Martini von Malerin ================================================================================ Kapitel 8: Schatten der Vergangenheit ------------------------------------- Es war dunkel als ich aufwachte. Wieder brummte mein Kopf. Ein nicht selbstverschuldeter Kater. Wer hätte gedacht, dass das auch vorkommt? War es Abend oder Nacht? Ich stand auf. Mir war schwindelig und ich war zittrig auf den Beinen. Mir war schlecht. Ich schaute mich nach dem Eimer um, die die Putzfrau in meinem Zimmer gelassen hat, doch ich fand ihn nicht. Also übergab ich mich wieder auf dem Parket meines Großvaters. War mir doch egal… Ich humpelte zur Tür um zu versuchen, ob sie auf ging. Doch sie war verschlossen. Dasselbe versuchte ich am Fenster. Eigentlich dachte ich noch nicht an Fluchtpläne, denn so schwach wie ich mich fühlte, könnte ich wohl kaum entkommen. Es war mehr ein Instinkt. Ein innerer Drang der nach der Freiheit rief. Es war der innere Drang der auch einen angeketteten Hund dazu bringt an seiner Leine zu zerren, obwohl der Hund jedes Mal zu seinem Herrchen zurückkehren würde, da es sonst verhungerte. Hätte meine Mutter mir nicht eine letzte Hoffnung in die Hände gelegt, hätte ich mich jetzt wahrscheinlich hingelegt und weitergeschlafen. Vielleicht wäre es mir am nächsten Morgen wieder gut gegangen. Kurz bevor ich sterben würde… Doch ich holte das Lockpicking-Set. Ich beschloss es beim Fenster zu versuchen. Zu groß war meine Angst, dass ich Gin oder Anokata im Flur vor meinem Zimmer begegnen würde. Ich war sechs gewesen als mir ein grimmiger Amerikaner aus der Organisation beigebracht hatte wie man Schlösser öffnet. Als Kind hatte ich es aufregend gefunden. Es war wie ein Knobelspiel gewesen. Jetzt rettete es mir das Leben. In kaum einer Minute war das Schloss offen. Zu meiner Überraschung fand ich keine Alarmanlage. Ob sich der Boss keine Gedanken machte, dass hier jemand eindrang? Wahrscheinlich nicht. Anokata war ja selbst den hochrangigen Organisationsmitgliedern unbekannt. Und oft wären bestimmt auch keine Gefangenen bei ihm. Vor der Polizei oder dem FBI könnte ihn eine Alarmanlage auch nicht schützen. Ich war im zweiten Stock. Doch diesmal bat sich mir keine Regenrinne als Klettermöglichkeit. Also hangelte ich mich aus dem Fenster. Hielt mich so gut es ging an der Wand fest um so tief zu kommen wie möglich. Gezielt ließ ich mich fallen und rollte meinen Sturz geübt ab. Ich stand im Vorgarten. Ich zählte die beleuchteten Fenster. Es waren sechs. Leise schlich ich mich vorwärts. Ja, Anokata hatte recht gehabt. Mit meinem angeschossenen Bein könnte ich nicht weglaufen. Außerdem schneite es. Ich zitterte in meinem dünnen Pullover. Musste sich auch noch das Wetter gegen mich wenden? Vor der Garage fand ich ein Motorrad stehend. War das nicht das Lieblingsmodell von meiner Mutter? War sie gerade bei Anokata? Auf jeden Fall wusste ich, wie man es kurzschloss ohne dass die Alarmanlage anging. Wie oft hatte ich meine Mutter schon damit geärgert, indem ich einfach ihr Motorrad für meinen Schulweg genommen hatte? Ich überlegte mir erst wo ich lang fahren würde. Durch das Tor? Würde es nicht auffallen? Könnte ich es überhaupt öffnen? Oder über das Gelände im Hinterhof? Aber ich kannte mich da nicht aus und je unbewohnter das Gebiet war, desto gefährlicher für mich. Über den Zaun springen? Zu hoch. Es sei denn… Der Motor brummte. So schnell es ging beschleunigte ich. Ich fuhr auf den Mercedes zu, der vor dem Zaun stand. Ich sprang auf diesen. Von dort aus flog ich über den Zaun. Kontrolliert landete ich auf der Straße nach ca. einer vier Meter langen Flugstrecke. Das hatte ich nicht von der Organisation oder meiner Mutter gelernt. Vielleicht hatte ich tatsächlich Talent zum Motorrad fahren? Ich schien nicht verfolgt zu werden. Trotzdem raste ich. Ein Wunder, dass die Polizei noch nicht hinter mir her war. Ich befand ich in einem mir unbekannten Teil Tokios. Ich folgte einigen Schildern, die zum Stadtinnerem wiesen. Wo sollte ich hin? Die Kudos waren wahrscheinlich wieder umgezogen. Ich brauchte ein Telefon. Dann könnte ich Mai anrufen. Und damit Shinichi oder Shuichi erreichen. Ich war mittlerweile eine Stunde unterwegs. Und ich war in der Beikastraße. Es tat gut sich wieder im bekannten Gebieten zu finden. Verzweifelt sah ich mich nach einer Telefonzelle um. Aber dank einer nützlichen Erfindung namens Mobiltelefon gab es kaum noch Telefonzellen in Tokio. Ich entdeckte eine Uhr auf einem Gebäude. Es war vier Uhr nachts. Es waren wenige Menschen auf der Straße. Neben der Uhrzeit war den meisten wahrscheinlich auch das Wetter zu unfreundlich. Eine Frau ging zügig an mir vorbei. Mein Motorrad hatte ich geparkt und war jetzt zu Fuß unterwegs. Sollte ich sie nach einem Handy fragen? Wieso nicht. Was Besseres viel mir nicht ein. „Entschuldigen Sie…?“ Doch sie ignorierte mich und wurde noch schneller. Hatte ich sie erschreckt? Ich sah meine Kleidung an. Meine Hose war zerrissen und mein Pulli hatte ich auch schon länger an. Meine Haare waren fettig und nass. Vielleicht hielt sie mich für einen Penner? Aber wie viele blonde 16-jährige Penner gab es wohl in Japan. Bei einem Mann, der aussah als würde er zur Frühschicht gehen, versuchte ich dann mein Glück. „Entschuldigen Sie, dürfte ich mal telefonieren?“ Doch auch er ging weiter und murmelte: „Ich habe kein Kleingeld. Tut mir Leid.“ Mir lief die Zeit davon. Wer weiß, ob Anokata und Gin schon in der Nähe waren. Diesmal versuchte ich es bei einem Mann, der wohl seinen Arbeitstag erst jetzt beendet hatte. „Entschuldigen Sie?“ „Ja.“ Mit Müden Augen sah er mich an. Er schien verwundert über mich. „Was macht ein Kind wie du noch auf der Straße?“ „Ähm. Ich hab… mich verlaufen… darf ich meine Eltern anrufen?“ „Na klar.“, er reichte mir sein Handy. Dankend nahm ich es und tippte die Nummer ein. „Mai?“, fragte ich vorsichtig. Es wunderte mich, dass sie um die Uhrzeit so schnell abnahm. „Hier ist Mais Vater. Sie hat eine neue Nummer. Wer ist da?“ Erleichtert atmete ich aus. Ich hätte niemals gedacht, dass Shinichis Stimme mir so viel Freude bereiten würde. „Hier ist Kai…“ „Kai! Geht es dir gut?“ „Ähm, ja, schon…“ „Wo bist du?“ „In der Beikastraße…“ „Bist du geflohen?“ „Ja.“ „Wo bist du genau.“ „Ähm, Straßennummer 76.“ „Ich ruf Shuichi an. Er sollte in der Nähe sein. Beweg dich nicht vom Fleck. Verfolgen sie dich?“ „Ja, ich weiß nicht genau…“ „Warte. Er kommt sofort.“ Damit legte ich Shinichi auf und reichte dem Mann sein Telefon zurück. „Tokio kann kalte Winter haben… Du hättest dir eine Winterjacke mitnehmen sollen.“ Ich nickte. „Danke für den Hinweis.“ Etwas beleidigt von meinem Kommentar verabschiedete sich der Mann und ließ mich alleine. Erschöpft setzte ich mich in den Haustüreingang der Nummer 76 und nickte ein. „Kai?“ Ich schreckte hoch. „Shuichi?“ Mit einem ernsten Blick sah ich ihn vor mir stehen. „Komm mit.“ Ich versuchte auf zustehen. Peinlicherweise fiel ich gleich darauf hin. Shuichi musste mir helfen. Wir gingen zu seinem Wagen. Er öffnete mir dessen Tür und ich stieg ein. War ich in Sicherheit? War Mai in Sicherheit? „Wir fahren dich zu Ai. Ich denke du brauchst zuerst einen Arzt. Shinichi wird auch da sein.“ *** Wir stiegen bei dem mir schon bekannten Haus aus. Ein alter Mann öffnete uns die Tür. Er war vielleicht so alt wie mein Großvater. Aber er war eindeutig nicht so gesund und sportlich wie Anokata. Shuichi musste mich fast reintragen, weil ich kaum noch gehen konnte. Shinichi kam uns entgegen. „Ein Glück, dass du noch lebst.“, meinte dieser. Meinte er es ernst? Warum war es ihm nicht egal was mit mir passierte? „Na ja, sehr lebendig sieht er aber nicht aus, Shinichi.“ Es war Ai, die hinter ihm sprach. Ich wurde auf ein Sofa im Wohnzimmer gebracht. „Wo bist du verletzt?“, fragte mich Ai, obwohl man das doch an meinem Gehumpel eindeutig gesehen hat, oder nicht? „Am Bein.“ Etwas verlegen zog ich auf ihr Verlangen die Hose aus. Sie entfernte den Druckverband. „Es ist nicht sonderlich schlimm, denke ich.“, fing sie an. „Du wirst wieder Marathons laufen können.“ Sie lächelte mich an. Eine Sekunde später fragte sie mich aber wieder ernst: „Die Wunde ist mindestens vier Tage alt. Sie haben dich doch nicht ernsthaft vier Tage lang mit einer Schusswunde gelassen, bloß mit einem albernen Druckverband?“ Ich schüttelte den Kopf und rechnete die Zeit nach. „Nein es war nur etwas mehr als ein Tag. Ich glaube es war gestern Nacht gewesen.“ Ai nickte und gab mir eine lokale Betäubung bevor sie anfing zu nähen. „Ist Mai in Sicherheit?“, fragte ich Shinichi. Er lächelte mir zur Antwort. „Ja keine Sorge. Mai, Ran, Conan und Kogoro sind bei einem Freund.“ „Sicher, dass sie da sicher sind?“ „Ja.“ „Das habt ihr mir schon mal versprochen.“ „Sie ist sicher, keine Sorge.“ „Wirklich?“ „Hör auf zu nerven.“, entgegnete Shuichi. „Ich mein ja nur…“ Ai unterbrach unsere Diskussion. „Hämatome von Einstichstellen. Kai, haben sie dir Drogen eingespritzt?“, wollte sie besorgt wissen. Ich nickte bedrückt. „Wie oft?“, fragte sie weiter. Ihre Augen zeigten Mitleid. Sie war auch in der Organisation gewesen. Ob sie sich wohl genau vorstellen konnte, was ich durchgemacht hatte? Ich dachte nach um ihre Frage zu beantworten. „Einmal am Abend, als sie gemerkt hatten, dass Shinichi lebt. Dann nochmal am nächsten Morgen. Und einmal nachdem ich mit euch telefoniert hatte… denn sie hatten mich erwischt. Dann hab ich geschlafen bis ich geflohen bin.“ Plötzlich sahen mich alle entsetzt an. Wieso waren sie so überrascht? War es nicht klar gewesen wie ich behandelt worden bin? Shuichi sah mich auch bedauernd an. Ein Blick den ich an ihm noch nie so gesehen hatte. „Kai, dass wir telefoniert haben ist schon vier Tage her.“ Ich schluckte. Vier Tage meines Lebens habe ich einfach durchgeschlafen? Ich konnte mich an nichts erinnern. Hatte ich ein Blackout? War ich zwischendurch aufgewacht, aber konnte mich wegen der Droge nicht mehr erinnern? Wann hatte ich was gegessen oder getrunken? Wann war ich auf Toilette gegangen? Plötzlich tat mir mein Bauch weh. Ich hatte Hunger wie noch nie in meinem Leben. Das beantwortete meine Frage nach dem Essen. Wie hatte mir mein Vater das nur antun können? Auch wenn er ein grausamer Mörder sein mag, aber wie psychisch krank musste man sein um seinen eigenen Sohn vier Tage lang mit Drogen zu betäuben und ihn tagelang hungern zu lassen. Mein Großvater war genauso wie mein Vater. Was war nur falsch mit meinen Verwandten? Und meine Mutter? Hatte sie all die Tage nichts für mich getan? War ihr nicht bewusst gewesen, was auf mich zugekommen war? Ich wusste, dass man sich nicht selbst bemitleiden sollte. Doch ich konnte nicht anders als über das, was mir passiert war zu weinen. Tränen kullerten mir über das Gesicht. Ich wollte das nicht mehr. Ich hatte nicht mehr die Kraft dazu. Die letzten Monate war ich hin und her gerissen worden zwischen Gut und Böse. Immer wieder war ich vor die Wahl gestellt worden das Richtige zu tun und damit mir selber zu schaden oder einfach das Falsche zu tun. Und jetzt? Ich war hilfloser denn je. Ich hatte noch nicht mal die Kraft allein zu gehen. Ich, ein Marathonläufer. Shinichi hatte mir versprochen, dass Mai in Sicherheit war. Aber stimmte das? Noch einmal würde ich nicht mehr den Mut finden zu ihnen zurückzukehren. Das nächste Mal… würde ich von einer Brücke springen. Beschämt stellte ich fest, wie Shinichi und Shuichi mich beobachteten, während ich innerlich zusammenbrach. Sie standen wortlos mit verschränkten Armen drei Meter vor mir. Auch wenn ihr Blick Mitleid zeigt, fühlte ich mich nicht wohl, dass sie sahen, wie ich heulte. Ai schien das Verhalten der beiden FBI-Agenten auch zu missfallen. Sie nahm mich tröstend in den Arm. Überrascht riss ich die Augen auf und schaute zu ihr hoch. „Shuichi, Shinichi. Ihr benimmt euch echt unmöglich. Ihr steht nur versteinert da, während der Junge hier emotional zusammenbricht. Geht raus. Ich rede mit ihm.“ Die beiden verließen beschämt das Wohnzimmer. Der alte Mann, Professor Agasa, erinnerte ich mich an den Namen, folgte ihnen verwirrt. Ais Umarmung war warm. Nicht so warm wie die von Mai, aber wärmer als die von meiner Mutter. Ich fühlte mich einen Moment beschützt. Ai? Hieß Ai nicht übersetzt Liebe? Es passte. Von ihr ging etwas Liebevolles, Einfühlsames aus. Mein Atem wurde nach einiger Zeit ruhiger. Es kullerten nur noch stille Tränen über mein Gesicht. Mein Kopf ruhte auf ihrer Brust. Ihre Hände fuhren liebevoll durch meine Haare. „Ich verstehe, wie du dich fühlst, Kai.“, fing sie an „Ich habe mich früher genauso gefühlt. Man weiß selber nicht, ob man Gut oder Böse ist. Und diese ständige Angst, dass sie dich finden. Die Angst, dass du jeden, der dir Lieb ist, verlierst.“ Sie machte eine Pause. Dann erzählte sie weiter. „Ich bin auch in der Organisation aufgewachsen. Ich war die Entwicklerin des APTX 4896. Vielleicht kennst du die Geschichten über das Gift?“ Ich nickte. Ja, meine Mutter hat es mir einmal erzählt als ich klein gewesen bin. Auch wenn es mir damals wie eine Zaubergeschichte vorkam, hatte ich gewusst, dass es wahr gewesen ist. Ein Gift, dass Menschen schrumpfen ließ. Ein Gift, das heute Menschen umbrachte ohne dass man jegliche Spuren davon im Blut fand. „Ich hab das Gift selber zu mir genommen. Ich wollte Selbstmord begehen. Denn sie hatten meine Schwester umgebracht. Gin wollte mich umbringen, doch ich wollte ihm zuvorkommen bevor er mir noch mehr grausames zufügen konnte.“ Ich schloss die Augen. Wie gut konnte ich mir ihre Geschichte vorstellen. Ich wusste genau was ihr Gin alles hätte zugefügt. Ich kannte die schwärzesten Schattenseiten meines Vaters. Wie konnte Ai mich überhaupt in den Arm nehmen? Ich war meinem Vater ja fast wie aus dem Gesicht geschnitten, dem Mann der ihr Unvorstellbares zugefügt hatte. „Ich bin aber statt zu sterben geschrumpft. Dann bin ich geflohen, zu Shinichi.“ „Wieso zu Shinichi?“, wollte ich wissen. Meine Stimme war heiser und kaum zu hören. „Ich wusste, dass er auch geschrumpft war. Gin hatte ihn töten wollen, aber stattdessen lief er als Grundschüler herum.“ Ich erinnerte mich an die Worte meines Großvaters. Er hatte gesagt, dass Gin bei Kudo versagt hatte. So war das also gewesen. „Später hatte mich Vermouth gefunden. Ich lebte zu der Zeit bei Professor Agasa. Er wusste, wer ich war und dass ich geschrumpft bin. Wieder erlebte ich einen Moment als ich sterben wollte. Wir waren in einem Bus, ich spürte Vermouths Anwesenheit. Der Bus war entführt worden. Alle waren daraus schon geflohen, denn es war eine Zeitbombe im Bus. Ich blieb aber sitzen. Zu sehr fürchtete ich mich davor, was den Leuten in meiner Umgebung passieren würde. Shinichi hatte mich gerettet. Heute bin ich ihm dankbar dafür. Wie oft hatte er mich schon gerettet…“ Ich schwieg. Es war als würde ich meine Geschichte hören. Die Organisation hatte alle Leben so entscheidend geprägt. Ich war nicht der Einzige, der sich immer wieder vor aussichtslosen Situationen wiederfand. „Kai. Das Leben ist lebenswert. Egal, woher du abstammst. Egal, was in der Vergangenheit passiert ist.“ Sie ließ mich los und blickte mir mit ihrem einfühlsamen Blick in die Augen. Ihre Augen waren blau, aber nicht so eiskalt, wie die von Gin oder mir. Ihre Augen ließen einen träumen von einer besseren Zukunft. So als würde man auf ein unendliches Meer blicken an dessen Horizont eine Insel war, die einen neu hoffen ließ. Wie konnte sie mich nur so anschauen? Schließlich waren es meine Eltern, die ihr so viel Leid angetan haben. Shuichi und Shinichi kehrten ins Zimmer zurück. Sie sahen zuerst Ai vorsichtig an, so als würden sie fragen, ob sie schon rein dürften. Sie nickte nur lächelnd. Shinichi hielt ein warmes Stück Pizza in der Hand. ‘Nicht schon wieder Pizza… Das scheint wohl das Lieblingsgericht der Japaner zu sein…‘, dachte ich kurz. Trotzdem nahm ich das Stück dankbar entgegen, denn wählerisch wollte ich jetzt bestimmt nicht sein. Shuichi streckte mir ein Glas Limo entgegen. Diese trank ich mit einem Schluck runter. Das Stück Pizza schlang ich schneller als ich jemals gegessen hatte hinunter. Alle drei Anwesenden lächelten und mir wurde auch der Rest der Pizza gegeben. „Kai, leg dich schlafen. Du kannst im Gästezimmer schlafen.“, bot mir Shinichi an „Denn wir werden hier noch bestimmt einige Stunden alles besprechen.“ Ich nickte. Obwohl ich wahrscheinlich vier Tage lang geschlafen hatte, fühlte ich mich müde. Shinichi half mir ins Gästezimmer. Ich legte mich in das Bett. Shinichi schloss die Tür. Stille trat ein. Doch statt schlafen zu können, wurde ich nervös. Ich bekam Angst alleine im Dunklen Zimmer. Ich war von mir überrascht. Ich hatte selbst als Kind keine Angst vor der Dunkelheit gehabt. Auch hatte ich nie Platzangst gehabt. Aber jetzt fühlte ich mich unwohl, eingeengt. Eingesperrt. Ich hörte die Schritte der anderen. Ich fing an zu zittern. Ich hatte Angst. Angst, dass mein Vater oder Anokata jeden Moment in das Zimmer kommen würden. Draußen brummten Autos. Ich konnte nicht anders als meinen Kopf hoch zu strecken um zu erkennen, ob es sich um einen Porsche handelte. Zwar war es nur ein Taxi, was vorbei fuhr. Aber ich bekam Panik. „Kai. Alles ist in Ordnung. Du bist in Sicherheit.“, redete ich mir selber immer wieder ein. Doch ich wurde nicht ruhiger. Ich sah einen Schatten in meinem Zimmer. Jemand war in meinem Zimmer. „Wer ist da?“ fragte ich. Niemand antwortete. „Bitte, lasst mich in Ruhe.“, flehte ich. Wieder wurden meine Augen nass. „Bitte…“ Ich fasste meinen Mut zusammen und schaltete die Nachttischlampe an. Das Zimmer war leer. Der Schatten den ich gesehen hatte war lediglich ein Schrank gewesen. Kurz kam ich mir kindisch vor, doch ich wollte das Licht nicht mehr ausschalten. Aber auch wenn das Zimmer hell war, ich zitterte noch immer. Die vier Wände starrten mich an. Von draußen klopften Äste gegen die Fensterscheibe. Mein Herz pochte im selben Takt. Ich fasste einen Entschluss. Ich nahm meine Decke und stand auf. Ich humpelte aus dem Zimmer in Richtung Wohnzimmer. Überrascht sahen mich Ai, Shuichi und Shinichi an, als ich ins Zimmer schritt. Shinichi sprang sofort auf um mir zu helfen, denn er sah, dass ich mich beim Gehen sehr abmühte. „Kai, was ist passiert?“, fragte mich Shuichi verwundert. „Darf ich… darf ich auf dem Sofa schlafen… bei euch…“, ich kam mir so albern vor, aber das war mir egal. Ich würde keine Nacht alleine in einem Zimmer ertragen. Keiner der Beteiligten lachte mich wegen meines kindischen Verlangens aus. Hätte ich meinen Vater so was gefragt, hätte er mir, nachdem er mich ausgelacht hatte, eine reingehauen. Wahrscheinlich hätte er sich dann noch einen weiteren Monat darüber lustig gemacht. Ich glaubte, dass selbst meine Mutter, von mir verlangt hätte mich wie ein Mann zu verhalten. Der Blick der drei zeigte aber keine Verachtung oder Unverständnis, sondern nur Sorge. „Klar, kannst du hier schlafen. Wir werden versuchen leise zu reden.“, meinte Shinichi mit einem beruhigenden Ton. „Ihr braucht nicht leise zu reden… es wird mich nicht stören.“ Dankbar legte ich mich auf das Sofa und zog die Decke über mich. „Hier hast du ein Kissen.“ Ai legte mir das weiche Polster unter den Kopf. „Guten Nacht, Kai.“ „Gute Nacht.“ Einige Minuten hörte ich noch ihren Diskussionen zu bis ich dann endlich einschlief. *** [Shinichis Perspektive] „Es tut mir Leid.“, fing Shuichi an, als wir uns sicher waren, dass der Junge schlief „Ich hätte ihn von Anfang an zu einem Zeugenschutzprogramm zwingen müssen. Es war falsch…“ „Ja, war es.“, entgegnete Ai sauer „Sieh dir an, was du damit erreicht hast. Wer weiß, was der Junge alles erlebt hat. Ob er jemals wieder das Trauma überwinden wird.“ „..ja, du hast Recht, Shiho.“ Shuichi war der einzige der Ai noch „Shiho“ nannte. Wir alle waren daran gewöhnt sie „Ai“ zu nennen. Ich glaubte, dass sie das auch so mochte. „Shuichi, ist dir klar, dass das, was dem Jungen angetan wurde, nie wieder rückgängig gemacht werden kann?“ Ai musste Shuichi nicht noch ein schlechtes Gewissen einreden musste. Wir alle waren geschockt, von dem was dem kaum 16 jährigen passiert war. Vier Tage lang mit einer Schusswunde und mit Drogen betäubt eingesperrt zu sein… Eine Vorstellung, die jedem Kopfschmerzen bereitete. Vor allem, wenn man bedachte, dass der Täter sein eigener Vater war. Noch mehr hat uns bedrückt, als der Junge in Tränen ausgebrochen war. Oder als er zugegeben hat, nicht alleine in einem Zimmer sein zu können. Wer weiß welche psychischen Auswirkungen die vergangenen Erlebnisse noch haben würden? Ich seufzte. „Ai, wir alle machen uns große Vorwürfe. Aber lass uns die Zukunft besprechen. Wir müssen verhindern, dass noch mehr passiert.“ Shuichi und Ai nickten. „Den Jungen schicken wir in ein Zeugenschutzprogramm. Egal was er sagt. Er ist Sechzehn. Seine Eltern sind ein gesuchte Mörder. Ich kann dafür sorgen, dass wir sein Vormund werden.“, erklärte ich. Natürlich könnte ich das leicht erreichen. Immer wieder war es nützlich auch Polizist zu sein. Außerdem hatte ich gute Kontakte zu den japanischen Behörden. Und ich hatte eine fabelhafte Anwältin, namens Ran. Sie und ihre Mutter waren die Königinnen der Justiz. Ihre Kanzlei war die erfolgreichste in ganz Japan. Sie hatten schon international Aufmerksamkeit bekommen. „Shinichi, das Hauptproblem bleibt deine Tochter.“, sagte Ai. Ich sah sie verwundert an. Was meinte sie damit? „Shinichi, Kai ist in deine Tochter verliebt. Solange er denkt, dass sie in Gefahr kommen könnte, wird er kein Zeugenschutzprogramm annehmen. Auch wenn wir ihn ins Ausland, weit weg, verschleppen, solange er aus Angst um Mai vielleicht doch Gin anruft, wird es uns nichts bringen.“ „Er wird doch nicht so dumm sein… Mai ist in Sicherheit… Sie ist meine Tochter…“ „Glaubst du er sieht das genauso? Sorry, aber ihr habt sein Vertrauen an die Justiz schon verschenkt.“ „Wir werden mit ihm reden, er wird schon verstehen, dass Mai ab jetzt sicher ist…“ „Shinichi! Ist dir im Klaren, was dieser Junge für dich getan hat? Er ist zu Gin zurückgekehrt, damit Mais Schule nicht in die Luft fliegt. Er war breit für deine Tochter zu sterben. Dann wurde er vier Tage lang gequält, nur weil er dein Leben gerettet hat. Hat er nicht schon genug Opfer für deine Familie gebracht? Shinichi, es reicht.“ Mein Gewissen biss mich. Ai hatte Recht. „Ai, hast du einen besseren Vorschlag? Was können wir ihm mehr als ein Zeugenschutzprogramm bieten?“ „Deine Familie nimmt ein Zeugenschutzprogramm an, genauso wie er.“ Ich schwieg. Das war doch nicht ihr ernst? Sie redete weiter: „Außerdem denke ich, dass es an der Zeit ist, dass du mit dem ganzen aufhörst. Das nächste Mal wird der Schuss dich nicht verfehlen. Das nächste Mal wird nämlich, hoffentlich, nicht Kai hinter der Waffe sitzen. Kogoro ist noch so klein. Glaubst du deine Familie wird deinen Verlust verkraften?“ Etwas Wahres war doch dran, aber ich wollte nicht zustimmen. „Ai, nicht nur, dass ich ein FBI-Agent bin, Ran ist eine anerkannte, berühmte Anwältin. Sollen wir alles, was wir aufgebaut haben in die Tonne werfen und gehen? Das kann ich doch nicht von Ran verlangen.“ „Doch kannst du. Sie wird es verstehen. Ran ist intelligent. Sie wird nochmal von vorne anfangen können. Ihr ist ihre Familie wichtiger als so materielle Dinge wie Ruhm und Reichtum. Seit wann sind deine Wertvorstellungen so verschroben, Shinichi?“ „Aber Ai… Der Fall… ich hab jahrelang daran gearbeitet…“ „Und du hast sehr viel dabei geholfen. Aber jetzt ist Schluss. Sei nicht so egoistisch.“ „Egoistisch? Darf ich dich daran erinnern, wie oft ich dich gerettet hab?“ Ai seufzte. Es war falsch von mir gwesen davon anzufangen. „Shinichi, ich bin dir dankbar. Wir alle bewundern deinen Mut und deinen Ehrgeiz. Aber…“ Sie seufzte ein zweites Mal und sah zum Sofa, wo Kai schlief. Leider schien er schlecht zu träumen unruhig drehte er sich hin und her. „Gut, Ai, ich werde mit Ran darüber sprechen.“, kurz zögerte ich und fragte dann auch Shuichi: „Was denkst du, Akai?“ „So sehr es mir Leid tut, aber ich denke, Ai hat Recht.“ *** [Mais Perspektive] Ich verstand nicht, was passiert war. Die Erklärungen meines Vaters waren nicht besonders ausführlich und auch nicht besonders verständlich. Ich wusste nur, dass ich am Flughafen war. Soviel ich konnte, hatte ich in meinen zwanzig Kilo schweren Koffer gepackt. Auch mein neues Handy musste ich abgeben. Genauso wie meinen Ausweis. Alle Hefte in die ich Telefonnummern von Freunden geschrieben hatte, hat mir mein Vater abgenommen und zerrissen. Er hatte mein und Kogoros Geheule ignoriert als wir mit Auto zum Flughafen gefahren waren. Mein Vater gab mir meinen neuen Reisepass. Einen Amerikanischen. Ich war jetzt Amerikanerin. Dabei hatte ich noch nie die Vereinigten Staaten betreten. Der Flug ging nach New York. Wir begannen ein neues Leben im „Zeugenschutzprogramm“. Wir würden nie wieder unsere restliche Familie und Freunde wiedersehen. Nie wieder würde ich mit meinen Freundinnen Hana und Maya in die Stadt gehen um Eis zu essen. Nie wieder würde ich die warme Umarmung von Kai spüren. Nie wieder würde ich mit ihm telefonieren dürfen. Zwar konnte ich seine Nummer auswendig, aber mein Vater hatte mich drohend gewarnt ihn nochmal anzurufen. Außerdem hatte ich ihn schon seit zwei Wochen nicht mehr erreicht. Ob er eine neue Nummer hatte? Wir waren schon hinter der Handgepäckkontrolle. Noch 20 Minuten, dann wäre ich nie wieder Mai Kudo. Ab sofort hieß ich Mai Take. Der Nachname klang so merkwürdig hinter meinem Vornamen. Noch immer weinte ich. Mein Vater seufzte genervt. „Bitte, Mai. Hör auf es uns das alles so schwer zu machen. Wegen dir hört Kogoro auch nicht mehr auf zu weinen.“ Wie konnte er mir das nur antun? Und mir dann noch Vorwürfe machen? Plötzlich rief jemand nach mir. „Mai!“ Ich sah mich um und entdeckte Kai, wie er hinter der Sicherheitskontrolle stand und mir verzweifelt zuwinkte. „Mai!“ „Kai!“, antwortete ich. Woher wusste er, dass ich hier war? War das nicht vor allen geheim gehalten worden? Kai rannte. Er schubste eine Sicherheitskontrolle um, sprang über das Gerät durch, dass das Handgepäck lief. Einige Polizisten rannten ihm hinterher. Doch geübt, so als hätte er sein ganzes Leben nichts anderes getan, wich er ihnen aus. „Was für ein Spinner, wenn er so weiter macht, werden sie auf ihn schießen…“, kommentierte mein Vater das Spektakel und rannte auf Kai und die Polizisten zu. Mein Dad beruhigte die Polizei und schien einem Polizisten etwas zu erklären, dieser nickte verständnisvoll. Kai erreichte mich. Er packte mich an der Hand. Seine Hände waren kalt. Er war blass. Er sah noch schlechter als damals, als ich ihn im Café getroffen hatte. „Mai.“, sagte er. Machte aber gleich eine Pause um zur Luft zu kommen. „Mai, es tut mir Leid. Das ist alles meine Schuld.“ „Was ist deine Schuld?“ „Alles!“ Auch wenn ich nicht verstand, lächelte ich. „Das ist mir egal. Ich bin nur froh, dass ich dich noch einmal sehe.“ Ich umarmte ihn. „Mai... Mai, ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben!“ „Ich dich auch, Kai.“ Dann küssten wir uns. Es war unser dritter Kuss. Auf einmal stand Shuichi hinter Kai. „Kai!“, schimpfte er „Bist du völlig bescheuert? Du weiß, dass deine Aktion nicht gerade ungefährlich war?“ Er nickte schuldbewusst. Was hatten er und Shuichi miteinander zu tun? Woher kannten sie sich? Hatte Kai etwas mit dem gefährlichen Fall meines Vaters zu tun? „Außerdem hat Ai gesagt du sollst nicht dein Bein belasten, geschweige denn rennen. Du hast eine Schussverletzung am Bein. Du bist schlimmer als ein Sack Flöhe.“, meckerte jetzt mein Vater. Schussverletzung? Wo von redete er da bitte. Kai hielt noch immer meine Hand. Er grinste mich schief an. „Ich wollte eben nur noch einmal Mai sehen.“ Shuichi und Shinichi seufzten synchron. Es war kaum zu glauben, dass mein Vater seine Arbeit für ein Zeugenschutzprogramm aufgab. Er und Shuichi waren seit ich denken konnte ein Herz und eine Seele, wenn es um Ermittlungen ging. Shuichi war wie ein Onkel für mich gewesen. Auch wenn ich seine abweisende Art nie wirklich verstand, war er immer an meinem Leben beteiligt gewesen. Er war auf all meinen Geburtstagen, Weihnachtsfeiern und anderen familiären Feiern dabei gewesen. Shuichi packte Kai am Kragen. „Wir gehen.“ Kai lächelte mich noch immer an, doch statt einem fröhlichen Grinsen, war es ein letztes, sehnsüchtiges Lächeln: „Mai, hab ein schönes Leben.“ „Du auch Kai.“ Damit humpelte Kai weg. Schusswunde am Bein? Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Was war nur passiert? Ich schaute meinen Vater an wie er Kai und Shuichi hinterherschaute. Sein Gesicht war erstarrt. Ob er Shuichi vermissen würde? Sein ganzes Team? Ich war nicht die einzige die Opfer machen musste. Jeder in meiner Familie trug sein eigenes Leid mit in das Flugzeug. Meine Mutter hatte ihre Kanzlei aufgegeben, die neben uns Kindern ihr größter Stolz gewesen ist. Mein Bruder- den alle Unis angenommen hatten- musste jetzt auf eine Uni gehen, die nicht auf seine Favouritenliste gestanden hatte. Außerdem hatte er sein Fußballteam verlassen müssen. Selbst Kogoro würde mit Sicherheit die kleine Mina, die Tochter von Sonoko, fehlen. Wie viele Stunden hatten sie zusammen gespielt? Doch ich spürte, dass all unsere Opfer nicht vergleichbar waren, mit dem was Kai auf seinem Rücken trug. Ich hatte immer gewusst, dass etwas in seinem Leben nicht in Ordnung war, dass etwas mächtig schief ging. Erst jetzt, wo ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, ahnte ich, was es war. In seinen hellblauen Augen, die manchmal so verschlossen und kalt gewirkt hatten, hatte ich Leid gesehen. Leid, das nicht in die Augen eines Jugendlichen gehörte. Niemals wieder fragte ich meinen Vater, wieso wir das Zeugenschutzprogramm angenommen hatten. *** [Kais Perspektive] Ich war in einer kleinen Stadt dreißig Kilometer von London. Ich hätte niemals gedacht, dass mich das Zeugenschutzprogramm zum Engländer machen würde. Ich war mir sicher, dass das FBI verhindern wollte, dass ich leicht zu der Organisation zurückkehren könnte. In Amerika wäre es für mich eine Leichtigkeit, denn dort war ich aufgewachsen und dort war die Organisation größer als man ahnte. Man brauchte in England ein Visum für den Besuch in Japan oder Amerika. Und das FBI hatte dafür gesorgt, dass es für mich unmöglich wäre dieses in den nächsten fünf Jahren zu besorgen. In Großbritannien konnte ich mich gut verständigen und ich fiel mit meinen blonden Haaren nicht viel auf. Nur der Britische Akzent war gewöhnungsbedürftig. Ich war in einem Auto. Einem kleinen, alten Golf, der über die Landstraßen ratterte. Ich war ein Großstadtkind. Ich glaubte noch niemals in so einer einsamen Gegend gewesen zu sein, aber das war jetzt mein zu Hause. Der Fahrer war mein Ziehvater. Er war kaum älter als Gin, aber sein grau werdender, blonder Tagesbart und sein Bierbauch ließen ihn Jahrzehnte älter wirken. Shuichi hatte mir gesagt, dass meine Pflegefamilie keine Ahnung hatte, wer ich wirklich war und was passiert war. Daher sollte ich mich möglichst normal verhalten. Ich würde eine Privatschule besuchen – das FBI wollte das ich möglichst gute Chancen bekam, so als ob ich wie ein Verbrecher „Rückfälle“ aus Aussichtlosigkeit bekommen könnte. Mir sollte es recht sein. Als wir ankamen, erkannte ich ein altes Fachwerkhaus mit einem riesigen Gelände, das mich ein wenig an das meines Großvaters erinnerte. Manchmal hörte man Schüsse, denn hier in der Gegend jagte man gerne. Ich konnte nicht anders als jedes Mal zusammen zu zucken, wenn jemand schoss. Meine „Familie“ fand das lustig, aber ich musste mich immer wieder zusammen reißen, wenn alte Erinnerungen hochkamen. Mein neuer Ziehvater bot mir später häufig an mal zu schießen oder sogar mit zu der Jagd zu gehen, aber ich lehnte immer höflich ab. Ich wollte nie wieder ein Gewehr in die Hand nehmen. Meine Pflegefamilie stellte sich als eine liebevolle, verständnisvolle Familie heraus. Zum Beispiel waren sie zwar verwundert, als ich ihnen erklärte, ich könnte nicht mit geschlossener Zimmertür schlafen, aber sie akzeptierten es dennoch und fragten auch nicht nach. Ich hatte zwei „Geschwister“. Es war eine glückliche, meiner Meinung nach zu naive, Familie. Aber insgesamt fühlte ich mich wohl. Es war ein wenig wie ein Erholungsort. Vielleicht hatte das auch das FBI beabsichtig als sie mich hierhin schickte? So wie meine britische Pflegemutter kochte, hatte ich schon bald einige Kilos mehr auf den Rippen, was mein Vater bestimmt gut gefunden hätte und was meine Mutter wahrscheinlich kritisieren würde. Es war ein neues, normales Leben. Die Schatten der Vergangenheit, die ich mitgebracht hatte, verblassten mit der Zeit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)