss war weit. Schwer. Vielleicht lag es auch nur daran, dass er sich mit jedem Schritt darüber klar wurde, was er zu tun im Begriff war. Schließlich aber endeten die Stufen, die Teppiche und die mitgezählten Schritte. Er hob die Hand, klopfte leise an eine Tür und erwischte sich dabei, verstohlene Blicke den Gang in beide Richtungen hinab zu werfen. Seine Männer waren noch nicht hier, die Patrouille ließ sich Zeit. „Herein“, krähte es von drinnen. Der Ton… wenn er schon diesen Ton hörte! Als hätte man ihn bereits erwartet. Einfach nur unheimlich. Ansgar trat durch die Pforte und schloss sie sorgsam wieder. Er… war sich nicht ganz klar darüber, was er eigentlich erwartet hatte. Tote, verwesende Krähen, die von der Decke hingen. Ein paar ausgeschabte, gelbliche Augäpfel, kandiert auf einem Tisch? Vielleicht auch einen großen, schweren Kessel, der vor der Feuerstelle stand und einen giftgrünen Sud darin blubbern ließ. Doch der Raum war anders. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl. Ein Schrank, ein Kaminsims ohne alles. Karg, absolut karg. Selbst sein Zimmer besaß mehr persönliche Note als dieser Raum. Und im Zentrum dessen erhob sich jemand von seinem Schreibtisch. Eine leicht gebeugte Gestalt, die unter einem kränklichen Husten erzitterte, welches - sehr zu Ansgars Unruhe - in ein Lachen überzugehen schien. „Ich muss euch um einen Gefallen bitten“, hob der Hauptmann die letzten Widerstände überwindend an. Celsor selbst war es, der sich ihm zuwandte. Das fahle, blassblaue Gesicht sah aus, als hätte der Tod ihn längst geholt. Ein widerlicher, Ekel erregender Anblick und dann war da noch diese Stimme. Wie Wochen alter Unrat klebte und schmierte sie sich durch die Hörgänge, brachte einen dazu, am liebsten auf den Boden speien und sofort fliehen zu wollen. Jedes Wort aus dieser Kehle war widerwärtig… und doch stand er hier. Beide musterten einander über viele Minuten mit eindringlichen Blicken. Es gab kein Zurück mehr. „Ihr seid ein dilettantischer Stümper, welchen dies viel kosten wird - und ich zolle euch meine Hochachtung“, flüsterte die hauseigene Burgschlange. Celsor war unbestreitbar der zweitmächtigste Mann dieses Staates. Es hieß unter den Wächtern, er hätte Tausende Augen und Ohren in jedem Haus, jeder Wachstube, in jedem Acker, schier überall im Land. Wie er das anstellte, wusste niemand - aber er schien immer über alles informiert zu sein, manchmal sogar schon lange bevor die eigentlich Beteiligten davon erfuhren. „Und ihr eine hinterhältige Schlange, jedes Wort aus eurer Kehle ist falsch und List!“ hörte sich der Hauptmann bar aller Demut, bar aller Erziehung erwidern. Fast einen Herzschlag dauerte es, ehe er kreidebleich und erschrocken zurück wich. Ein Schritt, der ihn mit dem Rücken gegen die Tür laufen ließ. Bei allen Göttern, warum nur hatte er das gesagt?! „Verzeiht, ich-“ hob Khorgir gerade an, da winkte Celsor schlicht ab. „Ich zolle euch meine Hochachtung, weil ihr Trotz eurer Verachtung für mich hier steht“, erklärte sich die kränkliche, gekrümmte Gestalt, „Aber genau deshalb wird es euch so viel kosten. Weil ihr keine Alternativen habt.“ Noch immer raste sein Puls. Er hätte das nicht sagen dürfen, das… könnte ihn in Ceteus‘ Küche bringen. Er spürte schon das Messer am Hals, mit dem man einen guten Schnitt setzen würde. Die Worte des königlichen Beraters wälzten sich wie eine chaotische Sturmflut durch seinen Verstand und hinterließen Trümmer und Bruchstücke eines einstmals geordneten Planes. Er… er sei ein Stümper? Wieso das denn? Und überhaupt, er würde sich gewiss nicht zum Narren machen lassen! „Ich könnte zu Rotdorff“, antwortete er beinahe trotzig. Es war… schlicht krank, wie Celsor auflachte. Nur Wahnsinnige konnten so lachen! Frei, aufrichtig amüsiert und zugleich in einer sadistischen Freude, als hätten sie ein Kind zum tranchieren vor sich liegen. „Der gute Herr Wolfflin und ihr, ihr zwei seid nicht die Einzigen, die diese Nacht nicht vergessen oder ruhen lassen können. Er ist sich zu stolz, euch als Hauptmann zu akzeptieren, zu stolz, euch als ebenbürtig anzusehen. Und ihr, ihr wärt nicht hier, hättet ihr das nicht erkannt. Selbst ein Wolfflin Rotdorff hat nicht die Befugnisse, die ihr braucht. Ich bin eure einzige Wahl, mein Freund. Und weil das so ist, werde ich allein den Preis für euren kleinen Gefallen vorgeben.“ Celsor hatte Recht. Leider hatte er das viel zu häufig, das allein hieß jedoch noch lange nicht, dass Ansgar damit zufrieden war. Dieses listige kleine Wiesel schlich ständig im Schloss umher. Tatsächlich war geradezu erschütternd, was sich dieses hässliche Männlein herausnehmen durfte. Er kommandierte selbst Bellatoren herum, wie es ihm passte. Die Höflinge wagten ihn nicht einmal anzusprechen, geschweige denn ihn in ihre dummen kleinen Ränkespiele einzubauen. Er konnte seiner Majestät gewiss nicht offen widersprechen, aber… selbst im Beisein anderer durfte er ohne jede Konsequenz dem König Vorschläge angedeihen lassen, die ganz offensichtlich den kurz zuvor ausgesprochenen Befehlen völlig zuwider gingen. Und das Verrückte daran war: Der König hörte auf ihn. Hatte es eigentlich jemals eine Zeit gegeben, in der man Phillipe ohne die Begleitung dieser hässlichen Schlange gesehen hatte? Noch während der Hauptmann sich diese Frage stellte, trat er Celsors Weisung folgend näher und nahm Platz. „Was also ist euer Begehr, Hauptmann Khorgir?“ erkundigte sich diese widerwärtige Stimme in seinem Ohr. Ansgar hatte in den vielen Jahren das Lächeln gelernt. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Manchmal erwischte er sich dabei, diesen Automatismus sogar seiner Frau gegenüber anzuwenden. Aber hier… gute Güte, hier konnte er es einfach nicht. Celsor musste an jeder Miene ablesen können, wie zuwider es ihm war, hier zu sitzen, mit ihm zu reden, sich bei ihm in die Schuld zu begeben. Aber falls es ihn überhaupt interessierte, zeigte er es nicht. Oder er amüsierte sich darüber - das milde Lächeln auf den schmalen, spröden Lippen kam vielleicht eben daher. „Es geht um den Tiefling. Sie muss zurück“ rückte Ansgar, alle Formalitäten umgehend, direkt mit der Sprache heraus. Er wollte nicht länger als notwendig hier verweilen, nicht länger als zwingend nötig mit dieser Schlange falsche Worte tauschen. „Ah ja, Ximasxi. Ein hübsches Kind, nicht wahr? Ein paar eurer Männer werden bestätigen können, wie reizvoll solch schmale Hüften sind. Selbst das mickrigste, kleinste Glied fühlt sich plötzlich wie der Arm eines Trolls an, da muss man sich doch als Mann fühlen…!“ Erneut erklang dieses grässliche Lachen, ging stellenweise in ein gehässiges Kichern über, ehe Celsors Schultern sich nach einigen Augenblicken in den Ausläufern eines Glucksens beruhigten. „Ihr seid ein Ehrenmann, mein Freund. Ein sehr penibler, sorgfältig arbeitender Ehrenmann… ihr wärt nicht hier, hättet ihr nicht bereits einen Plan.“ Die Worte der Schlange trafen Khorgir an einem Punkt, den er nicht klar benennen konnte. Er war nicht sein ‚Freund‘, so viel stand fest - aber das zu äußern, war überflüssig. Sie wussten es beide nur zu gut. Doch vielleicht war es diese Beschreibung seiner Person. Vorhin noch hatte er ihn einen dilettantischen Stümper genannt, nun einen sorgfältigen Ehrenmann - keines von beidem hatte er erklärt und Ansgar war sich gewiss, dass das auch nie geschehen würde. „Soweit ich das verstand, wurde sie verstoßen, weil sie keinen Namen nennen wollte. Ich brauche einen Sündenbock.“ Mehr noch als an diese Tür zu klopfen, mehr noch als diese Stimme zu hören und seine ganze Not erkannt und durchschaut zu fühlen, hatte er sich vor diesem Moment gefürchtet. Vor dem Augenblick, in dem er es aussprechen musste. Ein Sündenbock. Er, Ansgar Khorgir, der in solch schwierigen Zeiten stets als aufrechter Mann über die Runden gekommen war… würde losziehen und jemandem etwas in die Schuhe schieben, das er nie verbrochen hatte, für das man ihn aber sehr wohl hinrichten und vorher vermutlich noch grässlich quälen und entstellen würde. Er würde ein Leben zerstören. Einen Sündenbock zu finden, war nicht schwer. Er könnte Beweise fälschen, jemanden von der Straße wegfangen und ihn vor den Thron zerren. Seine Majestät würde es nicht interessieren, das war das eigentliche Problem. Es brauchte genau die Art von Spitzfindigkeiten, wie sie nur eine Schlange zustande brachte. Es musste eine glaubwürdige, hieb- und stichfeste Geschichte sein, die Ximasxis Schuld tilgte und sie als Opfer erscheinen ließ. Seit Anfang der Woche hatte er überlegt, wie man das anstellen könnte - und nun saß er hier, als Zeugnis seines Scheiterns. Er brachte dieses Kunststück allein einfach nicht zustande. „Seht ihr, Hauptmann, ich habe bereits auf euch gewartet…“ führte der königliche Berater aus, während er sich abwandte und in den wenigen Bücherschränken herum kramte. Alte, staubige Werke, die den Eindruck erweckten, dass nie eine neugierige Hand die Seiten darin umgeblättert hätte. Dekoration, Tand, schmückendes Beiwerk. Seiner Funktion gänzlich beraubt. Doch hinter eben diesen Werken zogen die ausgemergelten, kränklich-dürren Finger ein kleines Paket von Briefen und Schreiben hervor, welches er mit etwas Schwung durch die Luft segeln und vor Ansgar auf der Tischplatte aufkommen ließ. „Diese Schreiben sind alles, was ihr braucht. Oh, fast alles“, erklärte Celsor und nickte dem Hauptmann zu, die Schleife zu lösen, während er selbst die Türen eines Schrankes aufzog und in einem gewaltigen Repertoire an Fläschchen herum zu wühlen begann. Ansgar tat derweil, was ihm gewiesen worden war. Er löste das Band und besah sich die Briefe. Ein Schreiben, welches ihn ermächtigte, allerorts Wächter der königlichen Garde in seinen Dienst zu stellen. Ein weiteres Schreiben, welches einen gewissen Offizier namens Panaver Urthada aufforderte, sich dem direkten Kommando Ansgars zu beugen. Reisebriefe für eine Karawane, die von Samara nach Sundergrad ziehen würde, in… einer Woche? Überrascht blickte er auf, als er beim letzten Brief angelangte. Ein Steckbrief, von einem Wachssiegel verbunden mit einer Anweisung seiner königlichen Majestät, jemanden dingfest zu machen. Einen Feind der Krone und des Staates, einen Hochverräter, wie es schien. Offenbar ein sehr alter Steckbrief und eine sehr alte Anweisung, die Tinte verblich bereits - aber solange sie lesbar war, waren beide Dokumente noch gültig. Gejagt wurde ein gewisser Aedan Gilraen. Nur ein Dummkopf hatte diesen Namen noch nie gehört. Diebe waren alle das gleiche Pack. Sie vermieden, gesehen, gehört und bemerkt zu werden, aber wenn jemand begann, in der Hierarchie einer Organisation aufzusteigen - ganz gleich, welche es sein mochte - bekam sein Name unweigerlich Bedeutung und Gewicht. Er konnte sich dann nicht mehr so leicht verstecken. So zumindest die Theorie. Die Diebesgilde jedoch hatte immer gewusst, wie schön leicht man in der völlig überfüllten Stadt Sundergrad abtauchen oder unter den Augen der Wache Waffen und Rüstungen, Sklaven, Gewürze und Drogen im Wert Hunderttausender Gulden transportieren, schmuggeln, verkaufen und aufkaufen konnte. Aedan war lange Zeit ein Störfaktor gewesen. Er hatte die Wache auf Trab gehalten, sich einen redlichen Spaß daraus gemacht, Katz und Maus mit ihr zu spielen und nicht nur einen Kommandanten dumm da stehen lassen. Heute aber war er, glaubte man den Gerüchten nicht, die von seinem Tod vor einigen Jahren sprachen, der Anführer der Gilde. Ihr Kopf quasi. Und obwohl sie es nie gesagt hatte, wusste doch jeder, wo Ximasxis Wurzeln lagen. „Das… ist unglaublich“, hauchte Ansgar völlig überrumpelt. Er sollte Aedan Gilraen fangen? Er? Zusammen mit ein paar Wachen und diesem Urthada? Die Diebesgilde war immer schon schlüpfrig gewesen, sie kannte Sundergrad in- und auswendig, jeden Stollen und Kanal darunter, jedes Dach und jede Marquise darüber, schier alles. Die Gilde war Sundergrad. Und seit die Stadt durch diesen Flächenbrand von einer Revolte obendrein in die Hände der Piratenclans gefallen war, war es für jeden Kronloyalen schierer Selbstmord, sich dorthin zu begeben. Nur der Verdacht, sie könnten dem König treu ergeben sein, würde sie an den Galgen bringen. Oder… hängten Piraten Leute überhaupt? Vermutlich ertränkten sie sie eher im Salzwasser. Noch dazu wurde Ansgar das erdrückende Gefühl nicht los, eine Marionette zu sein. Vom Zeitpunkt seines Klopfens an dieser Tür hatte er es gespürt, aber jetzt… jetzt hatte er die Beweise tintenblau auf fastweiß vor sich: Dieser Reisebrief war bereits fest gebucht und unterzeichnet, das Datum unverrückbar. Man hatte ihn tatsächlich erwartet. Vielleicht auch nicht ihn. Ausschließlich. Möglicherweise einfach nur irgendeinen Wächter, einen Bellator, irgendwen, der fähig wäre, mit dieser Sammlung an Briefen und Schriften und Ermächtigungen das Nötige anzufangen. Plötzlich riss ihn ein dumpfes Geräusch aus den Gedanken. Celsor hatte eine kleine Flasche mit Nachdruck vor ihm auf den Tisch gestellt. „Was ist das?“ hörte er sich die dümmste aller Fragen stellen. Er hätte es ihm so oder so gesagt. Sagen müssen. Denn ganz gleich, was Celsor sich hiervon versprach, er hatte ein eigenes Interesse am Gelingen dieser Sache. „Gift natürlich“, hob der Berater seiner Majestät an und verzog die aufgerissenen Lippen zu einem geradezu teuflischen Grinsen, welches Ansgar nicht den ersten Schauer dieses Gespräches den Rücken herab jagte, „Ihr, Hauptmann, werdet nach Samara reisen. Dort sucht ihr Panaver Urthada auf. Er ist der einzige Offizier, der zusammen mit ein paar Männern dem Massaker in Sundergrad entkam. Ihr werdet euch neue Kleider kaufen. Etwas Schlichtes, das zu Reisenden oder Händlern passt. Die Karawane wird nicht auf euch warten, die Zeit drängt also. Gemeinsam werdet ihr nach Sundergrad reisen und die Stadt betreten. Es gibt vier Brunnen von zentraler Lage. Ihre komplizierten Pumpwerke versorgen jeden kleineren Brunnen der Stadt mit Trinkwasser für Vieh und Volk. Ihr werdet dieses Gift in alle Pumpwerke geben und mir den Gefallen erweisen, nichts davon zu trinken. Binnen eines Tages sollte jeder in einen tiefen Schlaf fallen. Der Effekt wird zwei oder drei Tage anhalten, abhängig davon, wie viel getrunken wurde und wie groß und kräftig jemand ist. Vielleicht trinken ein paar nur Rum und sind noch wach - das wäre dann natürlich euer Problem, das es zu lösen gilt. Panaver Urthada übergebt ihr diesen versiegelten Befehl hier. Er wird ihn anweisen, euch Folge zu leisten, bis das Gift verteilt ist. Danach werden seine Männer ausschwärmen und euch helfen, Gilraen gefangen zu nehmen. Ist das getan, werden sie beginnen, alle Piraten zu töten, die sie finden können. Vielleicht gelingt uns in dieser Zeit nicht die Rückeroberung der Stadt, aber wir werden ihre Kräfte gewiss erheblich schwächen können. Die nächste Offensive zur Rückeroberung sollte glücken, wenn die Piraten erst einmal geschwächt und uneins sind, wer die Schuld daran trägt. Und die Diebesgilde wird ohne ihren Anführer ins Chaos stürzen.“ Darum ging es also! Ansgar saß wie vom Schlag getroffen auf dem Stuhl, starrte Celsor an und während dieser sprach, während sich seine unangenehme Stimme krabbelnd und kriechend durch Khorgirs Hörgang wandte, begann er die Dimensionen dieses Vorhabens zu erfassen. Ansgar war immer schon ein kluger Bursche gewesen. Nicht gebildet im Sinne eines Magiers, die ihre ganzen Tage mit Büchern zubrachten, aber er hatte Erfahrung und Verstand. Sundergrad. Niemand hatte vergessen, wie unglaublich unangenehm es gewesen war, auch nur in der Nähe des Schlosses zu sein, während die Stadt fiel. Über Tage hinweg hatte man nur das Kreischen und Plärren des Königs gehört, die wütenden Ausbrüche, das Schimpfen und Anschnauzen. Viele hatten ihren Kopf verloren, wenige waren der Stadt überhaupt entkommen. Schon zwei Versuche, sie zurück zu erobern, waren kläglich an den schweren und wohldurchdachten Bollwerken gescheitert… und am langen Marsch durch die Wüste, vorbei an den Lagern von Zentauren, durch die Jagdgründe der Harpyien und im Kampf mit den einheimischen Kreaturen wie Barakus und Sandwürmer. Und der Auslöser für all das… war dieses kleine Dämonenflittchen…? War es nicht ein denkwürdig großer Zufall, dass sein Versuch, sie los zu werden, der Krone so offensichtlich in die Hände spielen würde? Vorausgesetzt natürlich, es klappte überhaupt und sie würden das überleben. Celsor saß hier, zuversichtlich und hintergründig lächelnd, hatte all das vorbereitet, offenbar schon von langer Hand geplant. Dutzende Absprachen hatten hierfür getroffen werden müssen. „Das wollt ihr also…“ hauchte Ansgar und vernahm erst in diesem Moment, wie wackelig seine eigene Stimme geworden war. Insgeheim, das hätte er auch zugegeben, befürchtete er, der Größe dieser Sache nicht ganz gewachsen zu sein. Er war doch nur Hauptmann! Gute Güte, selbst das noch nicht einmal sonderlich lange. Er hatte nie den Staat retten, den Helden spielen oder das Kommando über irgendwen oder irgendwas übernehmen wollen. „Nein“, erwiderte Celsor nach einer bedächtigen Pause. Er lehnte sich zurück. Der Hauptmann bemerkte plötzlich das merkwürdige Zusammenspiel des Feuers, das im Kamin brannte, des Mannes, der in seiner Robe vor ihm auf dem Stuhl saß. Die Flammen um die Silhouette des Beraters schienen zu zittern, zu verblassen, als würde etwas… das Feuer ersticken wollen. Unheimlich, diese ganze Person war absolut unheimlich! „Sobald ihr mit Gilraen hierher zurückkehrt, werdet ihr ihn meiner Obhut übergeben. Ich regele danach alles Nötige.“ Eine Bitte, die Ansgar völlig aus dem Konzept brachte. Er sollte also all diese Tortouren auf sich nehmen, Sundergrads Retter spielen, er sollte den lange gesuchten Kopf der Diebesgilde zu packen bekommen und vor den Thron zerren, nur um… am Ende mit nichts in der Hand da zu stehen? Das erschien nicht gerade sonderlich fair, oder? Als er eben dies zur Sprache bringen wollte, bekräftigte Celsor noch einmal die Lage des Hauptmannes, ganz so, als hätte er diesem den inneren Widerstand angesehen: Er wies ihn abermals darauf hin, dass es zu ihm keine Alternative gegeben hätte und das somit er allein über den Preis des Gefallens bestimmen würde. Er schlug ihm, eher im Amüsement des Wissenden vor, dass er genauso gut zu einem späteren Zeitpunkt etwas anders würde fordern können. Eine Vorstellung, die den Hauptmann rasch zurückweichen ließ. Er wollte dieser Schlange nichts schuldig bleiben! Wer wusste schon, wann er wieder ankäme? Oder schlimmer noch, womit! Nein. Hier und jetzt wusste er, worauf er sich einließ… und tat den letzten Schritt, der notwendig war. Ein kleines Übel, gemessen am vorherigen Aufwand, und doch kostete auch dies Überwindung: Er reichte Celsor, der ihm die kränkliche Pfote entgegen streckte, die Hand. Seine Haut fühlte sich an wie dünnes, ausgetrocknetes Papier, das bei der kleinsten Regung reißen würde, darunter lagen rund geschliffene Knochen, kaum Fleisch, ein paar Sehnen und die Unebenheiten fühlten sich an wie Warzen, die jedoch weder da, noch sichtbar waren. Zudem war er kalt… so kalt, als wäre er gerade aus einem Wintersturm herein gepoltert. Ansgar war wahrhaftig froh, diese Hand wieder loslassen zu können und er erwischte sich dabei, aller besseren Manieren zum Trotz, seine Finger an der Hose abzustreifen als hätte er nun Dreck daran. Celsor… nun, er bemerkte es nicht - oder ignorierte es. Der Hauptmann war entlassen, das schien die sich ausbreitende Stille offenkundig zu machen. Und dann, einfach so, war er draußen. Er erhob sich, nickte nochmals, nahm das Fläschchen vom Tisch und verließ das Zimmer. Erst als er draußen die Tür ins Schloss zog, spürte er es. Eine Schwere, die von seinen Schultern kippte - obwohl er ahnte, dass der wirklich schwere Teil erst noch käme. Er schüttelte sich erschaudernd, all den Ekel und die Schauer hinter sich bringend, die er dort drinnen so lange im Zaum gehalten, unterdrückt und aufgestaut hatte. Ihm war kalt, seine Hände zitterten leicht und zumindest für den Moment freute er sich darauf, in die Wachstube zurückkehren zu dürfen. Dort angekommen, richtete er ein letztes Mal seine Unterlagen. Er übergab Reimund das Kommando über die Wache, instruierte ihn haargenau. Vor allem, was Ximasxi betraf. Als er die Stube verließ, für lange Zeit das letzte Mal wohl, warf er nochmals einen Blick auf das Weib. Sie starrte ihn an - was ungewöhnlich war. Sonst… hielt sie den Blick immer straff gesenkt, allen ausweichend. Er konnte noch immer nicht glauben, diesen ganzen Wust auf sich zu nehmen, um ihr… nun, quasi zu helfen. Er half sich selbst, das redete er sich immer wieder ein. Er wischte Wolfflin eins aus, indem er die Konkurrentin der Bellatoren wieder ins Spiel einbrachte und er beschützte sich vor dem Schafott. Er beschützte sogar seine Männer. Die eine Hälfte war kurz davor, sich in wilde Tiere zurück zu verwandeln und über dieses dumme Ding her zu fallen, die andere Hälfte hatte solch eine Angst und solch eine Abscheu gegen sie, dass sie sie schon töten würden, nur um ihres Anblickes endlich befreit zu sein. Diese Situation duldete keinen Aufschub und musste schnellstmöglich geklärt werden. Als er diesmal den Pfad vom Schloss in die Stadt beschritt, den Gestank der Leichen in der Nase und den Blick straff auf das Pflaster gerichtet, da nahm er sich vor, nochmals bei seiner Frau vorbei zu schauen. Nur kurz, er würde… er würde ihr lediglich einen Kuss geben. Sich ordentlich verabschieden. Ein paar kleine Erklärungen vielleicht? Nein, lieber nicht. Sie würde ihn wohl wahnsinnig vor Angst anketten wollen. Leise Schritte. Nein, nicht leise - lautlos. Völlige Geräuschlosigkeit herrschte in der Finsternis des Zimmers. Er wandte sich um, von der linken auf die rechte Seite. Ein leises Nuscheln lag auf den Lippen, ein Satz, vielleicht nur wenige Silben…? Merkwürdig verzerrten sie das Fleisch. Etwas, das sich ungewöhnlich zu sprechen ließ. Das Rascheln einer Decke, ein letzter Moment des Zögerns. Ein Ruck, Kälte, Hitze, Lenden auf den Seinen, eine heiser keuchende Stimme, Lippen, die die Seinen suchten. „Schöner kleiner Junge…“ Schweißgebadet schreckte seine königliche Majestät Phillipe der Dritte aus dem Schlaf. Den Dolch, dessen Klinge bis ins Mark vergiftet war, drohend in der Hand erhoben. Kein Feind. Es war kalt, weil er im Gewühl seiner Träume die Bettdecke von sich gestrampelt hatte. Und auch sie war nicht hier. Sie keuchte nicht leise in die Nacht hinein, sie gab ihm keine völlig unangemessenen Namen, sie… war nicht einmal nebenan. Er wusste es. Er hatte ihr Schicksal besiegelt. Mit wenigen, einfachen Worten. Aber seit dem Moment, seit ihre Blicke sich ein letztes Mal getroffen hatten… wurde er diese Träume nicht mehr los. Diese Momente, in denen er sich ihrer erinnerte. All die Stunden, die sie geteilt hatten, in Feuer, Metall, Geschrei und Blut, nichts davon hatte solch einen Eindruck hinterlassen wie die wenigen, verstohlenen Minuten in völliger Schwärze. Er wollte es so sehr. Mehr als alles andere: Er wollte es beim Namen nennen können. Er wollte wissen, was sie getan hatte. Nachdem er glaubte, das Warum geklärt zu wissen - was hatte sie mit ihm getan? Der gemeine Pöbel hätte sich prächtig darüber amüsiert und erwidert, sie hätte ihn geritten wie einen Hengst, doch… das war eben der niedere Abschaum, der für ihn zu kriechen und zu bluten hatte, wenn er es in seiner Göttlichkeit befahl. Nein, sie musste irgendetwas vollbracht haben. Ein Zauber vielleicht. Tieflinge konnten zaubern, oder nicht? Ja, das konnten sie. Er erinnerte sich daran, was Celsor ihm gesagt hatte, als sie erstmals in seine Gemächer gebracht wurde. Er solle sich hüten, Tieflinge wären meisterhaft darin, Illusionen zu beschwören. Geräusche, Gerüche, Trugbilder. Aber in dieser Aufzählung… fanden sich keine Gefühle. Konnte sie das? Konnte sie ihm vorspielen, ihm mittels Magie einpflanzen, irgendetwas gefühlt zu haben, was nie da gewesen war? Er hatte schon erwogen, einen Brief an die Zirkel zu schreiben. Aber er… er war ein Gott! Er war der König dieses Landes und der Gott der hier lebenden Völker, sie beteten ihn an, weil er ihre Leben sonst in Blut und Flammen ertränkte - es gebührte sich eines Gottkönigs nicht, bittend und bettelnd Briefchen an Leute zu schreiben, die er um Hilfe und Rat in einer so lächerlichen Angelegenheit ersuchte. Was aber nur hatte sie mit ihm getan…? Auch dieses Mal endete die Nacht so früh wie abrupt. Er fand keine Ruhe mehr. Schon sich wieder nieder zu legen, ließ die Erinnerungen aufquellen wie unliebsame Dämonen. Ihr Geruch, das Gefühl ihrer merkwürdig gespaltenen Zunge an der Seinen, das gelbe Blitzen ihrer Augen in der Nacht… Ein schweres Seufzen drang, ganz unmanierlich, aus der Kehle des selbsternannten Gottkönigs. „Ximasxi“, hauchte er leise in das noch immer dunkle Zimmer. Niemand antwortete. Niemand kam herbei. Natürlich nicht. So oft schon hatte er ihren Namen, wissentlich oder unwissentlich, in den Schlaf hinein genuschelt. Ein merkwürdiger Name. Natternzunge, so hatte man ihm gesagt, nannte man sie andernorts. Er hatte versucht, sich über sie kundig zu machen. Irgendetwas zu erfahren. Vielleicht, so hatte er sich eingeredet, würde er einen Weg finden, ihren hinterhältigen Zauber rückgängig zu machen. Aber es war… schwer, an Details zu kommen. Ximasxi war nie ein Freund der Menschen gewesen, wer konnte es ihr schon verdenken. Es fand sich nichts. Und niemand. Sie war ein Geist für die Gesellschaft Lumiéls. So viele kannten ihr wahres Gesicht… wie es Personen gab, die das Seine kannten. Eine schmerzliche Gemeinsamkeit, die ihm ebenso wenig Ruhe ließ. Als er diesmal seine Gemächer verließ, waren die Bellatoren, die vor der Tür Wache hielten, nicht überrascht. Sie folgten im stillschweigend, lange vor Morgengrauen, zurück in den Thronsaal. Die Staatsgeschäfte wären bis zum Mittag erledigt. Ab da gäbe es wieder viel zu viel Zeit und jeder in der großen Halle schien sich von Phillipes Langeweile und Verdruss anstecken zu lassen, sodass die Stunden sich schrecklich zäh in die Länge dehnten. „Lasst mich!“ keifte die kleine Dämonenbrut in einer Mischung aus verärgertem Befehl und panischem Gebettel. Sie versuchte zu fliehen - in eine andere Raumecke, was ihrem Schicksal nur kurzen Aufschub gegeben hätte, doch langsam wurde es den zwei Männern zu bunt mit ihr. Man bekam sie am Knöchel zu packen, riss ihr abrupt das Bein fort und brachte sie zu Fall. Der zweite Wächter trat zu. Nicht irgendwo hin, nein. Erst gegen den Magen, das sie sich aufkeuchend zusammen krümmte, dann gegen den Kopf. Sie würde so schnell nicht wieder aufstehen, das war sicher! Und ihr Gezeter und Gebrüll würde sie auch erstmal sein lassen. „Bitte, bitte lass das!“ bettelte hinter ihnen Sebastian. Der Grünschnabel konnte sich nicht einmal recht bewegen und versuchte auch gar nicht mehr, gegen den Widerstand anzukommen. Der dritte Wächter hielt ihn mit beiden, viel stärkeren Armen an die Mauer gedrückt, „Der Hauptmann wird davon erfahren und-“ hob der Jungspund an und zog verärgerte Blicke auf sich. „Das wird er nur, wenn jemand das Maul aufreißt! Und wer immer das täte, dem bekäme es nicht gut!“ drohte ihm der Wächter, welcher ihn soeben fest an das Mauerwerk gedrückt hielt. Indes wurde er unweigerlich und allem voran unfreiwillig Zeuge, wie einer der Männer die Schenkel des Tieflings auseinander presste. Noch jetzt, völlig benommen von den Tritten, desorientiert und der Ohnmacht nahe, bemühte sie sich Widerstand zu leisten, ließ ihn jedoch fahren, als ein neuerlicher Schlag sie ins Gesicht traf. Ob sie ohnmächtig war, spielte keine Rolle. Die Zwei interessierte das nicht. Nur Sebastian bekam mit, wie die gelben Augen ihn anblickten. Fast zu Schlitzen verkommen, das Unausweichliche erwartend. „Diese Brut wurde zur Hure gemacht, also soll sie ihren Dienst leisten!“ grölte einer der Männer, eifrig beschäftigt, sich der Beinkleider zum nötigen Teil zu entledigen. Der Zweite war schneller und entriss Ximasxis Kehle ein hilfloses Gurgeln, als er sich ihrer bemächtigte. Sebastian schloss die Augen, versuchte, alles zu vergessen, auszublenden, versuchte zu ignorieren, was jene, die er bei seinem Eintritt noch stolz strahlend als Kameraden betrachtete, diesem Mädchen nun antaten. Doch noch bevor es für die einstmalige Diebin noch schlimmer werden konnte, öffnete sich die Tür. „Guten Abend die Herrschaften“, erklang eine so schauderhafte Stimme, das alle inne hielten. Der dritte Wächter wich von jenem Grünschnabel zurück, die zwei anderen jedoch ließen nicht von dem Tiefling ab. Noch nicht. „M-Mein H-Herr?“ erkundigte sich Sebastian, während Celsor in die Wachstube eintrat. Dieser jedoch strafte den jungen Burschen mit völliger Missachtung und Ignoranz, sah sich lediglich um, als würde er sich einzig für die Anzahl der Tische und den Zustand der Stühle interessieren. „Die drei Herrschaften melden sich bitte morgen früh bei Herrn Rotdorff“, verkündete die kränkliche Gestalt leise. Unverständnis schwang in den Blicken der Männer mit, bis einer seine Hose wieder schloss und nach dem Grund fragte. „Zu den Disziplinarmaßnahmen natürlich, die für den Verstoß gegen den Befehl eures Vorgesetzten fällig werden. Zwanzig Peitschenhiebe sollten genügen, denke ich“, erörterte Celsor in völliger Ruhe - während die drei Wächter kreidebleich wurden. Sie kannten die Bellatoren, ihre geradezu unmenschliche Disziplin und auch, woher diese rührte. Wolfflin Rotdorff, so hieß es in der Wache, würde die Peitsche schwingen und einem das Fleisch von den Knochen schälen können, wenn ihm der Sinn danach stand. Zwanzig Hiebe, danach wären sie eine Woche nicht dienstfähig - und wer seinen Dienst aufgrund eigenen Verschuldens nicht antrat, wurde auch nicht bezahlt. „Das ist zu viel!“ erhob der Wächter barsch die Stimme. Wie übel ihm bekommen würde, sich im Ton vergriffen zu haben, bemerkte er erst, als unter ihm jemand zu würgen begann. Ximasxi wäre beinahe erstickt, hätte er sich nicht in letzter Sekunde der Umstände erinnert. Celsor dagegen betrachtete das Tieflingsweib einen Moment, den Kopf merkwürdig schief gelegt. „Ein Anschlag auf ihr Leben… und da hieß es doch, sie solle nicht sterben, nicht wahr? Ihr habt Recht, dreißig ist zu wenig. Sagen wir… vierzig.“ Allen war klar, was dies zu bedeuten hatte. Zwei von ihnen würden morgen früh zwanzig Hiebe aus der Hand des Anführers der Bellatoren erhalten. Sie würden eine Woche ohne Lohn und mit Schmerzen leben müssen… der Dritte aber würde morgen den Platz nicht lebend verlassen. Ganz gleich, wen man die Peitsche schwingen ließ - sie alle kannten das ‚Modell‘, welches für die Disziplinarmaßnahmen verwendet wurde. Dreißig Schläge überlebten nur die Härtesten. Vierzig… niemand. Danach sah ein Rücken aus wie ein Klumpen Hackfleisch. Doch keiner wagte noch weitere Widerworte zu erheben. Sebastian, der noch nie Zeuge solcher Maßnahmen geworden war oder selbst welche hatte erdulden müssen, wusste mit der plötzlich betretenen Stimmung nichts anzufangen - die erfahreneren Wächter dagegen schluckten schwer, nickten folgsam und wagten nicht, noch einmal das Wort zu erheben oder Celsor auch nur in die Augen zu blicken. Nicht nur, weil sein Anblick wahrlich kein Wünschenswerter war. Sie wussten, dass er hier ohne Mühe schalten und walten - und Lebenslichter löschen - konnte, wie immer es ihm beliebte. Als Berater des Königs stand ihm das und noch manch anderes zu. Ximasxi dagegen zog sich kriechend in die Ecke zurück. Die Burgschlange versicherte, die Ersatzwache sei bald zugegen, ehe er abtrat. Sebastian verblieb allein mit dem Tiefling und obwohl er Angst vor ihr hatte - auch er hatte all die Geschichten gehört, über Tieflinge, über Illusionsmagie, über Attentäter und Assassinen -, wagte er sich doch näher an sie heran. Sie rollte sich in der Ecke zusammen, sah nicht zu ihm auf, wurde noch ein Stück kleiner, als er vor ihr stehen blieb und in die Hocke ging. „Geht… es euch…“ hob der Bursche an, wurde sich dann jedoch bewusst, wie töricht diese Frage wäre. Also hielt er ihr lediglich den Krug mit Wasser hin, den er auf seinem Weg von der Wand zu ihr von einem der Tische fortgezogen hatte, „Wasser?“ Mit zerschundenen, zitternden Händen griff sie danach, blickte auf den Krug, sah dann, kurz die Hand zurückziehend, zu ihm auf. Nicht nur einmal hatte man sie hinters Licht geführt. Ihr Essen versprochen und grausame Scherze mit ihr getrieben, es ihr dann doch vor zu enthalten. Doch er streckte ihr den Krug entgegen, überließ ihn in ihren Fingern und mit gierigen Bewegungen trank sie daraus, nur um das Wasser kurz darauf auf den Boden zu spucken. Nichts in dieser Welt würde ihr so schnell helfen, diesen Geschmack aus der Kehle zu bekommen, doch… das war zumindest ein Anfang. „Ich bin Sebastian“, versuchte er sich daran, ein Gespräch zu initiieren. Die einzige Antwort aber, die er bekam, war ein kurzer Blick, den er unmöglich deuten konnte und eine Silbe, die er erst nach ein paar Sekunden als ein raues „geh“ erkennen konnte. Etwas enttäuscht, wohl aber einsichtig, nickte er und erhob sich wieder. Wie viele Tage sie schon hier unten war, konnte sie selbst nicht mehr sagen. Sie hatte schon viel zu lange kein Tageslicht mehr gesehen, keine echte Nacht. Überall nur Stein, Kerzen, Schichtwechsel. Sie hatte eine Weile versucht, es zu zählen, aber irgendwann war es bedeutungslos geworden. Wie so viele Dinge. Regen, Dreck, Schlamm. Dazu noch die Kälte der Nacht, pfeifende Winde, die überall ein Knacken und Krachen hervorriefen. Man mochte fast meinen, die Schindeln der von Jahr zu Jahr schiefer werdenden Hausdächer mochten herab rieseln und einen in einem Tonhagel erschlagen. Ansgar Khorgir erinnerte sich noch gut der einen Nacht, als er von seiner Majestät auf die nächtlichen Straßen La Coeurs gesendet worden war, um dieses kleine Tieflingsmiststück zu finden. Er erinnerte sich an die Hetzjagd mit den anschlagenden Hunden, an das verdächtige alte Lagerhaus, an die flüchtenden Schemen oben am Fenster und wie widerstandslos Ximasxi sich hatte gefangen nehmen lassen. All das lag nun schon einige Tage zurück, Wochen gar. Aber wieder war es eine solche Nacht und er erhob sich. Der Rücken war steif, der Hintern schmerzte von der verdammten Holzbank des Bockes. Vorsichtig ließ er sich von dem Planwagen herab, wies sich dem Torwächter gegenüber aus. „Willkommen zurück, Hauptmann!“ bekräftigte die Stimme des Wächters, der ihm den Gruß entbot. Daheim. Endlich daheim. Kein verdammter Wüstensand mehr im Stiefel, keine brennende Sonne, die einem das Gefühl gab, das Hirn im eigenen Saft zu schmoren. Keine merkwürdigen Kreaturen und angriffslustigen Gesellen mehr, keine Verräter und Irreführungen und vor allem: Kein verdammtes Piratenpack mehr. Noch nie war er so froh darüber gewesen, das La Coeur auf der Insel zwischen zwei Flüssen lag. Flüsse… keine Seen, keine Meere, nichts, was die Errichtung eines Hafens zulassen würde. Zuerst würde er nach Hause gehen. Sein Weib in den Arm nehmen. Vielleicht… doch erst ein Bad nehmen. Das war auch dringend nötig. Seine Kleider standen vor Dreck und Blut. Und Sand. Seit Tagen waren sie zurück im Grünland und noch immer fand er schier überall diesen verdammten Sand. Doch er wurde sich seiner Pflichten schmerzlich rasch bewusst, nämlich in dem Moment, als der kleine Zug aus drei Planwagen an einer Kreuzung angelangte. Nach Hause… dann müsste er links entlang. Zum Schloss ging es rechts entlang. Celsor erwartete ihn zweifellos bereits. Dieser Bastard von einem verlogenen Hurensohn, er hätte… er würde… nun gut. Er würde gar nichts. Außer seine Pflicht tun und nie, nie, nie nie wieder irgendwen um einen Gefallen bitten. Ein guter Vorsatz. Anders als jene, die man sich häufiger mal vornahm, aber nie konsequent verfolgte, wäre dieser eben jene Mühen doch wahrlich mal wert. Vielleicht sollte er sich ein Schild damit schreinern lassen und es in seinem Zimmer über die Tür hängen. Wenn er das nächste Mal vor hatte, seinen Schreibtisch zu verlassen, um irgendwen um irgendwas zu bitten, würde er zur Tür treten, sie aufziehen und auf dem Weg dorthin bereits das Schild lesen müssen. Dann würde er sich erinnern und vielleicht… ja, möglicherweise würde er dann einfach umdrehen, die Tür zu lassen, sich setzen und den Dingen verdammt nochmal ihren Gang lassen. Ansgar glaubte sich in einem Traum gefangen. Alles kam ihm so fern vor. Vertraut, aber fern. Wie aus einem früheren Leben. Er führte die Wagen die Straße nach rechts. Zum Schloss herauf. Dort angekommen, ließ er abladen. Alles ging geregelt vonstatten, wie er das immer schon mochte. Er hatte die Männer gut instruiert. Morgen würde er Panaver Urthada für den Posten eines Hauptmannes vorschlagen müssen. Hauptmann von… Sundergrad. Sobald die Stadt wieder ihnen gehörte. Er tat es nicht gern. Wenn man Ansgar fragte, war dieser Urthada ein krankes Schwein, keinen Deut besser als Phillipe in seinen Stunden im Spielzimmer. Aber der Mann wusste, wie man Ergebnisse erzielte. Ungeachtet aller Mittel oder Verluste. Er lieferte Aedan Gilraen im Zimmer Celsors ab und sollte kurz draußen warten. ‚Kurz‘ dehnte sich auf drei Stunden aus, ein anderer Mann kam. Jemand in einer schwarzen Robe. Er betrat, Ansgar ignorierend, das Zimmer des königlichen Beraters. Der Hauptmann sagte nichts. Nicht einmal dazu, dass er dieses Gesicht nie zuvor gesehen hatte. Als die drei Stunden um waren und die Nacht sich bereits wieder dem Tage neigte, trat Gilraen hervor. Er wirkte ernst, war schweigsam. Er ging. Einfach so. Frei von allen Fesseln und Ketten. Hauptmann Khorgir verstand nicht, was hier eigentlich vor sich ging. Nur weniger Dinge war er sich wirklich im Klaren: Er hatte ihn gefunden, gefangen, hergebracht. Und jetzt ging er. Als freier Mann. Zurück nach Sundergrad, zweifellos. Was er auch wusste war, dass in diesem Raum drei Männer sein sollten. Als die Tür sich aber öffnete, Gilraen verschwunden war und Celsor zu ihm heraus trat… da war der Raum leer. Er nahm all das hin. Er hatte in den letzten Tagen mehr gesehen, als er je erwartet hätte. Mehr, als er je hatte sehen wollen. Es war genug. Was hier an Merkwürdigkeiten vor sich ging - er wollte es auch wirklich gar nicht wissen! Ein Bad, ein Bett, eine Umarmung seiner Frau. Irgendwann vielleicht endlich ein kleiner Spross, dessen Lachen ihn von diesen Tagen und Erinnerungen ablenken könnte. Und die Wachstube. Leer, frei von merkwürdigen Tieflingen. Das war alles, was er im Moment noch wollte. Celsor sprach ihm Dank aus. Oder so etwas ähnliches vielleicht. Er sagte ihm, dass nun alles geklärt wäre. War es das also? Zweifellos nicht. Aber seine Beteiligung hörte hier auf - das verstand Ansgar. Und er war froh darüber. Ohne ein weiteres Wort, ohne Dank, ohne Verabschiedung, trat er ab. Heimwärts, durch die verregnete Nacht. Erst das Bad, dann das Bett. Gegenüber seiner göttlichen Majestät Phillipe dem Dritten von Lumiél wurden neue Beweise vorgetragen. Die Last derer war schier erdrückend. Aedan Gilraen, Kopf der Diebesgilde in Sundergrad, hatte sich persönlich auf die Suche nach seiner besten Quelle und Untergebenen gemacht. Natürlich war er nicht allein gewesen, aber er steckte hinter allem. Er hatte Ximasxi aufgespürt und zu erpressen versucht, kaum dass er ihre neue Position durchschaut hatte. Zugang zur königlichen Schatzkammer - was konnte man sich mehr versprechen? Was konnte ein Dieb mehr wünschen? Zugang, der ihm verwehrt worden war. Er hatte es mit Schmeichelei versucht, er hatte gedroht, er hatte sie erpressen wollen. Alles umsonst, alles Fehlschläge. Ximasxi hatte ihm nichts gegeben. Keinen Schlüssel, keine Informationen, gar nichts. Aber als die Wache vor der Tür stand, half sie ihm, zu fliehen. Weshalb? Weil selbst eine dreckige kleine Tieflingshure wusste, was Loyalität bedeutete. Ein früherer Arbeitgeber, jemand, der sie geformt hatte, ihre Fähigkeiten, jemand, der aus ihr gemacht hatte, was sie nun war. Sein Verschwinden hätte zudem die Gilde aufgebracht, vielleicht ganz Sundergrad aufgewühlt. Dem König wäre rasch mehr abhandengekommen als nur ein Tiefling. Zum Schutze aller, nicht wahr? Etwas in der Richtung musste es gewesen sein. Es war die perfekte Mischung aus konkreten, mit Beweisen unterlegten Fakten und schwammigen, diffusen Vermutungen. Niemand konnte in den Kopf des Tieflings schauen und so redselig, wie sie war, konnte auch das niemand herausfinden. Was war wahr, was nicht? Es spielte nach diesem Treffen keine Rolle mehr. Es hatte sich nie um einen Fluchtversuch gehandelt, nie um einen Freier oder einen Nebenbuhler. Erpressung, Entführung, beides fehlgeschlagen. Die Flucht? Ein grässliches Missverständnis. Wie hätte sie jenen ins offene Messer laufen lassen können, dem sie verdankte, wo sie nun war? Erst die Fähigkeiten, die die Gilde ihr gelehrt hatte, hatten sie für seine Majestät so nützlich gemacht. Schuldenerlass. Es gab Geständnisse, es gab Verträge, es gab Informationen noch und nöcher, aber all das interessierte Phillipe nicht, als er die Weisung aussprach, man möge sie herrichten und in ihr Gemach zurück bringen. Celsor war es, der in die Wachstube schritt und den Wächtern befahl, sie mögen einen Moment draußen warten. Die gebeugte, kränklich-bleiche Gestalt hockte sich vor das zusammengekrümmte Bündel. Kalte, ausgemergelte Finger strichen über die Wange des Tieflings, der zusammen zuckte. „Der Nachtvater hat deine Gebete erhört, mein Kind. Du darfst zu ihm zurückkehren“, hauchte die Stimme, die alle als grässlich und unerträglich befanden. Ximasxi jedoch… glaubte nicht, was sie hörte. Diese Person aber erhob sich, ihrer Skepsis ungeachtet. Befehle wurden ausgegeben. Hauptmann Khorgir selbst brachte sie zum Heiler, der sie herrichtete und von dort in den zweiten Stock. Lange war sie hier nicht mehr gewesen, doch als sie in einen Gang einbogen, der letzte vor ihrem Ziel, stoppte er. Er packte ihren Oberarm, rauer als nötig, drückte sie gegen die Wand des Ganges. „Hör‘ mir gut zu“, fing er wenig zu Späßen und Höflichkeiten aufgelegt an, „Um das hier so zu drehen, musste viel unternommen werden. Ich musste dafür viel unternehmen. Also tu‘ mir - uns - einfach einen Gefallen. Halt dein Maul und mach keine Dummheiten mehr, kapiert? Ich will sowas nicht nochmal erleben müssen.“ Wenige Worte. Hart, aber aufrecht. Er hatte bluten und mehr als nur ein paar Nerven lassen müssen, um sie aus seiner Wachstube heraus zu bekommen. Hier nun war er, schloss die Tür auf und gab sie frei. Kaum die Pforte geschlossen, kaum, dass das Weib unsicher in dem Quartier stand, welches einstmals das Ihre gewesen, trat er aus dem Seiteneingang hervor. Phillipe, wie sie ihn nur ein einziges Mal gesehen hatte. Bar aller Schminke, gesprenkelt von Sommersprossen in seinem Gesicht, ohne die goldenen Löckchen seiner Perücke. Seinen vergifteten Dolch warf er auf das Bett. „Ich verstehe es nicht“, hob er leise an. Nein, noch immer begriff er nicht, was sie getan hatte, „Nimm, wenn du willst.“ Das erste Mal, das er ihr eine Entscheidung übertrug. Eine Gefährlichere, als es sie nicht hätte geben können. Sekunden aber nur vergingen, da sie versteinert ihm gegenüber stand, ehe sie voran stürzte, herbei eilte. Auf den Knien kam sie auf, blickte zu ihm empor, die Wange gegen seine Hand geschmiegt, die gelben Augen so vertraut, aus unzähligen Träumen, Abbilder des immer gleichen Erlebnisses. „Willkommen.“ Der Abend brach an. Die Sonne sank im Westen. Viel war geschehen, viel Zeit verstrichen. Es gab einiges aufzuholen… Kapitel 13: Der Dolch im Rücken ------------------------------- Es brauchte nicht mehr als einen Blick über die Schulter. Die Wolken hingen am Berg wie sich die Ertrinkenden an die einzelnen Planken ihres von einer wütend tobenden See zertrümmerten Schiffes klammern würden. Als wollten sie die Spitze nie wieder loslassen aus Furcht, sie könnten sich in die Bedeutungslosigkeit auflösen. Manche waren weiß wie der Schnee, der die Hänge und Vorsprünge pflasterte. An jenen Stellen schienen Himmel und Erde zu verschmelzen, eine Einladung auszusprechen, den Göttern näher zu kommen als es je ein sterbliches Wesen war. An anderer Stelle waren die Fetzen um den Gipfel herum dunkel, fast schwarz. Bedrohlich mahnten sie, dass niemand den Pfad wagen sollte, den sie nicht einfach nur erprobt, sondern überstanden hatten. Als Erste von Hunderten, die dieses Unterfangen wagten, hatten sie die Gletscherkrone bezwungen. Unterhalb der Wolkendecke waren selbst jetzt noch die Ansätze und niedersten Ausläufer der Feste zu sehen, die dort oben thronte. Es schmerzte Alandor, hinauf zu blicken und die unnatürlich regelmäßigen Konturen von Mauern, Türmen und Toren zu erblicken. Seit sie abgereist waren, verhielt sich nichts mehr wie zuvor. So vieles hatte sich geändert. Zudem kamen sie nur grässlich langsam voran. Das war nicht unbedingt nur auf Schnee, Eis und aufkommende Winde zurückzuführen, nein. Für sie alle war der Abstieg von dort oben zu einem zweischneidigen Schwert geworden. Oder zumindest für die Meisten. Blitze und Peter freuten sich natürlich und fieberten dem erhofften Abschied entgegen. Endlich würde er seine Vivica auch ganz für sich haben und sie nicht mehr teilen müssen. Er würde sie umsorgen, ihr Sundergrad zeigen und ihr irgendwann einen Antrag machen. Und später, so malte ihm seine einfältige Fantasie aus, würden sie ein Dutzend kleiner Bälger haben, alle rothaarig und mit ihren grünen Augen, die mit den unzähligen Welpen Blitzes herum tollen konnten. Was für ein Leben! Der Rest konnte sich nicht so ungetrübt freuen. Für Alandor bedeutete die Rückkehr ins Grünland, einen der mächtigsten bekannten arkanen Schätze der Welt zurückzulassen. In den Händen einer Geistgestalt, eines verstorbenen und von seinem eigenen, unheiligen Pakt betrogenen und gebundenen Königs. Er verwahrte nun, vielleicht bis zum Ende der Zeit, das Liber Veritatis. Das mächtigste Buch dieser Welt mit unzähligen Wahrheitszaubern, mit mächtiger Magie der Hellseherei und Elementen der Geistsphäre… und natürlich, einer der letzten großen Wahrheiten. Er konnte Vivicas Entscheidung, das Buch dort zu lassen und ausgerechnet dieser tragischen Gestalt zu übergeben, keinesfalls verstehen. So viel Macht, so viel Wissen… verschenkt. Doch er bemühte sich darum, ihre Wahl zumindest zu respektieren. Hätte er das Werk gefunden, hätte er es in eigenen Händen gehalten, diese ganze Sache wäre völlig anders ausgegangen - doch dem war eben nicht so. Sie allein war darauf gestoßen. Gleichwohl, wie das Buch ihn zurückzurufen schien, trieb seine Suche ihn voran. Duncan hatte ihn betrogen, belogen, an der Nase herumgeführt. Die letzten Worte des Drakoidenschamanen, bevor er Vivicas Frostmagie erlag, bezeugten das Marionettenspiel, welches er mit seiner angeblichen Reisegesellschaft betrieb. Er hatte seine Spielchen mit ihm getrieben. Wie lange schon? Seit Monaten? Jahren? Schon von Anbeginn ihrer gemeinsamen Reise an? Wozu sollte das alles dienen? Die Hinweise, die sie in der Gletscherkronenfeste gefunden hatten, waren dünn. Rare Fetzen in meist hastig zerstörten Werken, doch sie genügten, sein nächstes Ziel kenntlich zu machen. Der Wunsch, ihn zu verfolgen, ihn ein weiteres Mal einzuholen, ihm weitere Fragen zu stellen, war unbeugsam. Zur Not würde er ihn aufhalten, ihm alle Pläne zu ruinieren versuchen, nur um seine Antworten zu bekommen. Doch ins Grünland zurückzukehren hieß auch, dass der Abschied von Vivica nahte. Vivica, die Firnhexe. Adamant hatte schon eine ganze Weile gewusst, worauf er sich eingelassen hatte und mehr als einmal hatte er sogar von ihren Fähigkeiten profitieren können. Für den Rest der Gruppe war es ein Schlag ins Gesicht gewesen, als sie an der Feste in Kämpfe verwickelt wurden und das unscheinbare, rothaarige Bauernmädchen plötzlich begann, sich mit Frostmagie zu verteidigen. Seither war Alandor verstimmt - und das schmeichelte noch der tatsächlichen Lage. Wann immer sie miteinander sprachen, kam es fast unweigerlich zu Streit. Er bemühte sich wieder und wieder darum, sie zum Zirkel zu drängen, zu überreden, zu rekrutieren. Sie musste einfach, ihr blieb keine Wahl. Denn wenn sie sich gegen den Zirkel entschied, dann würde er sich, ob nun gewollt oder nicht, gegen sie entscheiden müssen. Beatrix war ein Risiko gewesen, aber die Hexe war erfahren genug, klug zu handeln. Vivica dagegen war quasi noch ein naseweises Kind, naiv, einfältig, weltfremd! So hatte er sie aus Zorn zu sehen begonnen, als sie erstmals darüber stritten, warum sie nicht zum Zirkel zu gehen wünschte. Seine Mahnung aber, er würde sie an die Ordensjäger verraten müssen, um sein eigenes Risiko zu minimieren, blieb ungehört. Konsequenzlos. Suzuri und Badai hatten beide auf ihre Weise die ständig wiederkehrenden Streitigkeiten verfolgt. Der einarmige Bettler sah in alledem unnötige Spannungen, die die Gruppe zerreißen würden - und das eher früher als später. Lediglich Suzuri ließ sich nicht in die Karten schauen… sofern sie welche hatte. Niemand traute ihr recht zu, die Folgen solcher Dispute absehen zu können, niemand glaubte, dass ihr bewusst war, wohin das alles führen könnte. Möglicherweise hatte eben darin der Fehler gelegen…   Es war die erste Nacht, die sie nach einer mehr als beschwerlichen Reise wieder in einem Gästehaus zubringen konnten. Eine warme Mahlzeit, ein prasselndes Feuer im Kamin, hölzerne Stühle und vor allem: Betten. Egal, ob sie hart waren oder nicht, es waren Betten. Keiner von ihnen konnte behaupten, dass der steinige Untergrund ihnen nicht allmählich zu viel wurde. Selbst Adamant hatte irgendwann den Gestank Blitzes nicht mehr ertragen können und auf seinen Getreuen als Kopfkissen verzichtet. Nun also hatten sie wieder Zimmer mit Türen, die man abschließen und einander so wunderbar ausgrenzen konnte. Die Anspannungen waren in den letzten Tagen ein klein wenig abgeflaut und zumindest die Beteiligten wagten wider besseren Wissens auf eine Entspannung der Konfliktsituation zu hoffen. Vielleicht gab es ja ein Einsehen auf der anderen Seite? Ein Umdenken? Endlich eine Einigung und sei sie auch nur ein Kompromiss! Das Nest war kleiner als Lairuinen und noch weit unbedeutender. Die Hütten lagen nicht beisammen, wie man es von einem Dorf hätte erwarten müssen, sondern weit auseinander. Teilweise musste man von einem Ende zum anderen ein paar Meilen durch Schnee stapfen und einige dutzend Höhenmeter überwinden. Sie hatten bei Sonnenuntergang die ersten Hütten erreicht und dennoch bis Einbruch der Nacht benötigt, um das Gästehaus zu finden. Da nahezu jeder Bau gleichermaßen großzügig bemessen war, hatte sich das als wahres Rätselraten herausgestellt und vier Mal hatten sie an die falsche Tür geklopft. Das Abendmahl hatten sie zu solch später Stunde nur noch dem Gutwillen des Gastwirtes zu verdanken. Gäste kamen nicht oft und so war er auf jede zusätzliche Münze angewiesen - und sei sie nur in Trinkgeld begründet, das ihm aufgrund solcher Sonderleistungen zuteilwurde. Zumindest spekulierte er darauf und verhielt sich entsprechend wohlgefällig. Für die Gruppe als Ganzes war es wohl bezeichnend, eine Charakterisierung ihrer Lage, dass sie das Essen nicht am gleichen Tisch einnahmen, obwohl es durchaus eine Tafel gegeben hätte, die lang und breit genug dafür gewesen wäre. Stattdessen saßen sie an drei Tischen. Vivica und Peter, Alandor und Suzuri, Badai… und Blitze. Wie im Norden üblich, setzte man ihnen schwere Mahlzeiten vor. Viel Fleisch, derbe Soßen und dazu eine Portion Gemüse, das hartgesotten genug war, hier draußen wachsen und überleben zu können. Alles in allem war die Portion geradezu unverschämt groß und entsprach wohl eher dem Bedarf, den Vorlieben und dem Magen der hiesigen Einwohner. Entsprechend blieb nicht nur ein Teller leicht befüllt und ein jeder fand eigene Worte, sein Wohlgefallen für das Essen auszudrücken und zugleich zu erklären, warum der Teller dann eben nicht leer war. Grünländer!, war meist die zumindest gedankliche Reaktion des Wirtes, während er abräumte und seine Gästeschar sich in ihre Zimmer zurückzog. Herzliche Abschiede suchte man vergebens. Nur Vivica und Alandor fühlten sich, wohl aus anerzogener Höflichkeit heraus, zu einem „Gute Nacht!“ genötigt, ehe sie in ihre Gemächer verschwanden und die Pforten hinter sich zu drückten. Bemessen an der Erschöpfung, die ihnen allen durch das widrige Gelände und die ständigen Wetterumschwünge zuteil geworden war, fielen sie recht schnell in Schlaf. Einige Stunden verstrichen und die Morgendämmerung nahte, als der Bannmagier langsam in höhere Schichten des Bewusstseins und -werdens empor gezogen wurde. Noch im Nachhall seines Schlafes, schlossen sich seine Finger. Ein leises Wimmern ertönte daraufhin und ließ ihn träge blinzelnd die Lider heben. Im Dunkel des Raumes konnte er kaum etwas erkennen, spürte jedoch, dass das, was er in der Hand hielt, gewiss nicht die Bettdecke war. Er bemühte sich, sein Gedächtnis wach zu rütteln und erinnerte sich an Suzuri, die sich in gewohnter Weise an ihn gedrängt hatte und erst zur rechten Ruhe fand, als sein Arm um ihre Taille lag. Doch obgleich die Haut unter seiner Hand weich genug dafür war, ihr Bauch war das sicherlich nicht. Die Erkenntnis, die Hand um ihre Brust geschlossen zu halten, traf ihn wie ein Schlag - zeitgleich mit der Einsicht, dass das Phönixkind nicht so tief schlief, wie er glaubte. Genau genommen, war sie weitaus wacher als ihr Bettgeselle, an dessen Schritt sie sich kurz darauf zu schaffen machte. „Suzuri… was soll das denn?“ hob Alandor mit einem rauen Krächzen an und räusperte sich kurz darauf. Er war noch immer nicht recht wach, da beschleunigte sein Herz bereits in unangenehme Takte hinauf und presste das Blut stetig herab. Die Antwort seiner Begleiterin war wenig überraschend. Sie erklärte ihm mit leisem Flüstern, dass es sich ‚gut‘ anfühle. Nun, das war wirklich nichts Neues. Er hatte schon zuvor erlebt, dass sie sich über jede Form von Zuwendung zu freuen schien. Dabei war es offenbar sogar fast egal, von wem diese eigentlich stammte. Sie hatte freundliche Worte Vivicas, so rar diese auch waren, stets mit einem breiten Lächeln aufgefasst, Lob von Adamant immer mit tausend Dank überschüttet und ihn… nun, ihm war sie näher gekommen als jedem anderen, doch der Bannmagier hatte immer diese Grenze zu wahren gewusst, die sie nun zu überschreiten gewillt war. Phönixkinder gab es nur aus einem Grund. Die Vermehrung dieser Tiere war auf ein Stadium angewiesen, in dem sie nicht einander, ihren Untergrund oder ihre zukünftige Brut zu Asche brannten. Wussten die Götter, wie es dazu gekommen war, dass sie ausgerechnet die menschliche Gestalt annahmen. Vielleicht, weil sie gewissermaßen eine Schnittmenge aller Völker bar ihrer individuellen Charakteristika darstellte. Möglicherweise sollte das ihre Chancen erhöhen, Nachwuchs zu zeugen. Doch das war ihr einziger Sinn und Zweck, der einzige Grund, Mensch zu werden: Nachwuchs. Er hatte sich ihren Annäherungsversuchen nicht zu entziehen versucht, sie jedoch auch nicht wesentlich darin bestärkt. Nur eine Grenze hatte er immer gezogen. Die Gründe waren simpel. Es gab keine Referenz darüber, ob es Auswirkungen hatte, wenn das Kind eines Phönix von einem Magier stammte. Oder was dann geschah, sofern es Konsequenzen hätte. Welcher Natur wären die? Ein zu großes Risiko, wie er befand. Außerdem war da die Tatsache, dass… er Vivica nicht Recht geben wollte. Sie bezeichnete Suzuri gern und wiederholt als ein liederliches Weib. Meist wagte sie nur im Streit zu solchen dennoch eher milden Ausdrücken zu greifen und warf ihm dann vor, er würde nicht sehen, was sie tat und beabsichtigte. Dabei waren sich die Meisten der Gruppe, sogar Vivica selbst, wenn sie nicht in Rage war, relativ sicher darüber, dass Suzuri so rein gar nichts beabsichtigte oder plante. Der dritte, wesentliche Faktor war Zeit. Er war gewillt, Duncan einzuholen. Ob nun mit oder ohne Vivica, Peter und Badai, er würde ihn einholen! Das Letzte, was er da gebrauchen konnte, war ein Kind am Hals. Denn würde Suzuri erst einmal schwanger werden, wie ihr biologischer Imperativ es ihr strikt befahl, dann könnte er sie wohl kaum einfach zurücklassen oder so sehr zu Stress und Eile drängen. Was dann in ihr wuchs, war zumindest zu einem Teil auch sein Fleisch und Blut. Ein Mädchen, das wachsen würde, seiner Mutter die Reise beschwerlicher und beschwerlicher machen würde, bis hin zur Unmöglichkeit. Es würde geboren werden und benötigte dann noch weit mehr Versorgung und Pflege als zuvor. Nahrung, Kleidung, Erziehung. Zeit und Nerven in rauen Mengen, die zu investieren er nicht gewillt war. Bälger konnten gerne alle anderen in die Welt setzen und zuschauen, wie sie am Mechanismus der Welt scheiterten. Er würde solchen Unfug gewiss nicht anfangen! Bisher hatte er Suzuri auch gut auf Abstand halten können. Vor allem mit der Erklärung darüber, wie sich ihre Reise erst einmal entwickeln würde, wenn sie ein Kind erwartete. Er hatte, wenngleich das auch nicht der höflichen Art entsprechen mochte, stets zu betonen gewusst, wie ungeheuer ungelegen ihm diese Entwicklung käme. Meist hatte sie sich dann zurückgezogen und eine Weile geschwiegen. Ob sie schmollte oder nicht, war ihm einerlei - sie unterließ entsprechende Vorstöße eine Weile. Irgendwann jedoch hatte er den Fehler begangen, ihr in einem beiläufigen Gespräch von einem Trank zu erzählen, den zu brauen er fähig war. Er hatte die zielgerichtete Art ihrer Nachfragen erst bemerkt, als er sich bereits sprichwörtlich verplappert hatte und schon wenig später musste eine neue, provisorische Lösung herhalten: Er besaß hier oben die Zutaten nicht, einen solchen Trank zu brauen. Das Gemisch war gedacht, die Empfängnis zu verhindern. Ein kleines, alchemistisches Wunderwerk, welches auf den Körper des beglückten Weibes einwirkte. Auch diesmal würde dies seine Freikarte sein, gewiss. „Suzuri, ich kann nicht. Du weißt doch, ich habe nicht die Zutaten für de- Gott…!“ Abrupt riss der Satz schlicht ab, machte einem eher hervor gewürgten Ausspruch Platz, ehe sich ein heiseres Keuchen anschloss. Ohne auch nur seine Worte abzuwarten, war das Phönixkind herab gerutscht und hatte sich dicht an ihn gepresst. Wann genau sie eigentlich jegliche Kleidung abgelegt hatte, wusste er nicht. Sie war nicht nackt gewesen, als sie ins Bett geklettert war - dessen war er sich halbwegs sicher. Nun aber, da ihn die Hitze ihres Schoßes umfing, musste er einen ausgiebigen Moment um Konzentration ringen, um Fassung, Selbstbeherrschung, die Dinge, die der Zirkel sehr nachdrücklich gelehrt und in seinen Kopf eingetrichtert hatte. Die Rothaarige an seiner Seite jedoch ließ die Zeit nicht ungenutzt verstreichen. Ein paar erste, vorsichtige Bewegungen, als müsse sie erst ausprobieren, wie dergleichen funktionierte, erinnerten Alandor vor allem an eines: Wie lange es schon her war, dass er sich fleischlichen Gelüsten hingegeben hatte. Monate. Wenn nicht länger. Er hatte zuletzt Akkara besucht, die dortigen Bibliotheken und ihre Werke studiert, hatte sich auf eine kulturelle Reise in das Wissen zahlloser Jahrhunderte begeben. Zwischen all den Büchern war kein Platz für eine Romanze gewesen. Weiter zurück, das Barbarenland. Weiter zurück, Anadyr. Dreckige kleine Hafenhuren. Nur ein Fetzen aus einem Gespräch, das er mit einem einheimischen Piraten geführt hatte. Aber durch eben diesen abfälligen Kommentar war eine Dame auf ihn aufmerksam geworden. Keiner jener betitelten Huren, sondern eine Dame. Sie war wohl die Letzte, die ihm den Genuss gegönnt hatte, in ihrem Mieder zu versinken, von ihrer Haut zu kosten und sich an wie in ihr wohl zu fühlen. Dann mussten es wohl Jahre sein. Nichts, was ihn schockieren sollte. Er hatte schon häufiger Jahre hinter sich gebracht, in denen er niemandes Gesellschaft gesucht oder geteilt hätte. Doch er war nie zuvor solch aggressiv-offensivem Verhalten ausgesetzt gewesen. Eben jene fordernde, nein, sich eher schlicht bedienende Art Suzuris trieb ihn einen Augenblick an den Rand. Ihr nachgeben? Erneut ihre Brust packen, die Lippen auf ihren Hals setzen und ihr zeigen, worum sie sich hier eigentlich bemühte? Wie eine Kanonade zuckten Bilder vor seinen Augen hindurch. Duncan. Beatrix. Ordewey. Die Gletscherkrone. Zerfallene Bücher, teilweise verbrannt. Ein wissendes Lächeln auf dem Gesicht des Chronisten. Ein Säugling. Erinnerungen daran, was er vorhatte. An seine Pläne und Absichten, an seine eigenen, früheren Predigten, an seine Abwiegelungen. Der Magier in ihm brachte alles auf, was er hatte, um den Mann von seiner eigenen Idiotie fortzureißen. Warum auch immer dem so war, letztlich mischten sich sogar Bilder Vivicas in dieses kleine Spektakel ein. „Nein…“ keuchte Alandor, rutschte seinerseits tiefer und entzog sich Suzuri. Dass ihr keinesfalls gefiel, was er tat, was er ihr nahm, wurde rasch deutlich. Verstimmt wandte sie sich um, wollte zugreifen und schnaubte wütend, als er ihr Handgelenk fasste und auf das Bett nieder drückte. „Nein“, wiederholte er abermals und blickte das Phönixkind ernst an. „Du erinnerst dich, was ich dir sagte, weißt, warum es nicht geht.“ „Immer hast du Ausreden!“ warf ihm die Rothaarige plötzlich überraschend ernst vor, ehe sie tat, was Suzuri noch nie zuvor getan hatte. Sie stob regelrecht aus dem Bett hervor und verschwand aus dem Zimmer. Sie entfernte sich von Alandor, freiwillig, ließ ihn allein im Dunkel des Zimmers zurück. Der Bannmagier seinerseits starrte ihr verwundert nach, ehe er keuchend den Kopf in das Kissen fallen ließ. „Jebis, gib mir Kraft“, bat er leise und schüttelte den Kopf. Je länger er sich ihr entzog, umso mehr schien sie darauf zu drängen. Was, wenn er sie weiter hinhielt? Würde sie irgendwann forscher werden? Noch forscher? Waren Phönixkinder zu Gewalt und Böswilligkeit fähig? Der gravierende Mangel an diesbezüglichen Informationen beunruhigte ihn einen Moment ebenso wie die Sorge, ob die Sekunden, in denen sie vereint gewesen, nicht vielleicht ohnehin längst Schaden angerichtet hätten. Das einfältige Landvolk mochte glauben, dass ein Kind erst gezeugt werden konnte, wenn der Herr seinen Spaß hatte - der Zirkel wusste es aufgrund seiner Studien besser. Doch der Schaden, so es einen gab, war angerichtet. Er hatte zu lange gewartet, gezögert, er hatte sich selbst zuzuschreiben, sollten nun Konsequenzen entstehen. „Das wird immer verrückter…“ nuschelte Alandor noch vor sich hin, ehe er sich schlicht umdrehte, den Rücken zur Tür gewandt, und sich darum bemühte, wieder in Schlaf zu finden. Etwas, das ihm tatsächlich binnen weniger Minuten gelang, nun, da sein Herz sich zu beruhigen begann und das Blut wieder dorthin zurückkehrte, wo es hingehörte. Für Suzuri dagegen war die Nacht noch nicht beendet, nicht einmal ansatzweise. Anfangs war sie nur in den Gang hinaus getreten, hatte die Tür hinter sich zugezogen und gelauscht, ob seine Schritte ihr hinaus folgen würden - doch in der Hinsicht wurde sie reichlich enttäuscht. Niemand folgte ihr. Ein bockiges Schnauben später wollte sie gerade ihrerseits einlenken und zurückkehren, als sie leise Stimmen von unten vernahm. Neugierig lauschte sie angespannt, konnte jedoch nicht zuordnen, wer es war. Nur, dass sie die Sprecher kannte, das ahnte sie dumpf. Schließlich beschloss sie, dem auf den Grund zu gehen und schlich sich näher an den Treppenabsatz heran, der hinab in den Schankraum führte. Zunächst in der Hocke, empfand sie die Pose rasch als unbequem und ging auf die Knie. Die Hände auf niederen Stufen abgestützt, beugte sie sich weit vor und spähte vorsichtig durch den Schleier ihrer Haare in die Schenke hinab. „So Kinder, braucht ihr noch was? Sonst würde ich erstmal wieder schlafen gehen. Und du, Kleines, beruhig dich ordentlich. ‘S war nur’n Traum“, erklärte der Wirt, klopfte Vivica auf die Schulter und wandte sich ab, als diese ihm dankbar lächelnd zunickte und Adamant zeitgleich bestätigte, dass das vorläufig alles sei. Die Firnhexe schloss die Finger wieder um einen Becher, der den Geruch aromatischer Kräuter verströmte. „Und nun erzähl‘ mal“, forderte der Zirkusjunge seine Zimmerkameradin auf, als ihr Gastgeber verschwunden war und sie sich wieder allein glaubten. Er hatte sich sogar extra umgeschaut, das neugierige Augenpaar zwischen den Geländerstiegen oben am Treppenabsatz jedoch nicht bemerkt. Anfangs zierte sich die Firnhexe, suchte Ausflüchte, Abwiegelungen, doch Peter ließ ihr kaum eine Chance und trieb sie in die Ecke, bis sie endlich zu reden begann. Sie mache sich Sorgen, eröffnete sie und natürlich kam sofort die Nachfrage, worum. Vielleicht hatte er gehofft, sie würde „um dich“ antworten. Das hätte zumindest den frustriert-enttäuschen Ausdruck in seiner Miene erklärt, als sie stattdessen antwortete, dass ihre Gedanken sich um den Bannmagier drehten. Wenn auch deutlich widerwilliger, schien die von Alandor oftmals so betitelte Gossenratte auch weiterhin gewillt, seiner Freundin den Kummer zu nehmen, der sie offenbar sogar um ihre erste ruhige Nacht in der Bequemlichkeit eines Bettes gebracht hatte. Was die Firnhexe daraufhin zu erzählen begann, war im Grunde ein gutes Resümee. Eine Zusammenfassung all der Dinge, die sie erlebt und durchlitten hatten. Sie erinnerte sich an den Dorfplatz in Zadiora, als der magische Schild des Bannwirkers sie vor den Steinen der Kinder bewahrt hatte - und als dessen Lektion, wie er es noch heute nannte, die Kinder wie Mehlsäcke vom Dach purzeln ließ. Adamants gebrochene Nase, als er sich gegenüber dem Bannwirker viel zu viel herausgenommen hatte, der Zwischenfall in Audron, seine warme, fast schon herzliche Art, als er sich in Jiggary um sie bemühte. Schließlich aber auch die Kehrtwende an der Gletscherkrone. Die scheinbare Verkehrung aller Dinge ins Gegenteil. Streit, wann immer ein falsches Wort fiel oder ein Ton missraten schien. Ständige Spannungen, die an ihrem Nervenkostüm zerrten. Sie wollte doch eigentlich nicht mehr als ein klein wenig Harmonie und Eintracht. Konnten sie denn nicht friedlich miteinander auskommen? Warum hatte sich alles durch diesen einen Umstand so dramatisch ändern müssen? Sie war also eine Hexe, na und? Konnte er sie nicht einfach ihre eigenen Entscheidungen treffen, ihr eigenes Leben leben lassen? Wie sehr es ihr zusetzte, sich all dieser Dinge zu erinnern, sie wieder aufzuwirbeln, war leicht zu sehen. Nicht nur an den Tränen, die über ihre Wangen perlten und von ihrem zitternden Kinn tropfend im Stoff ihrer unzähligen Kleiderschichten versickerten, sondern auch an den nervös aneinander herumnestelnden Fingern. Schließlich konnte man sogar ihren Zwiespalt hören, als sie leise schluchzte und Peter sich mitsamt Stuhl zu ihr herüber begab, um ihre Hand halten zu können. „Ich mag ihn,“ hob die unstete Stimme Vivicas an. Sie tat Adamant damit weh, das ließ sich schwerlich übersehen, doch es war sein Angebot gewesen, alles zu erdulden und zu ertragen, sich alles anzuhören und ihr helfen zu wollen. Nun saß er hier, stutzte, gab sich einen Ruck und zog das der Auflösung nahe Bündel an sich. Sie hatte völlig offen gelassen, wie sehr oder als was, in welcher Rolle sie die Ölsardine mochte. Das hatte den Großteil des Schmerzes für Peter ausgemacht. „… warum hasst er mich?“ Die Antwort des großen Adamant war aus gutem Willen heraus geboren worden. Welche Absicht genau jedoch dahinter stand, ließ sich schwer sagen. Möglicherweise hatte selbst die Gossenratte erkannt, dass die gegenwärtige Verbindung zu ihm Vivica einfach nicht gut tat. Möglicherweise wollte er ihr wirklich aufrichtig helfen und stellte diese Priorität über alles andere. Oder aber, ihm kam die Gelegenheit gerade recht, ein Keil zwischen die Firnhexe und den Magier zu treiben. Die Auswirkungen waren letztlich die Gleichen, doch in der Gewichtung der Prioritäten lag der Unterschied zwischen Selbstlosigkeit und Egoismus. Er wollte sie für sich, wollte seine irrsinnigen Träume von einem Dutzend Kindern nicht aufgeben und Alandor… Alandor Lamerak, der Bannmagier aus Samara, stand ihm dabei gehörig im Weg. Hauptsächlich wegen Aussagen wie jener, die Vivica gerade eben gemacht hatte - sie mochte ihn. Wie auch immer man dieses selbstgerechte, selbstverliebte, versnobte Scheusal mögen konnte. Er musste es ja nicht verstehen - nur beenden. „Vivi, er kennt dich eben nich‘. Seit das heraus kam, bist du für ihn nur noch die Hexe. Eine Gemeingefährliche, die jederzeit durchdrehen und jeden niedermachen kann. Der hat den Stock so tief im Arsch stecken, dass er die Welt nur noch schwarz und weiß sieht. Aber so einfach is‘ das nicht. Er weiß eben nich‘ zu schätzen, was für ein tolles Mädel du bist!... Ach komm schon, jetzt hör‘ doch auf zu weinen. Schau, wir bringen diesen Torfkopf noch zur Schneegrenze runter und dann zeige ich dir das Meer! Ein richtiges, tolles Meer. Sundergrad wird die gefallen, versprochen! Erinnerst du dich noch, was ich dir erzählt habe? Wir lassen das alles einfach hinter uns.“ Abermals erstanden vor seinem inneren Auge all die Dinge auf, von denen er träumte. Inklusive Nachwuchs und Ehering. Was in jenen einfältigen Gedankenspielen stets fehlte, war das Auskommen. Unterkünfte, egal wie groß, Essen, erst recht für so viele Mäuler, das alles wollte gut und kräftig bezahlt werden. Vor allem in einer so vergleichsweise teuren Stadt wie Sundergrad. Aber darum machte sich der große Adamant keine Gedanken, frei nach dem Motto, das sich schon zu gegebener Zeit alles finden und Lenikki ihn bestimmt unterstützen würde. Auch diese fundamentale Differenz in seiner Spontanität und Alandors planerischem Wesen hatten nicht gerade die gegenseitige Sympathie gestärkt. Als die Firnhexe jedoch tränenverschwommenen Blickes das Haupt hob und leise ein „Und was, wenn ich das nicht will?“ flüsterte, stand dem Zirkusjungen nun wirklich einige Herzschläge der Mund offen. Fassungslos blickte er sie an, wurde sich jedoch schnell darüber gewahr, dass sein Mädel ihm hier ihr Herz offen legte und er sehr viel Acht geben sollte, wie er damit umging. Entsprechend stellte er all die Flüche, Verwünschungen, Offensiven und galligen Kommentare hinten an und strich ihr die Tränen von der Wange. „Ach Vivi… mal im Ernst!“ brachte er ob seiner vorläufigen Ratlosigkeit hervor. Was er tatsächlich erwidern sollte, das wusste er nicht. Sie bekräftigte, dass das durchaus ihr Ernst sei - was die Krise nur verschlimmerte, sie fundamentierte. Schließlich wusste sich der Zirkusjunge nicht anders zu helfen und zog ein paar Grimassen, die anfangs ignoriert wurden, sie aber schließlich doch noch zu einem Lächeln und - schau einer da! - schließlich einem leisen, verhaltenen Auflachen brachten. „Lass das, du Quatschkopf!“ bat sie ihn leise und stieß den Burschen an der Schulter, ehe sie, weiterhin lächelnd, wieder aufsah. Der Strom ihrer Tränen war versiegt. „Danke. Fürs Zuhören.“ „Immer“, erwiderte Peter noch leise. Ob er sich einen Kuss erhoffte, als Zeichen ihres Dankes oder dergleichen, blieb offen - Vivica zog es zurück ins Bett, denn auch, wenn die Träume sie verschreckt hatten, so war auch ihr die Erschöpfung schichtweise in die Knochen gedrungen und bislang nicht ansatzweise abgebaut worden. Als sich das Gespann der Treppe näherte, hievte sich Suzuri wieder in die Vertikale zurück. Einen Moment mit üblem Schwindel kämpfend, bedrohlich wankend und mit einem tauben Kribbeln in den Armen und im Kopf, schob sie sich hastig durch die Tür zurück ins Zimmer und lauschte noch, während die beiden in einem Zimmer am Ende des Ganges verschwanden. Erst einige Minuten, nach denen es bereits wieder still geworden war und während derer sie eine Weile am Bett gestanden und Alandor beim Schlafen beobachtet hatte, kletterte sie in die anheimelnde Wärme zurück. Rast und Ruhe dagegen fand sie kaum.   Der nächste Morgen begann erst mit den späten Mittagsstunden. Als langsam Leben einkehrte und fast alle sich nach und nach heraus trauten aus ihren Zimmern, drohte auch bereits die erste Eskalation des Tages. Blitze lag im Zentrum des Schankraums, stieß von Zeit zu Zeit selig Gase in die Umwelt, ganz gleich auf welchem Wege er den Raum verpestete, und wirkte dabei entspannt und glückselig. Wie hätte er das auch nicht sein können, immerhin lag neben dem Koloss der Rucksack mit der Verpflegung. Vollgesabbert von oben bis unten und natürlich vor allem eines: Leer. „Wenn du deine verdammte Töle nicht in den Griff bekommst, dann-“ setzte der Bannmagier erzürnt an und funkelte bedrohlich zu Peter herüber. „Ja? Dann was?“ fiel der Zirkusjunge ihm forsch ins Wort. Wie wenig Skrupel Alandor im Zweifelsfall hatte, das zu tun, was er für notwendig erachtete, das wusste inzwischen jeder von ihnen. Gerade deshalb erachtete der Magier es auch nicht als notwendig, seinen Satz zu beenden. Jeder konnte sich seinen Teil denken und Adamant für seine Frechheit bestrafen, ihm ins Wort zu fallen, nun… das hatte er wahrlich schon oft genug versucht und es hatte nie etwas genützt. Also tolerierte er meist dessen geistige Totalausfälle, sofern ihm daraus kein reeller Schaden entstand. Schäden, wie sie nun jedoch entstanden waren. Der Wirt, der rasch auf den Tumult und die hastig anschwellende Lautstärke aufmerksam wurde, besah sich das Desaster. Der Zirkelmagier machte soeben mit Nachdruck deutlich, dass er diesen pestilenten Rucksack nie wieder auch nur anfassen würde und dass der ach so große Adamant für den Schadensersatz aufzukommen hatte, als Besitzer dieses nutzlosen Fellberges. „Ich entsorge das Ding. Ihr solltet euch um Nachschub kümmern, ich kann euch ein paar Leute nennen, von denen ich meine Waren beziehe. Dort könnt ihr neuen Proviant kaufen, aber das sind keine kleinen Strecken. Das dauert ein bisschen.“ Die Hilfe des Wirtes war zwar keineswegs unwillkommen, sowohl bei der Vernichtung des Rucksackes durch Feuer als auch bei der Bezeichnung der Routen zu den Warenhäusern, dennoch konnte sich keines der aufgeheizten Gemüter so Recht zu Dank herablassen, weshalb dies einmal mehr an Vivica hängen blieb. Ein weiterer, verschwendeter Tag. Ein weiterer Rückfall, den sie aufholen mussten. Alandor hatte schon erstmals Nerven lassen müssen, als er seine Zirkelrobe nicht sofort gefunden hatte. Er war sich sicher gewesen, sie auf dem Nachttisch drapiert zu haben, fand sie dann jedoch in einem der unteren Schubfächer des Kleiderschrankes wieder. Suzuri beteuerte, nichts umgeräumt zu haben und ihm war die Sache wahrlich nicht wichtig genug, sich davon bereits den Morgen verderben zu lassen. Dieser Zwischenfall jedoch hatte das mit Bravour geschafft. Die Gruppe teilte sich abermals auf. Peter und Vivica marschierten mit Blitze zu einem Laden, der Brot und Käse führte, Alandor, Suzuri und Badai zogen zu einem anderen, der Wurstwaren besaß und in dessen Nähe ein wenig Obst und Gemüse angebaut wurde, soweit Boden und Witterung das zuließen. Tatsächlich kehrten sie erst gegen Nachmittag wieder zurück in den Gasthof. Die Gemüter mochten sich beruhigt haben, waren abgekühlt, aber dennoch spürte man die Anspannung regelrecht, als sie einander wieder begegneten. Als könne nur das kleinste Fünkchen genügen, die Oberfläche aufbrechen und die Niederhöllen hervordonnern zu lassen. Vermutlich war dem sogar so, doch dazu kam es nicht. Vivica begab sich einmal mehr in die Undankbarste aller Rollen: Als Vermittlerin und Streitschlichterin nahm sie eine kleine Liste der neuen Bestände auf und klärte Alandor über die Kosten auf, die er, ganz wie angedroht, komplett auf Adamant abwälzte. Der wollte sich zwar weigern und hätte damit beinahe den nächsten großen Streit provoziert, gab jedoch schließlich klein bei, als die Firnhexe ihn wortlos darum bat - mit der Hand auf seinem Arm, als er gerade aufspringen wollte. Im Verlaufe des restlichen Tages zog es jeden in eine andere Ecke. Vivica verblieb mit einem Buch in der Schenke, während es Adamant und Badai hinaus zog. Suzuri verweilte natürlich an Alandors Seite und langweilte sich zu Tode, weil dieser um Ruhe gebeten hatte und in seinem Buch las und gelegentlich etwas zu schreiben schien. Hin und wieder warf er Blicke über den Buchrand hinaus in Richtung der Hexe, so als wolle er sich versichern, dass sie noch immer da war und bisher niemanden zwischen Eisblöcken zerquetscht hätte. Was sich in jenem Buch befand, das hätte das Phönixkind nur zu gern gewusst. Mehr als einmal hatte sie danach gefragt, bekam jedoch die immer gleiche Antwort. Es war ein Zauberbuch, entsprechend enthielt es die Zauber, die ein Magier beherrschte und gesammelt hatte. Einsehen durfte sie es jedoch nicht, nie, nicht einmal an sich nehmen. Der Bannwirker trug das Büchlein immer bei sich wie ein Heiligtum, gab es nie aus der Hand, wollte es nie weit weg wissen. Er erklärte zwar, dass es ihn deutlich schwächen würde, wenn er es in einem kritischen Moment nicht zur Hand hätte, doch seine Ausführungen wirkten halbherzig - sogar auf Suzuri. Nicht einmal hinein schauen durfte sie. Er hatte es ihr strikt verboten und das, obwohl die Zauber angeblich in einer geheimen Sprache des Zirkels verfasst worden waren. Wenn sie es ohnehin nicht lesen konnte, warum durfte sie dann nicht hinein schauen? Als sich schließlich auch Vivica zurückzog, war es bereits später Abend. Sie hatte das Buch komplett durchgelesen - ein zweites Mal inzwischen. Es stammte noch aus der Zeit, als sie gemeinsam an einem Strang zogen. Audron hätte übel ausgehen können, war es jedoch nicht. Stattdessen hatte sie sich heillos übernommen, der Stadt und sich selbst in erheblichem Maße geschadet und von seiner Seite dafür weder Schelte noch Zurechtweisung erhalten. Weil er ihre Beteiligung damals noch nicht erkannt hatte. Stattdessen war er bemüht gewesen, ihr die Zeit zu verschaffen, die sie zur Heilung benötigte und hatte ihr sogar ein paar Bücher besorgt. Sie waren für die Firnhexe noch heute eine Erinnerung, eine überaus schmerzhafte Erinnerung, wie schön und einfach es vor der Gletscherkronenfeste gewesen war. Nach und nach kehrten auch Badai und Peter von draußen zurück und taten es der Hexe gleich. Sie verabschiedeten sich - oder eben auch nicht - und schritten die Treppe hinauf in ihre Zimmer. Mit der rasch einfallenden Nacht brachen auch die Kälte und Stille über das Dorf herein. Selbst der Wirt war längst schlafen gegangen, als Alandor das Buch zuklappte und wie üblich sicher verstaute. „Dora, warum bist du traurig?“ erklang die leise Stimme des Phönixkindes an seiner Seite. Verwirrt blickte er herüber. Hatte er etwa vergessen, dass sie auch noch hier war? Sie hatte so still, fast reglos ausgeharrt, über Stunden hinweg. Vielleicht war er wirklich einfach unaufmerksam geworden. Oder er verstand ihre Frage nicht - was auch erklären würde, warum er sich erkundigte, wie sie darauf käme, er sei traurig. „Ich bin nicht-… ich mache mir einfach um Vivica Sorgen. Ich war blind, nicht früher zu bemerken, was sie ist. Vielleicht wollte ich mir da etwas einreden, aber ich kann und darf ihr keinen Vorwurf daraus machen, dass sie es mir verschwiegen hat. Sie wurde von einer Elbe aufgezogen. Wenn man nicht weiß, wie die Welt dort draußen funktioniert, dann kann man so etwas wie Hexerei schnell für etwas Banales halten. Für eine Kleinigkeit. Sie ist… sehr beherrscht, das gebe ich zu. Aber ich weiß nicht, ob das ausreicht. Es bleibt immer ein Risiko, verstehst du? Jeder hat irgendeinen schwachen Punkt, an dem man ihn zu packen bekommen kann. Wenn der Orden erst einmal auf sie aufmerksam wird, dann… dann gibt es kein Zurück. Sie weiß ja noch nicht einmal, auf was sie sich da eigentlich einlassen würde. Aber sie ist so elend stur und verbohrt! Ständig glaubt sie alles besser zu wissen. Es gibt nun einmal Dinge im Leben, die kann man sich nicht aussuchen. Ich will doch nur, dass sie das begreift, bevor der Orden ihr alles nimmt, was sie hatte und ihr wichtig ist! Sie ist dabei, große Fehler zu begehen. Aber immer, wenn ich versuche, sie davor zu warnen und zu bewahren, blockt sie ab und… und wir streiten. Dabei will ich ihr doch eigentlich nur helfen. Aber sie lässt mich nicht und ich sehe, wohin sie das führen wird. Und dann? Wenn es erst einmal so weit ist? Dann wird sicherlich kein ach so großer Adamant für sie da sein, der hat sich dann längst aus dem Staub gemacht, wie es sich für so eine verkommene kleine Ratte gehört. Sobald es ernst wird, sind sie immer weg. Dann steht sie allein und… ich… ich weiß einfach nicht, was ich noch tun kann. Verstehst du? Ich habe alles probiert, doppelt und dreifach, ich finde einfach keinen Zugang zu ihr.“ „Magst du sie?“ Eine ganze Weile hatte sich der Bannwirker den Frust von der Seele gesprochen, ohne Punkt und Komma, ohne ihr eine Lücke zum Ein- und Nachhaken zu lassen. Nun aber, da er seine Ausführungen beendet glaubte, brachte Suzuris Frage ihn reichlich aus dem Konzept. Ob er Vivica… mochte? Das hatte doch gar nichts damit zu tun! Er wollte sich selbst beschützen, denn er würde gleich mit schmoren, wenn man erstmal seinen Namen unter der Folter zu hören bekam. Es ging nicht darum, sie zu-… nun, vielleicht ein wenig. Sehr. „Ja“, erwiderte der Zirkelmagier nach einer Weile von einem Seufzen begleitet. Das Phönixkind dagegen hatte sich längst von seiner Seite erhoben und einen Stuhl herbei gezogen, direkt gegenüber seines bequemen Sessels. „Warum?“ hakte sie abermals nach und konkretisierte ihre Frage, als er das Wort mit dem Nachhall einer Frage wiederholte, „Warum magst du sie?“ Die nächste gute Frage, die ihn einen Augenblick stutzen ließ. Suzuri hatte ein merkwürdiges Talent dafür, ihn aus der Bahn zu werfen - schon früher hatte sie stets die Fragen zu stellen gewusst, mit denen er bei aller Neugier nun wiederum nicht gerechnet hatte. Warum also mochte er Vivica? Der Magier in ihm war fasziniert von ihren Mächten und zugleich ihrem scheinbar inneren Konflikt. Ihrem Selbstzwang, diese Kräfte zu verleugnen und zu verdrängen, in tiefe, dunkle Bereiche ihrer Selbst, wo sie wuchern und erstarken konnten, nur um ihre Selbstbeherrschung wieder und wieder auf die Probe zu stellen. Das erschien ihm paradox - und deshalb ergründenswert. Aber Vivica war, anders als Suzuri lange Zeit, kein Studienobjekt. Diese Faszination machte nicht die Sympathie für sie aus. Was aber begründete diese? Alandor schloss die Augen, atmete tief durch und versuchte, dieser Frage nachzuspüren. Zunächst unscheinbar, keimten Bilder vor seinem geistigen Auge auf. „Ich mag… diesen speziellen Rotton ihrer Haare… die Sommersprossen, die zu leuchten scheinen, wenn sie sich schämt… die Art, wie sie auf ihrer Unterlippe herum kaut, wenn sie überlegt… ihre grünen Augen, die immer so zu leuchten scheinen… ihr herzliches Lächeln. Es wirkt so unschuldig, als gäbe es in der Welt nichts Böses. Ihr wacher Verstand und ihr Wissensdurst. Dass sie sich selbst über die kleinsten Dinge freuen und sogar über meine schlechtesten Scherze lachen kann.“ Unwissend, was er Suzuri in diesem Augenblick antat, öffnete er schließlich die Augen wieder und seufzte. Die Schultern sanken herab und der Kummer kehrte zurück. Er würde all das verlieren, er würde Vivica verlieren. Sie würde nie von diesen Dingen erfahren. Davon, was er an ihr mochte, wie sehr er sie mochte, wie er sie sah. Gab es überhaupt noch Wege, diese verfahrene Situation zu meistern? Den Konflikt aufzulösen? Unter seinem abwesenden Blick erhob sich Suzuri aus dem Stuhl, trat vor ihn und ließ sich auf die Knie sinken. Erst als sie sich plötzlich an seinen Beinkleidern zu schaffen machte, kehrte der Bannmagier in das Hier und Jetzt zurück. „Suzuri… was tust du denn?“ wollte er mit einem Seufzen wissen. Hatte er nicht in der vergangenen Nacht noch zu hoffen gewagt, die Zurückweisung würde ein paar Tage vorhalten, vielleicht sogar eine Woche, schienen sich nun sogar die Intervalle ihrer Vorstöße massiv zu verringern. „Ich mag dich nicht traurig sehen, Dora“, gab sie lediglich zur Antwort. Einen Augenblick von dem aufrichtigen Wohlwollen in ihrer Stimme und der festen Überzeugung in ihren Augen überrascht, verfolgte er lediglich, ohne einzugreifen, als sie den Rotschopf senkte. Tief sog er die Luft in seine Lungen, krallte die Finger in die gepolsterten Armlehnen des Sessels, als das Phönixkind zunächst etwas unbeholfen, jedoch offenbar rasch dazu lernend Lippen und Zunge zu seinem Vergnügen einzusetzen begann. Er war es so leid. All der Dinge, die ein hätte trugen, der Dinge, die sich sollte und könnte nannten. Neuerlich schloss er die Augen, ließ zumindest vorläufig einfach geschehen, was sich zutrug. Eindrücke vergangener Tage fluteten seinen Verstand. Aufgewühlt durch Suzuris Fragen fanden sich fast überall Verweise auf Vivica, Erinnerungen an sie, an Gespräche, einzelne Augenblicke, vertraute Momente. Zeiten ohne Peter, Badai, Blitze und Suzuri.  Vertane Chancen vielleicht, die er ungenutzt hatte verstreichen lassen? Er hatte sie nie wirklich spüren lassen, ihr nie gesagt, wie er zu ihr stand, oder? Nein, das hatte er nicht. Aus lauter Feigheit. Aus Furcht, vielleicht etwas riskieren, etwas verlieren zu können. Aus Sorge um ihr und sein Wohl. Aus… welchen Gründen auch immer. Nur einen Spalt breit öffnete er die Lider. Verzerrt blickte er durch den Spalt, sah das Spiel der letzten Flammen im langsam ausbrennenden Kamin auf Suzuris Haar. Sein Verstand gaukelte ihm in einer Mischung aus Erschöpfung, Bosheit, Willen und Illusion vor, es würde einen anderen Farbton annehmen. Dunkler. Ebenso vertraut, doch von einer anderen Person… Die verkrallten Fingerspitzen lösten sich aus der Polsterung, legten sich zunächst als stille Bestätigung auf ihr Haar, vollzogen den Takt ihrer Bewegungen nach, ehe die Eindrücke sich intensivierten, er den Rhythmus zu beeinflussen begann, zu fordern begann. Seiner Selbstbeherrschung allein verdankte er die zwar gestörte, aber nicht gebrochene Stille. Das heisere Keuchen des Mannes erfüllte die Schenke, bis seine Finger sich in ihrem Haar verkrampften. Heißkalte Schauer liefen in Wellen durch seinen Leib, kribbelten unter seiner Haut, während er sich erfolglos unter Kontrolle zu bringen versuchte. Seiner Mühen ungeachtet, setzte Suzuri indes ihr Spiel munter fort, was ihm die Aufgabe auch wahrlich nicht erleichterte. Erst, als er sie frei gab, erhob sich das Weib wieder. Die Lippen nach innen gekehrt, spürte sie mit der Zunge darüber fahrend dem Geschmack nach und blickte auf eine kaum zu deutende Weise auf den Magier nieder. Während er noch um Atem rang, hatte ihr ein tiefer Sog in ihre kurzzeitig versperrten Lungen gereicht. Ein bemessender Blick fiel auf den Sessel. Alandor war nicht ansatzweise von so breitem Bau wie die hiesigen Bewohner, die Sessellehnen waren weit genug auseinander, um zu jeder Seite einem ihrer Schenkel Platz zu bieten - weshalb sie auch nicht lange zögerte. Den Rock mit wenigen Handgriffen gerafft, kniete sie sich in den Sessel hinein und ließ sich auf Alandors Schoß sinken. Der Magier rang nahezu augenblicklich um Atem, als wäre all die Beruhigung verloren, die er gerade aufgearbeitet hatte. Ihre Taille packend, als müsse er sich an irgendetwas festhalten, ließ er Suzuri gewähren. Realität, Wunschdenken und Erinnerungen verschmolzen einmal mehr zu einem absurden Brei, von dem sich nahezu alle darin Involvierten beleidigt gefühlt hätten, doch keiner von ihnen erfuhr je davon, was in diesen Augenblicken im Kopf des Bannwirkers vor sich ging. Erst als er sich nur noch schwerlich zu beherrschen wusste, wanderten seine Hände tiefer, umschloss er ihr Gesäß und hob sie und sich mühsam empor. Die Schenkel fest um seine Hüfte geschlossen, trug er sie zu einem der Tische herüber und ließ sie mit dem Rücken auf dessen Fläche sinken. Die gemeinsame Geräuschkulisse genügte zum Glück beider nicht, um irgendwen aufmerksam werden zu lassen. Seinen heißen Atem an ihren Hals werfend, erreichte er unter einer zunehmend rascheren Taktart neuerlich seinen Höhepunkt und stellte sich, nur Sekundenbruchteile davor, die verfängliche Frage, ob es denn mit ihr ebenso wäre. Ein paar Minuten verharrten sie. Suzuri räkelte sich genüsslich und hielt den Magier fest umschlungen bei sich, während Alandor lediglich um Ruhe kämpfte. Als er sich zumindest von ihren Armen löste, sich aufrichtete und auf sein Werk herab sah, beschlichen ihn nicht nur Zweifel. Was er getan hatte, warum er es getan hatte… das war eine Sache. Viel schwerer wog der Ekel vor sich selbst. Ob es mit ihr auch so wäre? Bei allen Göttern, welches Scheusal dachte so etwas auch nur?! Was ging ihn das überhaupt an? Vivica hatte sich für Peter entschieden, sie konnte ihn ja noch nicht einmal leiden und so bevormundet, wie sie sich ständig zu fühlen schien, wer konnte ihr das da schon zum Vorwurf machen? „Lass mich“, verlangte er von Suzuri, die unwillig das Gesicht verzog und den Druck noch verstärkte. Das leise Aufkeuchen herab würgend, schob er ein „Bitte!“ nach. Schließlich gab ihn der Rotschopf doch noch frei. Er zog sich aus ihr zurück, raffte die im Treiben herabgerutschten Beinkleider und zog sich, von ihr dicht gefolgt, nach oben zurück. Eine ganze Weile wartete das Phönixkind bereits geradezu sehnsüchtigst im Bett auf die Fortsetzung, doch von ihrem Magier fehlte jede Spur. Er hatte sich im Baderaum eingeschlossen, war mit dem Vorhaben, vielleicht zu dieser Stunde sich selbst einen Zuber zu füllen, auf die Bank gesunken und hatte vor lauter sich überschlagenden Gedanken und Überlegungen sein Vorhaben gänzlich vergessen. Vorwürfe mischten sich zahllos in das ihn plagende Stimmengewirr mit ein und es wurde wahrhaftig nicht besser, als er fast eine Stunde später in das Zimmer einkehrte. Suzuri war trotz ihres gespannten Wartens in Schlaf gefallen und erwachte zu seiner Erleichterung auch nicht, als er seine Seite des Bettes in Beschlag nahm - den Rücken zu ihr gewandt. Was hast du getan?   Die Reise bis hinab nach Audron verlief überwiegend schweigsam. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach und so, wie sich Peter ein wenig von Vivica distanziert zu haben schien, hatte sich Alandor von Suzuri abgekehrt. Mehrfach sprachen Vivica und Suzuri die zwei Herrschaften darauf an. Darauf, dass sie ein Gefühl hatten, das sie nicht genau einfassen, greifen, bestätigen konnten. Und beide wiegelten auf erschreckend ähnliche Weise ab. Selbst als sie nach einer gefühlten Ewigkeit und einem erschöpfend strammen Marsch wieder Im Gildenkeller angelangten, der ersten Station ihrer gemeinsamen Reise, hatte sich an diesen Gegebenheiten nichts verändert. Hier, so war der Plan, würden sie sich trennen - dennoch hatte es an diesem Abend, als sie in das Gasthaus einkehrten, niemand eilig. Allesamt restlos ermattet vom letzten Stück Marsch durch das Schneeland herab, machten sie es sich im Schankraum des Gasthofes gemütlich - und tatsächlich schliefen sowohl Vivica und Alandor, als auch Badai nach wenigen Minuten sogar in den eher unbequemen Sesseln dort ein. Unwillig, sie wieder zu wecken und ihres Schlafes zu berauben, harrten Blitze und Suzuri lediglich aus, bis auch sie irgendwann der Wille zur Rast packte und der Wirt, nun, dem war völlig einerlei, wo sie schliefen. Wer Zimmer bezahlte und nicht nutzte, das war nur umso besser für ihn! Als der nächste Morgen anbrach, war Suzuri die Erste, die erwachte. Nicht ganz zufällig, hatte sie sich doch am Vorabend vom Wirt erklären lassen, wo die Sonne entlang zog. Bereits das Licht des neuen Tages strahlte durch die getrübten Fenster… ihr direkt ins Gesicht. Rasch drapierte sie ihren Stuhl wieder so, wie er eigentlich hätte stehen sollen und machte sich ans Werk. Die aufkeimende Eintracht und die Art, wie Alandor von ihr und Peter von Vivica abrückten, nichts davon behagte ihr. Sie wusste nicht, was genau sie eigentlich anrichten würde, war sich jedoch sicher, irgendetwas unternehmen zu müssen. Der Bannwirker besaß nicht viel. Und an noch weit weniger davon war ihm auch wirklich gelegen. Sein Geldbeutel enthielt Münzen, gewiss, aber waren die fort, suchte er sie eben. Jedoch ohne Hast und Eile, ohne Sorge. Als Zirkelmagier war er hin und wieder gar nicht darauf angewiesen, irgendetwas zu bezahlen. Sein Langschwert war zwar wiederum ein hochwertiger und nicht billiger Besitz, doch auch damit schien ihn neben dem Wert kaum etwas zu verbinden. Er war kein Fechter oder Krieger, dass er sein Leben vom Besitz der Waffe abhängen sah, es galt nicht als Familienerbstück und er hatte auch sonst nichts, das er so recht damit verbinden musste. Schließlich war da seine Robe gewesen. Die hatte er sehr wohl gesucht und sogar ein wenig Nachdruck dabei durchscheinen lassen. Sie war ihm wichtig, sie war für ihn nötig, keine Frage. Doch wann und wie oft kam man schon in die Verlegenheit, die Robe unbeobachtet vorzufinden und damit etwas Nutzbringendes anzustellen? Nein, der Knackpunkt war letztlich das vehemente und strikte Verbot, welches der Bannwirker ausgesprochen hatte: Sein Buch. Vorsichtig zupfte sie es aus der Innentasche seiner Robe hervor, mehrfach bemüht, ihn nicht zu wecken und immer darauf achtend, ob sonst irgendwer den Raum betrat oder einen Zeugen mimen konnte. Der Einzige, der dafür in Frage käme, war Blitze - der ihr Treiben aufmerksam verfolgte. Doch der konnte sich schwerlich verständlich machen und noch weniger konnte er begreifen, was es bedeutete, als Suzuri das Buch aufschlug. Wahllos hatte sie in die Seiten gegriffen und es geöffnet - nicht für sich selbst. Ganz seinem Verbot folgend, wagte sie nicht einen einzigen Blick auf die Seiten, starrte sogar zur Seite, um der Versuchung zu widerstehen. Nein, sie hatte es nach vorne aufgeschlagen… und drapierte es nun auf dem Bauch des großen Adamant, der im Schlaf im Sessel herabgerutscht war und nun wirkte, als wäre er über guter Lektüre eingeschlafen. Zuletzt begab sie sich auf lautlosen Sohlen wieder zu Alandor zurück, an seine Seite und zupfte an dessen Ärmel. „Dora! Dora!“ flüsterte sie halblaut. Wie erhofft, wurde der Bannwirker langsam munter. Auch Adamant begann sich leider zu regen, doch damit konnte sie gut auskommen - sie musste nun lediglich zügig handeln. „Er liest in deinem Buch!“ Mit einem Schlag war der Magier nicht einfach nur wach, er war wütend. Hastig setzte er sich auf, während Peter, völlig schlaftrunken und vom Nachhall angenehm frivoler Träume umnebelt, das Bauch betatschte und mit einem verwirrten Blick vor seine Augen hob. Feine Kohlelinien zogen sich in kunstvoll geschwungenen Schraffuren über das Blatt. Er hob den Lederband etwas weiter weg, damit mehr als ein paar Zentimeter zwischen Papier und Nasenspitze lagen und begann nicht einfach nur Konturen zu erkennen, nein, da war mehr. Viel mehr. Haare. Augen. Lippen. Nase. Sommersprossen. „Gib das sofort wieder her, du dreckiger kleiner Dieb!“ fauchte der Magier gepresst, während Adamant kämpferisch zu grinsen begann. „Ist… ist das Vivica? Ist dir das irgendwie peinlich, hm? Hey, Vivi, schau mal, der-“ Weiter kam Peter nicht. Er hatte nur seinen dummen Witz reißen wollen und den Arm zu der noch schlafenden Firnhexe hinüber gestreckt, als ihm auf brachialste Weise deutlich gemacht wurde, wie wenig Spaß der Magier in diesem Zusammenhang verstand. Eine Bannmauer fegte durch den Schankraum. Unter ungeheurem Lärm wurden Tische und Stühle dutzendfach herumgeschleuert und zertrümmert, Adamant inmitten all dieses abrupt ausgebrochenen Chaos vor Überraschung und Schmerz aufschreiend. Sofort war jeder im Raum wach, selbst der Wirt sprang panisch eine Katastrophe vermutend aus seinem Bett und eilte in den Schankraum. Alandor jedoch sammelte gerade sein Buch vom Boden… und zog das Schwert. „Scheiße, der flippt völlig aus!“ fluchte Peter noch, ehe er durch die Tür hinaus auf den Platz hastete. Rasch folgte der Rest der Gruppe Alandor auf, als diese erst einmal recht erwacht waren und das plötzlich herrschende Chaos im Raum einer Quelle zuzuordnen vermocht hatten. Unsäglicher Zorn glühte aus den Augen des Magiers. Mit Höflichkeit war es vorbei. Mit Geduld, Rücksicht, Toleranz, mit allem! „Eine Regel, nur eine verdammte Regel!“ rief er zornig aus und hob das Schwert empor. Der Zirkusjunge war nicht weit gekommen. Ein paar Meter aus der Tür hinaus, dann hatte Lenikki es offenbar für amüsanter befunden, die Konfrontation zu erzwingen - also war er gestolpert, hatte sich auf den Rücken kehren können und sah gerade noch die Klinge nieder rasen. „Alandor!“ rief Vivica panisch hinter ihm und riss die Hände empor. Wie aus dem Nichts heraus manifestierte sich die Feuchtigkeit in der Luft. Jeder einzelne Tropfen Wasser aus einigen Metern Umkreis sammelte sich und formte einen undurchdringlich dicken Eisschild vor Peter, an dessen Wall das Schwert abprallte und aufgrund der Wucht des plötzlichen Aufschlages sogar den Händen des Magiers entglitt. „Es reicht!“ fluchte der Bannwirker, „Ich lasse mich nicht länger zum Narren halten!“ Doch die Firnhexe versperrte ihm weiterhin den Weg. Die Linke gehoben, ließ er die Magie zerbröckeln, die die Eiswand stabil zusammen und in der Luft hielt. Prompt begannen die Splitter am Boden von Neuem, sich aufbauen zu wollen und mit der gleichen Wut, die er eben noch empfand, starrte er über die Schulter zu Vivica. „Suzuri, schaff mir die Hexe vom Hals!“ Abrupt rissen beide Frauen ihre Blicke herum und starrten einander an. Geradezu beschwörend, fast um Vernunft bittend, schüttelte Vivica den Kopf - doch ahnte sie bereits, dass sich Suzuri niemals einem Befehl Alandors widersetzen würde. Sie riss gerade noch rechtzeitig eine Eiswand aus dem Boden, die aufrecht zu erhalten sie alle Kraft kostete, brannte sich von der anderen Seite doch ein ungeheurer Feuerwirbel gegen das rasch schmelzende und neu erstarkende Eis. Während diese beiden mit ihrem Kräftemessen beschäftigt waren, stieß Peter einen schrillen Pfiff aus. Nur Sekunden darauf stürmte Blitze herbei, die Zähne fletschend. Mit der Wucht eines Nashorns würde der Koloss diesen selbstgefälligen Hurensohn einfach umrennen und in Stücke reißen, so Adamants Plan. Doch Pläne waren nie die Stärke derer, die spontan reagierten. „Badai, die Töle!“ verlangte der Magier weiter. Für den Einarmigen entschied sich rasch, ob er dem Befehl gehorchen sollte. Adamant war gewitzt, aber nur ein naseweiser, vorlauter Zirkusjunge, der mit seiner Art garantiert überall in Schwierigkeiten geriet. Selbst in der Wüste würde er den Sand verärgern können! Und Vivica war eine weltfremde kleine Nordfrau, die zu schüchtern war, ihre gottgegebenen Fähigkeiten einzusetzen. Anders als Suzuri und Alandor, wobei Letzterer sogar ein angesehenes Mitglied des Zirkels war, Autorität besaß, angesehen, respektiert, vielleicht sogar ein Stück weit gefürchtet wurde, wo immer er auftauchte. Er besaß Geld, während die zwei anderen einen Hund hatten, der alles fraß und auch so roch. Die Chance, sich länger von Alandor durchfüttern zu lassen, war einfach zu verlockend - entsprechend stürzte sich der Einarmige auf den gewaltigen Hund und riss ihn aus seiner Sturmbahn heraus. Hastig rappelte sich Adamant auf, einen Pflasterstein, den er aus dem Boden gepuhlt hatte, in der Linken und die Rechte zur Faust erhoben. „Lächerlich“, spuckte der Bannwirker ihm verächtlich entgegen und riss ihn mit dem nächsten Zauber von den Füßen. Der Aufschlag war schmerzhaft. Benebelt blieb der Zirkusjunge liegen, sein Kopf war ungebremst auf das Pflaster geknallt und selbst der enorme Schmerzblitz half nicht, als seine Hand ebenfalls dort aufschlug und damit zwischen Boden und den von ihm aufgehobenen Pflasterstein geriet. Die Hand übel zugerichtet, der Kopf angeschlagen und schließlich… stand der Stiefel des Magiers auf seiner Brust und drückte ihm die Luft aus den Lungen. „Du kleine Ratte tätest wahrlich gut daran, endlich deinen gottverdammten Platz zu kennen! Lerne das… ehe es zu spät ist!“ wies der Magier ihn an und rammte das wieder aufgehobene Schwert neben Peters Kopf ins Pflaster. Er kehrte sich von dem übel zugerichteten und noch immer benommenen Jungen ab. Indes hatte sich auch zwischen Suzuri und Vivica der Kampf verändert. Hatte die Firnhexe zunächst auf Vernunft gehofft und deren Scheitern mit ansehen müssen, war sie inzwischen aus lauter eigenem Zorn heraus ebenso zum Angriff übergegangen. Musste sie sich von der solch eine Behandlung bieten lassen? Musste sie sich die Angriffe von einer Zurückgebliebenen gefallen lassen? Doch die kleinen Eisgeschosse verpufften unter den Flammensphären, ebenso wie diese ihr Ziel verfehlten - zumindest, bis Suzuri bemerkte, das Alandor offenbar fertig war. Unter einem zufriedenen Grinsen hob sie abrupt die Arme, griff nicht mehr an,… verteidigte sich nicht mehr. Im Kampfgetümmel verlor man schnell den Überblick. Selbst, wenn man allein gegen nur einen einzigen Gegner antrat. Was zunächst wie eine gute Gelegenheit schien, diese Farce zu beenden und auch rasch als solche erkannt und genutzt wurde, entpuppte sich als schlichten Hinterhalt. Vivica hatte nie jemanden ernstlich zu verletzen versucht. Gute Güte, sie konnte keiner Fliege was zuleide und hatte auch hier nur gehofft, alles halbwegs schnell und blutlos beenden zu können. Doch diese letzte Eisscherbe traf Suzuri an der Flanke. Geradezu theatralisch ließ sich das Phönixkind unter einem Aufschrei zu Boden stürzen und eben das war es, was Alandor zu sehen bekam, als er sich von Adamant abkehrte. „Suzuri!“ rief der Magier noch aus, da hielt er abrupt inne und starrte Vivica an. Du willst kein Kind, wolltest du nie, aber… was, wenn sie eines in sich trägt? Und die Hexe hat sie verletzt… das hätte schlimm ausgehen können, nicht? Viel, viel schlimmer…! - Sie heißt Vivica. - Spielt das jetzt noch eine Rolle? Als sich die Firnhexe zu ihm umwandte, begann ihr zu dämmern, was vor sich ging - doch für Erklärungen war es zu spät. Sie riss die Hände empor, ursprünglich mit dem Gedanken, ihn zu beschwichtigen, ihn zu mahnen, nicht unbedacht zu reagieren. Ihr eine Gelegenheit zur Erklärung zu geben. Doch Hexerei war eine Form des intuitiven Magiewirkens. Sie war nicht auf komplexe Zauberformeln und jahrelanges Studium angewiesen, die meisten Hexen arbeiteten… mit Handgesten. Einen Angriff vermutend, kam Alandor Vivica zuvor - und beraubte sie der Schwerkraft. Nur anderthalb Meter ließ er sie in die Höhe schweben, ehe der Zauber abgebrochen wurde und sie unsanft zu Boden stürzte. Währenddessen hatte sich der Bannwirker längst zu Suzuri begeben. Ihre Flanke war aufgeschlitzt worden. Keine sehr tiefe Wunde und zum Glück nur Haut und Fleisch - aber ja, es hätte weit schlimmer kommen können. „Komm, ich bringe dich zu einem Heiler“, forderte er sie auf und hievte das Phönixkind empor. Er schritt über den Platz, um den sich längst Schaulustige versammelt hatten. Badai, der irgendwo verschwunden war und nur eine üppige Blutspur hinterließ, interessierte ihn nicht. Adamant, der benommen über den Dreck des Bodens kroch, um zu Vivica zu gelangen, interessierte ihn nicht. Erst einige Meter jenseits stoppte Alandor. Sein Herz begann sich zu beruhigend. Die schiere Raserei verließ in Wellen sein Blut… und sein Blick fiel über die Schulter zurück zu Vivica. Die Firnhexe lag am Boden, eingeigelt. Sie starrte zu ihm… und weinte bitterlich. Seinem Blick folgend, gab Suzuri schließlich einen Schmerzlaut von sich und trieb ihn an, den Ort endlich zu verlassen. „Verzeihung, der Herr!“ sprach ein wohlsituierter, vornehm gekleideter Herr den Magier plötzlich von der Seite an, „Ihr sagtet, dieses Weib dort sei eine Hexe?“ Abermals blickte der Bannwirker zurück. Er konnte sie nicht mehr sehen, Adamant kniete vor ihr. Peter. Wer auch sonst. Kurz verzogen sich gallig seine Züge, ehe er den Kopf schüttelte. „Nein. Verzeiht, im Zorn sagt man viel Dummes. Sie ist eine Angehörige des Zirkels wie ich auch.“ Überrascht hoben sich die Augenbrauen des Herrn, ehe sich ein misstrauischer Blick in dessen Augen einschlich. „Welcher Zirkel?“   Wie viel sie auf ihrer Reise in den Norden wirklich verpasst hatten, wie schnell das Weltgeschehen sich hatte ändern können, das wurde ihnen erst in Audron und den darauffolgenden Tagen bewusst. Hätten sie Audron gemeinsam verlassen, wer wusste schon zu sagen, wie die Dinge sich entwickelt hätten? So jedoch zogen Vivica und Peter ihres Weges, bald schon von Iangeon Conster verfolgt, Geistmagier am Hofe von La Coeur, während Alandor und Suzuri nach ihrem Besuch beim Heiler die Flucht antraten - nun mit dem Wissen, dass ein neues Leben unter dem Herzen des Phönixkindes ruhte. Doch über all die Jahre hinweg sollte Alanor nie Ruhe finden oder je diesen einen Augenblick vergessen, dieses Bild, das ihm das Herz zerrissen hatte: Vivica, wie sie auf dem Pflaster lag, so verletzlich, mit tränenüberströmten Wangen. Dieser Blick, den sie zu ihm warf… und den er nie zu deuten gewusst hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)