Iwate von SaKi_612 ================================================================================ Kapitel 1: Iwate ---------------- »Keisuke! Keisuke!« Die junge Mutter stand an der Haustür und winkte zu den Wellenbrechern hinüber, an denen ihr achtjähriger Sohn saß und spielte. Als er sie rufen hörte, hielt er inne und hob den Kopf. »Komm rein, es gibt gleich essen!« Ein erwartungsvolles Grinsen legte sich auf sein Gesicht, er nickte und begann seine kleinen Autos einzusammeln. Miyako ging wieder ins Haus, durch den schmalen Flur mit dem dunklen Parkett, der mit einem schmalen Schuhschrank und den Haken für die Jacken schon vollgestopft wirkte, sie durchquerte das Wohnzimmer und warf dem Reiskocher in der Kochnische einen prüfenden Blick zu. Dann griff sie nach den langen Kochstäbchen und wendete das Omelette in der Pfanne. Heute war sie spät von der Arbeit gekommen, die Kinder im Hort hatten nicht schlafen wollen, waren die ganze Zeit unruhig gewesen, sodass sie ihnen eine Stunde lang aus dem alten Märchenbuch vorlesen musste, bis die meisten endlich die Augen schlossen. Nun war es schon fast halb drei am Nachmittag, viel zu spät für Keisukes Mittagessen. Sie war schon froh, dass seine Lehrerin ihn heute allein nach Hause gehen gelassen hatte, und sie war froh, dass sie in einer so kleinen Stadt lebten – wer sollte ihm hier auf dem Nachhauseweg etwas tun? Überhaupt, Keisuke war so ein braver Junge und sie musste sich kaum Sorgen um ihn machen, wenn er eine oder zwei Stunden allein zu Hause wartete. Sie hörte schnelle Schritte näherkommen, dann wurde die Tür aufgedrückt, gefolgt von einem mehrstimmigen Klappern und Rasseln. »Oh nein, meine Autos!«, klagte Keisuke und Miyako fand ihn im Flur, einen Schuh schon ausgezogen, den anderen noch am Fuß, während er mit vollen Händen versuchte, die heruntergefallenen Spielzeuge aufzusammeln. Sie schmunzelte und half ihm dabei, dann streifte sie den zweiten Schuh von seinem Fuß. »Wasch dir die Hände und das Gesicht und dann komm essen, ja?« »Ja!« Damit lief Keisuke in sein Zimmer, legte seine Autos in die alte Holzkiste seines Vaters und verschwand im Bad. »Und, hast du Hausaufgaben, Keisuke?«, fragte seine Mutter, als sie mit dem Abwasch fertig war und Keisuke ihr die letzte Suppenschüssel gab, die er gerade abgetrocknet hatte. »Ja, wir sollen aufschreiben, was wir am liebsten nach der Schule machen und ein Bild dazu malen«, erwiderte der Junge. »Möchtest du, dass ich dir helfe?« Keisuke nickte mit einem Lächeln und ging sein Japanisch-Heft aus seinem Zimmer holen. Gerade hatten sich die beiden an den niedrigen Wohnzimmertisch gesetzt, ging ein leichtes Rucken durch den Boden, das binnen eines Augenblicks stärker wurde. So stark, wie Keisuke und Miyako es nie erlebt hatten. Ein Erdbeben. Der Boden hob und senkte sich wie ein durchgehendes Pferd, das seinen Reiter loswerden wollte, ein Teller fiel aus dem offenen Schrank und zerbrach klirrend auf dem Parkett, das Haus wackelte und tanzte, schien sich nicht beruhigen zu wollen. Instinktiv hatte Miyako nach Keisuke gegriffen und ihn fest an sich gezogen, barg ihn in ihrer schützenden Umarmung. Gemeinsam robbten sie zum Esstisch hinüber, unter dem sie beide Platz hatten. Von hier unten aus hatte Miyako die Uhr über der Kochnische im Blick. »Wenn es länger als eine Minute bebt, kommt ein Tsunami«, hatte ihre Mutter immer gesagt. Der Boden wackelte weiter, eine halbe Minute, vierzig Sekunden, fünfzig, … noch ein Teller zerbarst auf dem Parkett, Bücher fielen aus den Regalen, der Fernseher rutschte bedrohlich nahe an den Rand seines Schränkchens … siebzig Sekunden, achtzig … Keisuke versuchte ruhig zu bleiben, das spürte Miyako, doch er hatte Angst, sein Körper zitterte leicht und er hatte das Gesicht an der Brust seiner Mutter vergraben. Beruhigend strich Miyako ihm über den Kopf, flüsterte immer wieder, es sei gleich vorbei, er müsse keine Angst haben. Doch die Erde bebte weiter. Und immer weiter. Sie hatte die Uhr aus dem Blick gelassen, doch jetzt sah sie wieder hin. Dreieinhalb Minuten. Und das Wackeln und Rucken wurden nicht schwächer. Suppen- und Reisschalen polterten krachend aus dem Küchenschrank, Keisuke zuckte zusammen, eine der Schale blieb auf der Seite liegen und rollte hin und her. Miyako starrte sie an, sah dann wieder zur Uhr. Fast fünf Minuten. Ließen die Erdstöße langsam nach? Bildete sie sich das ein? Nein, auch Keisuke löste nach und nach seine angespannte Haltung und hob den Kopf. Und dann war es vorbei. Beinahe sechs Minuten. Und der erste Gedanke, der Miyako durch den Kopf schoss, war: »Oh Gott, was kommt da auf uns zu?« Sie kroch mit Keisuke unter dem Tisch hervor, durch zerbrochene und heile Essschalen, über Bücher und Scherben, blieb in der Mitte des Wohnzimmers stehen. Es war wie nach einem Bombeneinschlag, alles lag durcheinander. »Mama?« Ihr Sohn zupfte an ihrem dünnen Pullover, der mit einem Mal unangenehm fest um ihren Körper geschlungen schien. »Keisuke, hol deinen Schulrucksack, pack einen Pullover, eine Hose und Unterwäsche ein. Und dein allerliebstes Spielzeug.« Der Kleine reagierte nicht sofort und Miyako wurde nachdrücklicher. »Jetzt! Keisuke, sofort!« Sie sah, dass er sie nicht verstand, doch ihr Tonfall ließ ihn alle Fragen vergessen und in sein Zimmer laufen. Sie hingegen ging zunächst zum Fenster, doch natürlich war noch nichts zu sehen, das Meer lag sogar recht ruhig unter dem grauen, zerknüllten Tuch, das der Himmel sein sollte. Doch sie wusste, dass es in ein paar Minuten anders sein würde. Sie wusste nicht, wie weit das Zentrum des Erdbebens entfernt war, doch die Intensität der Erdstöße und die Dauer des Bebens ließen keinen Zweifel zu: Sie mussten aus dem Haus. Sofort. Sie mussten hinauf auf den Berg, vielleicht zu den Yamadas, nein, besser noch höher, noch weiter weg, wer wusste schon, was kam. Obaa-chan!, schoss es ihr durch den Kopf. Die alte Frau, nur zwei Häuser weiter. Sie brauchte Hilfe, sie konnte kaum mehr alleine gehen! In Windeseile rannte Miyako in ihr Schlafzimmer, griff wahllos nach ein paar Kleidungsstücken, stopfte sie in ihre Tasche, dann lief sie ins Wohnzimmer, gerade als Keisuke aus dem Flur kam. Er trug seinen Rucksack über der Schulter und wirkte ängstlich und unsicher, doch es blieb keine Zeit. Miyako riss zwei Schubfächer gleichzeitig auf und kramte nach dem Familienalbum und den Geburtstagskarten ihres Mannes. Als sie beides gefunden hatte, verstaute sie es ebenfalls in der Tasche, lief zum Kühlschrank und holte zwei Wasserflaschen heraus. »Hier!« Sie reichte Keisuke eine, der sie wortlos nahm und verstaute, dann ergriff sie seine Hand und zog ihn in den Flur. »Hör mir zu, Keisuke, hör mir gut zu. Du gehst jetzt zu den Uedas, ja? Du weißt doch noch, wo sie wohnen?«, fragte Miyako, während sie beide eilig die Schuhe anzogen. Er nickte verunsichert. »Das Haus auf dem Hügel, bei dem alten Friedhof.« »Genau.« Miyako nahm ihre beiden Jacken vom Haken und half ihrem Sohn beim Anziehen. Ein Blick auf die Armbanduhr: Schon zehn Minuten vorbei. »Geh zu den Uedas und warte da auf mich.« »Aber kommst du denn nicht mit?« Panik flackerte in Keisukes Augen und seine Stimme war schrill und brüchig. Er klammerte sich an seine Mutter. »Ich komme nach, ich muss der Obaa-chan helfen, sie schafft es nicht allein.« Damit schob Miyako ihren Sohn aus der Tür. Draußen herrschte helle Aufregung. Keisuke und Miyako wohnten nah am Ufer, nah an den Schleusentoren. Ein Feuerwehrtrupp war damit beschäftigt, die Tore zu schließen. Ein paar Nachbarn waren dabei, ihre Häuser von außen zu sichern, doch die Männer von der Feuerwehr brüllten immer wieder herüber, sie sollen es lassen, sollen sich in Sicherheit bringen, höher hinauf, weiter weg vom Wasser. Miyako griff Keisukes Hand fester und zog ihn mit sich. An der Hauptstraße blieb sie stehen und sah ihm fest in die Augen. »Versprich mir, dass du zu den Uedas gehst!« Er weinte, schluchzte, versuchte »Ja« zu sagen, doch es war kaum zu verstehen. »Mach dir keine Sorgen, ich komme gleich mit der Obaa-chan nach. Ich bin gleich wieder bei dir.« Sie umarmte ihn und strich ihm übers Haar. Er klammerte sich wieder an sie, doch sie löste sich von ihm und lief in Richtung des Hauses der Großmutter. »Geh, Keisuke!« Der Kleine stand noch ein paar Sekunden unschlüssig herum, unentschlossen, ob er seiner Mutter folgen oder die Straße hinauf gehen sollte, doch letztlich wandte er sich um und rannte die Anhöhe hinauf, höher und weiter, weiter weg vom Meer. Der Wind frischte auf, das Wasser schwappte hörbar gegen die Wellenbrecher, kroch langsam bis zur oberen Steinkante des Ufers. »Obaa-chan!« Miyako hielt sich nicht damit auf, anzuklopfen, sondern stürmte direkt ins Haus. Alles lag durcheinander, ein Schrank war umgefallen, war sogar teilweise auf dem Sofa aufgekommen, auf dem die alte Frau saß, doch wie durch ein Wunder war ihr nichts passiert. So gut es ging, half Miyako ihr auf, gemeinsam holten sie das Allerwichtigste, packten es in einen Beutel mit einem kitschigen Blumenmuster und waren schon auf dem Weg in den Flur. Die Alte konnte kaum mehr laufen, doch sie spürte wohl, dass sie musste. Dass sie fort musste. —————————————————————————————————————————————————————————————————————————— »Komm, Großmütterchen, wir schaffen es. Wir müssen dort hinauf«, ermutigte Miyako die alte Frau. Diese schlurfte mit schwerem Schritt und rasselndem Atem die Anhöhe hinauf. Auf der einen Seite stützte Miyako sie, auf der anderen ein Mann Ende Vierzig, den Miyako ab und an beim Einkaufen traf, er musste irgendwo unterhalb des Friedhofs wohnen, zumindest ging er immer in diese Richtung, wenn er den Laden verließ. Gemeinsam erklommen sie Meter für Meter, das Haus der Yamadas kam in Sicht. Nicht mehr weit, nicht mehr allzu weit. Die meisten Häuser, die sie passierten, lagen verlassen, doch in einigen sah Miyako noch Menschen hinter den Scheiben, sie saßen im Wohnzimmer oder liefen, wie sie kurz zuvor selbst, durchs Zimmer und sammelten das Notwendigste ein. Hinter ihnen riefen die Arbeiter und Feuerwehrmänner aufgeregt durcheinander, das Knirschen und metallene Schaben der Tore über den Stein übertönte ihre Stimmen. Es begann zu regnen, der Wind wehte die Tropfen in Miyakos Nacken, wo sie kalt und prickelnd unter ihren Pullover liefen. »Nicht mehr weit.« Sie wusste nicht, ob sie wirklich die Alte oder eher sich selbst anfeuerte. Doch sie waren noch nicht hoch genug. Das Haus der Yamadas lag leer und verlassen da, im Garten wartete Toshis Ball vergeblich darauf, dass der Junge mit ihm spielte. Immer wieder rannen Miyako Regentropfen über den Nacken in den Kragen, doch sie konnte die alte Frau nicht loslassen und ihre Jacke höher ziehen, also … Ein fernes Rauschen mischte sich unter den Regen und den Wind. Sie hatte es sofort gehört. Es schwoll rasch an, schien heranzurasen, zu toben. Nur noch ein, zwei Straßen, dann wären sie am Friedhof. Dann hörte sie Keisuke rufen und blickte auf. Er stand ganz oben am Friedhof, am höchsten Geländer, um ihn herum hatten sich viele Menschen versammelt und alle starrten zum Meer, ein paar deuteten erschrocken in die Richtung, aus der das Rauschen kam. Auch Keisuke. Miyako wagte kaum, sich umzudrehen. Als sie es tat, hatte die meterhohe Welle bereits ihr Haus erfasst, das Feuerwehrauto war außerhalb ihres Blickfelds, sie hörte auch keine Rufe mehr vom Ufer, das kein Ufer mehr war, sondern nur noch aus Wasser und Schlamm, aus meterhohem Wasser und Schlamm zu bestehen schien. Ein dumpfes Krachen und Dröhnen schob sich von unten herauf, das Rauschen schwoll noch mehr an, so sehr, dass Miyako glaubte, nichts anderes mehr zu hören, nicht das Pfeifen des Windes, nicht die anfeuernden Rufe der Menschen dort oben, nicht Keisukes helle Stimme, die so voller Angst und Sorge war. Als Miyako ihn endlich erreichte und – erschöpft, verschwitzt, durchnässt, durcheinander – in die Arme schloss, trieben Häuser an ihr vorbei, nur zwei Straßen weiter unten, dort, wo sie vor ein paar Minuten noch gestanden hatte. Sie sah Autos und Dächer und Balkons und Bäume schwimmen, weggewischt als wären sie nichts als Treibgut, ein Feuerwehrauto, ein Helm, Metall, … Oben, am Friedhof, war es still. Gespenstisch und drückend. Schweigend beobachteten die Menschen – auch Miyako und Keisuke – wie ihre Stadt, ihre Häuser, wie alles einfach fortgerissen wurde. Jemand hielt ein Handy in die Höhe und filmte, den Mund fest geschlossen, die Augen aufs Display gerichtet. Miyako stand hinter Keisuke, die Hände auf seine Schultern gestützt, unweit von ihr rang die Obaa-chan nach Atem, auf den Mann gestützt, der geholfen hatte, sie herzubringen, um sie herum standen Nachbarn und Freunde und bekannte und weniger bekannte Gesichter – und alle starrten schweigend auf den Tsunami. Und dann, als das Knacken und Krachen, das Rauschen und Fließen, das Knirschen und Treiben abgeebbt war, dann hörten sie die leisen Schreie aus den Trümmern. 12-03-2012 Dieser Text entstand (bis zur Trennlinie) innerhalb von 60 Minuten zum Thema »Krach/krachen«. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)