Wolfschroniken - Sidestorys von Scarla (Abseits der Wege :3) ================================================================================ Kapitel 1: Wolfskinder Sternenwege - Weltenwanderer --------------------------------------------------- Lif lief durch die engen Gassen einer Stadt. Es war Altena, das hatte er sofort erkannt, und das verwunderte ihn ein wenig. Wie zur Hölle kam er von einer Höhle, die zwischen den Wurzeln eines Baumes lag in die Hauptstadt von Altena? Es ergab einfach keinen Sinn. Und trotzdem war er hier. Als Mensch. Er wusste, dass etwas falsch war, an dem Anblick, doch er wusste nicht genau, was es war. Er überlegte, wo er hinlaufen sollte, beschloss, dass er einfach mal zu Hause einen kleinen Besuch abstatten sollte. Er konnte die Wege Altenas blind laufen, er kannte so ziemlich jede Abkürzung und jeden Schleichweg, so dauerte es nicht lange, bis er die Tür aufstieß. »Ich bin zu Hause!«, rief er in das Haus und zögerte voller Verwirrung, als ihm nicht mindestens zwei Stimmen antworteten, wie es sonst der Fall war. Er runzelte misstrauisch die Stirn, dann jedoch viel ihm auf, was ihn bisher so sehr gestört hatte. Es war nicht eine Menschenseele auf den Straßen Altenas gewesen. Langsam und zögernd betrat er das Wohnzimmer. Das war das Herzstück des Hauses, hier war eigentlich immer jemand. Und auch heute saß hier eine Gestalt, doch Lif kannte sie nicht. Es war eine alte Frau mit weißem Haar und blinden Augen, die einen Faden spann. »Wer sind sie?«, fragte er leise und beruhigend, schloss die Tür hinter sich. »Jemand, der dich bereits erwartet hat, Weltenwanderer«, antwortete die Alte. Als Lif seinen Schülernamen vernahm, da prallte er erschrocken zurück. Wer war sie, das sie so etwas über ihn wusste? Außer ihm und seinem Vater kannte ihn niemand. Doch er flüchtete nicht. »Bist du eine von den Nornen?«, fragte er und kam langsam und zögernd näher. »Ja. Ich bin Urd«, erklärte sie, spann dabei einfach ihren Faden weiter. »Warum sind wir hier in Altena? Warum ist hier sonst keiner?«, erkundigte sich Lif und setzte sich zu ihren Füßen. »Weil Altena deine Vergangenheit ist. Aber dies ist nicht wirklich Altena, dies ist nur eine Erinnerung von dir. Eine starke Erinnerung. Es hätte genauso gut Wynter sein können, oder Navarre. Doch Altena ist deine Heimat, also hast du sie ausgewählt«, antwortete Urd. »Ich… glaube, ich verstehe. Wir sind in meinen Erinnerungen, ja?«, fragte er leise. »In gewisser Weise schon, ja. Gibt es etwas, was du über deine Vergangenheit wissen willst?«, erkundigte sich die Norne. »Über meine nicht, aber… kannst du mir erzählen, wieso mein Vater meine Schwester so oft voller Trauer ansieht? Immer, wenn er meint, dass es keiner sieht…« »Denkst du nicht, dass deine eigene Vergangenheit interessanter ist, als jene deiner Eltern?« »Nein. Wir alle müssen immerzu aus dem Vergangenen lernen, um es in der Gegenwart besser zu tun und deswegen eine bessere Zukunft zu schaffen. Das können wir nur, wenn wir sie kennen. Ich habe schon so viel über mich selbst nachgedacht, das glaube, dass du mich mit kaum etwas zu meiner Person überraschen könntest. Ich möchte lieber das erfahren, was jenen geschah, die mir wichtig sind, um zu begreifen, warum sie tun, was sie tun. Damit ich ihnen nah sein kann«, erklärte er und lächelte. »Anmaßende Worte für einen so jungen Menschen«, fand Urd hart. »Das mag durchaus sein, aber das ist es, was ich denke. Mana muss sich selbst finden. Ich will mich gar nicht selbst finden, ich will viel lieber anderen helfen, wann immer sie meiner Hilfe bedürfen. Und dazu muss ich sie verstehen. Erklärst du es mir?« Da lächelte Urd. Lif schien sie durchaus zu beeindrucken, denn obwohl sie alle Macht der Welt über ihn hatte, hatte er keine Furcht vor ihr. »Weißt du, einst hattest du sechs Geschwister, doch deine älteste Schwester musste schon lange vor deiner Geburt sterben. Ihr Name war Namida, sie ist nicht sehr alt geworden, denn deinen Vater beging einen fatalen Fehler. Er ließ sich mit den falschen Leuten ein, und sie musste dafür büßen. Das hat er bis heute nicht überwinden können. Er hat immerzu angst, dass er etwas tun könnte, was einen von euch schaden könnte, dass es euch den Tod bringen könnte, so wie es Namida den Tod brachte. Er hat schon so viele Fehler in seinem Leben begangen, und es waren so viele dabei, die er nie wirklich begleichen konnte. Das hat ihn tief geprägt. Und immerzu, wenn er Leilani betrachtet, muss er daran denken, wie er sie einst fast aufgegeben hätte, um einen anderen Fehler zu begleichen. Er fragt sich, was geschehen wäre, hätte es jemand anderes nicht so gut mit ihm gemeint«, erklärte Urd. »Er ist ein guter Mensch, ich kann nicht glauben, dass er je voll Absicht jemanden Schaden würde«, überlegte Lif. »Da hast du recht. Aber Unwissenheit oder vorschnelles Handeln kann manchmal zum gleichen Ergebnis führen. Gibt es noch etwas, was du wissen möchtest?« Lif überlegte. In Gedanken ging er all seine Freunde und seine Familie durch, doch es fiel ihm keiner ein. Mit der Vergangenheit hatte er sich schon so ausnehmend beschäftigt, dass er einfach keine Fragen hatte. So schüttelte er lächelnd den Kopf und stand wieder auf. »Nein. Ich danke dir für deine Antwort, aber mehr kannst du mir nicht berichten«, dankte er ihr. »Wenn dem so ist, dann setze deinen Weg fort«, lächelte Urd. Lif nickte und verließ den Raum wieder, doch er war nicht wieder in Altena, sondern an einem gar seltsamen Ort. Er wirkte, als hätte sich jemanden einen Spaß daraus gemacht, Wynter und Navarre übereinander zu legen. Oder als hätte es in Navarre geschneit. Er verstand es nicht, was hatte er mit Wynter und Navarre zu tun? Doch er überlegte nicht lange, sondern lief einfach weiter, diesmal wieder als Wolf. Es dauerte eine Weile, doch letztlich kam er bei einer junge Frau an. Sie hatte so langes, schwarzes Haar, das es sich weit über den Boden ausbreitete, doch das tat ihrer Schönheit keinen Abbruch. Auch sie war blind, doch sie wob schnell und geschickt, wie man es wohl tat, wenn man sein Leben lang nichts anderes getan hat. »Du bist die zweite Norne, hab ich recht?«, fragte er leise und setzte sich vor ihr in das Sand-Schneegemisch. »Ja. Ich bin Verdandi«, bestätigte auch die, wob dabei ungerührt weiter. »Über was wirst du mir etwas erzählen?«, erkundigte sich Lif leise. »Was auch immer über die Gegenwart wissen willst«, antwortete die Norne. Lif zögerte. Was würde er denn gerne wissen wollen? Welche Zeitspanne genau umfasste eigentlich die Gegenwart? »Es gibt so vieles, was ich wissen möchte, doch ich weiß nicht, ob du es mir verraten kannst. Weißt du, mir ist wichtig, dass es jenen gut geht, die mir wichtig sind. Dann kann ich auch glücklich sein. Ich weiß, dass es ihnen jetzt gut geht… oder ich hoffe es zumindest. Aber wie wird das in Zukunft aussehen? Das weiß ich nicht. Und das ist es, was mich wirklich interessiert. Nicht zu Vergangenheit, nicht die Gegenwart, sondern nur die Zukunft«, erklärte er und lächelte schüchtern. »Und wenn in der Gegenwart schon der Grundstein für ihr Unglück liegt?«, erkundigte sich Verdandi und lächelte listig. Nun zögerte Lif. Sie hatte durchaus recht. »Dann… ja, dann würde ich auch das gern erfahren«, erklärte er leise. Doch Verdandi lächelte nur. »Es wird zeit zu gehen, Weltenwanderer«, fand die Norne. »Eines noch, wenn du mir die Frage erlaubst«, bat Lif, während er schon aufstand. »Warum du zwischen Feuer und Eis stehst?« Der Wolf nickte erstaunt. Er hätte es zwar anders formuliert, aber ja, im Prinzip hatte sie recht. Das war seine Frage. »Sand und Schnee sind die alte und die neue Welt, und es wird nicht mehr lange dauern, da wirst du zwischen ihnen stehen.« »Zwischen ihnen stehen? Aber warum Sand und Schnee?« »Es ist deine Welt, Weltenwanderer. Du hast entschieden, deswegen kannst du es auch beantworten, wenn du nur ein wenig darüber nachdenkst«, lächelte die Norne. Und das tat Lif. Er runzelte die Stirn, überlegte, dann nickte er lächelnd. »Eine weiße Landkarte. Ich weiß nicht, was mich erwarten wird, wenn ich wieder nach Hause gehe. Ich glaube nicht, dass ich alle Geheimnisse der neuen Welt schon kenne, es ist für mich wie eine weiße Landkarte. Die alte Welt dagegen ist wie Sand an einem Strand. Wind und Wasser haben es schon so lange bearbeitet, das es schon im Verschwinden begriffen ist. Bis sie vollkommen verloren ist, ist es nur noch eine Frage der Zeit. Und der Kraft von Wind und Wasser«, antwortete er sich selbst. »Dann also wird es jetzt Zeit zu gehen«, fand Verdandi. Lif nickte, noch immer lächelnd. Er wusste nicht, wohin er nun gehen sollte, doch er ahnte, dass jede Richtung ihn an sein Ziel bringen würde. Natürlich, es war seine Welt. Sie bestand aus seinen Erinnerungen und aus seinen Gedankengängen. Egal, wohin er ging, es würde immer der richtige Weg sein. Er schaute nicht mehr zurück, er folgte einfach seinem Weg. Auf diesem Weg begann er sich zu verändern, er wurde wieder zum Mensch. Und der Weg führte ihn in eine der tödlichen Sandwüsten, die in Navarre vorherrschten. Seine Zukunft war Sand? Wieso? In der Ferne sah er ein Kind sitzen. Er war erstaunt, was nur tat ein Kind hier? Er lief zu ihm, doch als er näher kam, da merkte er, dass es vor einem Grab saß. Er spürte instinktiv, dass es nicht irgendein Grab war. Und, das es seine Zukunft darstellte. »Bist du die letzte Norne?«, fragte er angespannt. »Ich bin Skuld, ja«, bestätigte das Kind und legte ein Band, das so hell schimmerte und leuchtete, wie er es nie zuvor gesehen hatte, auf das Grab. Lif wusste, das dies der Lebensfaden irgendeines sehr glücklichen Geschöpfes in seiner Welt war. »Wessen… wessen Grab ist das?«, fragte er leise. »Lies es selbst, wenn du den Mut hast, die Wahrheit zu ertragen«, bot Skuld an und stand auf. Sie schaute ihn aus so lebendigen Augen an, dass er für einen Augenblick von ihrem Blick gefangen war, bevor er langsam nickte. Er trat an ihr vorbei und kniete sich vor das Grab. Sie Schrift war schwungvoll in den Stein gemeißelt, doch der Name, der dort geschrieben stand, war der wohl grausamste, den sich Lif ersonnen konnte. »Das wird… ihre Zukunft sein? Das wird meine Zukunft sein?«, flüsterte er heiser, während er auf das Grab starrte. »Ja.« Doch Lif schüttelte den Kopf. »Kann ich sie ändern?« Da zögerte Skuld. Sie wirkte nachdenklich, dennoch schüttelte sie langsam den Kopf. Doch Lif spürte, das da noch etwas war, was sie ihm verschwieg. Er griff sie grob beim Arm, zwang sie, ihn anzusehen. Er sah in ihren Augen den Schmerz, den er ihr bereitete, und er wusste nur allzu genau, dass er sich respektlos und anmaßend verhielt, doch das war ihm egal. »Sag mir, was kann ich tun?«, wollte er eindringlich wissen. »Das weißt du doch schon«, antwortete sie sanft und mit einem Lächeln, ihrer Schmerzen zum Trotz. »Wenn ich es wüsste, würde ich nicht fragen!«, brüllte er und schüttelte sie. In seiner Angst, die so nahe an einer Panik dran, wie es irgend möglich war, hätte er ein sterbliches Kind wohl schwer verletzen, wenn nicht gar töten können mit seinem Geschüttel, doch die Norne war nicht sterblich. Sie schrie vor Schmerz, denn sie war sehr wohl verletzlich, doch als Lif sie endlich losließ, da taumelte sie zurück. Sie schaute ihn verständnisvoll an, lächelte sogar ein wenig, doch Lif bemerkte es nicht einmal. Stattdessen stürzte er sich in den Sand, direkt vor das Grab und ließ seine Gedanken rasen. Wie konnte er es verhindern? Wie konnte er die Zukunft verändern? »Natürlich«, flüsterte er schließlich. »Indem ich die Gegenwart verändere. Das hat Verdandi gemeint...« Er war fast besessen von dieser Idee. Er wandte sich Skuld zu und betrachtete sie, wie es wohl ein Wahnsinniger tat, bevor er sein Opfer umbrachte. »Hab ich recht?«, fragte er scharf. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es gehört mehr dazu, als die bloße Erkenntnis dessen, was man tun könnte. Du kannst die Zukunft ändern, ja, aber nur, wenn du wirklich wagst, dich zu trauen. Und das ist nicht selbstverständlich. Manchmal muss man Dinge tun, die man nicht tun will, für nichts auf der Welt. Und dann kann man die Zukunft eben nicht ändern«, antwortete Skuld. »Ich würde alles für sie tun«, antwortete Lif entschlossen. »Bist du dir da ganz sicher?« »Ja! Ich würde sogar jemanden umbringen.« »Und was ist… wenn du ihr Kind töten müsstest…?« Das war, wie ein Schlag ins Gesicht. Obwohl Lif noch klein gewesen war, konnte er sich gut an die Fehlgeburt erinnern, die seine Mutter gehabt hatte. Sie war damals am Boden zerstört und es hatte sehr, sehr lange gedauert, bis sie wieder lächeln konnte. Konnte er so etwas wirklich tun? Konnte er so etwas jemanden antun, der ihm so wichtig war? Und konnte er wirklich jemanden töten, der noch viel zu klein war, um ihm irgendetwas entgegen zu setzen? Diese Frage zerriss ihn schier. Er kannte darauf einfach keine Antwort. Er sah noch das zufriedene Glimmen in den Augen der Norne, wusste dabei, dass er gehen musste. Sie würde ihm keine weiteren Fragen beantworten. Das musste er selbst tun. Doch… wollte er die Antwort wirklich kennen? Er fühlte sich innerlich zerrissen, er wusste nicht, was er nun tun sollte. Er fühlte sich erdrückt, er hatte angst, er zitterte. Aber er konnte nichts tun. Er wandte sich ab und lief weiter, über den Sand ins Unbekannte. Er hätte es wissen müssen, als er den Sand sah. Schon das erste Mal, als er eine Sandwüste gesehen hatte, da hatte er an Tod und Verderb denken müssen. Er lief weiter, bis er an eine Höhle kam. Er wusste, dass dies der Weg zurück zu seinen Freunden sein würde. Er zögerte nicht, er brauchte jetzt ihre Nähe. Ihren Rat, auch wenn es letzten Endes seine Sache war, war er tat. Der Weg hinaus war nicht weit. Die Höhle war von Wurzeln durchzogen und nach einer Weile gewahr er ein helles Licht. Es war Abenddämmerung, als er hinaustrat. Sogleich kamen ihm seine Freunde entgegen, doch er merkte es nicht einmal wirklich. Verzweiflung hatte sich in sein Herz eingenistet, und sie würde noch eine ganze Weile darin wohnen bleiben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)