Zeitlos -♠- von TommyGunArts (100 Storys -1-) ================================================================================ Kapitel 44: Einander betrachten. Einander verachten - Jitterbug 1 ----------------------------------------------------------------- Avery Bradbury hockte auf dem Scheißhaus und ließ gerade »den Braunen raus«, in seiner Hand ein Buch, das er allerdings nicht lesen konnte, weil er nie lesen gelernt hatte. Hier und da stach ihm ein Wort ins Auge, das er irgendwann einmal gesehen hatte. Die Leute sagten, lesen entspanne und beim Kacken wäre es genau das richtige, damit auch alles schön flutsche. Was für ein Blödsinn! Avery hatte es versucht, hatte auf die Leute gehört und sich mit einem Buch auf den Pott gesetzt. Aber was zur Hölle sollte daran entspannend sein, sich einen Haufen ineinandergewurschtelter Buchstaben anzuschauen, w      enn man sie nicht verstand? Genervt schlug er die nächste Seite auf und versuchte dort die besagte Entspannung zu finden. Er sah das Wort Ah und dachte: Hey, das kenne ich! Durch diesen Erfolg aufgebaut lehnte er sich auf der Toilette zurück und blätterte weiter. Seine ungewaschenen Haare klebten in seinem Nacken. Er dachte kurz darüber nach, mal wieder unter die Dusche zu springen, roch an seinen Achseln und sagte dann laut zu sich selbst: »Scheiße, das geht noch!« Er hatte ohnehin keine Lust, die Wasserpumpe zu reparieren, also verschob er diesen Termin im Geiste auf Ende nächster Woche. »Der Mensch ist ein Gewohnheitstier«, hatte seine Mutter immer gesagt. Avery schloss daraus, dass er sich an den Dreck und den alten Schweiß auf seiner Haut gewöhnen würde, wenn er nur lange genug damit herumlief. Er blätterte um und wollte sich gerade wieder seiner Lektüre widmen, als die Tür mit einem Knall aufgerissen wurde. Vor Schreck ließ Avery das Buch los. Es rutschte ihm förmlich aus der Hand, nur um im nächsten Moment seine Schenkel zu streifen, daran entlangzugleiten und schließlich im Plumpsklo zu landen. »Verdammt, Hy, siehst du nicht, dass ich am Scheißen bin?«, schrie Avery seinen älteren Bruder an. Der Hüne von Bruder hatte die Oberarme eines Bären. Sein ganzer Körper schien aus einem einzigen Muskelstrang zu bestehen, der alles und jeden unter sich zermalmen könnte. Nur der kleine Kopf wirkte etwas deplatziert auf diesem steinigen Berg. »Ich muss mal«, sagte Hy, der leicht auf und ab hüpfte. »Scheiße! Kann das nicht warten, bis ich fertig bin?« »Nein, Ave, kann es nicht!« Avery hob erstaunt die dürren Arme, als er feststellte, dass sein Buch in der Toilette gelandet war. Etwas hilflos zeigte er mit den Fingern zwischen seine Beine, ohne dass sein Bruder verstand, worauf er hinaus wollte. »Geh in den Wald oder sonst wohin, aber hier bin ich, eh?« Hys Miene verfinsterte sich. Seine linke Hand schnellte vor, packte den hageren Avery am Kragen, zog ihn von der Toilette und schleuderte ihn mit heruntergelassener Hose zur Tür hinaus. »Scheiße!«, brüllte Avery, als er sich aufrappelte und die Hose hochzog. »Du schuldest mir ein neues Buch, du Pisser!« Er trommelte noch zwei, drei Mal fest mit der Faust gegen die Holztür, ließ es dann gut sein und schlenderte über den Rasen Richtung Haus. Avery hatte in seinen vollen achtunddreißig Jahren noch nichts erreicht. Er hatte kein eigenes Haus, sondern wohnte noch immer bei seinem Vater, seiner Stiefmutter und seinem Bruder. Er hatte keine Frau – eigentlich hatte er auch noch nie eine Freundin gehabt – er hatte keine Bildung und keine andere Kleidung, als jene, die er jeden Tag trug: Ein stinkendes Paar braune Sneakers, das er bestimmt schon seit zehn Jahren hatte, eine Jeans, die ihm drei Nummern zu groß war und die deswegen halb unter dem Hintern saß statt auf der Hüfte, und ein löchriges Hemd mit aufgestickten Kirschen und Erdbeeren, das er nur trug, weil es ein Geschenk von seiner Stiefmutter war. Er wollte dieses hässliche Ding am liebsten auf den Boden schmeißen, so lange darauf schießen, bis ihm die Munition ausginge, dann den Flammenwerfer aus der Abstellkammer holen und das Früchtehemd abfackeln und wenn er es abgefackelt hätte, dann würde er noch die Asche verbrennen, damit nichts mehr davon übrig bliebe. Aber seine Stiefmutter war eine rabiate Frau Mitte Sechzig, die Averys Kopf eigenhändig abhacken würde, wenn dem Hemd dergleichen wiederführe. Während Avery durch den Garten ging, wurde er das Gefühl nicht los, er habe sich in die Hose geschissen. Gewissermaßen stimmte das sogar, denn sein lieber Bruder hatte ihm nicht die Gelegenheit gegeben, sich den Hintern abzuwischen. Aber da seine Körperhygiene ohnehin mangelhaft war, war der braune Streifen in der Hose nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Avery betrat das Haus, das schäbig und alt auf einem kleinen Hügel stand, ringsherum nichts als Wiesen, Felder und Wald. Die Haustür schob sich mit einem Knatschen auf und vor Avery breitete sich das Wohnzimmer aus. Auf dem Sofa saß seine Stiefmutter und häkelte, als wäre sie die liebenswerteste und ungefährlichste Person auf Erden. Doch das war die alte Hexe gewiss nicht. In ihr steckte mehr Boshaftigkeit als in jedem Schwerverbrecher. »Madison«, begrüßte er seine Stiefmutter und lächelte sein freundlichstes Lächeln, das er so sehr verinnerlicht hatte, dass es oft nicht mehr freundlich, sondern schon beinah mörderisch wirkte. »Zieh dir die verdammten Schuhe aus, Ave!«, fauchte die Alte und warf ihm eine Häkelnadel an den Kopf. »Du machst mir die ganze Wohnung schmutzig!« »Natürlich, Madison«, entgegnete Avery noch immer lächelnd, zog sich die Schuhe aus und stellte sie vor die Tür. Dann hob er die Häkelnadel auf und gab sie an die alte Hexe zurück, die dick und schnaufend mit der Hand darauf zeigte. »Übrigens«, knurrte sie, »die Elvens sind oben in deinem Zimmer und erwarten dich.« »Die Elvens?« Avery wusste, ab jetzt würde der Tag endgültig den Bach runter gehen. Es war erst acht Uhr morgens, die Sonne war vor zwei Stunden aufgegangen und Avery wünschte sich den ersten Whiskey herbei. »Ohne Scheiß? Die Elvens? In meinem Zimmer?« Madison nickte. »Oh Gott!« Avery fuhr sich entsetzt über den Bart, den er seit zwei Wochen konsequent züchtete. »Warum hast du die reingelassen?« Die Alte legte die Häkelsachen beiseite und sah ihren Stiefsohn mit dem liebevollen Blick einer Mutter an. Ihre langen Locken schimmerten silbern in der frühen Sonne, die durch das Wohnzimmerfenster brach. In ihren mandelförmigen Augen hing eine Wärme, die so nah schien, dass Avery sie zu spüren glaubte. Sie wirkte so weich und zerbrechlich, so friedlich und unschuldig, dass man sich kaum vorstellen konnte, dass diese Frau schon mehrere hundert Knochen gebrochen hatte. Unwillkürlich tastete Avery nach der Narbe an seinem linken Ellenbogen. Es hatte Jahre gedauert, bis der Trümmerhaufen verheilt war. In diesem Moment, in dem sie ihn so ansah, brauchte er die Gewissheit, dass die Narbe existierte, denn sonst hätte er nicht für möglich gehalten, dass sich ein Monster hinter der herzensguten Fassade von Madison verbergen könnte. Avery hatte Angst vor ihr – besser gesagt den größten Respekt. Madison war gut in dem, was sie tat. Sie hatte sich ein kleines Imperium aufgebaut, hatte sich ein Machtmonopol verschafft, das ihr so schnell niemand streitig machte. In ganz Alborne war Madison die einzige, die Medikamente besaß. War jemand krank, dann musste er zu allererst bei ihr antanzen. Und Madison wäre nicht Madison, wenn sie die Bedürftigen einfach freundlich mit Medis versorgte. Sie verteilte die Medikamente für horrende Summen. Wer kein Geld hatte, der stand in ihrer Schuld. Und das war weitaus schlimmer, als dafür Geld zahlen zu müssen. Madisons Mitarbeiter erhielten pünktlich ihren Lohn und wurden anständig behandelt, sodass sich niemand beklagen konnte. Aber wenn sie hintergangen wurde oder jemand – wie Avery schon ein paar Mal – einen Auftrag verpatzte oder sich zu viel Ärger einhandelte, verwandelte sich die Alte in eine Bestie, die einem Menschen die Haut abziehen konnte ohne mit der Wimper zu zucken. »Du solltest den Streit mit den Elvens endlich beenden, Ave.« Avery seufzte. Dann nickte er Madison freundlich zu und stieg die Treppe empor zu seinem Zimmer. Außen an seiner Zimmertür hing noch immer dieses grausame Bild von einer leichtbekleideten Blondine, die sich erotisch auf einem Auto räkelte. Darüber hatte jemand mit schwarzem Filzstift die Worte »Hier geht’s steil« geschrieben, die Avery zwar nicht lesen konnte, von denen er aber oft genug gehört hatte, dass sie da waren. Das Poster hing seit seinem achtzehnten Lebensjahr dort, angepinnt im Vollrausch. Bis jetzt hatte er es nicht geschafft, es abzunehmen. Es war ihm fast ein bisschen peinlich, dass die Elvens dieses Relikt aus seiner Jugend zu Gesicht bekommen hatten. Avery atmete tief ein. Er wappnete sich innerlich gegen das Bevorstehende, straffte sein hässliches Früchtehemd, setzte das gewohnt nette Lächeln auf und trat ein. Sein Zimmer war überschaubar – sowohl in der Größe als auch in Punkto Einrichtung. Links neben der Tür befand sich eine hellbraune Kommode, die der Grund des Modergeruches war, der einem mit dem Eintreten entgegen kam. Dahinter stand ein Schreibtisch, den Avery noch nie benutzt hatte. Die Bücher, die darauf lagen und inzwischen von einer dicken Staubschicht überzogen wurden, hatte er nicht mehr in Händen gehalten, seit er es damals aufgegeben hatte, Lesen zu lernen. Hinten rechts lag die Matratze mit der Blümchenbettwäsche, darauf zwei Gestalten, die sich dort breit gemacht hatten und rauchten. Eine dritte Person saß in dem klapprigen Schaukelstuhl an der rechten Wand. »Die Elvens«, sagte Avery und machte eine ausladende Handbewegung. Christine Elven, die auf seiner Matratze rumlungerte, hatte die Beine demonstrativ gespreizt und ließ einen Blick auf ihr blaues Höschen zu, das unter ihrem Minirock hervorlugte. »Wo warst du so lange, Schwuchtel? Kühe ausmisten?«, fragte sie, während sie den Zigarettenrauch inhalierte. Avery lächelte unbeirrt weiter und antwortete: »Christine Elven und ihre scharfe Zunge…« Er sah auf den Boden, als er weiter sprach, ließ das Lächeln aber nicht von seinem Gesicht weichen: »Hättest du deine verquollenen Augen aufgesperrt, dann wäre dir nicht entgangen, dass das hier kein Bauernhof ist. Wir haben hier keine Kühe, keine Ziegen und auch keine Schweine, abgesehen von denen, die mein Zimmer ohne meine Erlaubnis betreten haben und mein Kopfkissen als Aschenbecher missbrauchen.« Er ließ seine Worte kurz wirken, bevor er fortfuhr: »Aber ich nehme dir deine Dummheit nicht übel, Christine. Wenn es sich bei den Eltern um Bruder und Schwester handelt, ist es schwierig, etwas intelligentes zu produzieren.« Anstatt auf seine Provokation einzugehen und auszuflippen, blieb sie ruhig, wenngleich sie die Wut in ihren Augen nicht verbergen konnte. Die Elvens waren alle drei Geschöpfe, mit denen man im Zirkus hätte Geld verdienen können. Christine war die Älteste und Schlimmste des Dreigestirns: Die Missbildung in Person. Ihre kleinen Brüder sahen nicht viel besser aus, doch Avery hatte das Gefühl, dass die beiden etwas weniger Opfer des Inzests waren, als Christine. Christine musste in Averys Alter sein, sah aber deutlich älter aus. Ihre Schulterlangen braunen Haare waren mit dicken grauen Strähnen durchzogen, ihr Gesicht mit Pickeln gespickt und ihre Nase so schief wie der Turm von Pisa. Die Schminke hatte sie dermaßen dick aufgetragen, dass Avery sich fragen musste, ob darunter noch Haut zu finden war oder ob sie ihr bloßes Skelett mit Make-up bedeckt hatte. Auf den ersten Blick sah sie aus wie eine abgemagerte Hure, auf den zweiten nur wie eine Hure. Sie war zwar dünn, aber nicht untergewichtig, sondern vermutlich genau im Normalbereich. Aber das auffälligste an ihr waren die Augen, die wie die Krater des Mondes tief in ihrem Gesicht lagen. Schwarz und kalt und irgendwie leer. Chris und Christian Elven wirkten deutlich weniger abstoßend, was sie aber gewiss nicht zu Schönheiten machte. Zwei milchweiße Bubis, die statt Anfang dreißig auch fünfzehn hätten sein können. Kein Bart, keine Beinbehaarung und das typische Pickelgesicht der Elvens. »Avery…«, begann Christine mit ihrer rauen Alkoholikerstimme und ließ erneut Asche auf das Kopfkissen fallen. »Avery ist ein Mädchenname. Warum haben dir deine Eltern einen Mädchennamen gegeben?« »Ich würde sagen eure Eltern waren ebenfalls nicht sehr kreativ, was die Namensgebung anbelangt«, konterte Avery. Er schloss die Zimmertür, steckte die Hände in die Hosentaschen und lehnte sich gegen die Kommode. Christine drehte gedankenverloren ihre Haare zwischen den Fingern. »Ich verstehe das nicht ganz… Bist du eine Frau?« Avery lächelte breiter und noch freundlicher, hielt den Blick aber gen Boden gerichtet als er sagte: »Wie wäre es, wenn ich meinen Lümmel auspacke und du mir einen bläst? Dann kannst du dich selbst vergewissern.« Christine sah angewidert an ihm herab und tat, als wollte sie sich erbrechen. Nach einer kurzen Schweigepause, in der es niemand für nötig hielt etwas zu sagen, ergriff Avery erneut das Wort: »Also, liebe Elvens. Es freut mich ja, dass ihr hier seid, aber bitte, könntet ihr mir erklären, warum?« Christine spreizte die Beine noch etwas weiter, sodass Avery erkennen konnte, dass sie sich nicht gut rasiert hatte. »Weißt du, Ave«, röchelte sie während eines Hustenanfalls. »Ich denke, du schuldest uns noch Geld.« »Ich glaube, da irrt ihr euch. Nach meinem Stand habe ich alle Schulden bei euch getilgt, eh?« »Oh, ich spreche von Schutzgeld, nicht von Schulden im direkten Sinne.« Einer der Bubis drehte sich einen Joint. Der andere schien tot zu sein, so wenig, wie er sich bislang bewegt hatte. Christine stieß weißen Rauch aus. »Wir bekommen noch 4.000 Dollar von dir. Ansonsten kann ich nicht für deine Sicherheit garantieren, wenn du das nächste Mal unten in Hells Morth arbeitest. Bezahl das Geld und niemand von unseren Leuten wird dir etwas antun. Wenn nicht… Das weißt du selbst.« Avery begann zu weinen, die Tränen rollten ihm bitter die Wangen hinab. Er hatte den Ausdruck puren Verzweifelns aufgesetzt, nur um gleich darauf in schallendes Gelächter zu verfallen. »Woa, Moment!«, sagte er und konnte sich das Lachen kaum verkneifen. »Ihr drei Flitzpiepen kommt hier reinspaziert, in mein Haus – in mein Zimmer – und droht mir?« Er prustete los, hielt sich an der Kommode fest, damit er nicht vor Lachen umfiel und zog dabei die oberste Schublade leicht auf. Mit der Hand fuchtelte er wild in Richtung der drei und kicherte: »Ihr seid doch wirklich mit Dummheit gestraft! Angenommen…« Er machte eine Kunstpause. »Angenommen ich schlage das Angebot aus, was dann? Wollt ihr einen Krieg anzetteln? Wollt ihr euch mit uns anlegen, eh?« Christine drückte ihre Zigarette auf dem Kopfkissen aus. Der Bubi im Schaukelstuhl zündete sich den Joint an und meinte seinen Senf dazugeben zu müssen: »Dein Vater und Madison sind raus aus der Sache. Wir haben sie gefragt und nein, Kumpel, sie stehen in dieser Sache nicht hinter dir. Du hast uns ganz schön verarscht und das gehört sich nicht.« Averys Lachen erstarb nicht. »Scheiße, ich glaub’s ja nicht! Ihr seid wirklich strohdoof, wenn ihr glaubt, dass ihr auch nur im entferntesten damit durchkommt!« Seine Hand glitt in die Schublade und ertastete die Pistole. Sein Lachen wurde schwächer und das gewohnt freundliche Lächeln kehrte auf sein Gesicht zurück. Er entsicherte die Waffe, holte sie aus der Schublade und schoss ohne zu zielen auf den Jointraucher. Die erste Kugel traf sein Bein, die zweite seinen Hals und die dritte seinen Kopf. Dann erschoss er den anderen Bruder, der vermutlich schon längst tot war. Er traf zwei Mal in die Brust und einmal in den Bauch. Für Christine hatte er keine Kugel mehr übrig, also schlenderte er lässig auf sie zu, packte sie am dünnen T-Shirt und zerrte sie auf die Beine. Dass das Magazin leer war, wusste Christine nicht, weswegen Avery ihr die Pistole an den Kopf drücken und sie damit einschüchtern konnte. Ohne diesen Waffenvorteil hätte sie ihn leicht überwältigen können, denn sie war erstens einen Kopf größer als er und hatte zweitens deutlich mehr Kraft und Muskeln. Doch Avery wusste, dass der Schein nach Außen manchmal mehr wert war, als das tatsächliche Sein. Avery lächelte weiter, trat ein paar Schritte von Christine zurück und auf das Fenster hinter dem Schaukelstuhl zu. »Wir machen jetzt Folgendes«, flüsterte er und deutete auf das Fenster. »Du machst das Fenster auf und springst raus und wenn du das ganze überlebst, dann hole ich dir einen Krankenwagen.« Sie wich zurück und schüttelte energisch den Kopf. »Na los, Christine. Es ist ganz einfach: Du springst raus und bist entweder tot oder verletzt. Aber wenn ich dir direkt eine Kugel in den Schädel jage, gibt es kein >oder< mehr. Dann bist du definitiv tot.« Sie schluckte, trat an das Fenster heran und sah in die Tiefe. Vorsichtig und quälend langsam öffnete sie es. Avery roch seinen eigenen Schweiß, der ihm bitter und stechend in die Nase kroch. Er sollte doch langsam duschen gehen. »Ich zähle bis drei. Wenn du dann nicht springst, erschieße ich dich! Letzte Chance, meine Liebe.« Christines Augen waren geweitet und für einen kurzen Moment erspähte Avery einen Funken Schönheit in ihr. Ein kindliches Glühen in den tiefschwarzen Pupillen, das das einzig Natürliche an ihr zu sein schien. »Eins.« Sie sah noch einmal hinunter, den Moment des Schmerzes hinauszögernd. »Zwei.« Ihre Hände umklammerten den Fenstersims. Sie warf einen Blick zurück auf ihre toten Brüder, deren Blut das Zimmer ertränkte und machte instinktiv einen Schritt auf sie zu. Avery setzte ihr den Lauf der Pistole an den Hinterkopf und drückte sie sanft zum Fenster zurück. »Wehe, du holst mir keinen Krankenwagen!«, zischte sie und begann hinauszuklettern. »Und die letzte Zahl ist…«, wisperte Avery, »drei.« Christines Schrei war schrill und ungewöhnlich klar, als sie sprang. Nur der Aufprall war dumpf. Als würde man einen nassen Lappen zu Boden werfen. Avery legte die Pistole zufrieden zurück in die Schublade und verließ sein mit Hirnmasse und Blut bedecktes Zimmer. Unten saß noch immer Madison, die stumpf weiterhäkelte, als wäre es das normalste der Welt, wenn sechs Schüsse im Zimmer des Stiefsohnes fallen und eine Frau aus dem Fenster stürzt. Das einzige, was sie sagte war: »Du hast das Problem aus der Welt geschafft, wie ich sehe.« »Scheiße, ja!«, entgegnete Avery, der sich eilig die Schuhe anzog. Madison häkelte weiter, ohne noch etwas zu sagen. »Falls ihr mich sucht, ich bin im Krankenhaus«, fügte Avery noch hinzu, bevor er nach draußen ging und das röchelnde Etwas, was von Christine noch übrig war, auf den Rücksitz seines Wagens warf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)