Nur so ein Gefühl von Zimtstern (das Richtige zu tun) ================================================================================ Kapitel 1: Nur so ein Gefühl ---------------------------- So, um mal wieder etwas ins Schreiben hinein zu kommen, gibt es eine kurze OS von mir. Ich hoffe, sie gefällt & ihr werdet ein wenig Spaß damit haben. Über Rückmeldung in Form eines kleinen Kommentars freue ich mich wie immer sehr! [ EDIT ] Dank meines Beta-Engels gibt es hier nun doch noch die korrigierte Fassung des OS zu lesen. Danke dafür! Stille konnte ein unglaublich lautes Geräusch sein. Es war das erste Mal in Benedikts Leben, dass er das so gezielt wahrnahm. Seit die Türe des Sekretariats vor seinen Augen zugeschlagen worden war, dröhnte diese absolute Stille so gnadenlos laut in seinen Ohren, dass es fast schon schmerzhaft war. Leise räusperte er sich, rutschte ein wenig auf der harten Holzbank hin und her, stieß dabei leicht gegen den Körper neben ihm. Sofort hob sich ein Mob aus schwarzen Haaren an, eine Hand strich sie fahrig aus der Stirn, dann blickten ein Paar braune Augen zu ihm auf. »Nervös, oder was?«, wisperte Noé ihm zu, obwohl sie gar nicht hätten leise sein müssen. Niemand war auf dem Gang, die Sekretärin hatte sie mit einem einzigen, missbilligenden Blick alleine hier sitzen lassen. Theoretisch konnten sie also gehen. Einfach ihre Schultaschen über die Schulter werfen und abhauen. Bis das jemand bemerkt hätte, wären sie schon längst durch die hohe Schulpforte marschiert. »Quatsch!«, entgegnete Benedikt bestimmt, merkte dabei allerdings, wie sich ein Kloß in seinem Hals ausbreitete, ihm das Sprechen und Schlucken erschweren wollte. »Vielleicht ein Bisschen«, lenkte er deswegen prompt ein. Noé hätte ihm sowieso nicht geglaubt. Meistens kannte er ihn besser als Benedikt sich selbst, flunkern war demnach zwecklos. »Süß«, grinste Noé daraufhin und entblößte zwei Reihen blitzendweißer Vorderzähne, die einfach nur beneidenswert waren. Benedikt wollte eigentlich protestieren, sich über die Bezeichnung seiner selbst empören, als eine Hand ihm sowohl freundschaftlich, als auch tröstlich durch sein ebenfalls dunkles Haar wuschelte. »Das wird schon.« Es war ja nicht so, als ob sie das erste Mal hier sitzen würden. Auf genau dieser Holzbank,,wie zwei Sträflinge, die darauf warteten, gleich dem Haftrichter vorgeführt zu werden und für ihre Gräueltaten eine Strafe aufgebrummt zu bekommen. Nein, Benedikt und Noé hatten diesen Platz ja beinahe gepachtet. Vom ersten Tag an. Benedikt konnte sich noch ganz genau daran erinnern, wie er nach seinen ersten beiden Unterrichtsstunden auf dieser Schule hier gelandet war, weil er in der großen Pause eine Prügelei mit einem Siebtklässler angefangen hatte. Warum, das war ihm allerdings entfallen. Aber es musste etwas mit Noé zu tun gehabt haben, wie eigentlich immer. Noé und seine Geschwister, das waren die einzigen Menschen auf dieser Erde, für die sich Benedikt jemals geprügelt hatte. Da seine Geschwister Problemen aber lieber aus dem Weg gingen, beschränkte es sich letzten Endes also doch auf Noé. – Und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Nicht einmal, seitdem sie im Kindergarten um ein paar Matchboxautos gestritten und sich nur kurz darauf verbrüdert hatten, hatten sie einander im Stich gelassen. Nach der ersten Prügelei in der fünften Klasse waren Benedikt und Noé schnell zu neurotischen Unruhestiftern und schließlich zum gefürchteten Lehrerschreck avanciert. Von aus dem Fenster fliegenden Tagebüchern, Wassereimern über der Klassenzimmertüre bis hin zum nächtlichen Schuleinbruch hatten sie wirklich alles auf ihrer Liste abgehakt. Es war nicht so, dass Benedikt stolz auf das alles war, nein, einige Sachen waren wirklich, wirklich dumm gewesen, aber letzten Endes konnte er nichts mehr daran ändern. Oft war es auch gar keine Absicht. Solche Dinge passierten einfach um ihn herum, quasi als Verkettung unglücklicher Umstände, die mit seinem Erscheinen ihren Anfang nahmen. Es war, als würde Benedikt Ärger nur so anziehen. Und da Noé überall da war, wo auch Benedikt war…nun. Er hätte also durchaus an diese Situation gewöhnt sein müssen. Und trotzdem, irgendwie hatte er das Gefühl, heute den Bogen überspannt zu haben. Ein für alle Mal. »Das hier ist anders«, sprach er seinen Gedanken ungewollt laut aus. »Das hier ist anders als alles davor.« Noé, der in seine eigene Grübelei vertieft gewesen war, blickte abermals zu ihm auf. Einen Moment lang tat er nichts anderes, als ihn anzusehen. Ein undefinierbarer Blick lag in den dunkeln Augen, die Benedikt jedes Mal aufs Neue an Nussnougatcreme erinnerten, ein Gefühl von Hunger in ihm weckten. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, wich ein Seufzer über die vollen Lippen des Schwarzhaarigen. »Allerdings. Und ich weiß noch immer nicht, was du dir dabei gedacht hast«, kommentierte er Benedikts Aussage mit müder Stimme. »Ich…gar nichts. Ich habe mir gar nichts dabei gedacht. Es war einfach nur…«, erwiderte Benedikt darauf hastig, verhedderte sich fast in seinen eigenen Worten. Etwas, das ihm öfter passierte, wenn er überstürzte Antworten gab. Mit auf einmal ziemlich heftig pochendem Herzen, räusperte er sich. »…nur so ein Gefühl, das Richtige zu tun«, vollendete er seinen Satz in Gedanken, brachte es aber irgendwie nicht über sich, diesen laut auszusprechen. »Stell dir vor, hab‘ ich gemerkt, dass du dir nicht viel bei gedacht haben kannst«, kam es ziemlich trocken zurück, wobei Noés Lippen sich dennoch zu einem Schmunzeln verzogen. Benedikt konnte nicht genau sagen, ob sein bester Freund nun böse auf ihn war oder nicht. Eigentlich wäre es die einzige vernünftige Reaktion gewesen, immerhin hatte er gar nichts getan. Es war einmal mehr einzig und allein Benedikts Verschulden, dass sie hier oben gelandet waren. Doch wie immer schien Noé es mit Gelassenheit zu tragen. »Ich…sorry«, zuckte er schließlich etwas unbeholfen mit den Achseln, woraufhin der Andere ihm leicht auf die Schultern klopfte. »Kein Probleme. Es war ja schon irgendwie…sü-« Benedikts Hand schnellte hervor und legte sich über Noés Mund, noch ehe dieser das unheilvolle Wort ein weiteres Mal hätte aussprechen können. »Nicht. Süß. Okay? Ich bin nicht süß!«, betonte er eindringlich, spürte dabei, wie Noé hinter seiner Hand ziemlich breit zu grinsen begonnen haben musste. Ein paar unterdrückte Worte wurden genuschelt, von denen Benedikt selbst kein einziges verstand, dann kitzelte es auf einmal in seiner Handinnenfläche, wurde warm und feucht. »Urgh«, zog Benedikt seine Hand sofort zurück, betrachtete sie leicht angeekelt, ehe er sie an Noés Ärmel abwischte. »Du bist so widerlich!« Der Schwarzhaarige schien daraufhin gerade etwas erwidern zu wollen, als sein Mund plötzlich wieder zu klappte, ohne dass ein einziger Ton seine Lippen verlassen hätte. Benedikt hob eine Augenbraue, blickte seinen besten Freund verwirrt an, als hinter ihm ein leises Räuspern ertönte. Betont langsam und mit gezwungener Lässigkeit wandte Benedikt sich um. »Wie schön, dass Sie Ihren Spaß haben.« Benedikt hatte den kleinen, leicht rundlichen Mann mit seinem fast kahlen Kopf und der stets verschwitzten Stirn nie wirklich als bedrohlich empfunden. Bei einigen Standpauken, die ihr Direktor ihnen gehalten hatte, hatte er sich sogar das Lachen verkneifen müssen. Heute allerdings reichten die schneidende Stimme und der kalte Blick aus, um ihm eine Gänsehaut über den Rücken zu jagen. Heute, verdammt nochmal, war alles anders als davor. Benedikt suchte unweigerlich Noés Blick, wie immer, wenn er das Gefühl hatte, ohne Halt zu sein. Wie zum Beispiel vor Klausuren oder einer dieser unangenehmen Begegnungen mit seinen Eltern. Und wie immer reichte das kurze, aufmunternde Nicken aus, um einen Kraftschub durch seinen Körper zu senden. Es war wie eine Bestätigung, dass jemand an ihn glaubte. Dass jemand wusste, dass er diesmal die Klausur nicht verhauen würde. Dass jemand wusste, dass er mehr wert war, als sie ihn glauben machen wollte. Dass jemand wusste, dass sie vollkommen unbeschadet aus dieser Sache herausgehen würden. Ruckartig und nahezu zeitgleich erhoben sich die beiden von der Holzbank. Noé trat zuerst nach vorne. Im Vorbeigehen streifte sein Arm Benedikts wie zufällig. »Herr Winter, wenn Sie bitte mit mir kommen würden? Nein, Herr Sauer, Sie dürfen noch ein wenig warten.« Benedikts Mund klappte wie zu einem stummen Schrei auf, kaum hatte er die Worte seines Direktors vernommen. »Was? Aber…?!«, entfuhr es ihm augenblicklich entsetzt, doch sein Protest wurde von einer erhobenen Hand schlicht und ergreifend abgeschmettert. »Das können Sie nicht…wir sind bisher immer zu zweit…!« Noé, welcher dem älteren Mann gefolgt war, drehte sich an der Türschwelle nochmals um, deutete mit seiner Hand eine beschwichtigende Geste an, die Benedikt scheinbar zum Verstummen bringen sollte, ehe er ihm kurz zuzwinkerte. Keine Sekunde später schlug die Türe abermals ins Schloss, ließ Benedikt alleine zurück. Alleine mit dieser schrecklichen Stille, die ihn wie eine meterhohe Welle zu übermannen drohte. Benedikt war noch nie gut im Umgang mit Worten gewesen. Bis zu seinem vierten Lebensjahr hatte er in einer Art eigener Sprache vor sich hin gebrabbelt, die niemand außer seinem älteren Bruder Maximilian verstanden hatte. Somit war Max nicht nur zu seinem Dolmetscher, sondern auch zu seinem ständigen Begleiter geworden. Während Benedikt sich schlicht und ergreifend geweigert hatte, mit dem Rest seiner Umwelt zu kommunizieren, da dieser offensichtlich zu unintelligent war, ihn zu verstehen, hatte Max wie selbstverständlich für ihn mitgeredet. Das war so lange gut gegangen, bis sein Bruder eingeschult worden war und Benedikt sich alleine in einer fremdartigen Welt namens Kindergarten wiederfand. Kurz darauf war Noé aufgetaucht. Natürlich war Benedikts eigene Sprache, mehr oder minder freiwillig, irgendwann in Vergessenheit geraten. Nichtsdestotrotz fiel es ihm generell schwer, die richtigen Worte zu finden. Wenn er in der Schule aufgerufen wurde oder ihn jemand auf der Straße nach dem Weg fragte, konnte er nur hilflos den Kiefer bewegen, ohne dass ein einziger Ton über seine Lippen gekommen war. Benedikt war nicht schüchtern. Auch nicht dumm. Er selbst hatte keine Erklärung dafür, warum ihm die Worte schlicht und ergreifend entfielen, wenn es drauf ankam. Noé war in solchen Situationen sein Sprachrohr. Er musste Benedikt nur ansehen und wusste schon, was dieser eigentlich sagen wollte. Er war es meist gewesen, der im Direktorat für sie beide gesprochen hatte. Der erklärt hatte, wieso Benedikt schneller zuschlug als andere. Wieso er Streitigkeiten eben nicht einfach verbal klären konnte. Noé jonglierte mit Begriffen wie LRS und ADS, dass es Benedikt nur so schwindeln konnte, aber ohne ihm jemals das Gefühl zu geben, irgendwie komisch zu sein. Er konnte da nicht alleine reingehen. Alleine der Gedanke daran, dem Redeschwall des Direktors ausgesetzt zu sein, ohne in den entscheidenden Momenten eine Antwort geben zu können, ließ ihn innerlich erzittern. Niemals würde er da reingehen. »Bene?« Eine ruhige, dunkle Stimme durchdrang mühelos die in ihm aufsteigende Panik. Wie eine warme Decke umhüllte sie ihn sanft und sicher. Einmal atmete er tief durch, dann schlug er die braunen Augen auf, um den Sprecher auszumachen. Maximilians Gesicht passte zu seiner bedachten Stimme. Die blauen Augen waren unergründlich tief, die Gesichtszüge markant. Seine Lippen umspielte stets ein sanftes, gewinnendes Lächeln, das die Herzen aller potentiellen Schwiegermütter dieser Welt höherschlagen ließ. Das weiße Hemd und dunkle Sakko der Schuluniform saß wie maßgeschneidert an ihm und egal, wie Max sich darin bewegte, schien es niemals zu verknittern. Beneidenswert. »Max«, murmelte Bene zurück, als seine Augen einmal über die Gestalt seines Bruders gehuscht waren, welcher am Absatz der Treppen aufgetaucht war. Er konnte nicht anders, als eine unterschwellige Entschuldigung in seine Stimme zu legen, wie jedes Mal, wenn sie hier aufeinandertrafen. Maximilian war Stufenbester des Abschlussjahrgangs, Schulsprecher, Leiter diverser Arbeitsgruppen, ganzer Stolz der Familie Sauer und so etwas wie Benedikts persönlicher Anwalt. Sein Wort hatte in der Schule Gewicht und er hatte es mehr als nur einmal für seinen kleinen Bruder einlegen müssen. »Bene, was zum Teufel…?!«, setzte Max nochmals an, brach dann allerdings mit einem Seufzen ab, was für Benedikt so viel wie »schon in Ordnung« bedeutete. Mit wenigen Schritten war er bei seinem Bruder angelangt, ließ sich wortlos neben ihn auf die Holzbank plumpsen. »Ich…keine Ahnung. Ich habe nicht…nur-.« Benedikt merkte, wie ihm die Worte einmal mehr entschwanden, sich einfach auf seiner Zunge auflösten. Das altbekannte Gefühl der Hilflosigkeit überkam ihn und er schloss den Mund wieder, bevor er noch mehr Müll von sich geben konnte. Max hingegen winkte lediglich ab. »War eine rhetorische Frage, ich habe schon gehört, was passiert ist«, seufzte er, fuhr sich dabei einmal durch das braune Haar, welches wie von selbst an seinen angestammten Platz zurück fiel. »Ich wüsste nur zu gerne, was du dir dabei gedacht hast. Noé zu küssen. Vor versammelter Klasse. Im Religionsunterricht. Ist dir der Umstand bewusst, dass du auf einem christlichen Gymnasium für Jungen bist?« Bene spürte, wie die Röte ihm unaufhaltsam in die Wangen kroch, während sein Bruder die Ereignisse so knapp und in derartig nüchternen Worten zusammenfasste. Er konnte auch nicht genau sagen, was ihn so verlegen machte. Bis eben war er voller Trotz gewesen, voller Überzeugung, richtig gehandelt zu haben. Nun aber hätte er sich am liebsten die Hände vors Gesicht geschlagen und sich dahinter versteckt. »Nichts. Ich habe mir nichts dabei gedacht. Es war einfach nur…«, wiederholte Benedikt leise die Worte, welche er zuvor bereits an Noé gerichtet hatte. »Einfach nur so…ein Gefühl, das…das Richtige zu tun.« Und dieses Mal hatte er es ausgesprochen. Ja, es hatte sich richtig angefühlt und es tat es nach wie vor. Ein leichtes Kribbeln überkam ihn, als er daran zurückdachte, wie er plötzlich von seinem Platz aufgesprungen war und Noé am Kragen zu sich hochgezogen hatte. Das laute Scheppern, als der Stuhl nach hinten gekippt war, hallte immer noch in seinen Ohren wider. »Gott«, wisperte er leise und fuhr sich abwesend mit seinen Fingerkuppen über die aufgesprungenen Lippen. Max schwieg. Es war kein unangenehmes Schweigen, sondern ein geduldiges. Eines, das Benedikt klarmachte, dass er ihm alle Zeit der Welt lassen würde. Es war das gleiche Schweigen, wie in jenen Momenten, in denen er darauf wartete, dass Benedikt all die Wörter wieder einfielen, die er sagen wollte. In der Anwesenheit seines Bruders war die Stille nicht laut, nicht unerträglich, sondern geduldig und nachsichtig. »Es war…sie haben Noé provoziert. Mit ihren saudämlichen Kommentaren. Und er konnte sich nicht mal wehren. Weil, was sollte er denn machen? Ihnen eine reinhauen? Und der Mayer hat auch nichts gemacht. Nur dagestanden und die »Diskussion« geleitet. Das war keine Diskussion über Homosexualität, das war eine Hetzkampagne. Ich…konnte nicht mehr…und Noé hat so…er war so….Max, du hättest ihn sehen müssen! Und da habe ich halt einfach….« »Ihn geküsst.« Benedikt schluckte hart, als sein Bruder den Satz wie selbstverständlich beendete, rang sich zu einem schwachen Nicken durch. Ja, und wie er Noé geküsst hatte. Es war kein Vergleich zu all den anderen Küssen gewesen, die er in seinem Leben schon gehabt hatte. Weder zärtlich, noch neugierig, noch vorsichtig. Sondern kurz und heftig. Ein klein wenig wie ein Autounfall. Seine Lippen hatten sich danach zunächst ganz taub angefühlt, ehe sie merkwürdig zu pulsieren begonnen hatten. Inzwischen wirkten sie fast ein bisschen geschwollen. »Ja. Ich habe ihn geküsst.« Es war mehr ein Krächzen als alles andere, aber dennoch fühlte es sich gut an, diese Worte auszusprechen. Auch, wenn sie unweigerlich eine neue Angst mit sich brachten. Benedikt hatte nicht wirklich mit Konsequenzen gerechnet. Sicherlich mit Spott, mit Häme, mit dummen Kommentaren. Im schlimmsten Falle mit einer Klopperei nach der Schule. Aber nicht damit, von einem schockierten Lehrer zum Direktor geschickt zu werden. Wegen »unsittlichen Verhaltens«. Nur weil er jemanden geküsst hatte. Okay, während des Unterrichts. Und dieser jemand war ein anderer Junge gewesen. War Noé gewesen. Aber trotzdem! Benedikt hatte sich in den letzten Minuten eingestehen müssen, dass er die Welt einmal mehr nicht verstand. Oder sie ihn nicht. Sowie früher, als er noch in seiner eigenen Sprache gesprochen hatte. »Ich bin stolz auf dich.« »Waaas?!« Benedikt hatte vor Schreck angefangen zu husten, kaum dass der überraschte Laut seine Kehle verlassen hatte. Nach dem Rauswurf aus dem Religionsunterricht hatte er wirklich mit jeder Reaktion gerechnet, aber nicht mit dieser hier. Maximilian grinste leicht schief, als er sich Benedikt zuwandte. Ein seltener Anblick, denn meist beschränkte er sich auf ein freundliches, nichtssagendes Lächeln. »Doch, wirklich«, erklärte er, schnippte dabei mit seinem Zeigefinger leicht gegen Benedikts Stirn, was diesen die Nase krausziehen ließ. »Früher hättest du jeden krankenhausreif geschlagen, der etwas Schlechtes über Noé gesagt hätte. Heute allerdings…nun ja, ich denke, es ist ein Fortschritt.« »Ich hätte vielleicht schon, wenn wir nicht im Unterricht gewesen wären…«, murmelte der Jüngere daraufhin, rieb sich mit der flachen Hand über die Stirn. Maximilian erwiderte eine ganze Weile nichts daraufhin, während Benedikt versuchte, durch die Stille hindurch Stimmen ausmachen zu können, die vielleicht hinter der geschlossenen Türe hervor dringen würden. Noé war schon viel zu lange da drinnen, zumindest kam es ihm so vor. Er hatte nicht auf die Uhr gesehen, um es genau sagen zu können. Geistesabwesend kramte er in seinem Rucksack herum, den er zuvor achtlos auf den Bode geworfen hatte, zog eine Wasserflasche heraus. Gerade, als er den ersten Schluck daraus genommen hatte, räusperte Max sich neben ihm. »Heißt das jetzt, du bist schwul?« Benedikt hätte das Wasser um ein Haar quer über den Flur gespuckt. Abermals hustend und röchelnd rang er nach Luft, wobei Max ihm gelassen auf die Schulter klopfte. »Ob ich…? Ich? Nein!«, entfuhr es ihm so bestimmend und entsetzt zugleich, dass er fast selbst davon überrascht war. Maximilian hob lediglich eine Augenbraue, aber Benedikt konnte die stumme Nachfrage dahinter laut und deutlich verstehen. Mit einem Schlag war die Hitze wieder da. Die Hitze und das merkwürdige Kribbeln . »Quatsch! Ich habe das nur gemacht, um ihn zu verteidigen. Um den Trotteln die Sprache zu verschlagen. Um…um Noé aufzuheitern. Aber nicht, weil ich…Himmel!«, schnaubte er händeringend. Er war nicht schwul. Er hatte kein Problem mit Schwulen. Was er ja auch erfolgreich gezeigt hatte. Er hatte das einfach nicht mehr länger mit ansehen können. Noés traurigen Blick, seine hängenden Schultern. Jedes Mal, wenn ein »abnormal« gefallen war, war er wie unter einem Peitschenhieb zusammengezuckt. Es hatte Benedikt beinahe selbst wehgetan, irgendwo tief drinnen. Und er wusste doch, dass es nicht richtig war, was sie da sagten. Er wusste, dass der Mayer hätte einschreiten müssen. Aber niemand hatte etwas getan und das hatte ihn wahnsinnig gemacht. Er hatte für Noé da sein wollen, so wie dieser immer für ihn da gewesen war, wenn er ihn gebraucht hatte. Sicherlich, rückblickend war seine Aktion nicht logisch. Aber dann wiederum, wann war jemals eine seiner Taten logisch gewesen?! »Außerdem hab ich doch Nastja«, argumentierte er schwach, wenn auch etwas spät, an Maximilian gewandt. Nastja und Benedikt, das war so eine Sache. Strenggenommen waren die beiden seit der neunten Klasse zusammen. Und auch wieder nicht zusammen. Die Beziehung hatte ein Bisschen was von Ebbe und Flut, wobei gerade wieder Ebbe herrschte. Benedikts Schwester Elisa hatte den Vergleich mal gebracht und er musste zugeben, dass er irgendwie passend erschien. Das mit ihnen hatte nie ganz geklappt, aber ohneeinander ging es eben auch nicht. »Klingt nach einem Argument.« Die Ironie hing so schwer in jedem einzelnen Wort, dass Benedikt glaubte, sie regelrecht davon abtropfen und auf den Boden platschen zu hören. »Ach, keine Ahnung!«, schnaubte er schließlich, schlug sich dabei die Hände vor das Gesicht. Einen Herzschlag lang verharrte er so, ehe er die Finger spreizte und dazwischen hindurch zu seinem älteren Bruder lugte. »Wenn es so wäre…fändest du es schlimm?« »Nein«, kam es schlicht und ergreifend, dafür aber wie aus der Pistole geschossen. Benedikt stutzte über diese schnelle Antwort, was Maximilian zum zweiten Mal in kurzer Zeit amüsiert grinsen ließ. Auf eine gruselige Weise amüsiert . »Ich habe mir das schon einige Male überlegt, deswegen kann ich das mit Bestimmtheit sagen.« »Du…denkst…du denkst, ich bin…?« Maximilian wiegte leicht den Kopf hin und her, ehe er ihn bedächtig schüttelte. »Ich weiß es nicht, Bene. Das musst du schon selbst herausfinden. Es würde mich nur nicht überraschen. Aber es ist mir egal, also lass dir Zeit damit«, schmunzelte er leicht und Bene fühlte sich unter einer Welle aus Zuneigung begraben, die ihn peinlich berührt die Augen schließen ließ. »Aber hey, egal, wie die Lage jetzt ist. Ich werde nicht zulassen, dass dich irgendjemand dafür bestraft, wie und was du bist«, drang es fast schon in einem Flüstern an sein Ohr und im nächsten Moment spürte Benedikt, wie seine Hände vorsichtig von seinem Gesicht gezogen wurden. »Denn das haben sie schon viel zu oft getan.« Er konnte nicht genau sagen, auf wen diese Aussage gemünzt war, aber er war Maximilian unendlich dankbar dafür. Am liebsten hätte er es ausgesprochen, doch als er den Mund öffnen wollte, entfloh ihm das Wort wie von selbst, so dass er sich lediglich leise räusperte. »Schon gut. Das ist schließlich mein Job« Benedikt war fast schon froh, dass er nichts mehr darauf erwidern musste, als in eben jenem Moment die Türe des Direktorats aufschwang. Angespannt war er von seinem Platz aufgesprungen, als Noé nach draußen trat, die Klinke hinter sich ran zog. »Du darfst auch gleich«, grinste er Benedikt leicht schief an, gestikulierte zu der Türe hinter ihm. »Und? Was hat er gesagt?« Max hatte sich inzwischen ebenfalls erhoben, blickte Noé erwartungsvoll an, als dieser seinen Rucksack vom Boden auflas und schulterte. »Och, nix Besonderes. Wie unverfroren wir doch sind, blah blah, eine Beleidigung, blah blah, massives Fehlverhalten, blah blah…das Übliche eben. Du musst einen Aufsatz an den Mayer schreiben, in dem du dich für die Unterrichtsstörung entschuldigst. Das war’s«, berichtete Noé augenrollend, wobei er sich bei dem letzten Part direkt an Benedikt wandte. Dieser verzog nur leicht das Gesicht. Mal abgesehen davon, dass er nicht so ganz wusste, für was er sich hätte entschuldigen sollen, war er eine absolute Niete darin, Aufsätze zu schreiben. »Ich hasse Aufsätze«, ließ er deswegen verlauten, während er Noé dabei zusah, wie dieser mit dem Reißverschluss seines Rucksacks kämpfte, schließlich ein Kuvert darin verstaute. »Ich weiß, aber sieh’s mal so, es hätte au-« Noé hatte mitten im Satz abgebrochen, das Grinsen war mit einem Schlag von seinen Lippen gewischt worden, als Benedikt ihm mit einer schnellen Geste den Rucksack von der Schulter riss. »Bene? Was zum…?!«, ertönte es, doch da hatte er bereits mit pochendem Herzen in dem Inneren herumgewühlt. Als er den blauen Kuvert ans Tageslicht beförderte, blieb ihm mit einem Mal die Luft weg. »Eine…Abmahnung?! Ich dachte….nur einen Aufsatz, hast du gesagt!«, entfuhr es ihm lauter, als er beabsichtigt hatte, wobei er entsetzt den blauen Umschlag in seinen Händen anstarrte. Und was sollte auch sonst darin sein? Blaue Briefe bedeuteten nie etwas Gutes. Nie. Noé war unter Benedikts Ausruf betroffen zusammengezuckt, murmelte etwas Undeutliches, ehe er ihm den Brief wieder entriss und dieses Mal in die Gesäßtasche seiner Jeans stopfte. »Was war das?« »Ich sagte, es ist keine Abmahnung, Bene«, wiederholte Noé sich, dieses Mal etwas lauter, wobei seine dunklen Augen ganz eindeutig Benes zu meiden versuchten. Stattdessen schien der schwarze Steinboden auf einmal unglaublich interessant zu sein. »Red‘ keinen Scheiß, was soll es sonst sein?! Eine Abmahnung wegen einem verdammten Kuss, ich glaub’s einfach nicht!«, sprudelte es unaufhaltsam aus Bene heraus. Das war der Haken. Wenn er nicht darüber nachdachte, wenn er schon fast blind vor Wut und Unverständnis war, dann kamen die Worte auf einmal wie von selbst. »Verweis, Bene. Es ist ein Verweis.« Im Alter von sieben Jahren war Benedikt auf den kleine Gerätschuppen der Familie Sauer geklettert und kaum, dass er oben war, rückwärts wieder hinunter gekippt. Es war ein kurzer, freier Fall mit schmerzhaftem Aufprall direkt auf dem Rücken gewesen. Es hatte schrecklich wehgetan und ihm war ganz schwindelig vor Schmerz geworden, so dass ihm unfreiwillig die Tränen in die Augen geschossen waren. Es war dieses Gefühl, welches ihn nun, zehn Jahre später, wieder einholte. Einen Moment lang starrte er Noé an, als sei dieser verrückt geworden, schüttelte dann ungläubig den Kopf. Ein Verweis. Wegen eines Kusses. »Du kriegst aber keinen. Ich…ich wollte nur den Aufsatz nicht schreiben, deshalb. Du hast die Wahl, Bene. Schreib den Aufsatz und die Sache ist gegessen«, hörte er Noés Stimme wie von weit her. »Warum hast du ihn nicht schreiben wollen?«, krächzte er leise, fuhr sich dabei einmal mit einer fahrigen Geste durch sein eigenes, widerspenstiges Haar. Wenn es doch so einfach war, warum hatte Noé das Angebot dann ausgeschlagen? Warum einen Verweis riskiert? Genau genommen war es doch nicht einmal seine Schuld gewesen! Bene hatte ihn von seinem Stuhl hochgezerrt und geküsst! Bene hatte ihn überrumpelt! Noé hatte rein gar nichts gemacht! Sie hatten beide nichts gemacht, was das hier rechtfertigen würde! »Weil…weil ich mich nicht dafür entschuldige, was ich bin«, murmelte Noé leise, abermals dem Boden zugewandt. »Und«, fuhr er fort, hob dieses Mal jedoch seinen Kopf, sodass ihre Blicke aufeinandertrafen. Entschlossenheit, stellte Bene fest. Pure Entschlossenheit lag darin und vielleicht auch ein wenig Trotz. »Und, weil es der beste Kuss meines Lebens war.« Benes Denken schaltete ab, kaum dass die Worte verklungen waren. Er würde sich später nicht einmal mehr genau daran erinnern können, wie er nach Noés Hand gegriffen, ihn mit sich gezogen hatte. Ohne Anzuklopfen, einfach mit sich hinein in das Büro des Rektors. Aber er würde froh sein, dass er es getan hatte. Nicht, weil es logisch gewesen war, sondern einfach nur so aus dem Gefühl heraus, das Richtige zu tun. fin. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)