Never Never Land von Tei ================================================================================ Nimmerland ---------- Die Straßen von Los Angeles zogen an ihm vorbei, ohne dass er ihnen wirklich Beachtung schenkte. Haus um Haus, Palme um Palme – all das realisierte er gar nicht. Wie er es schaffte, seinen silbernen Lexus zu fahren, ohne im nächsten Zaun hängen zu bleiben, war ihm ein Rätsel, dessen Lösung ihn eigentlich gar nicht wirklich interessierte. In seinem Kopf gab es nur drei Wörter, die sich scheinbar auf Dauerschleife befanden und sich unaufhörlich wiederholten. hide ist tot. Immer wieder ein und derselbe Satz. hide ist tot. Stets dieselben Worte, die ihm erst vor kurzem durch einen Anruf mitgeteilt worden waren. hide ist tot. Drei einzelne, harmlose Wörter, die als Satz zusammengesetzt jeglichen anderen Gedanken in seinem Kopf verbannt hatten und ihn nur noch auf Instinkt reagieren ließen. Er hatte längst die Orientierung verloren und wusste nicht mehr, wo er sich befand und wie er zu seiner Plattenfirma am Lankershim Boulevard kommen sollte. Als eine Parkbucht in Sicht kam, steuerte er sie an und stellte den Motor der Limousine ab. Er verschränkte die Arme über dem Lenkrad und lehnte seine Stirn dagegen, sodass die gebleichten Haare nach vorne fielen und sein Gesicht verbargen, während durch die Windschutzscheibe die warme, kalifornische Abendsonne hereinschien. Nach ein paar Minuten richtete er sich wieder auf, zog den Schlüssel aus dem Zündschloss, schnallte sich ab und stieg aus. Er musste sich an einem Aussichtspunkt befinden, da es Informationsschilder sowie ein Fernglas gab, doch all dies ließ er links liegen und ging direkt zu dem Holzzaun, der Besucher daran hindern sollte, die steilen Klippen hinabzustürzen, und lehnte sich gegen diesen. Es war unmöglich, dass hide tot war. Er hatte doch erst kürzlich noch mit ihm gesprochen und da hatte er ihm ganz aufgeregt von seinen Plänen erzählt. Am Ende ihres Telefonats hatte er ihn dazu gedrängt, endlich einmal wieder nach Japan zukommen und bei einem seiner Auftritte zuzuschauen. Sollte er es nicht tun, würde er nach LA kommen und ihn eigenhändig kidnappen, hatte er scherzend gedroht und dann lachend aufgelegt. … Und plötzlich machte für Yoshiki alles Sinn: hide war nicht tot, sondern er wurde von ihm nur gehörig an der Nase herumgeführt, damit er sich in den nächsten Flieger setzte und nach Tokyo flog. Schon seit Jahren zog er es vor, in den Staaten zu sein, weil er sich dort frei bewegen konnte, ohne Bodyguards, Paparazzi und Autogrammjäger am Hals zu haben. Nach X JAPANs Auflösung gab es für ihn keinen wirklichen Grund mehr, nach Tokyo zurückzukehren und in den USA wurde er wenigstens nicht ständig mit Fragen hinsichtlich seiner Zukunftspläne beziehungsweise Toshis Wandel geplagt. „Du kleiner, mieser…“, fluchte er leise vor sich hin, ging zurück zu seinem Auto und stieg ein. „Wenn ich dich in die Finger kriege!“ Er schnallte sich an und fuhr mit durchdrehenden Reifen und aufheulendem Motor vom Parkplatz. Nun, nachdem er sich sicher war, dass jene drei Worte nicht stimmen konnten und nur ein ganz blöder Scherz von hide waren, machte seine Umgebung auf einmal wieder Sinn für ihn, sodass er relativ schnell eine Auffahrt auf einen der Freeways gefunden hatte, der ihn wieder nach Los Angeles und damit in Richtung Extasy Records brachte. Kaum hatte er seinen Wagen auf dem Parkplatz des Studios geparkt, stieg er aus, wobei er nicht einmal den Schlüssel abzog oder die Tür schloss, und rannte praktisch ins Gebäude, vorbei an seinen Mitarbeitern, direkt in sein Büro. Dort wählte er auswendig hides Nummer und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch, während er gar nicht mitbekam, wie er am ganzen Körper zitterte. Der Gitarrist würde etwas zu hören bekommen, weil er ihn so auf den Arm nahm! Yoshiki ließ es klingeln, bis die Verbindung unterbrochen wurde, ehe er auf Wahlwiederholung drückte und erneut wartete, dass der Ältere den Anruf entgegen nahm. Aber wie schon zuvor hob keiner ab, sodass der Produzent schließlich die Nummer ihres ehemaligen Managers wählte. Wenn einer wusste, was Sache war, dann sicherlich er! Doch nachdem dieser abgenommen hatte, er ihm jene Frage gestellt hatte, die ihm auf der Zunge gebrannt hatte, und er anschließend die Antwort hörte, wünschte er sich, er hätte die Nummer nie gewählt. hide ist tot. Der Mann am anderen Ende der Leitung sagte noch mehr, doch das hörte er gar nicht mehr. hide ist tot. Wenn selbst ihr ehemaliger Manager das sagte, dann musste es stimmen. hide ist tot. Er ließ den Telefonhörer los, der nach unten fiel und mehrere Zentimeter über dem Boden zum Halt kam, da die Schnur nicht länger war, und nun hin und her pendelte. Die nächsten Stunden vergingen, ohne, dass er sich groß an sie erinnern konnte oder in der Lage war, zu sagen, wie er es geschafft hatte, mit seinem Auto nach Hause zu fahren. Er hatte seine Privatsekretärin Amy gebeten, ihm so schnell wie möglich einen Flug nach Japan zu buchen – natürlich musste sein Privatjet ausgerechnet jetzt bei der Wartung sein. Es dauerte nicht lange und er erhielt eine Nachricht, dass er am nächsten Morgen - um vier Uhr früh - zurück in sein Heimatland fliegen würde. Die restlichen Stunden bis zum Abflug verbrachte er damit, in seiner Villa auf dem Sofa zu sitzen und zwischen Trauer, Wut und Unglauben hin und her zu schwanken. Ein Teil von ihm klammerte sich noch immer an diesen kleinen Funken Hoffnung, dass alles nur ein böser Scherz war und hide ihn dort abholen würde, während er sich vor Lachen nicht mehr einkriegte, weil Yoshiki tatsächlich auf ihn hereingefallen war. In der Nacht holte Amy ihn ab und brachte ihn zum Flughafen. Noch immer trug er dieselben Klamotten und er hatte seit dem Mittag nichts mehr gegessen, doch das interessierte ihn herzlich wenig, da sich sein Magen derart zusammengezogen hatte, dass er sowieso keinen Bissen hinunter bekommen würde. Als er am LAX angekommen war und eingecheckt hatte, machte er sich auf dem Weg in die VIP-Lounge und immer wieder war ihm, als würde er hides Gesicht unter den wartenden Passagieren entdecken. War er etwa doch nach Los Angeles gekommen, um seine Drohung wahr zu machen? Weshalb aber dann die Vortäuschung seines Todes? Waren es am Ende vielleicht alles nur Gerüchte? Wie ein Ertrinkender an einer Boje versuchte er, sich panisch an diesem Gedanken festzuhalten. Er konnte hide nicht verlieren, nicht nachdem sein Vater ihn schon verlassen hatte! … und sein ehemals bester Freund Toshi auch… Nicht auch noch hide! Als er schließlich in den Flieger stieg und seinen Platz in der ersten Klasse suchte, stach ihm ein Büschel bunter Haare ins Auge. „hide!!“ „Excuse me?“, fragte der junge Erwachsene überrascht, den er an der Schulter gepackt hatte. „… I… you…“ Es war nicht hide, sondern nur ein Amerikaner, der zufällig eine ähnliche Haarfarbe und Frisur hatte. „I… I’m sorry. I mistook you for someone I know… forget it!” Damit wandte sich Yoshiki ab und ging weiter zu seinem Sitzplatz. Es dauerte nicht lange und die große Boing 747 rollte in Richtung Startbahn, von wo aus sie sich Minuten später in die Luft erhob. Nachdem sie ihre Reiseflughöhe erreicht hatten, kam eine Stewardess zu dem Produzenten und fragte ihn, ob er etwas essen oder trinken wollte, doch alles was er bestellte, war er ein Glas Wasser, da sich sein Mund ganz trocken anfühlte. Er wusste, dass es besser wäre, Nahrung zu sich zu nehmen, doch er war sich sicher, dass er beim besten Willen nichts herunterbekommen würde. Selbst wenn ihn jemand mit seinen Lieblingsgerichten oder Süßem locken würde, er würde in der augenblicklichen Lage keinen einzigen Bissen hinunter kriegen. Folglich musste Mineralwasser für den 20-stündigen Flug ausreichen. Konnte er sich normalerweise im Flieger immer schnell entspannen, so war es ihm diesmal unmöglich. Unruhig rutschte er in seinem Sitz hin und her und fand beim besten Willen keine bequeme Position. Nur flüchtig nippte er ab und an an seinem Getränk und mehr als einmal hätte er es sich fast über die Hose gekippt, da er mit seinen Gedanken bei hide war. Sobald er in Tokyo wäre und ihn in die Finger bekäme, würde er ihn mindestens einen Kopf kürzer machen! Doch was wenn… Er wagte es nicht, weiter in diese Richtung zu denken. Wahrscheinlich war es hirnrissig, wo ihm doch ein guter Freund sowie ihr ehemaliger Manager bestätigt hatten, dass der Gitarrist tot war, doch in gewisser Weise war es Selbstschutz und den wollte er so lange wie möglich aufrecht erhalten. Nachdem es ihm nicht möglich war, zur Ruhe zu kommen, da er jedes Mal hides lächelndes Gesicht vor sich sah, sobald er die Augen schloss, entschied er, von dem kleinen Privatfernseher Gebrauch zu machen – eine der zahlreichen Annehmlichkeiten, wenn man erster Klasse flog. Das erste Programm, das erschien, als er ihn eingeschaltet hatte, waren die Morgennachrichten von NHK. Während Yoshiki noch seinen Kopfhörer einstöpselte und aufsetzte, flimmerten Bilder von Kronprinz Naruhito und seiner Frau Masako darüber. Er regelte gerade die Lautstärke, als wieder ins Studio umgeschaltet wurde und die Moderatorin zu reden anfing, während im Hintergrund ein Foto von hide zu sehen war. „Matsumoto Hideto, besser bekannt als hide, Gitarrist der legendären Rockband X JAPAN, die sich im September des letzten Jahres aufgelöst hatte, verstarb gestern am 2. Mai um 8:52 Uhr im Alter von 33 Jahren. Er wurde mit einem Handtuch am Türknauf erhängt aufgefunden und ins Krankenhaus gebracht, wo er wenig später verstarb. Die Ermittlungen hinsichtlich hides Tod laufen noch, doch augenblicklich deutet alles auf Selbstmord.“ Den restlichen Beitrag bekam Yoshiki nicht mehr mit, da er wie gelähmt auf den Bildschirm starrte, der nun einen Zusammenschnitt von hides Leben zeigte. Tod… Selbstmord… 33 Jahre alt… Es dauerte nicht einmal eine Sekunde und jegliche Luftschlösser, die er sich aus Selbstschutz gebaut hatte, lagen in Schutt und Asche dar. Die Realität traf ihn mit einer solchen Wucht, dass ihm für einen Moment die Luft zum Atmen fehlte und er unbeholfen an seiner Krawatte zog, um sie zu lockern, in der Hoffnung, so leichter Atmen zu können. Tod… Wie von selbst sammelten sich Tränen in seinen Augen und begannen, von dort über seine Wangen hinab zu rinnen, ehe sie sich an seinem Kinn sammelten und von dort auf sein Hemd tropften. Tod… Kraftlos streifte er die Kopfhörer ab und verbarg sein Gesicht hinter seinen Händen, während er sich auf die Unterlippe biss, bis er den metallenen Geschmack von Blut in seinem Mund wahrnahm, da er nicht wollte, dass ihn jemand weinen sah oder schluchzen hörte. hide war tot. Der Mensch, den er neben Toshi immer als seinen besten Freund angesehen hatte, hatte ihn alleine zurück gelassen. Der Mensch, der an ihn geglaubt hatte, als alle Kritiker ihn für verrückt erklärt hatten, war für immer fort. hide war tot. Nie mehr würde er sein Lachen hören. Nie mehr würde er ihn mitten in der Nacht anrufen und solange nerven, bis er endlich zustimmte, mit ihm von Bar zu Bar zu ziehen, bis sie nicht mehr gerade aus gehen konnten und nicht mehr wussten, wo oben und unten war. Nie mehr würde er sein Gitarrenspiel hören und mit ihm auf ein und derselben Bühne stehen. hide war tot. Sein ganzer Körper zitterte und bebte, als er in seinem Kopf immer wieder den Nachrichtenbericht hörte. Aber warum sollte sich hide umbringen? Er war glücklich, er war erfolgreich, er liebte das Leben! Wie könnte er dann…? Selbstmord… Innerhalb einer Millisekunde wandelte sich die Trauer in Wut. Wie konnte er sich einfach umbringen?! Erst sein Vater, der ihn ohne jegliche Erklärung zurückgelassen hatte und nun hide. Wie konnte er ihn diese Ungewissheit noch einmal durchleben lassen, wo er doch wusste, wie sehr es ihn mitnahm, dass er nie das Warum für den Tod seines Vaters kennen würde? Doch so schnell wie sein Zorn aufgeflammt war, so schnell wurde er auch schon wieder durch den ungeheuren Verlust ersetzt und er spürte nur noch die Leere, die er schon einmal gefühlt hatte, als er noch ein Kind gewesen war. Es war der 3. Mai, als er schließlich in Narita landete und dort von hides Bodyguard abgeholt wurde. Er kannte ihn schon seit langem und schätzte den Mann sehr, dem man ansehen konnte, wie nahe ihm der Tod seines Chefs ging. Ohne große Worte, wofür Yoshiki ihm äußerst dankbar war, da er sich definitiv in keiner Verfassung für große Gespräche fühlte, fuhr er ihn zu jenem Ort, an dem die Totenwache abgehalten wurde. Der Produzent verbarg seine, durchs viele Weinen geröteten und angeschwollenen, Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille und versuchte, seine zerzausten Haare ein wenig zu ordnen. Die Fahrt über starrte er aus den getönten Scheiben, doch so vertraut alles auch schien, er hatte das Gefühl, nicht mehr Teil dieser Welt zu sein. Als der Wagen schließlich zum Stehen kam, zögerte der Produzent, ehe er schließlich die Kraft fand auszusteigen und von hides Bodyguard in die Halle geführt wurde. Er öffnete ihm die große Flügeltür, doch anstatt einzutreten, verharrte Yoshiki an der Schwelle. Im Halbdunkel, das von unzähligen Kerzen erhellt wurde, führte ein Gang nach vorne, an dessen Ende ein aufgebahrter Sarg war, um den unzählige Blumenkränze lagen und in dessen Nähe Räucherstäbchen angezündet worden waren. Davor hatten sich etliche Leute versammelt, sodass man ihn nur zum Teil ausmachen konnte. Links und rechts befanden sich Stuhlreihen und soweit er es sehen konnte, war kein Platz unbesetzt. Man konnte leises Schluchzen sowie gedämpfte Gespräche von den Anwesenden wahrnehmen. Es kam ihm wie eine Stunde vor, als er mit wackligen Knien schließlich die Halle betrat und langsam nach vorne ging, während seine Schritte durch den großen, hohen Raum hallten. Mehrere Köpfe drehten sich in seine Richtung und je weiter er sich dem Sarg näherte, desto mehr Menschen erkannte er – Freunde, Familie, Kollegen… in der vordersten Reihe machte er Pata und Heath aus, die sich erhoben, als sie ihn sahen, und diejenigen, die um hide herum versammelt waren, traten respektvoll zurück. Einen Meter vor dem Sarg blieb er stehen und ballte seine zitternden Hände zu Fäusten, ehe er tief durchatmete und die letzten zwei Schritte zurücklegte. Bis jetzt hatte ein kleiner Teil von ihm sich noch immer daran geklammert, dass alles nur ein böser Scherz war, obwohl es inzwischen ziemlich unwahrscheinlich geworden war. Dieser letzte Funke Hoffnung erlosch, als er in den geöffneten Sarg sah und seinen besten Freund erblickte, der aussah, als würde er nur schlafen. Er starrte ihn an, nahm seinen leblosen Körper in Augenschein, bevor er zögernd eine Hand nach ihm ausstreckte und ihn sanft an der Schulter berührte. „hide, wach auf“, flüsterte er mit tränenbelegter Stimme, doch nichts geschah. Es machte doch den Anschein, als würde er nur schlafen, weshalb schlug er dann nicht die Augen auf, wenn er versuchte, ihn zu wecken? „hide, wach auf!“, forderte er diesmal energischer und stupste ihn erneut an, während er nicht mitbekam, wie immer mehr Tränen über seine Wangen rannen. „hide!“ Er schüttelte ihn sanft, doch nichts passierte. Seine Hand ergriff die kalte, sich wachsig anfühlende des Gitarristen und er zog an ihr, aber noch immer öffnete der andere nicht seine Lider und lachte ihn aus, weil er ihm derart auf den Leim gegangen war. „Bitte“, flehte er, „lass dein Scheiß! Mach die Augen auf, bitte!“ Schluchzend legte er seinen Kopf auf die Brust des Älteren und versuchte verzweifelt, einen Herzschlag zu hören, doch er nahm kein gleichmäßiges Pochen war. Stille war das Einzige, das seine Ohren begrüßte. „Bitte, hide!“ Seine Stimme war lauter geworden, doch ein Großteil seiner Worte ging in Tränen unter. „Ich hab’s verstanden, ich werde nicht mehr so lange aus Japan fort bleiben! Ich komm zu so vielen deiner Auftritte, wie du willst, solange du nur die Augen aufmachst, hörst du?!“ Doch nichts geschah. Das alles musste nur ein ganz böser Traum sein, doch was musste er machen, um in seinem Schlafzimmer in Los Angeles aufzuwachen?! Erneut schüttelte er den Gitarristen, rief seinen Namen, stupste ihn an, aber egal, was er auch tat, der Gitarrist öffnete seine Lider nicht. „hide!!“ „Yoshiki…“ Er spürte eine Hand, die sich auf seine Schulter legte und sie sanft drückte. Wahrscheinlich war es Pata oder Heath, der versuchen wollte, ihn zu beruhigen, doch nichts konnte ihn von dem Sarg losreißen. „hide!!“ „Yoshiki…!“ Diesmal war die Stimme lauter und er wurde leicht geschüttelt. Er wirbelte herum, um wen auch immer anzuschreien, dass sie ihn gefälligst ihn Ruhe lassen sollten, doch er wurde von einem solch grellen Licht geblendet, dass er die Augen zusammen kneifen musste und mehrmals blinzelte. Als er sie schließlich wieder öffnete, glaubte er zu träumen… „… hide…?!“ Ungläubig starrte er den Älteren an, der ihn besorgt ansah. „Alles okay, Taishou? Du hast immer wieder meinen Namen geschrien…“ „… hide…“ War das real? Irritiert blickte Yoshiki sich um und musste feststellen, dass er sich nicht mehr länger in der Aufbahrungshalle befand, sondern in einem Green Room, wo er auf einer ledernen Couch saß. Verwirrt erkannte er, dass er eines seiner Bühnenoutfits anhatte und auch hide sah aus, als könnte er jeden Moment auf die sprichwörtlichen Bretter, die die Welt bedeuteten. Er trug sogar seine gelbe Gitarre mit den Herzen, die er nun ein wenig nach hinten geschoben hatte, um Yoshiki mit dem Hals nicht ausversehen noch zu „erschlagen“. „Du siehst aus, als würdest du Geister sehen“, äußerte hide und zog eine feinsäuberlich gezupfte und getrimmte Augenbraue nach oben, während er sich eine pink gefärbte Haarsträhne aus dem Gesicht strich. „Hideto?“ Vorsichtig streckte Yoshiki eine Hand aus und berührte damit die rosige Wange des Gitarristen, die sich unter seinen Fingern ganz warm und zart anfühlte. „Okay, jetzt weiß ich, dass etwas im Busch ist, wenn du mich so nennst!“, entgegnete hide, richtete sich auf und stemmte die Hände in die Hüften. „… du lebst…“, flüsterte der Jüngere ungläubig und betrachtete seine Fingerkuppen, die gerade noch auf der Haut des anderen gelegen hatten. „Du lebst!!“ Im nächsten Augenblick war er aufgesprungen und hide um den Hals gefallen, während er vor Freude aufschluchzte. Dieser erwiderte verdutzt die Umarmung und strich in Kreisen über den zierlichen, bebenden Rücken. „Sollte ich etwas anderes?“, fragte er, als er den langjährigen Freund schließlich ein wenig von sich drückte und mit dem Daumen die Tränen von seinen Wangen wischte. Schon im Schlaf hatte er ihn weinen gesehen und nun waren weitere hinzugekommen. Zwar konnte es manchmal ein wenig nerven, wenn man andauernd als lebendiges Taschentuch herhalten musste, doch im Grunde schätzte er es, dass der andere sein Herz auf der Zunge trug und kein Geheimnis um seine Gefühle machte. „Du… du warst tot!“ Der Gedanke daran ließ es Yoshiki eiskalt den Rücken herunterlaufen und ihn erschaudern, sodass er den Älteren noch einmal umarmte. Solange er seine Wärme und seinen Herzschlag spürte, konnte er sich sicher sein, dass er ihn nicht alleine gelassen hatte. Solange er seinen Geruch wahrnahm und seinen Atem auf seiner Wange spürte, wusste er, dass dies nur real sein konnte. „Das war doch nur ein Albtraum“, tat hide es lachend ab und wuschelte ihm durch die gebleichten Haare, „du weißt doch, so schnell wirst du mich nicht los!“ „Will ich auch nicht“, nuschelte der Jüngere in die Halsbeuge des Gitarristen und klammerte sich an ihn, so als wollte er nie mehr von ihm ablassen. „Es wäre trotzdem ratsam, wenn du mich langsam mal wieder loslassen würdest, weil wir so beim besten Willen kein Konzert spielen können!“ „Konzert?!“ Yoshiki löste sich von ihm und nur zu deutlich konnte man die imaginären Fragezeichen ausmachen, die um seinen Kopf herum schwirrten. „Unser Auftaktkonzert zur Europatournee“, half der andere ihm auf die Sprünge. „Europatournee?“ „Sag mal, wo bist du nur wieder mit deinen Gedanken?“, lachte hide kopfschüttelnd und verpasste ihm einen leichten Klaps auf den Hinterkopf, „wir haben vor einem Monat unsere erste USA-Tour erfolgreich hinter uns gebracht und nun ist Europa dran. X JAPAN ist in aller Munde! Die Leute kommen von überall her und das nur wegen uns!“ „X JAPAN?“ „Unsere Band?“ „Aber wir sind doch getrennt!“ Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, hatte er auch schon hides Hand an der Stirn. „Fieber hast du keines…“, murmelte dieser mehr zu sich selbst, „bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist und du keinen Filmriss oder so hast?“ „Mir geht es gut, hide!“, entgegnete Yoshiki und verschränkte die Arme vor der Brust, doch insgeheim musste er sich eingestehen, dass er sich doch ein wenig darüber wunderte, dass er sich an so rein gar nichts erinnern konnte. Nicht einmal das heutige Datum fiel ihm ein… „hide, welchen Tag haben wir heute?“ „Samstag, der 18. Dezember 2010.“ „2010? … Und X JAPAN ist nicht getrennt?“ „Okay, setz dich“, befahl der Gitarrist entschieden, drückte ihn auf das Sofa und ließ sich dann neben ihn fallen, nachdem er die E-Gitarre abgestreift und beiseite gelegt hatte. „Aber du hast doch was von einem Konzert gesagt…?!“ „Auf fünf Minuten mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an. Erst will ich sicher sein, dass mit dir alles in Ordnung ist!“ Sorgenfalten zeichneten sich nur allzu deutlich auf der Stirn des Älteren ab. „Ich fühl mich hervorragend, hide, ehrlich!“ „Was ist das letzte, was du weißt?“ „… … dass du tot warst…“, flüsterte Yoshiki und kramte hektisch in seinem Gehirn nach anderen Erinnerungen, doch er fand keine, „es… es war der 1. Mai 1998 in LA und… und ich war auf dem Weg ins Studio, als ich einen Anruf erhielt, dass du tot wärst. Ich bin nach Tokyo zu deiner Beerdigung geflogen und… und dann habe ich dich aufgebahrt im Sarg liegen gesehen…“ „… Das war vor 12 Jahren, Yoshiki“, antwortete hide schließlich, nachdem er schweigend zugehört und sich durch die Haare gefahren war. „Ich hatte Pink Spider aufgezeichnet und war anschließend mit Freunden noch trinken gegangen. In den frühen Morgenstunden bin ich hacke dicht nach Hause gekommen und wollte meine Nackenschmerzen mit dem alten Handtuchtrick lindern… dabei habe ich mich ausversehen fast erhängt… meine Ex hat mich kurz darauf gefunden und den Notarzt gerufen. Ich wurde reanimiert und ins Krankenhaus gebracht, wo ich gut eine Woche auf der Intensivstation lag… am 3. Mai bist du aus LA eingeflogen und mir monatelang nicht mehr von der Seite gewichen, weil du dir die Schuld an dem Unfall gegeben hast“, erklärte hide. „… dann… dann war das alles nur ein Traum?“ „Du hast seit 12 Jahren immer denselben Albtraum… dass ich an jenem Tag gestorben wäre…“, antwortete er und blickte betreten drein. Es schmerzte ihn jedes Mal, wenn er mitbekam, dass Yoshiki noch immer unter den Ereignissen von damals litt. „Und was war dann?“ „Du meinst danach?“ Als er nur ein kurzes Nicken als Antwort erhielt, fuhr der Gitarrist fort, „wie geplant wollten wir 2000 X JAPAN mit einem neuen Sänger auferstehen lassen, aber keiner hat deinen Ansprüchen genügt. Ich denke, irgendwo hast du sie alle mit Toshi verglichen… Nachdem wir keinen neuen Sänger finden konnten, haben wir die Idee ein für alle Mal begraben. Ein paar Jahre später haben du und Toshi euch nach Jahren der Stille wieder ausgesöhnt und 2007 haben wir X wiederauferstehen lassen…“ „… und arbeiten seitdem an unserem alten Ziel, die Welt zu erobern.“ Yoshiki hatte nicht vergessen, was hide vorhin über die USA-Tour und nun die Europatournee gesagt hatte. Es erschien ihm wie ein Traum, dass das alles wahr sein sollte, doch nachdem er den Tod des Gitarristen offensichtlich nur geträumt hatte, musste es stimmen. Welcher Mensch träumte schließlich schon, wenn er träumte? „Du bist seit Monaten nur noch am Rotieren“, äußerte hide besorgt und legte ihm eine Hand auf die Schulter, während er ihn anlächelte. „Wahrscheinlich hat mein Kopf deswegen einfach dicht gemacht“, entgegnete Yoshiki schulterzuckend. „Sag Toshi nichts davon oder er wird dich noch zwangsbeurlauben“, spaßte der Ältere und entlockte so dem anderen ein Lachen. „Wenn das alles vorbei ist, gönne ich mir ein paar Tage Urlaub“, versprach der Drummer und Pianist und streckte sich, ehe er mit den geöffneten Handflächen auf seine Oberschenkel schlug, die in seiner geliebten, schwarzen Lackhose steckten. „Dann lass uns mal los! Wenn ich mich recht entsinne, haben wir ein Konzert zu spielen!“ Damit sprang er voller Vorfreude auf und hielt hide die Hand hin, welche dieser auch ergriff, und ließ sich von ihm hochziehen. „Dann lass uns mal die Bühne rocken!“, stimmte er verschmitzt grinsend ein und schnappte sich seine Gitarre, um dann in Richtung Tür zu gehen, während Yoshiki ihm folgte. Doch als dieser über die Schwelle treten wollte, wurde alles schwarz um ihn und er spürte, wie er zu Boden stürzte. Alles was er noch hörte, war, wie jemand seinen Namen rief… „Yocchan!“ „Yocchan!“ Schwerfällig öffnete er die Augen, als er seinen Spitznamen hörte und blinzelte verwirrt, als er in das Gesicht seines besten Freundes blickte, der ihn festhielt und gegen sich drückte, während seine Hand, die in einem ledernen Handschuh steckte, über seinen Oberarm strich – ein Versuch, den unterkühlten Körper wieder aufzuwärmen. „… hide…?“, flüsterte Yoshiki leise, schloss kurz die Lider, um sie gleich darauf wieder zu öffnen. „Du bist bei seinem Grab“, antwortete Toshi und musterte den Jüngeren besorgt. Es war ein paar Tage nach hides Geburtstag und ihr Bandleader hatte beschlossen, zum Friedhof zu fahren, ehe sie sich im Studio für Aufnahmen treffen wollten. Als er jedoch nach zwei Stunden noch immer nicht aufgetaucht war und auch auf sein Handy nicht reagierte, hatte Toshi angefangen sich Sorgen zu machen und entschieden, sich ebenfalls zum Friedhof zu begeben. Am Grab ihres verstorbenen Gitarristen hatte er schließlich den Freund aus Kindheitstagen ausfindig gemacht, der dort seelruhig auf dem kalten Steinboden geschlafen und dessen Lippen ein friedliches Lächeln geziert hatte. Es war Dezember und die Außentemperatur lag nur knapp über 5°C, entsprechend hatte die Haut des Jüngeren bereits einen leicht bläulichen Unterton angenommen. „… so kalt…“, klapperte Yoshiki mit den Zähnen und kuschelte sich näher an Toshi, der ihn aber ein wenig von sich schob, seine eigene Jacke öffnete, auszog und dem anderen über die Schultern legte. Anschließend stand er auf und hob ihn hoch. „Ich bring dich erst einmal nach Hause, damit du wieder auftaust“, entschied der Sänger bestimmt und ignorierte die Kälte, die durch seinen dünnen Pullover hindurch auf seine Haut traf. Yoshiki widersprach nicht und lehnte sich nur gegen den warmen Körper, während er noch einmal in Richtung hides Grab schaute und gegen die aufkommenden Tränen ankämpfte, als er zurück an seinen Traum dachte. Wäre das ihre Zukunft gewesen, wären die Ereignisse am 2. Mai 1998 damals anders verlaufen? Da die tiefstehende Abendsonne ihn blendete, musste er blinzeln und für einen Augenblick war ihm, als würde er dort, von den rosafarbenen Strahlen des letzte Tageslichtes umgeben, den verstorbenen Gitarristen ausmachen, der ihm lächelnd hinterher winkte, während er in der anderen Hand das Glas Wein hielt, das er ihm stets mitbrachte, während er selbst die restliche Flasche killte. Doch als er erneut blinzelte, sah er nur noch das Grab und den Sonnenuntergang… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)