Zirkelarbeiten: Assoziatives Schreiben von vanilla_quicksand (Ungefilterte Tintenbrühe für den gleichnamigen Zirkel.) ================================================================================ Kapitel 1: Wundschorf. Zu Satz 27, vom 15.08.10 ----------------------------------------------- "Es sei denn, Sie versuchen, mich mit Gewalt daran zu hindern". Sie lächelt mit schmalen Lippen, bläst Rauch aus, die Snakebites klicken gegen ihre Zähne. "Dann könnten wir vielleicht ... zu einer Einigung kommen." Ich bin verwirrt, ein wenig zumindest, was soll das heißen? Dieses ständige Siezen in einer Zeit und an einem Ort, an dem man sich grundsätzlich duzt, kann ja noch ein Tick von ihr sein - zudem ist sie gerade im Vergleich zu mir ziemlich jung, der Altersunterschied beträgt mindestens fünfzehn Jahre. Aber warum auf einmal dieser geschäftliche Tonfall? Dies hier ist nicht die Art Kneipe, in der ich mich normalerweise - wem versuche ich hier etwas vorzumachen? Die klebrigen Ringe, die die Gläser auf der zerschrammten Theke hinterlassen haben, der übermüdete, missmutige Barkeeper, Wirt und Kellner in einer Person, der mit einer Kippe im Mundwinkel halbherzig an irgendetwas herumpoliert, um nicht angesprochen zu werden, die Gestalten, die um zwei Uhr nachts immer noch in ihr Bier starren - all das ist mir bekannt, beliebig gegen das Interieur einer ähnlichen Kaschemme austauschbar und nur zu vertraut. Nur hier war ich noch nie, obwohl es nicht weit weg ist von meiner Wohnung. Oder vielleicht gerade deswegen - weil ich nicht auf bekannte Gesichter treffen will, zu ertappt würde ich mich fühlen, mich zu sehr schämen für meinen offensichtlichen heimlichen Absturz, der mich regelmäßig an solchen Orten an Land spült. "Was? Bitte was? Was soll denn das heißen?" Sie lächelt nicht mehr, sieht ungeduldig aus. "Ich hab es Ihnen doch gesagt, verdammtnochmal." Hat sie. Das stimmt. Als ich kam, saß sie schon am Tresen, die Kapuze ihres Sweatshirts über dem Kopf, eine Zigarette in der Hand, ein beschlagenes Wasserglas mit zweieinhalb Finger hoch einer wasserklaren Flüssigkeit vor sich, an dem sie immer wieder nippte. Ein paar schimmerndschwarze Strähnen fielen aus der Kapuze und über ihr Gesicht, eine davon pustete sie sich immer wieder aus der Stirn. Ich setzte mich dazu, ich hasse es, an einem Tisch zu sitzen, es dauert meistens zu lange, bis man etwas bekommt und ständig kommt jemand an, will sich dazusetzen, will wissen, ob noch etwas frei ist, lässt einen nicht in Ruhe. Am Tresen ist man nebeneinander allein wie in der U-Bahn. Sie musterte mich kurz aus dunkelumschatteten Augen, Eyeliner und dieser sanfte Violettton, der sich nur durch zuviele schlaflose Nächte und vielleicht noch durch einen Faustschlag erzeugen lässt. Betrachtete meinen zerknitterten Mantel, den lieblos zugewürgten Gürtel, die Stoppeln in meinem müden Gesicht, und dachte vermutlich "Casablanca", bevor sie sich wieder ihrem Glas zuwendete. Einen Fingerbreit und fünf Zigaretten später waren fast eineinhalb Stunden vergangen. Das war der Zeitpunkt, zu dem sie mich wieder ansah, diesmal bewusster, und mir, als wäre es nichts, einen Satz hinwarf. "Kommen Sie. Ich nehm Sie mit." Ich schwieg verwundert, sah von meinem Glas auf. "Hier vergisst man nichts, zumindest nicht schnell genug. Wir zwei können uns gegenseitig betäuben, zumindest, bis es hell wird." "Sag mal, bist du wahnsinnig? Ich, ich meine, schmeichelhaft ist es, aber spinnst du völlig?" Sie zuckte mit den Schultern, ihr Zippo klickte, dämliches Angeberfeuerzeug. Für einen Moment verschwand ihr Gesicht hinter einer Rauchwolke. "Sagen Sie einfach nein und ich suche mir jemand anderen. Kein Grund, so auszurasten." "Ich bin so gut wie pleite, wenn du Kunden suchst, dann nicht mich." "Wer redet von Kunden? Ich will kein Geld. Ich kenne Sie nicht, Sie kennen mich nicht, das sind die besten Voraussetzungen dafür, eine verkorkste Nacht kurzzeitig interessant zu machen. Und wir beide sind doch hier, um irgendetwas zu ertränken, das nur zu gut schwimmen kann - Sie zumindest, mh?" Ich deutete vage in den Raum. "Um diese Zeit, an diesem Ort? Wer hier nicht?" Sie rutschte vom Barhocker, steckte ihre Zigarettenschachtel ein und leerte den Rest ihres Glases in einem Zug. "Hab schon verstanden. Bin weg." Und dann dieses Lächeln und dieser Satz. "Was? Bitte was? Was soll denn das heißen?" Sie lächelt nicht mehr, sieht ungeduldig aus. "Ich hab es Ihnen doch gesagt, verdammtnochmal. Sind Sie nicht interessiert - bin ich weg. Sind Sie es wider Erwarten doch - dann halten Sie mich davon ab, zu gehen." Ein Zug, ein Schwall Rauch in meinem Gesicht. "Na los. Überzeugend, bitte." Sie starrt mich einen Moment lang nieder, mit diesem spöttischen Zug um den Mund, diesen wachsamen, misstrauischen, kalkulierenden Augen. Miststück. Sie dreht sich auf dem Absatz um, will gehen, ich bin froh, diese mich beunruhigende Frau loszusein, was wollte sie überhaupt, das war verstörend und wirr, ich müsste doch irre sein, so jemanden auch nur eine Stunde zu verbringen, geschweige denn eine Nacht - Meine Hand schießt wie von selbst nach vorn, packt ihren mageren Oberarm, zieht sie zurück zu mir, lässt nicht los. - und er packt mich und unter seiner Hand knirscht der Wundschorf, den ganzen Tag und den Tag davor tut es ständig weh und erinnert mich, weil sich an diesen Stellen die Haut nicht mehr dehnt. Darunter rohes Fleisch, das im Druck aufkreischt, der Schrei schießt mir heiß durch die Synapsen, als würde meine Haut selbst sich winden und brüllen. Den ganzen Tag schon kann ich die Arme nicht heben, den ganzen Tag schon fühlt es sich an, als würde die spröde Kruste überdehnt werden und aufspringen, und flüssige verräterische Hitze freigeben, und der grobkörnige Schorf knirscht mir zwischen den Zähnen, als würde man mich meine eigene Schande essen machen - Sie dreht sich in meinem Griff um, die Paranoia-Augen leuchten, in ihnen eine seltsame, irre Freude, die ich nicht deuten kann. "Na dann ... Zu wem?" Kapitel 2: Tabula rasa [Opus Anima-Universum ]. Zu Satz 28. ----------------------------------------------------------- Der eine oder andere würde ihm Glauben schenken, wenn er ihn anspräche, und ihm helfen. Das würde aber implizieren, dass er sich bloßstellen müsste; zeigen, dass und was etwas mit ihm nicht stimmte. Und das konnte er sich nicht leisten. Zu groß die Wahrscheinlichkeit, dass er auf jemanden treffen würde, der ihn nicht nur nicht verstehen, sondern ohne auch nur einen Gedanken an Mitleid ein Urteil fällen und als unbescholtener Schelfberger Bürger dafür sorgen würde, dass er dem Arm der Institution übergeben werden würde, die ihm doch sicherlich am besten würde helfen können - der kaum verschleierte Subtext, der Grund für die schlecht verhohlene Abneigung im Gesicht besagten unbescholtenen Schelfberger Bürgers wäre selbstverständlich, dass jemand wie er ein Schandfleck war . Das Versagen eines gewöhnlichen Menschen war schon peinlich genug, aber das eines Universitätsprofessors? Ein Skandal, das und nicht weniger. Zudem - die Art seines Versagens war einfach nur lächerlich und ihm selbst unendlich unangenehm. Es musste ein kosmischer Witz sein, von jemandem, der über einen schwärzeren Humor verfügte, als er es jemals für möglich gehalten hätte. Hier saß er, Claudius Jolander Austerbruch, allem Anschein nach Doctor habilitatus der Kaisertreue und Philologie, auf seiner Bettkante, in der Hand ein amtliches Dokument der Universität von Baiyat-Sophia, auf dem zusammen mit allerlei anderen Angaben zu (wohl) seiner Person genau diese akademischen Grade verzeichnet waren. Er hatte die kleine Porträtzeichnung im Kopf des Dokumentes mit seinem Bild im Spiegel über der Waschschüssel vergleichen; bis auf eine frische Schramme über seiner Nase sah das Bild ihm zum Verwechseln ähnlich. Anders gesagt, es hätte ihm zum Verwechseln ähnlich gesehen, wäre da nicht die völlig andere Persönlichkeit gewesen, die aus ihm sprach. Wo der gezeichnete Claudius Austerbruch offensichtlich ein Mensch in der Blüte seiner Jahre und seines Wissens gewesen war, mit einem würdevollen Gesichtsausdruck und einer Haltung, die zeigte, dass er sich seines Wertes durchaus bewusst war und und seine Position in der Gesellschaft mit Anstand zu bekleiden verstand - da war der lebende, atmende Claudius Austerbruch vor dem Spiegel ein Bild des Elends gewesen. Ein Mann mit zerzaustem Haar, noch in Nachthemd und Nachtmütze, mit tiefen, dunklen Ringen unter den vom Weinen oder von Schlafmangel rotgeränderten, stumpfen Augen, die fast schon panisch hin und her huschten. Zwei tiefe Furchen zogen sich von den Nasenflügeln zu den zitternden Mundwinkeln. Die Haut war blass, beinahe teigig, die Stirn voller feiner Linien, die davon zeugten, dass sie zu oft aus Kummer und Grübelei in Falten gelegt wurde. Claudius war im ersten Augenblick fürchterlich erschrocken, doch nach einigen Minuten, die er mit panisch das eigene Gesicht betastenden Fingern in die Betrachtung seines Spiegelbildes versunken war, war in ihm ein seltsames Gefühl aufgestiegen, das sich vielleicht noch am ehesten als Déjà-vu-Moment beschreiben ließ. Dieses Gesicht im Spiegel war ihm vertraut, und es schien schon seine Richtigkeit zu haben. In dem Moment, in dem er beschlossen hatte, dem Gefühl Glauben zu schenken und es anzuerkennen, dass diese Person auf dem Schein und im Spiegel offensichtlich er war, hatte er eine Art Schleier in seinem Geist zerreißen gespürt. Er hatte mit einem Mal gewusst, dass er Recht hatte; es nicht nur als Prämisse angenommen, sondern mit tiefer Erleichterung als wahr erkannt. Dieses winzige Stückchen Gewissheit in einer Welt, die ihm nicht im Geringsten vertraut vorkam, hatte ihm etwas seiner inneren Stärke zurückgegeben. "Wenn ich herausgefunden habe, wer ich bin und wie mein Name ist, dann kann ich vielleicht auch noch mehr herausfinden. Diese Wohnung scheint meine zu sein oder doch zumindest ein Ort, an dem ich mich öfter aufhalte. Und der erste und wichtigste Hinweis ist dieser Universitätsausweis in meiner Hand ..." So saß er nun auf der Bettkante, betrachtete seine eigene verschnörkelte Handschrift und den ordentlich gesetzten Druck und las gierig, dass er in Schackim gebürtig war, an der dortigen Universität promoviert hatte, danach nach Baiyat-Sofia gekommen war, sich hier seine Habilitation erworben hatte und nunmehr seit zehn Jahren einen Lehrstuhl für Kaisertreue und klassische Philologie innehatte. Viel mehr gab das Dokument allerdings nicht her. Der Gedanke an Hilfe von anderen war rasch und gründlich verworfen. Nein - mit dieser Situation musste er allein fertig werden. Er hatte doch schon einmal von derartigen Zuständen gehört; von wem war das bloß gewesen? In seinem Geist stieg schemenhaft das Gesicht eines bebrillten Abaras mit scharf gezeichneten Knochenwülsten auf, mit dem er keinen Namen verband. Claudius legte den Ausweis beiseite und begann sich in dem kleinen Raum umzusehen. Bis auf das Bett, das Waschgeschirr und einen kleinen, sehr niedrigen Tisch war er fast leer - wenn man die wild verstreuten Papierfetzen, aufgeschlagenen Bücher und zerknickten Federkiele übersah. Ein Tintengläschen war umgefallen und hatte seinen dunklen Inhalt über ein paar zusammengeheftete Bögen und ein zufällig sichtbares Stückchen Dielenboden verteilt. Claudius hob einen der Papierfetzen auf. "Grauer Anzug gehört mir, Geschenk; Weste mit Stickerei muss (unleserlich)bracht werden. Pünktlich 25. Jullar!" Seine eigene Handschrift. Er konnte sich nicht erinnern, so etwas jemals geschrieben zu haben. Neben seinem linken Fuß fiel ihm ein halbes Notizheft auf; die gekritzelte Zeichnung eines Gesichtes auf der ersten Seite weckte sein Interesse. Eine Brunad mit schwerem Kiefer und einem Schönheitsfleck über dem rechten Mundwinkel. Darunter, ebenfalls in seiner eigenen Handschrift, kleine Notizen. "Dr. Christina Hellgewied, Ätherologin. Treffen uns einmal wöchentlich nachmittags zum Teetrinken. Kennen uns aus dem Patrickfried-Kütterich-Diskussionsforum. Gute und zuverlässige Freundin; ledig; befleißige dich bester Manieren. Freundlich, wenn auch manchmal etwas schroff; nicht davon ablenken lassen. Sehr intelligent; stellt sich aufgr. ihrer Forschungsergebnisse Fragen über den Zustand der Welt außerhalb der Schollen & disputiert gern über solche Fragestellungen. VORSICHT: Hartnäckig, bohrt nach. Kein Wort zuviel verlieren!" Der Rest des Notizbuches war mit Ähnlichem gefüllt. Hastige Zeichnungen von Gesichtern, gekritzelte Anmerkungen über Freunde, Bekannte, Kollegen, Vorgesetzte, ausgewählte Studenten. Und bei jedem, bei ausnahmslos jedem stand eine Mahnung zur Vorsicht im Hinblick auf das eine oder andere Thema. Offensichtlich war, was auch immer mit ihm passiert war, nicht zum ersten Mal geschehen. Und er war darauf vorbereitet gewesen, hatte in Form dieser Merkzettel Vorkehrungen für sich selbst getroffen - weil er irgendwoher wusste, dass er wieder mit einem leergewischten Gehirn aufwachen würde. Aber was war es, was bei allen verrosteten Schrauben Ryonts war mit ihm geschehen? Woher kam dieses Vergessen? Und was sollte er nur tun, um es zu verbergen? Sicher, heute konnte er sich hier verstecken, behaupten, er sei krank, wenn jemand fragte - aber für länger als ein paar Tage würde das nicht funktionieren. Und er konnte es niemandem sagen. Er würde es irgendwann müssen - aber was würde man tun? Er würde sicherlich an irgendwelche Ärzte überwiesen werden, und früher oder später bei den Psychiatern landen. In einer Anstalt. Die Schande! Der Gedanke allein ließ ihm Schauer über den Rücken laufen. Er wusste nicht genau, was dort vorging, aber die Gerüchte, die er gehört hatte, reichten mehr als aus, um zu wissen, dass er auf keinen Fall in einer landen wollte. Und selbst, wenn er wieder herauskäme - sein Ruf, sein gesellschaftlicher Stand und damit sein gesamtes Leben wäre für immer ruiniert. Die Zettel. Seine Augen huschten hektisch von links nach rechts. Vielleicht, vielleicht hatte er sich auch für diesen Fall eine Nachricht hinterlassen. Er fiel auf die Knie, mitten in den Papierwust, und begann wie ein Verdurstender die zufälligen Informationen in sich aufzusaugen. "WICHTIG: Vor dem Ausgehen Faliansblüte (blau) anstecken", "der Name meiner Mutter ist Marie Austerbruch", "nicht auf dreimaliges schnelles Klopfen reagieren", "Verbindungsmann zu Adriano" - wer war Adriano?! - "ist Schustergeselle in Bergheim; abgetragene Kleidung, nicht viel Geld mitnehmen" ... wirre Bruchstücke eines Lebens, das er nicht als seines erkannte. Er fühlte sich wie ein zum Tod Verurteilter, der, ohne das Stück und den Rest der Truppe zu kennen, eine Stunde vor der Premiere eines Theaterstückes für den Hauptdarsteller eingesprungen war und nur dann eine Chance auf Begnadigung hatte, wenn er dem zerfledderten, unvollständigen Rollenbuch zum Trotz spielte, als hätte er nie ein anderes Leben geführt. Claudius schlug die Hände vors Gesicht. Wie sollte er das nur schaffen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)