Memori3s von _Myori_ ================================================================================ Vergessen und Erinnern ---------------------- Obwohl Persephone ihre Zimmerdecke durch die vorherrschende Dunkelheit nicht sehen konnte und ihr durchaus bewusst war, dass sie dort eh nichts interessantes entdeckt hätte, starrte sie dennoch zu ihr hinauf, kaute auf ihrer Unterlippe und ließ ihre Gedanken mit stoischer Verbissenheit rotieren. Sie hatte nicht auf die Uhr geachtet, aber sie vermutete, dass sie seit mindestens zwei Stunden schon so auf ihrem Bett lag und nachdachte. Hermes war ihrer Bitte ohne weiteres Fragenstellen nachgekommen und hatte sie auf dem schnellsten Weg nach Olymp zurückgebracht. Dort angekommen hatte sie ihn einfach vor ihrem Zimmer stehen gelassen und ihm die Tür ohne ein Wort der Erklärung vor der Nase zugeschlagen. Sie war sich sicher, nun hatte sie ihn endgültig vergrault. Oder zumindest so weit verunsichert, dass er es sich das nächste Mal dreimal überlegen würde, sie auch nur anzusprechen. Seufzend tastete Persephone im Dunkeln nach ihrem Kissen und drückte es sich, über die Augen gelegt, gegen die pochenden Schläfen. Ihr Leben war seit zweieinhalb Stunden wieder ins Chaos zurückgeschubst worden. Sie hätte so gerne aufgehört, über diese dämlichen Worte dieser noch dämlicheren Frauen auf der Toilette dieses dämlichen Kaufhauses nachzudenken, doch ihr Verstand ließ sich nicht abschalten. Nein, ihr kam es so vor, als wäre er erst jetzt, nach Monaten, endlich wieder wachgerüttelt worden und ständig stellte er ihr dieselbe Frage: Wer bin ich? Eigentlich simpel, und eigentlich mochte sie auch intuitiv auf sie antworten, wäre da nicht etwas in ihr, das sie immer wieder innehalten ließ. Es war für sie nie die große Enthüllung gewesen, dass sie nicht als Persephone geboren sein konnte. Ihr war irgendwo schon immer bewusst gewesen, dass sie den Namen erst von Hades und Zeus bekommen hatte, aber ihr war nie der Gedanke gekommen, zu hinterfragen, wer sie vor Olymp gewesen war. Sie hatte keinen kompletten Filmriss, der alles verschluckte, was vor ihrer Zeit in der Organisation lag; da waren Erinnerungen an Schulzeit, an Urlaube, an Gewohnheiten und Hobbies, alles schien vollständig da zu sein. Die Tatsache, dass sie sich an keine Familienmitglieder oder ihre eigene Existenz erinnern konnte, war ihr dagegen nie aufgefallen. Bis sie mit einer Toten verwechselt wurde. Izumi. Einer real existierenden Person, die nicht nach einer Gottheit einer westlichen, längst ausgestorbenen Kultur benannt worden war, sondern einen normalen Namen besaß. War das bloß Zufall gewesen? Hatte sie so ein Allerweltgesicht? Oder steckte mehr dahinter? Wieder stellte ihr Hirn die Frage nach ihrer Existenz. Stöhnend massierte sie sich durch das Kissen hindurch die Schläfen. Das ganze Nachdenken hatte ihr bislang nur Kopfschmerzen eingebracht, mehr nicht. War es überhaupt sinnvoll, so viel Zeit und Muße auf diese eine, dämliche, vielleicht nichtssagende Begegnung zu verschwenden und sich zu fragen, ob an der Verwechslung etwas Wahres sein könnte? Energisch nahm sie das Kissen von ihrem Gesicht, stierte ein letztes Mal mit beginnender Wut zur Decke hinauf, und setzte sich dann mit Schwung auf – etwas, das ihr heruntergefahrener Kreislauf ihr gleich darauf übel nahm und sie schwindeln ließ. Grummelnd hielt sie sich den Kopf und versuchte, die Orientierung wiederzuerlangen, dann stand sie vom Bett auf und tastete nach dem Lichtschalter ihrer Nachttischlampe. Nein, es brachte nichts, weiter vor sich hin zu grübeln. Sie wollte nun endlich wissen, wer diese verdammte Izumi gewesen war, um ihrem eigenen Verstand die Gewissheit zu geben, dass er nun endgültig als verrückt einzustufen ist und sie irgendwann dank ihm an Paranoia krepieren würde. Nachdem sich ihre Augen an das Licht der Lampe gewöhnt hatten, griff sie nach ihrem Laptop und augenblicklich erhielt ihr Tatendrang eine klatschende Ohrfeige, als sie darauf hingewiesen wurde, dass sie derzeit keinen Internetzugang hatte, weil sie außerhalb der Reichweite des WLAN Empfanges war. Natürlich hatten sie hier unten in diesem Bunker kein Netz. Dank mehrerer Rooter in den Büroräumen, im Krankentrakt und im Aufenthaltsraum kamen sie dennoch in den Genuss diesen gewissen Luxus. Dass die meisten Zimmer allerdings wieder außerhalb dieser Radi waren, konnte natürlich purer Zufall sein; Hades‘ spitzer Kommentar neulich, dass sie ja „keine Jugendherberge mit Vollpansion“ seien, ließ Persephone da wieder in andere Richtungen denken. Vielen Dank auch! Kurzerhand zog sie sich also eine Strickjacke über, klemmte ihren Laptop unter den Arm und verließ ihr kleines Zimmer. Es war bereits spät, sodass die Gänge größtenteils verlassen waren und im schummrigen Zwielicht entfernter Lichtquellen lagen. Ein paar Mitglieder kamen ihr aus Richtung der Trainingsräume oder Duschen entgegen, doch sie schenkten ihr wenig Aufmerksamkeit. Im Vergleich zu den ersten Wochen, die sie hier verbracht hatte, in denen sie wie eine neue Errungenschaft von allen Seiten gemustert und angesprochen worden war, war dieser Umstand des Ignorierens eine Verbesserung, die sie sehr befürwortete. Im Aufenthaltsraum waren die großen Deckenlichter schon ausgeschaltet. Sie schaltete eines der hinteren wieder ein und setzte sich in eine, vom Eingang kaum einsehbare Ecke des Raumes, baute ihren Laptop vor sich auf und begann die Internetsuche. Sie wusste, dass Izumi verstorben sein musste, also begann sie nach Todesanzeigen zu suchen. Aus der sehr emotionalen Reaktion dieser Yuki schloss Persephone, dass ihr Tod noch nicht allzu lange zurückliegen konnte, weshalb sie sich auf Anzeigen beschränkte, die im letzten halben Jahr ausgeschrieben worden waren. Soweit verlief alles einfach und auf legalen Wegen. Jedoch war der Name Izumi kein seltener und so stieß sie auf viele Nachrufe. Die meisten konnte sie sogleich aussortieren, da es sich um ältere Frauen handelte, die definitiv nicht eine Freundin der beiden Fremden sein konnten. Bei dem Einkreisen auf einen Wohnort der Toten tat sie ein Schuss ins Blaue und beschränkte sich auf den Raum Tokios. So blieben aber immer noch genügend Izumis übrig, die sie zu überprüfen hatte. Je mehr sie recherchierte, umso kleiner wurde der Kreis der Verstorbenen, die in Frage kamen. Problematisch war, dass selten ein Foto bei dem Nachruf beigelegt war, und aus den Texten konnte sie keine relevanten Informationen herausfiltern; manchmal wurden Arbeitskollegen oder Schulkameraden im Nachruf erwähnt, denen man auf diesem Weg seinen Dank für das zugekommende Beileid aussprechen wollte. Bei drei Izumis versuchte Persephone so weitere Nachforschungen anzustellen, doch sobald sie dann endlich auf ein Foto der Verstorbenen stieß, war die Suche auch schon wieder beendet. Yuki müsste sich schon eine Brille zulegen, wenn sie Persephone tatsächlich mit diesen Izumis verwechselt hatte. Nach einer Stunde sah sie seufzend von der Tatstatur auf und rieb sich über die Augen. Bis jetzt gab es keine genaue Spur auf ihre vermeintliche Doppelgängerin. In Gedanken ging sie nochmal das Treffen mit den beiden Frauen durch. Yuki war sich sicher gewesen, ihrer alten Freundin gegenüber zu stehen. Sie hatte erleichtert ausgesehen, glücklich, und nicht so, als wäre jemand plötzlich von den Toten auferstanden. Persephone wäre wahrscheinlich blass geworden und hätte Abstand genommen; so, wie die zweite Unbekannte ihr gegenüber reagiert hatte. Sie hatte Yuki energisch darauf aufmerksam gemacht, dass Izumi tot sei. Persephone erinnerte sich, dass Yuki etwas erwidern wollte, ihre Freundin hatte ihr allerdings das Wort abgeschnitten. Sie wollte Izumis Tod nicht wahrhaben, dachte Persephone und legte die Stirn in Falten. Aber warum sollte man den Tod eines Menschen nicht akzeptieren? Auf einmal weiteten sich ihre Augen in aufkommender Erkenntnis. Wann zweifelte man den Tod an? Wenn es keinen Toten gab! Izumi ist nicht tot. Sie wird vermisst. Augenblicklich begannen ihre Finger wieder über die Tasten zu fliegen. Doch auch jetzt kam ihre Suche wieder nach ein paar Minuten ins Stocken. Es gab offizielle Seiten der Polizei, auf denen vermisste Personen steckbrieflich aufgelistet wurden, diesmal auch mit Fotos, doch auch hier fand sie niemanden, der auf die Beschreibung gepasst hätte. Erneut fing sie an, ihre Unterlippe mit den Zähnen zu bearbeiten. Blieben nur noch die internen Seiten und Register der Polizei. Um dort hin zu gelangen, müsste sie allerdings den illegalen Weg einschlagen. Sie wusste im Grunde, wie sie es anstellen müsste, um sich unbemerkt in das gesicherte Netzwerk einzuschleichen, in den letzten Wochen hatte sie das schon mehrmals getan, doch immer unter der Aufsicht von Hades. Sie müsste nur eine Meldung außer Acht lassen oder ein Passwort falsch zu knacken versuchen und schon würde man auf ihr Tun aufmerksam werden. Sie könnte bis morgen warten und Hades bitten, ihr dabei zu helfen, doch irgendetwas sagte ihr, dass er verstimmt reagieren könnte. Keine unnötigen, illegalen Ausflüge; so oder so was Ähnliches würde sie sich dann anhören dürfen. Nein, wenn sie das Wagnis eingehen wollte, dann jetzt! Sie atmete nochmal tief durch, dann öffnete sie die nötigen Programme und konzentrierte sich. Nach einer halben Stunde hatte sie die Sicherheitsbarrieren hinter sich gelassen und durchsuchte angespannt die Register für Vermisstenanzeigen und gesuchte Personen. Auch hier stieß sie auf unzählige Izumis, viele davon kannte sie schon von anderen Seiten, die sie durchgeschaut hatte, und so ging sie dazu über, mithilfe von Filtern zu suchen. Sie wollte zwar so wenige Aktivitäten wie möglich durchführen; auf der anderen Seite wollte sie schnell wieder diese geschützten Seiten verlassen können. Auf ein Übel musste sie sich also einlassen. Dann fiel ihr die Lösung innerhalb einer Sekunde in die Hände. Ihr Atem stockte sofort und sie konnte und wollte ihren Augen nicht trauen. Sie hatte Izumi gefunden. Sie und ihren Bruder Toshihiko, beide seit genau zweieinhalb Monaten als vermisst gemeldet. Vor einer Woche wurde ihr Status in „eingestellt“ geändert; Begründung: schwerwiegender Verdacht auf Ableben der Gesuchten. Persephones Herz begann sich in ihrer Brust zu überschlagen. Zwei Gesuchte, zwei Bilder. Das eine Bild zeigte sie. Auf dem anderen Bild, das von ihrem Bruder, erkannte sie Äneas. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)