VLE-Outtakes von KaethchenvHeilbronn (Kleine Geschichten zu VLE) ================================================================================ Iffland/Georg - 1 ----------------- Ein frustrierter Seufzer entweicht seinen Lippen, als er sich im Spiegel betrachtet. Prüfend dreht er sich auf die Seite, legt sich eine Hand auf den nackten Bauch. Ja, er hat definitiv zugenommen. Und wieso? Weil er laufend so viel Schokolade in sich reinfrisst. Und wieso tut er das? Weil er nur von unfähigen Menschen umgeben ist! Er legt sich die Hände an den Hintern und dreht sich noch ein wenig herum. – Das ist ja schrecklich, in der hautengen Lederhose sieht man aber auch jedes Gramm zu viel! Abermals aufseufzend zieht er sich das enge Shirt mit dem Batikmuster über seinen blassen Oberkörper und befreit seine langen seidigen Haare anschließend daraus. Er verlässt sein Ankleidezimmer – sonst würde er noch stundenlang kritisch vor dem Spiegel stehen – und begibt sich noch kurz ins Bad, bevor er, nun mit einem Pferdeschwanz und mit Eyeliner nachgezogenen Augenlidern, aus seiner höchst modern eingerichteten Altbauwohnung hinaus auf die Straße tritt. Im Theater kommt er mit wehenden Haaren und schnellen Schritten an, trotz der für einen Mann beachtlich hohen Absätzen. „Ah, der Intendant!“ „Herr Iffland!“ Da sind sie wieder, die unfähigen Leute. „Herr Iffland, ich habe gleich für heute Morgen das Vorstellungsge– “ „Nicht jetzt, Valerie!“ Gereizt läuft er an seiner Sekretärin vorbei in seine privaten Räume. Dort lässt er sich erschöpft an seinen Schreibtisch sinken und fährt sein Mac-Book hoch. Bis morgen Abend zur Vorstellung muss seine Eröffnungsrede noch geschrieben werden. Dazu hat er gestern gar keine Zeit und Nerven mehr gehabt, so vor Wut auf seinen sogenannten persönlichen Assistenten hat er noch immer gebrodelt… „Welches Korsett?“ Ungläubig starrte er den jungen Mann an. „Das Korsett, das du vorgestern hoffentlich in die Schneiderei gebracht hast, weil die Schnur gerissen ist.“ „Oh, ich dachte, das hat noch Zeit.“ „Du sollst nicht denken, verdammt!“, rief er und pfefferte die Schuhe in die Ecke, „Was soll ich denn jetzt anziehen?!“ Nun war es sein Angestellter, der ihn ungläubig anblickte. „Das…Korsett wollten Sie anziehen?!?“ Er hatte die größte Mühe, seinem Gegenüber in diesem Moment nicht an die Gurgel zu gehen. „Du bist gefeuert!“ Aber er hat ja noch nie Glück gehabt, was diesen Posten angeht. Auf seiner Verschleißliste hat er eine junge Frau zu verbuchen, die zwar modisch versiert war, jedoch eine ziemliche Zicke, einen jungen Mann, der gleich gekündigt hat, als er mitbekommen hat, dass Iffland schwul ist, einen Trottel, der ihm zur dunkelblauen Hose ein rotes Hemd rausgesucht hat, und sogar den schwulen Jungen musste er feuern, nachdem dieser ihm keine Sekunde mehr seine Ruhe gelassen hat, sondern ständig um ihn gewuselt ist, ob er denn noch was brauche, ob er ihm nen Kaffee machen könne, ob denn die Raumtemperatur angenehm sei…und dabei war er so schrecklich überfreundlich. Iffland stellen sich bei dem Gedanken an das Dauergrinsen heute noch die Haare zu Berge. Gerade hat er das Dokument geöffnet, auf dem in Kürze hoffentlich seine Eröffnungsrede zustande kommt, da geht die Tür auf. „Wer verdammt stört mich?!“, ruft er und wendet sich hastig herum. „Isch stör ned isch hab ä Termin.“ Irritiert betrachtet Iffland den jungen Mann, der soeben sein Zimmer betreten hat: Er trägt eine hautenge rosafarbene Hose, die in schwarzen Stiefeln mündet, ein langes weißes Hemd, darüber eine silberne Weste und eine schwarze Fliege. Seine Haare sind dunkel und unordentlich, wobei das zum Look gehören zu scheint, seine Augen schwarz und ausdruckslos. Ifflands Blick bleibt bei den rosigen Lippen hängen. „Was…hast du gesagt?“ „Ich stör nicht, ich hab nen Termin.“, wiederholt der Junge mit Nachdruck. Da fällt Iffland auf, wieso er ihn nicht gleich verstanden hat. „Was ist das für ein Dialekt?“ „Ich komm aus der Palz.“ „Aus der was?“ „Aus der Pfalz.“ Iffland zieht eine Augenbraue hoch. „Kannst du auch Hochdeutsch?“ „Ich sprech nur Hochdeutsch.“, entgegnet der junge Mann selbstbewusst. Iffland entscheidet sich dazu, das einfach mal zu ignorieren. „Wieso bist du hier?“ „Weil ich mich auf die Stelle beworben hab. Ihre Sekretärin hat gemeint, Sie hätten jetzt Zeit fürs Vorstellungsgespräch.“ Iffland seufzt, schließt die Datei auf dem Mac wieder und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. „Eigentlich nicht, aber fang mal an.“ Der Junge blickt ihn stumm an. Nicht etwa irritiert, nur etwas ratlos, seine dunklen Augen werden ein wenig größer. „Mit was?“ Frustriert fährt sich Iffland übers Gesicht. „Dich vor mir auszuziehen natürlich!“ Wie begriffsstutzig kann man nur sein! Als der Junge sich daraufhin mit unverändertem Gesichtsausdruck die Weste aufknöpft, fällt Iffland beinahe von seinem Stuhl. „Halt!“, ruft er, „Wie blöd bist du eigentlich?! Du sollst dich mir vorstellen!“ Für den Bruchteil einer Sekunde wirkt der Gesichtsausdruck des Jungen doch irritiert, dann fängt er sich jedoch wieder und beginnt zu reden: „Mein Name ist Georg, ich bin zweiundzwanzig, ich hab mit fünfzehn meinen Hauptschulabschluss gemacht, dann hab ich im Lager gearbeitet, dann wurd mir das zu schwer, dann hab ich im Baumarkt gearbeitet, dann wollt ich– “ „Du bist rhetorisch nicht so bewandert, hm?“, unterbricht ihn Iffland schmunzelnd. „Wer tut wandern?“ Der Ältere winkt grinsend ab. Das scheint ja doch herrlich amüsant zu werden… „Wieso willst du jetzt grade hier am Theater anfangen, Georg?“, fragt er den Jungen, wieder vollkommen ernst, und legt seine Hände mit den türkislackierten Fingernägeln aneinander. „Weil Sie so tolle Sachen anziehen und so schöne Haare haben.“, antwortet dieser, ohne mit der Wimper zu zucken, „Und weil Sie der beste Schauspieler sind, den ich je gsehn hab.“ Iffland verschluckt sich fast. Dann beginnt er zu lachen. „Hab…hab ich was Falsches gesagt, Herr Iffland?“ „Nein, nein.“, entgegnet der mit einem Schmunzeln, bevor er aufsteht, „Ich bin nur positiv überrascht über so frische Ehrlichkeit. Das erleb ich hier leider selten.“ Grinsend öffnet er die Tür. „Na komm, ich führ dich ein bisschen herum.“ Auch wenn Georgs Gesichtszüge sich wieder nicht groß regen, meint Iffland doch erkennen zu können, dass er gerade so etwas wie Vorfreude verspürt, denn seine Bewegungen sind fahriger und unkoordinierter, als er sich fasst, nickt, und schließlich am Intendanten vorbei durch die Tür geht. Iffland führt ihn in seine Garderobe, wo er ihm erklärt, wie die Kleider sortiert sind, dann geht es in den Aufenthaltsraum, in dem das große samtgrüne Sofa steht, wo er ihm den Spiegel und den Kleiderständer zeigt, an den die ausgesuchten Sachen für den jeweiligen Abend bereitgehängt werden sollen. „Und das ist die Kaffeemaschine.“ Georg nickt, so konzentriert, als würde man ihm eine hochwissenschaftliche Apparatur vorführen. „Ich trink meinen Kaffee schwarz, mit zwei Würfeln Zucker.“ „Kein Süßstoff?“, meldet sich Georg das erste Mal wieder zu Wort. Iffland sieht ihn kritisch an. „Bin ich zu dick?“ Da ist es wieder; die großen Augen werden noch größer und geben den Gesichtszügen des Jungen einen Hauch von Irritation. „Die Frag war net ernst gemeint, oder?“ Iffland winkt schmunzelnd ab und macht auf dem Absatz kehrt, um wieder in sein Büro zurückzukehren. An der Tür blickt er kurz über die Schulter, um zu sehen, ob ihm der Junge auch ja folgt – und da darf er feststellen: Jap, Georgs Blick klebt an unteren Regionen; entweder er hat gerade seine außergewöhnlichen Schuhe bewundert…oder seinen Hintern. Es wär ihm beides Recht. „So, hier sind die Schlüssel.“ Iffland beschließt, das Wort „irritiert“ in Zukunft durch „begriffsstutzig“ zu ersetzen, das passt besser zu Georg. „Hä? Welche Schlüssel?“ Mit einem amüsierten Grinsen drückt er dem Kleineren das Schlüsselbund in die Hand. „Die Schlüssel für mein Büro, meine Garderobe, meinen Aufenthaltsraum, die Eingangstür des Theaters, meinen Wagen und meine Wohnung.“ „W-w…u-und ich hab die jetzt, wegä…?“ „Weil, Georg“, verbessert ihn Iffland geduldig und tätschelt ihm die Wange, „Es heißt weil. Weil du jetzt mein persönlicher Assistent bist. Lass dir von Valerie den Vertrag geben, unterschreib ihn, und dann leg ihn mir auf den Schreibtisch.“ „…Jawoll…Herr Iffland.“ Sofort macht der Junge sich, nun den Hauch eines Lächelns im Gesicht, auf den Weg. Iffland schaut ihm zufrieden grinsend nach. Am Abend, als er sich die Fingernägel für den nächsten Tag in violett lackiert, überlegt Iffland, ob er es wagen sollte, den Kleinen zu verführen… Er ist ja schon ein süßes Schnuckelchen…aber vielleicht würde er ihn damit nur verstören und ihre, bis jetzt doch wunderbar gelingende, Zusammenarbeit in Gefahr bringen. Als würde er sich selbst auslachen, schüttelt der Schwarzhaarige den Kopf. Wieso sollte das ein Argument dagegen sein?! Goethe/Schiller - 1 ------------------- „Danke! Vielen Dank, meine Damen und Herren! Aber danken Sie nicht mir und nicht nur den Schauspielern – Lassen Sie uns dem Schöpfer dieses Meisterwerks huldigen! Nun komm schon runter, Schiller, das ist deine Bühne!“ Freudig strahlen mich die blauen Augen an, als Iffland nach ihm ruft. Er weiß, dass ich den Intendanten nicht leiden kann, aber niemals würde ich ihm diesen Moment nehmen, der doch nur ihm gehört. „Gehen Sie schon.“, sage ich also mit einem Lächeln und drücke ihm die Hand. „Danke“, haspelt er, und ich spüre seine Lippen für einen wunderschönen Moment auf meiner Wange, bevor er aufspringt und aus der Loge eilt. „Friedrich Schiller, meine Damen und Herren!“ Als er unten wieder auf der Bühne erscheint und das ganze Theater für ihn klatscht, bin ich unheimlich stolz auf ihn. Ich kann nicht anders, als grinsend in den Applaus einzustimmen. „Vielen, vielen Dank! Ich freue mich wahnsinnig, dass das Stück so gut bei Ihnen angekommen ist. Ich wusste doch, Iffland kann aus meinem Schund noch was Brauchbares machen.“ Während die Leute auflachen, spüre ich ein Kneifen in meinem Bauch, das mich daran erinnert, wie schrecklich viel mir dieser Mann bedeutet. Noch nie hatte ich das Bedürfnis, jemanden ganz für mich alleine haben zu wollen, aber er hat mich dazu gebracht. Schiller bedeutet mir mehr, als ich mir selbst, und das halte ich zunehmend für eine sehr gefährliche Angelegenheit. Auch nach der Vorstellung, als wir im Foyer stehen und ich mich mit den Herren Voigt und Wieland unterhalte, kann ich mich nicht mit gewünschter Aufmerksamkeit an dem Gespräch beteiligen, denn immer wieder muss ich zu Schiller hinüberschauen, der leider bei Iffland steht und sich prächtig mit ihm zu amüsieren scheint. Oft, wenn ich die beiden sehe, denke ich, dass die zwei doch so gut zusammen passen würden. Beide jung, beide leidenschaftlich, frech, risikobereit… Iffland hat alles, was ich nicht bin, und doch…doch wirft Schiller mir diese Blicke zu. „Entschuldigen Sie mich kurz.“ Doch schenkt er mir dieses Lächeln, als ich auf ihn zukomme, nur mir. „Na? Was haben Sie beide wieder ausgeheckt? Geht es heute Abend noch feiern?“ Er grinst mich an. „Ich hab Iffland abgesagt, schließlich wollten wir beide heute Abend doch ganz privat feiern.“ Ich muss schmunzeln. „Ich habe Sie zum Essen eingeladen.“, spezifiziere ich seine doch sehr zweideutige Aussage. Er lacht leise. „Natürlich. Was haben Sie denn gedacht, was ich meinte?“ Ich lehne mich zu ihm, sodass er sich etwas zu mir herunterbeugen muss, damit ich ihm leise ins Ohr flüstern kann, was ich in diesem Moment nicht mehr für mich behalten kann: „Sie sind das Großartigste, das ich kenne.“ Als ich ihn wieder ansehe, liegt in seinem Blick, dem ich begegne, so viel Zuneigung für mich, dass ich glauben muss, darin zu ertrinken. Ich spüre, wie er mir eine Hand an die Brust legt, und mir wird ganz warm, als er antwortet: „Dann kennen Sie sich selbst noch nicht.“ Der Abend im Restaurant verläuft wunderschön. Ich liebe es, wenn Schiller so unaufhaltsam mit mir diskutiert, wenn er so energisch an seinem Standpunkt festhält, genauso wie ich an meinem, und wir am Ende doch feststellen können, dass wir eigentlich das gleiche meinen. „Aber es war immer noch Ihr »Götz«, der schon gezeigt hat, dass Freiheit im Handeln auch sehr subjektiv aufgefasst werden kann.“ „Mein »Götz« hat, so sehe ich das, niemals frei gehandelt, er wurde durch den Gang des Ganzen zu seinen Handlungen gezwungen, die nur von denen, die kein Gespür fürs Ganze haben, als frei interpretiert worden sind.“ „Genau!“, ruft Schiller und schmeißt beinahe die Weinflasche um, „Das mein ich doch! Subjektive Freiheit im Handeln! Genau wie mein – “ „ – »Fiesko«.“, beende ich den Satz. „Ja!“ Er nickt begeistert und seine Augen funkeln mich an. Genauso begeistert funkeln seine Augen auch noch, als wir bei mir zuhause ankommen. Schon vor bald drei Wochen hat sich Schiller hier eingerichtet, sodass er unter Umständen in meinem Gästezimmer übernachten und auch im zweiten Arbeitszimmer schreiben kann. Vor einer Woche hat er mir gebeichtet, dass er schon vor zwei Wochen seine Wohnung gekündigt hat. Nun, im Grunde hab ich ja nichts dagegen…nicht wirklich. – Gut, eigentlich überhaupt nichts. „Sie ersetzen das Wort »Zwang« einfach durch »Freiheit«, Schiller.“, rufe ich durch die geschlossene Badtür, an die ich mich, schon in meinem Pyjama, gelehnt habe, „Das funktioniert nicht.“ „Das funktioniert sehr wohl!“, ruft er zurück, „Es ist doch meine Entscheidung, ob ich etwas als Zwang oder als Freiheit ansehe!“ „Aber wenn es doch ein offensichtlicher Zwang ist.“, widerspreche ich und falle beinahe um, als die Tür plötzlich hinter meinem Rücken verschwindet. „»Zwang« ist eine subjektive Empfindung, Goethe“, meint Schiller und sieht mich überzeugend an, „Die ist nur für mich selbst offensichtlich oder nicht. Das hat doch schon Seneca gesagt: »Menschen von Wert arbeiten hart, bringen Opfer und werden zum Opfer, und zwar aus eigenem Willen. Sie werden nicht vom Schicksal geleitet, sondern sie folgen ihm und halten gleichen Schritt! Hätten sie es gekannt – “ „ – wären sie ihm vorausgegangen«, ich weiß.“, unterbreche ich ihn, „Aber würden Sie den »eigenen Willen« denn – “ Ich unterbreche nun mich selbst und blicke mich um. „Wollen wir das hier auf dem Gang besprechen, oder lieber in mein Arbeitszimmer?“ „Es ist dort vielleicht ein wenig frisch.“, merkt Schiller an und schlingt sich die Arme um den Körper. Natürlich. Er trägt ja nur ein weites T-Shirt und…seine Unterhose. „Ich kann eine Decke holen.“ „Und ungemütlich.“ Ich möchte den Faden unseres Gesprächs nicht verlieren und öffne einfach die nächste Tür, die in mein Schlafzimmer führt. „Was ich sagen wollte“, fahre ich fort, während Schiller sich ein wenig zu interessiert im Raum umblickt. „Würden Sie den »eigenen Willen« denn gleich als »Freiheit« bezeichnen?“, frage ich und reiche ihm meine Bettdecke, als wir auf der großen Matratze Platz nehmen. „Natürlich!“, antwortet er und kuschelt sich in die Decke, „Mit was würden Sie den »eigenen Willen« denn sonst gleichsetzen?“ Ich brauche etwas, um eine Antwort formulieren zu können. „Wollen Sie sich die Haare vielleicht nicht wieder zusammenbinden?“, sage ich stattdessen. „Ich weiß nicht, ob das so förderlich ist, wenn…wenn am Ende in meinem Bett überall blonde Locken herumfliegen.“ „Oh“ Er sieht ein wenig gekränkt aus, dabei war das so auf keinen Fall gemeint! „Wen würde ich denn da eifersüchtig machen?“, fragt er, während er aufsteht und sich durch besagte Lockenpracht streicht. „Äh, niemanden…aktuell.“, bringe ich heraus, „W-wo gehen Sie hin?!“ „Ein Zopfgummi holen!“, ruft er mir aus dem Flur zu, und ich muss mir eingestehen, ziemlich erleichtert zu sein, dass er also zurückkommt und unser Gespräch nicht für beendet erklärt hat. Die Haare zusammengebunden betritt Schiller wieder das Schlafzimmer und kuschelt sich erneut in meine Bettdecke, diesmal lehnt er sich am Kopfende des Bettes an und blickt abwartend zu mir herüber. „Sie waren gerade dabei, mir zu antworten.“, erinnert er mich. „Ja“, fange ich an und sortiere mich endlich wieder, „Mit was ich den »eigenen Willen« gleichsetzen würde, haben Sie gefragt. Ich würde…ich würde ihn mit… Stellt sich der Fall so dar, wie wir es vorhin am Beispiel des »Fiesko« und des »Götz« gesehen haben, also augenscheinlich ein Zwang vorliegt, dann würde ich den Vorgang, bei dem man sich dazu entschließt, dem Gang des Ganzen, also bei Seneca dem Schicksal, nachzugeben und den Willen des Schicksals zum eigenen Willen zu machen, mit dem Begriff »Ausweg« bezeichnen.“ Schiller runzelt die Stirn. „»Ausweg« klingt langweilig und hässlich. Freiheit! Freiheit ist das richtige Wort!“ Ich muss lachen. „Aber Schiller…“ „Neinnein.“ Er schüttelt den Kopf. „Schauen Sie, wenn… Ich spreche weiter, wenn Sie sich etwas bequemer hinsetzen, Sie machen mich ganz nervös.“ Ich lache abermals und stehe also auf, um mich auf der anderen Seite des Bettes ebenfalls ans Kopfende setzen zu können. Er reicht mir einen Teil der Decke, den ich dankend annehme. „Also, wollte sagen“, fängt er wieder an, „Wenn ich mich…“ Er lächelt mich an, und ich bin gespannt zu erfahren, was dahintersteckt. „Wenn ich mich dazu entschließe, einem Menschen, der mir haushoch überlegen ist, dem ich niemals das Wasser reichen könnte, keinen Neid, keine Missgunst, sondern Verehrung und Liebe entgegenzubringen, dann ist das meine »Freiheit« und kein Ausweg.“ Mir bleibt nichts anderes übrig, als sein Lächeln zu erwidern, und da ich genau weiß, auf was er anspielt, wird mir gerade unheimlich warm. „Sie haben Recht, »Ausweg« klingt hier wirklich hässlich.“, gebe ich ihm Recht. „Also“, sagt er, glücklich, dass er gewonnen hat, „Dann stimmen Sie mir also zu, wenn ich so weit gehe, zu behaupten, dass es dem Vortrefflichen gegenüber keine Freiheit gibt, als die Liebe?“ „Halb.“, entgegne ich, da ich diese überwältigenden Gefühle nicht wirklich der Freiheit zuschreiben würde. Vielmehr sehe ich keine andere Rettung, wenn ich in diese blauen Augen blicke, als mich diesem Mann hoffnungslos zu ergeben. „Dem Vortrefflichen gegenüber gibt es kein Rettungsmittel als die Liebe.“ Kaum habe ich das gesagt, hellt sich sein Blick noch mehr auf, wird sein Lächeln noch um einiges weicher, und er zieht mich noch mehr in seinen Bann. „Damit kann ich leben.“, flüstert er, und ich kann spüren, wie sich seine Hand unter der Decke in meine schiebt. Schneller als ich es realisiere, ist er mit seinem Gesicht bei mir, und ich spüre wieder einmal seine Lippen auf meiner Haut. Das hat er schon ein paar Mal gemacht. Jedes Mal wieder überläuft mich dabei ein wohliger Schauer. „Gute Nacht, Goethe.“, flüstert er. Ich streiche ihm zärtlich über die Wange, kann es nicht lassen, ihm ebenso meine Lippen aufzudrücken, gebe ihm einen Kuss auf die Stirn. Sein Lächeln blendet mich mit Glücksseligkeit. „Darf ich…hier bleiben?“, fragt er leise und lässt sich schon auf seiner Seite des Bettes aufs Kissen rutschen. Ich ringe mit mir, jedoch nicht lange. „Für heute Nacht. Ja.“, antworte ich und bekomme dafür noch ein strahlendes Lächeln geschenkt. Ich kann lange nicht einschlafen, aber das tölpelhafte Grinsen weicht wohl die ganze Nacht nicht von meinen Lippen. Goethe/Schiller - 2 ------------------- „Schiller?“ „Im Wohnzimmer!“ Ein Lächeln legt sich auf mein Gesicht, was immer passiert, wenn Schiller so fröhlich klingt, was stets der Fall ist, wenn ich früher nachhause komme. Ich hänge den Mantel an die Garderobe und schlüpfe in meine Pantoffeln, bevor ich zu ihm ins Wohnzimmer gehe. Er liegt auf dem Sofa, ein Buch in der Hand. Sieht nach Fantasy aus, nicht wirklich mein Ding, aber ihm scheint das zu gefallen. „Haben Sie schon was gegessen?“, fragt er und bemüht sich nicht, aufzustehen. Wir sind uns schon seit langem nicht mehr fremd, aber seit wir zusammen schlafen – i-in einem Bett, nebeneinander! schlafen – fühlt es sich so an, als sei er niemand anderes als ich selbst. Und ich würde definitiv nicht für mich vom Sofa aufstehen, wenn ich da so bequem läge. „Ja, danke.“, antworte ich und stelle mit (intendiertem) Missfallen fest, dass er seine Haare offen trägt, „Wie ich rieche, haben Sie sich Nudeln mit Tomatensoße gemacht?“ „Erkannt.“, lacht er, „Ich bin nur noch nicht dazu gekommen, die Küche aufzuräumen…“ „Tja“, meine ich da und stemme mir die Hände in die Hüften, „Hätte ich Christiane noch– “ „Sie brauchen nicht Christiane, um die Küche sauber zu halten.“, unterbricht er mich ein wenig grantig, so wie er immer ist, wenn es um meine ehemalige Haushaltshilfe geht, „Das bekomm ich auch hin. Und was sie sonst noch so für Sie gemacht hat…ist sowieso überbewertet.“ Ich räuspere mich dezent. Als überbewertet würde ich die aufregenden Stunden der Zweisamkeit mit Christiane nicht bezeichnen, aber ich kann auch nicht behaupten, dass ich diese Zweisamkeit sonderlich vermissen würde. Christiane vermisse ich jedenfalls nicht. Da ich aber nicht wieder mit Schiller über diese Affäre diskutieren will, nehme ich stattdessen die weiche Wolldecke vom Sessel. „Schiller, Sie sollen sich doch zudecken, wenn Sie sich hier unten hinlegen.“, ermahne ich ihn und breite die Decke über seinem langen Körper aus, der das ganze Sofa einnimmt. „Ich war aber zu faul, mir die Decke zu nehmen, nachdem ich schon lag.“, entgegnet er und senkt abermals das Buch, um mich eindringlich anzublicken, „Sonst hätte ich mir auch gleich ein Kissen von oben geholt.“ Ich lache amüsiert. „Ich verstehe Ihre Andeutung sehr wohl, aber nein, ein Kissen hol ich Ihnen nicht auch noch.“, meine ich und bleibe vor ihm stehen. „Heben Sie Ihr Köpfchen.“ Und sofort ist der Schmollmund verschwunden und er grinst mich an. Viel zu schnell weiß er immer, was ich denke. Freudig erhebt er sich also, damit ich am Ende des Sofas Platz nehmen kann, und sogleich lehnt er sich wieder zurück, um seinen Kopf in meinen Schoß zu betten. Lächelnd schaut er zu mir auf. „Sie sind ja noch besser als ein Kissen.“ „Das hoffe ich doch.“ „Und Sie lesen nichts?“ Ich erwidere sein Lächeln sanft. „Ich beobachte Sie ein wenig beim Lesen, wenn ich darf.“ Er lacht nur leise und wendet sich wieder seinem Buch zu. Und tatsächlich sitze ich nun schon eine geschlagene Halbestunde hier und tue nichts anderes, als Schiller zu betrachten, wie der ganz in den Roman versunken ist, wie seine Stirn sich an manchen Stellen kräuselt, wie seine Mundwinkel bei mancher Zeile zucken… Seit einer Viertelstunde hat sich meine rechte Hand seinen Locken zugewendet, die wie fließendes Gold über meine Oberschenkel fallen. Natürlich hab ich nicht wirklich was gegen seine Haare, nur…sie irritieren mich zu oft, und das mag ich nicht. Ein Mann sollte nicht solch wundervolle Haare haben, so lange schon gar nicht, das gehört sich einfach nicht. Seufzend zwirble ich eine der Locken um meinen Finger, als es an der Tür klingelt. „Nanu.“, gebe ich von mir, „Wer ist das denn? Erwarten Sie jemanden?“ „Ich nicht, nein.“, antwortet er, hebt aber seinen Kopf ein wenig an, und so stehe ich notgedrungen auf und gehe zur Tür, um sie zu öffnen. Ich traue meinen Augen fast nicht, als ein alter Bekannter vor mir steht. „Alexander!“, bringe ich schließlich doch heraus, erfreut, dass er mich nach so langer Zeit besucht, „Schön, Sie mal wieder zu sehen!“, meine ich und reiche ihm die Hand. „Freut mich auch.“, entgegnet er und ich bitte ihn ins Haus. Ich führe ihn ins Wohnzimmer, wo sofort Schiller vom Sofa aufspringt und das Buch beiseite wirft, als er den anderen erkennt. „Alexander!“, begrüßt er ihn mit einem kräftigen Handschlag, „Das ist ja ne Überraschung!“ „Weniger, als dich hier zu sehen.“, lacht der Professor. Schiller grinst ihn an und streicht sich eine seiner langen Strähnen hinters Ohr. „Ja, ich…“ Er sieht um Erlaubnis bittend zu mir. „Er wohnt hier.“, beende ich also den Satz, da ich nicht denke, vor Alexander irgendetwas verheimlichen zu müssen – es gibt ja schließlich auch nichts zu verheimlichen! Langsam laufe ich hinüber zum Tisch, wo ich Alexander mit einer Geste bitte, Platz zu nehmen. Ich sehe, wie er sein Erstaunen nicht verbergen kann. „Tatsächlich?“, fragt er, „Übergangsmäßig, oder…?“ Ich seufze, als ich mich ihm gegenüber setze. „Ich befürchte, so schnell werd ich ihn nicht mehr los…“ „Nie mehr, Goethe!“, lacht Schiller und legt mir seinen Kopf auf die Schulter, „Nie mehr werden Sie mich los.“ „Nicht, Schiller. Bringen Sie uns lieber was zu trinken.“, versuche ihn etwas auf Abstand zu halten. Ich habe noch nie verstanden, wie er vor anderen einfach weiter so unbefangen intim mit mir umgehen kann. Schiller lächelt mich liebevoll an, bevor er aufsteht und in die Küche geht. „Sie…“ Alexander sieht mich verwirrt an. „Sie siezen sich noch?“ Ich nicke amüsiert. „Ja. Schlafen in einem Bett, aber siezen uns.“ Alexander bemüht sich sehr, nicht zu zeigen, wie schockiert er über diesen Kommentar ist, aber ich kann es ihm nicht verübeln. Wieso zur Hölle ist mir das eben rausgerutscht?! Ich räuspere mich und versuche möglichst gefasst zu wirken. „Alexander…“, beginne ich, „Sie sind doch Philosoph, ich dachte, Sie verstehen das.“ „In der Theorie jedenfalls.“, entgegnet er mit einem Lachen. Stimmt, er war ja schon damals sehr körperbetont an Männern interessiert. „Naja, die Leute hingegen“, spreche ich weiter, „und schon gar nicht die unsägliche Klatschpresse! verstehen es nicht.“ Versteht er das, oder muss ich explizit erwähnen, dass er das, was er hier mitbekommt, nicht gleich jedem weitererzählen soll…? Ich entscheide mich dagegen und wende mich Richtung Küche. „Schiller! Wie lange braucht das denn?!?“ „Oh.“, fällt es da Alexander anscheinend erst auf, „Haben Sie Ihrer Haushälterin gekündigt?“ „Auf Schillers Wunsch hin, ja.“, antworte ich betont, damit es Schiller auch ja mitbekommt. „Ich bin ja schon da.“, verteidigt er sich, als er mit drei Gläsern und einem Krug Wasser endlich zurückkommt. „Ich würd dir ja gern was anderes anbieten, Alexander, aber Wein und Bier gibt’s nicht vor sechs Uhr abends und nur bis Elf, außer an Sonn- und Feiertagen zum Frühstück.“ Beeindruckt sieht Alexander mich an und ich fühle mich in der Tat ein wenig stolz, dass ich Schiller das übermäßige Trinken abgewöhnt habe. „Das war eine Bedingung“, erkläre ich, „neben der Tatsache, dass Schiller nun Nichtraucher ist, stimmt’s?“ Angesprochener verzieht ein wenig das Gesicht und streicht sich die Haare mit einer Hand aus der Stirn nach hinten. Diese unverschämt irritierenden Haare, durch die ich jetzt immer noch meine Finger streichen dürfte, hätte Alexander uns nicht unterbrochen. Oh, und wie weich sie sich dabei angefühlt haben…! Schillers Lachen holt mich zurück ins Hier und Jetzt. „Ich mach sie lieber wieder zusammen.“, meint er und bindet sich die Locken mit dem Haargummi, das er von seinem Handgelenk streift, zu einem Zopf. Ich versuche nicht enttäuscht auszusehen. Alexander räuspert sich. „Äh, ja, weswegen ich hier bin.“ Er zieht den Umschlag näher zu sich, der mir erst jetzt auffällt, „Ich möchte Ihnen ein Manuskript ans Herz legen, Herr Goethe, natürlich ausgedruckt, so wie sie’s lieber haben.“ „Für meinen Verlag?“ „Genau.“ „Wusste gar nicht, dass Sie Autoren fördern.“ Alexander muss schmunzeln. „Das Manuskript ist von meinem Freund.“ Schiller ist genauso überrascht, wie ich es bin. „Alexander hat einen Freund?! Weißt du überhaupt, was das ist?“ Der Professor grinst ihn verschmitzt an. „Wärst du auf der Prämiere deines Fieskos nicht so von anderen Dingen abgelenkt gewesen, hättest du ihn da schon an meiner Seite sehen können.“ „Der Kleine? Der Schwarzhaarige?“, hake ich nach. „Genau. Heinrich Kleist.“ Ich werfe ihm einen skeptischen Blick zu. „Sie nehmen mir die Päderastie aber hoffentlich nicht ein wenig zu ernst, Alexander, hm?“ „Er sieht jung aus, ja, ist aber schon einundzwanzig.“ „Hm.“, meine ich nur und sehe ihn abwartend an, bis er mir den Umschlag hinüber schiebt. „Er hat einen eigenwilligen Schreibstil, aber die Idee ist wirklich phänomenal.“ Ich lächele ihn wohlwollend an. „Ein eigenwilliger Schreibstil muss ja noch nichts Negatives sein.“ „Nein, auf keinen Fall.“ Daraufhin wende ich mich nun dem Umschlag zu und hole die ersten Blätter hervor, die ich vorsichtig vor mir auf den Tisch lege. Ich beginne zu lesen – beginne noch einmal zu lesen; was sind das für Sätze?! „Gott, das ist ja…!“ Ich schüttelte den Kopf. „Entschuldigen Sie, Alexander, aber das einen eigenwilligen Schreibstil zu nennen, ist wahrlich untertrieben. Wie soll man denn bitteschön diese Sätze lesen können? Und was glaubt der Erzähler eigentlich, wer er ist?!“ „Man gewöhnt sich an die Sätze. Und das mit dem nur augenscheinlich neutralen Erzähler ist schon durchdacht, wirklich.“ „Nein.“ Ich schiebe die Blätter zur Seite. „Tut mir Leid, aber ich denke nicht, dass ich damit etwas anfangen kann.“ Alexander sieht mich erstaunt an, fast schon ein wenig ärgerlich, dann fängt er sich aber wieder. „Herr Goethe“, fängt er vorsichtig an, „Sie haben eben nicht mal die erste Seite gelesen.“ „Ehrlichgesagt nur den ersten Abschnitt, ja, bei diesen Sätzen muss man ja immer wieder von vorne anfangen, weil man den Faden verliert.“, gebe ich zu. „Aber könnten Sie sich nicht wenigstens die Zeit nehmen, es ganz zu lesen? Ich lass Ihnen das Manuskript hier, ein USB-Stick ist auch im Umschlag.“ „Alexander, ich kann ja verstehen, dass Sie Ihren Freund unter– “ „Sie können sich so viel Zeit nehmen, wie Sie wollen!“, unterbricht er mich, „Nur lesen Sie es doch erst einmal ganz. Es wäre unfair, das Ganze schon nach zwei Sätzen abzuurteilen, meinen Sie nicht auch? Klar, dass die Sprache gewöhnungsbedürftig ist, aber der Inhalt, das was der Text transportiert…! Das darf man der Welt nicht vorenthalten!“ Flehend sieht er mich an, was mich ein wenig zögern lässt. Ich seufze und überlege, wie ich ihm noch einmal klarmachen kann, dass ich dieses Buch auf keinen Fall – „Verdammt, ist das genial!“ Irritiert blicke ich zu Schiller, der mit seinem Ausruf soeben meinen Gedankengang unterbrochen hat. „Ein Vater, der juristische Vergeltung sucht, nachdem seine Kinder vergewaltigt worden sind! Ich glaub’s nicht! Dass er die Schweine nicht einfach umbringt, nein! Wie der Erzähler am Anfang sagt, „einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“ – wobei es mich höllisch interessieren würde, weiterzulesen, um zu erfahren, was ihn zum entsetzlichsten macht…“ Während dies Alexander Hoffnung zu geben scheint, löst es bei mir nur Entsetzen aus. „Was?!?“, rufe ich, „Vergewaltigung von Kindern auf den ersten zehn Seiten?! Das wird ja immer schöner!“ Schiller wendet sich mir mit einem Lächeln zu und ich sehe den Schalk in seinen Augen blitzen. „Hmm…“, meint er, „Das erinnert mich an was… Gab’s da nicht mal ein ganz erfolgreiches Buch, Herr Goethe, dass Sie ebenfalls abgelehnt haben, weil darin Räuber ein Kloster überfallen und Nonnen vergewaltigen? Ist das nicht ein Bestseller geworden?“ Ich weiche seinem Blick aus, während sich meine Stirn vor Missfallen kräuselt. Ich hab es mir heute noch nicht verziehen, dass ich damals Schillers Räuber abgelehnt habe, die dann bei der Konkurrenz erschienen sind, und es ärgert mich, dass der Blonde selbst das ebenso nicht vergessen kann. „Das…das ist doch etwas vollkommen anderes.“, versuche ich mich zu verteidigen, „Schauen Sie sich doch einmal Ihren Schreibstil an und…diesen hier!“ Schiller blickt mir eindringlich in die Augen, und da weiß ich schon, dass ich verloren habe. „Der Junge kann sich nur entwickeln, wenn Sie ihm die Chance dazu geben. Und nach den ersten fünf Seiten hat man sich wirklich daran gewöhnt. Es macht das ganze sogar interessant. Man könnte es fast als Stilmittel werten.“ „Ich weiß nicht…“ „Stellen Sie sich vor, Goethe“, fängt er erneut an, mit sanfter Stimme, und lässt eine Hand an meine Wange wandern, „niemand hätte sich mir erbarmt und mein Buch verlegt. Ich hätte Sie niemals so kennenlernen dürfen, wie ich Sie heute kenne. Wir stünden uns niemals so nahe. Außerdem…“ Ich muss schlucken. Was verdammt macht dieser Mann nur immer mit mir?!? „Außerdem wäre es ein wunderschönes Weihnachtsgeschenk für mich, dieses Buch in Ihrem Verlag lesen zu dürfen.“ Ich will etwas erwidern, aber da legt sich Schillers Daumen auf meine Lippen und ich muss abermals schlucken. Eine blonde Locke streift mir über die Wange, als er sich zu mir herunterbeugt, um mir ins Ohr zu flüstern: „Ich müsste Ihnen ewig dankbar dafür sein, wie für so vieles…“ Es dauert ein paar Sekunden, bis mir wieder bewusst wird, dass immer noch Alexander mit uns am Tisch sitzt. Hastig räuspere ich mich und wende mich ihm wieder zu. „Gut“, meine ich, „ich lese es mir durch. Mehr kann ich aber nicht garantieren.“ „Vielen Dank.“, entgegnet Alexander. Schiller sieht mich glücklich lächelnd an, und ich beiße meine Kiefer aufeinander, um ernst zu bleiben und vor allen Dingen nicht rot zu werden. Vor Alexander solche…! Und ich lass mich auch noch so leicht umstimmen! „Ich melde mich, wenn ich mich entschieden habe.“, bringe ich heraus, um die Diskussion schnellstmöglich zu beenden. „Wunderbar.“ Schnell erhebe ich mich, was Alexander glücklicherweise als Zeichen sieht, ebenfalls aufzustehen. „Vielen herzlichen Dank noch einmal.“, betont er, als er mir die Hand schüttelt. „Versprechen Sie sich nicht zu viel davon.“, ermahne ich ihn. „Nein, natürlich nicht, ich hoffe nur.“ Auf mein Gesicht schleicht sich nun doch ein Schmunzeln. Immer noch wie früher, unser Alexander, glaubt an das Unerreichbare… „Ich bringe dich zur Tür.“, meint Schiller überraschenderweise und führt Alexander hinaus. Ich fahre mir seufzend übers Gesicht, sobald beide aus dem Raum sind, und nehme ein wenig benommen auf dem Sofa Platz. Zu was hab ich mich da nur überreden lassen… Es dauert nicht lange, da kommt Schiller zurück ins Wohnzimmer, sehr zu meinem Ärgernis die Haare schon wieder offen. „Was soll das?“, frage ich und gestikuliere zu ihm hinüber. „Das Zopfgummi drückt beim Liegen.“, antwortet er mit einem viel zu zärtlichen Lächeln, bevor er es sich wieder auf dem Sofa und damit auf meinem Schoß bequem macht, was ich leise grummelnd zulasse. „Schiller, das war nicht in Ordnung.“, stelle ich jedoch klar, bevor er wieder zur seinem Buch greifen kann. „Hm?“ Verständnislos schaut er zu mir auf. „Na, dass Sie…wie Sie…vor Alexander hätten Sie nicht so…“ Einen Moment schaut er mich ernst an, dann verabschieden sich seine Augen und er klappt das Buch auf. „Entschuldigung.“, kommt es kühl von ihm und ich weiß, dass ich ihn damit verletzt habe. „Schiller…“, seufze ich, weiß aber nicht, was ich sagen soll. „Nein, wirklich, tut mir Leid.“, wiederholt er genauso kalt, „Es war mein Fehler. Da Sie Alexander so gut von früher kennen und er zudem an Männern interessiert ist, dachte ich, er wäre es gewohnt, Sie so zu sehen.“ „Äh…“ Ich schüttele verwirrt den Kopf. „Moment“, fange ich noch einmal an, „Sie wollen hiermit nicht ernsthaft andeuten, dass Alexander und mich irgendwann einmal mehr als nur Freundschaft verbunden hätte?“ Schiller stiert stur in sein Buch, was Antwort genug ist. „Schiller“, seufze ich abermals, „Ich bin nicht an Männern interessiert, sondern an Frauen, falls Sie das noch nicht bemerkt haben.“ Knallend klappt er sein Buch zu und springt mit einem Satz auf. „Es ist leider nicht zu übersehen.“, murmelt er genervt, bevor er ohne ein weiteres Wort nach oben verschwindet. Ich schließe die Augen und mein Kopf fällt mir in die Hände. Oh, ich denke nicht zufällig gerade an Christiane. Sie war die einzige ansatzweise feste Beziehung, die ich hatte, und wenn sie so davongestürmt ist, wusste sie, was ich im Büro mit der Sekretärin getrieben hatte. „Sie kommt schon zu dir zurück“, habe ich dann immer gedacht und mich der Arbeit oder einem guten Buch zugewandt, aber niemals habe ich mich so schlecht gefühlt, wie in diesem Moment. Ich habe Schiller wehgetan, weiß schon gar nicht mehr wie, aber ich bin Schuld, dass er sauer auf mich ist, und das bereitet mir schreckliche Kopf- und Magenschmerzen. Dagegen muss etwas unternommen werden. Ich werfe die Decke beiseite und folge ihm nach oben. Zaghaft klopfe ich an seinem Arbeitszimmer an, aber ich bekomme keine Antwort. „Schiller“, versuche ich es. Wieder nichts. Die Tür ist natürlich abgeschlossen. „Schiller, jetzt lassen Sie uns doch darüber reden…“ „Da gibt es nichts zu reden!“, kommt es von innen. Danach ist es wieder still. Ich fahre mir übers Gesicht und erst in meinem Arbeitszimmer kommt mir eine Idee. Wenn es nichts zu reden gibt, dann muss ich wenigstens aufschreiben, was ich fühle, sonst platzt mir noch der Schädel, habe ich das Gefühl. Also nehme ich Briefpapier und meinen Füllfederhalter zur Hand und fange an zu notieren. Lieber Schiller, werther Freund, Verehrter, machen Sie es mir doch nicht so schwer. Niemals hatte ich beabsichtigt Sie auf irgendeine Weise zu kränken oder zu beleidigen. Niemals wollte ich, dass Sie sich wegen mir schlecht fühlen müssen. Es fühlt sich nämlich grausam an, der Grund Ihres Unwohlseins zu sein, derjenige, der Ihnen Ihr zauberhaftes Lächeln und das fröhliche Gemüt gestohlen hat. Derjenige will ich nicht sein, deshalb entschuldige ich mich tausendmal bei Ihnen, nur reden Sie bitte wieder mit mir! Ich weiß, es war nicht gerechtfertigt von mir, mich über Ihr Verhalten in Alexanders Anwesenheit zu beschweren. Ich habe ja selbst, als Sie in der Küche waren, ihm gegenüber erwähnt, dass wir in einem Bett schlafen. Es ist nur so ungewohnt für mich, das Bett – und so vieles mehr – mit einem Mann zu teilen. Ich weiß, Sie machen sich solche Gedanken überhaupt nicht, und ich bewundere deshalb Ihre edle Gesinnung dafür. Auch ich sollte die Beziehung zu Ihnen von allem Körperlichem trennen können, aber wenn Sie Ich halte inne. Nein, seine Haare werde ich nicht erwähnen. mir Ihre Lippen auf die Wange drücken, dann machen Sie mir diese Trennung nicht einfach. Ich weiß, das ist mein Fehler, Sie haben es ja einmal selbst gesagt: Ich hole zu viel aus der Sinnenwelt, wo Sie aus der Seele holen, aber so bin ich nun mal. Verzeihen Sie mir das und ich gelobe Besserung. Ihr ewig in Liebe zugetaner Freund G. Ich will den Füller schon schließen, da fällt mir noch etwas Wichtiges ein. P.S.: Ich bin unten, die Küche aufräumen. Den zusammengefalteten Brief schiebe ich bei ihm unter der Tür durch, bevor ich mich auf den Weg nach unten mache. Dort habe ich den benutzten Teller und das Besteck in die Spülmaschine geräumt und Wasser in die Spüle eingelassen, um die Töpfe zu säubern, da höre ich Schritte auf der Treppe. Ich tue so, als würde ich ihn nicht bemerken, denn…ich weiß nicht so recht, aber ich schäme mich plötzlich für meine plumpen Erklärungsversuche. Eine einzige Berührung jedoch löst den Knoten in meinem Magen, der sich dort seit unserem Streit wacker gehalten hat, als Schiller mir von hinten die Arme um den Bauch schlingt und seinen Kopf auf meine Schulter legt. „Sie haben Alexander gesagt, dass wir in einem Bett schlafen?“, fragt er leise, dicht an meinem Ohr, und ich spiele nervös mit dem Geschirrhandtuch. „Äh, ja, ich weiß auch nicht, aber…“ „Sie haben ihm gesagt, dass wir in einem Bett schlafen, und beschweren sich, wenn ich Ihnen in seiner Anwesenheit eine Hand an die Wange lege?!?“ Es hätte böse gemeint sein können, aber das Lachen, das folgt, lässt keinen Zweifel daran, dass dies nicht der Fall ist. „Goethe“, sagt Schiller sanft, und ich drehe mich vorsichtig zu ihm herum. Er lächelt mich an. Ich kann gar nicht beschreiben, wie erleichtert ich bin. „Soll ich in Zukunft…“ Er streicht mir über die Wange. „Stört Sie das, wenn ich Sie küsse? Soll ich das lassen?“ Ich schüttele den Kopf, bevor ich weiß, wieso. „Nein, äh, das…das sollte nicht heißen, dass es mir nicht gefällt.“ Sein Lächeln wird breiter und er beugt sich nach vorne, um seine Lippen für den Bruchteil einer Sekunde an meine Wange zu legen. Da ist er wieder, der wohlige Schauer, der mich dabei jedes Mal überkommt. Aber ich will ja versuchen, seine Küsse in Zukunft mit meiner Seele zu empfangen, nicht mit meinen Sinnen. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragt er und betrachtet mich blinzelnd. Ich weiß nicht ganz, was er meint, bis sein Blick zu den Töpfen wandert. „Ah, ja!“, antworte ich verspätet, „Ja, bitte, Sie können abtrocknen.“ „Gerne.“, meint er und nimmt mir mit einem Lächeln das Handtuch ab. Am Abend liege ich wieder neben einem Mann im Bett, einem Mann, der verboten schöne Haare hat und mich gelegentlich auf die Wange küsst. Aber nein, darauf kommt es ja gar nicht an. Ich liege im Bett neben Friedrich Schiller und kann vor Glück kaum einschlafen, dass er mir heute verziehen hat und gerade meine Hand hält. Martin/Chris_von kurookami -------------------------- Chris war nach seinem Zusammentreffen mit Alexander irgendwie etwas neben der Spur, das fiel auch Martin auf, aber er war sich nicht ganz sicher, ob er seinen Partner mit seinen Gedanken erst mal eine Weile in Ruhe lassen sollte, oder es besser wäre ihn davon abzulenken. „Willst du etwas Zeit für dich, Schatz?“ Chris Blick für Martin war abwesend „Hm?“ Er schmunzelte über diese Art von Gedankenverlorenheit, die Chris an den Tag legte, wenn sich ihm irgendwelche Gedanken aufdrängten und ihn ins Grübeln brachten. „Wegen Alexander...ich sehe doch, dass du diese Begegnung nicht so einfach abtun kannst...oder möchtest du lieber reden?“ Chris blickte aus dem Wagen in die Nacht hinaus, auf die belebten Straßen Kölns, sie fuhren gerade auf eine der Brücken, man konnte die Kranhäuser des Rheinauhafens sehen, für Chris hatten sie irgendwie immer eher was von überdimensionalen Nähmaschinen... „Ich denke, etwas Zeit alleine täte mir jetzt gut, wenn das okay ist.“ Martin strich Chris kurz liebevoll über den Nacken. „Natürlich, verarbeite das einfach erst mal, du hast dich sehr gut gehalten, obwohl du nicht darauf vorbereitet warst, ich bin stolz auf dich.“ Chris seufzte tief. „Mir war gar nicht klar, dass es mich so aufwühlen würde...“ „Mir schon...so wie du damals warst, war mir klar, dass eine Konfrontation dich aus der Bahn werfen würde.“ „Du kennst mich einfach zu gut.“ „Und doch werde ich niemals aufhören dich bis ins tiefste Innere deiner Seele zu ergründen.“ „Du klingst wirklich nach wie vor immer wieder ganz schön pervers.“ „Es ist eine Gabe...ich setze dich bei dir zu Hause ab.“ „Danke.“ Zu Hause in seiner eigenen Wohnung legte Chris sich auf sein Bett und starrte an die Decke, seine Gedanken wirbelten mal dahin, mal dorthin. Alexander hatte sich wirklich kaum verändert...oder doch? Er hatte eine feste Beziehung...vielleicht bildete Chris sich das nur ein, aber hatte der kleine Heinrich nicht irgendwie Ähnlichkeiten mit seinem früheren Ich gehabt? Mit Christian, dem Theologiestudenten? Christian dem Unschuldigen...manchmal wünschte Chris sich, er wäre in der Lage wieder dieser unbescholtene weltenfremde Junge zu sein, der zufrieden damit war zu beten, zu helfen, zu glauben und wieder zu beten... Er spürte die Müdigkeit in all seine Knochen kriechen und überlegte nur einen Moment, ob er sich vielleicht ausziehen sollte, aber da war er auch schon weggedöst und driftete ab in tiefere Schlafphasen. Chris merkte gar nicht, wie jemand die Tür zu seinem Zimmer aufmachte. „Uäh...hier stinkt‘s...mach doch das Fenster auf!“ Er stöhnte gequält, als helle Sonnenstrahlen in sein verkatertes Gesicht stachen, und wendete sich von der Quelle, diesem unheilvollen Gestirn, ab. „Christian, ich glaub‘s nicht, du hast getrunken!?!“ Chris achtete nicht auf seinen Freund Jonas, der seinen Blick durchs Zimmer schweifen ließ. Das Kreuz hing schief, Maria und Jesus hingen gar nicht mehr, sondern lagen auf dem Boden, und Jesus fehlte das halbe Gesicht. Über den Bildern verstreut lagen Christians Arbeitsunterlagen und die misshandelten Überreste dessen, was mal eine Bibel gewesen war. Als Jonas vom Fenster einen Schritt auf den jungen Mann, der mit dreckigen Klamotten im Bett lag, zu machen wollte, trat er auf die Perlen des Rosenkranzes, von dem er wusste, dass Christians Mutter ihm den geschenkt hatte. „Christian...was ist passiert?“ Mit einem mürrischen Geräusch setzte der Angesprochen sich auf und hielt sich mit der Linken die Augen zu, weil die Rechte eine Flasche mit billigem Fusel in der Hand hielt, ein Teil des Inhalt war auf dem Bett verschüttet, und so wie Christian sie hielt, würde der Rest bald folgen. Zumindest glaubte Jonas das, bis Christian sie sich vors Gesicht hielt, den Inhalt mit leicht zugekniffenen Augen begutachtete und dann mit einem Schulterzucken die Flasche an die Lippen führte. „Hey...hey, hey, hey!“ Bestimmend entzog Jonas ihm das Suchtmittel. „Nein...meins! Gib her...“ „Aber ganz sicher nicht, komm jetzt mal mit.“ Gnadenlos zog Jonas den Trunkenbold mit sich in die Dusche und zog ihn mit Klamotten unter kaltes Wasser, während er den restlichen Alkohol in den Ausguss kippte. „Es ist kalt...“ jammerte Chris und Jonas schnaubte „Das hoffe ich, bleib ja drunter!“. „Aber...es ist KALT!“ wiederholte der andere nur weinerlich. „Dann sei halt einmal in deinem Leben ein Mann und ertrag es, gleich geht‘s dir dann besser.“ Jonas saß mit dem nun wieder mehr oder weniger ansprechbaren Chris auf einer Bank im nahegelegenen Park. „Dein Vater hat dir die Finanzierung gestrichen...das ist scheiße.“ Chris lachte heiser. „Was soll‘s, ich steh sowieso nicht mehr hinter dem, wohin mich dieses Studium führt, ich habe eh mit dem Gedanken gespielt abzubrechen.“ Jonas ging darauf nicht ein, eigentlich hatte er sich etwas Ähnliches schon gedacht, aber ihm war nicht klar gewesen, wie schlimm es wirklich war. „Bevor du irgendwas Neues anfängst, solltest du dir vielleicht erst mal helfen lassen, du hast Probleme, das kannst du wohl kaum abstreiten...“ Chris blickte Jonas nicht an, schüttelte aber den Kopf. „Mir kann keiner helfen. Ich lebe in Sünde. Ich habe versucht mich reinzuhalten, habe alles dafür gegeben ein gottgefälliges Leben zu führen, und in der Stunde der Verführung habe ich nicht nur keinen Widerstand geleistet, sondern mich bereitwillig ergeben.“ „Schwul zu sein ist keine Sünde...“ „So steht es in der Bibel.“ „Na und? Nicht alles, was in der Bibel steht, ist wahr.“ „Ein Protestant versteht so etwas nicht.“ „Kein Mensch mit gesundem Menschenverstand versteht das.“ „Schön, dann bin ich eben krank im Kopf, das ist doch nichts anderes, als das was ich eben gesagt habe!“ Jonas seufzte. „Ich meinte aber nicht, dass deine Homosexualität krank ist, sondern die Tatsache, dass du sie nicht als etwas Gottgegebenes akzeptieren willst.“ Chris Gesicht wurde steinern. „Gottgegeben?“ „Genau, wenn Gott nicht wollen würde, dass Menschen unterschiedlich sind, dann hätte er uns auch nicht unterschiedlich gemacht.“ „Wenn du so argumentierst, dann wäre auch die Psychose eines Serienmörders gottgegeben!“ Jonas merkte, dass das Ganze drohte aus dem Ruder zu laufen, Christian war in theologischen Diskussionen schon immer unschlagbar gewesen. „Weißt du was? Ich werde mich darüber nicht mit dir streiten, ich will dir nur helfen, aber wenn du nicht möchtest, dann kann ich das nicht ändern.“ Chris lachte. „Ich verstehe das, an deiner Stelle würde ich mich auch von mir abwenden, bevor etwas auf dich abfärbt.“ Jonas schüttelte traurig den Kopf. „Wenn du klarer siehst, kannst du gerne zu mir kommen, ich bin nach wie vor dein Freund.“ Mit diesen Worten stand er auf und ging davon. Chris fühlte sich in seinem Empfinden bestätigt. „Chris, hey, was geht?“ „Nicht viel, und bei euch?“ Er war gerade fertig mit seiner Arbeit, er arbeitete für ein paar Euro die Stunde als Junge für alles in einem Supermarkt. Die beiden Jungs, die vor ihm standen, waren auch beide um die Zwanzig, abgerissene und vom Leben ausgekotzte Gestalten, wie er selbst. Köln war die perfekte Stadt für solche Leute. Eng, groß, ein immer neu zusammengeschustertes Stadtbild aus Altem, Neuem und ganz Altem. Die Straßen der Stadt, vor allem die ganz alten, wölbten sich an manchen Stellen, als sei ein Erdbeben unter die Haut aus Pflastersteinen und Asphalt gekrochen, und alles hatte eine Geschichte. Meistens waren die Geschichten allerdings ziemlich langweilig und beschissen. Auch die Menschen dieser Stadt hatten meistens so eine Geschichte, zumindest die, die Chris traf. „Wolln wir in ne Kneipe?“ Chris nickte, er war so etwas wie der Anführer, weil er der einzige mit Grips war. Die beiden anderen, ihre Namen waren Peet und Arne, folgten ihm, munter plappernd. Die konnten nie still sein. Sie hatten ihn an seinem ersten Abend in der neuen Stadt zu ihrem neuen Boss erklärt und seit dem gestalkt wie sonst was. Aber mit denen rumzuhängen war besser, als ganz alleine zu sein, er war seit damals kein wirklich umgänglicher Zeitgenosse mehr. Während sie langsam in den Teil der Stadt kamen, in dem die einschlägige Szene angesiedelt war, fiel Chris Blick auf einen jungen Mann in Hemd und Jeans. Chris brauchte gar nicht näher herantreten, um zu erkennen, dass der Mann von irgendeiner Hilfsorganisation war, vielleicht mal wieder von einer dieser Anti-homo-Gemeinden. Peet und Arne, die dank Chris ein neues Lieblingsspiel kannten, hatten den Fatzge auch schon entdeckt und näherten sich ihm, wie einem arglosen Zebra am Trinkloch. Mit einem Augenverdrehen folgte Chris ihnen. „Interessiert ihr euch für Gott?“ Peet grinste „Wieso? Ist er heiß?“ „Es gibt kein Bild, das Gott gerecht wird.“ Peet wollte dazu etwas sagen, doch Chris hielt ihn auf, zu viel Blödheit würde ihm nur die Laune verderben. „Was sagt denn dein Gott so?“ „Gott liebt seine Schöpfungen und ganz besonders die Schafe, die er verloren hat, liegen ihm am Herzen.“ Chris hatte so eine Ahnung, worauf das hinauslaufen würde. „Verloren an was? An die Sünde der körperlichen Begierde zu Männern?“ Zu Chris Überraschung schüttelte der Spießer den Kopf. „An den Unglauben und die Zweifel. Gott liebt alle Menschen, bloß weil Menschen unterschiedlich sind, sind sie nicht gleich Sünder. Gott schätzt nichts mehr als die Liebe, und Liebe ist es, die die Menschen verbreiten sollen, das gilt auch für Euresgleichen.“ Chris schmunzelte, also zur Abwechslung jemand, der pro-homo war, aber trotzdem einer dieser verblendeten Idioten, die glaubten es gäbe irgendeine höhere Kraft, die sie nach ihrem Leben belohnen oder bestrafen würde. Bullshit. „Und baut dein Glaube auf der Bibel, der Tora oder dem Koran auf?“ „Auf der Bibel.“ „Und haltet ihr die Bibel für ein heiliges Buch und die Worte, die in diesem Buch stehen, für wahr, unabänderlich und rechtens?“ Bevor das langsam etwas verunsicherte Lamm sich mit einer Antwort selbst zur Schlachtbank führen würde, griff ein guter Samariter, der nähergetreten war, unerwartet ein. Anders als der Spießer trug dieser Mann eine braune Lederjacke über einem schwarzen Shirt und dazu ausgewaschene Bluejeans auf Turnschuhe. „Die Bibel ist eine sehr alte Quelle aus Schriften von sehr unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Ansichten, die die Texte in ebenfalls sehr unterschiedlichem Maße ihren eigenen Vorstellungen und Meinungen angepasst haben. Man kann wenig mit absoluter Gewissheit aus ihrem Kontext lesen. Aber einiges eben doch, gewiss beispielsweise, dass Liebe ein hohes Gut ist und man sie verschenken soll, wo man nur kann.“ Chris schnaubte „Sie gehören auch zu dieser Kirche?“ Der Mann lächelte ein herzliches Lächeln und es führte von seinem sinnlichen Mund bis zu den dunkelbraunen Augen, die heiter blitzten. „Wir sind ganz gewöhnliche Christen, keine Splitterfraktion oder irgendeine Sekte.“ Chris grinste „Dann könnt ihr nur Protestanten sein, fast genauso bigott wie die Katholiken, aber an manchen Punkten wenigstens ein bisschen ehrlicher...“ „Du hast eine sehr abwertende Haltung zum christlichen Glauben, wie mir scheint.“ Chris schüttelte den Kopf. „Ich habe einen sehr kritischen Blick auf die Scharlatane, die seit eh und je die Institutionen des christlichen Glaubens leiten. Was sollte ich dagegen haben, dass Menschen einer Illusion hinterherjagen, die ihnen Hoffnung gibt? Die meisten von uns tun das auf irgendeine Art und Weise. Nein, das will ich weder abwerten noch verurteilen, aber für meinen Geschmack veranstalten Kirchen zu viel Tamtam um ihre heiligen Blabliblubbs und Hastenichgesehn.“ Der Mann grinste jetzt, und Chris war überrascht, was für einen süffisanten Blick er erkennen konnte, war das etwa sexuelles Interesse? „Wie mit diesen Dingen umgegangen wird, ist nicht nur von Kirche zu Kirche, sondern auch von Gemeinde zu Gemeinde und von Pfarrer zu Pfarrer unterschiedlich. Vielleicht hast du einfach noch nicht die richtige Gemeinde für dich gefunden.“ „Meine Suche allerdings war für meinen Geschmack lang genug, danke.“ Der Mann blickte ihn leicht wehmütig an. „Dein Hass ist kein Hass, es ist bloß Schmerz...denkst du nicht, dass Liebe deine Schmerzen lindern könnte?“ Chris hatte bei diesem Satz ein seltsames Gefühl. „Mein Hass mag kein Hass sein, aber mein Schmerz ist Schmerz, und Liebe ist nicht frei von Schmerz, je mehr ich liebe, desto tiefer schmerzt es, also ist es besser nicht zu lieben.“ „Glaubst du an Gott?“ „Ich bin zwar getauft, aber ich bin schon eine Weile kein Christ mehr.“ „Ich fragte nicht, ob du an die Kirche glaubst, ich fragte: Glaubst du an Gott?“ Chris seufzte. „Ich glaube, dass Gott mir nicht helfen wird, und auch sonst keinem, er ist ein Wichser, der sich selbstgefällig dieses emotionale Massaker ansieht, das er in Gang gebracht hat, sich dabei wahrscheinlich einen runterholt.“ Sie blickten sich eine Weile an und dann sagte der blonde Samariter mit erstaunlich ruhiger Stimme: „Dein Schmerz muss wirklich sehr tief sitzen, Gott hat dich offensichtlich tief enttäuscht...aber du musst verstehen, dass er einige von uns mit besonders harten Prüfungen belädt, damit wir später nur umso überzeugender sein Wort verkünden können.“ Chris schob den Unterkiefer vor. „Ich piss auf Gottes Prüfungen!“ „Bloß weil du Gott aufgibst, heißt das nicht, dass er dich aufgibt.“ Chris rümpfte die Nase. „Scheiße, aus welchem Film hast du den Spruch geklaut?“ „Kennst du das Gleichnis des verlorenen Sohnes?“ Chris ächzte „Ja. Der Vater, Gott, hat seinen vom Weg abgekommenen Sohn mit offenen Armen empfangen. Ich fühle mich aber abseits des Weges ganz wohl, also danke, aber nein danke.“ Chris betrachtete noch einmal eingehend sein Gegenüber. Ein durchtrainierter Körper, breite Schultern, blonde halblange Haare, die in leichten Wellen das Gesicht einrahmten. Eigentlich ein schöner Mann. „Ich denke nicht, dass du den Glauben wirklich ablehnst.“ „Ach, und wieso?“ „Weil du immer noch hier bist und mit mir redest.“ Chris Nasenflügel blähten sich. Der Kerl hatte sie ja nicht alle sich einzubilden, er wüsste, was in Chris vorging. „Irgendeiner muss euch Spinnern ja wohl klarmachen, dass ihr hier am falschen Ort seid.“ Peet und Arne bekräftigten ihn mit einem etwas zurückhaltendem „Yo, Mann!“. „In der Bibel heißt es: >Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen, und hätte die Liebe nicht, so wäre mir‘s nichts nütze.<“ „Jaja, kenne ich, 1.Korinther 13,3, und was soll mir das sagen?“ „Ohne Liebe wirst du ein unerfülltes Leben führen, auch wenn du mir das nicht glauben magst.“ Chris grinste. „Und was ist mit 3. Mose 20, 13: >Wenn ein Mann mit einem anderen Mann geschlechtlich verkehrt, haben sich beide auf abscheuliche Weise vergangen. Sie müssen getötet werden; ihr Blut findet keinen Rächer.Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber -“ „- die Liebe ist die größte unter ihnen.< Das ist aus dem 1.Korinther 13,13. Aber bloß weil du die Bibel zitieren kannst, macht dich das noch nicht zu einem erfolgreichen Missionar.“ „Ich will nicht missionieren, ich will dich heilen, deine Schmerzen lindern.“ Chris lächelte nun seinerseits süffisant. „Du könntest mich ficken, das wäre Balsam für meine Seele, ich schwöre es, bei allem was mir heilig ist.“ Der Mann erwiderte das Lächeln nicht weniger anzüglich. „Wenn du deine Einstellung änderst, können wir darüber ja nochmal reden. Hier ist meine Karte, nur für den Fall.“ Chris griff danach und zerriss sie, bevor er die Stückchen dem Typen vor die Füße warf. „Kommt, wir verschwinden.“ Mit Dumm und Dümmer im Schlepptau verschwand Chris in Richtung Nachtclubs, er musste sich jemanden aufreißen, er war grade irgendwie ziemlich notgeil. Er sah das zufriedene Schmunzeln nicht, mit dem der blonde Mann ihm nachblickte. Der Spießer hob die zerrissene Karte auf und seufzte. „Schade, er war sehr überzeugend, jemanden wie ihn könnten wir gebrauchen...Martin?“ Martin grinste „Der kommt schon noch.“ „Er hat keine Karte.“ „Ich habe ihm zwei hingehalten, er hat nur eine zerrissen, die andere hat er sich beim Weggehen in die Hosentasche gesteckt. Hab ein bisschen Vertrauen, Leon.“ Leon runzelte die Stirn. „Warum, er hat seinen Standpunkt mehr als klar gemacht, was lässt dich glauben, dass er es sich anders überlegt?“ „Hoffnung, Glaube und Liebe, Leon. Und die Tatsache, dass der Kerl die Bibel besser kennt als ich, obwohl ich Pfarrer bin. Ich glaube, er hatte mal einen sehr festen Glauben, der wurde dann tief erschüttert, und er hat sich von Gott abgewandt. Aber nicht anders als jedes enttäuschte Kind, das seinen Vater über alles geliebt hat, will er im Grunde nur wieder das Gefühl haben, selbst geliebt zu werden. Trauriger Weise scheint er nach dieser Enttäuschung noch weitere schlechte Erfahrungen gemacht zu haben, und so hat sich sein Herz gegen die Botschaft der Liebe verhärtet.“ Leon wirkte etwas ratlos. „Und was willst du dagegen machen?“ Martins Lächeln war leicht unheilvoll, und Leon war verwundert, so kannte er sein Gemeindeoberhaupt gar nicht. „Ich werde in ihn dringen und ihn anfüllen mit Liebe, sodass er seinen Weg zurück findet.“ Leon erschauderte leicht, irgendwas an diesen Worten klang unanständig. Als Chris am nächsten Morgen in der Wohnung aufwachte, in die er dem Kerl aus der dritten Bar gefolgt war, hatte er einen höllischen Kater, so krass, wie er ihn seit jenem letzten Morgen in Berlin nicht mehr gehabt hatte. Eigentlich war er in der Lage mit Alkohol umzugehen, seit er regelmäßiger trank zumindest, auch wenn er zu Beginn häufig über die Stränge geschlagen hatte. Er hielt sich die Hand vors Gesicht und ächzte. Der schwere warme Körper, der auf ihm lag, erschwerte ihm das Atmen. Er nahm die Hand wieder weg und sah den Kerl an. Nicht hässlich, aber auch keine Schönheit, im Bett wahrscheinlich auch nicht grade eine Granate. Er manövrierte sich irgendwie unter dem muskulösen Mann hervor und verzog angewidert das Gesicht, sie waren direkt nach dem Sex eingeschlafen, er fühlte sich verklebt, dreckig, nicht nur körperlich verschmutzt. Er suchte die Dusche und stellte sich für eine kurze Wäsche drunter, dann zog er seine Klamotten an und verließ ohne zurückzublicken die Wohnung. Er sah auf sein Handy, noch hatte er etwas Zeit bis seine Schicht begann. Ziellos schlenderte er durch die Gegend und dachte an nichts Bestimmtes. Er fühlte sich traurig und alleingelassen. Das Gefühl niemanden zu haben war seit jener ersten Nacht nur immer stärker geworden. Er hatte nie wirklich aufgehört sich zu wünschen wieder zu Gott zu finden, denn er konnte sich nicht vorstellen, jemals wieder so zufrieden und so nah an einem Gefühl von Glück zu sein, wie er es zu jener Zeit gewesen war. Deshalb suchte er den Streit, deshalb diskutierte er. Er wollte überzeugt werden, und doch auch wieder nicht, er wusste jetzt besser, wer er war, und das schien ihn unweigerlich von Gott zu entfernen, so war das eben. Er blieb vor einem Schaufenster stehen, sah die Auslage von kleinen Kölner-Dom Modellen, kitschigen Anhängern, anderem Kram und Kuckucksuhren. Warum hatten diese Krimskrams-Touristenläden eigentlich immer Kuckucksuhren im Sortiment, die waren nun wirklich nichts, was in dieser Region eine besondere Bedeutung hatte. Das wäre ungefähr so, wie wenn die Touristenfallen in Bayern Sprachführer für Kölsch verkaufen würden oder so was... Sein Blick richtete sich auf die Spiegelung, die er in der Scheibe erzeugte. Mann, sah er vielleicht abgewrackt aus, wirklich total am Arsch. Seine Haare waren länger geworden, er band sie meistens mit einem Haargummi zurück, einzelne widerspenstige Strähnen des dunkelbraunen Wirrwarrs lösten sich aber immer wieder und fielen ihm in die Stirn. Er hatte seine frühere Kindlichkeit verloren, er war mager geworden, aber auch etwas muskulöser. Früher hatte er leicht pummelig und schwächlich gewirkt, jetzt war er eher hager und zäh, mit hartem ungnädigen Blick und einigen winzigen Falten um Augen und Mund, die er vor einem Jahr wahrscheinlich noch nicht besessen hatte. Er hatte Augenringe, seine Wangen waren ein bisschen eingefallen und seine Augen stachen aus dem Gesicht groß und tatsächlich schmerzerfüllt hervor. Er fand sich nicht attraktiv, dafür war er einfach zu abgefuckt. Auch wenn das viele anders zu sehen schienen. „Viel weiter kann ich wohl nicht mehr fallen...“ dachte er sich und wie fremdgeleitet wanderte seine Hand zu seiner Hosentasche. Er zog geistesabwesend die Karte hervor, auf der die Adresse eines Gemeindebüros und der Name „Martin René Croyance“ standen. Ob dieser Martin ehrenamtlich dort arbeitete...er wirkte so ungewöhnlich für einen gläubigen Christen... „Martin.....“ Ein gläubiger Mann und scheinbar dennoch schwul...vielleicht war seine Gemeinde einen Versuch wert...vielleicht hatte der Pfarrer von Martins Gemeinde ihm mehr zu bieten als bloß Vergebung, falls er Besserung gelobte. Es war gar nicht allzu weit von dort, wo er grade stand, und er hatte bis zu seiner Schicht immer noch Zeit. Nur ob er Martin dort antreffen wollte, wusste er noch nicht, er war ziemlich ungehobelt gewesen, eigentlich unverzeihlich grob, vulgär und ungeniert, im Nachhinein schämte er sich. Das tat er oft... Martin war nach Hause gefahren und hatte sich dann dort auf die Couch gesetzt. Er wusste, wie er das fand, dass Chris sich von Alex aus der Bahn werfen ließ, gar nicht gut. Neben Sorgen um Chris plagten ihn beim Gedanken an den gutaussehenden Professor auch kleine stechende eifersüchtige Dämonen, die seine Laune vergifteten. Mit dumpfer Wehmut dachte er an seine erste richtige Begegnung mit Chris zurück, an den Tag, an dem Chris begonnen hatte sich ihm anzuvertrauen, wenn auch nur Stück für Stück. Martin inspizierte gerade den Zustand der drei Abendmahlskelche, die seine Gemeinde besaß. Jener aus Ton, den er am liebsten verwendete, weil er seiner Vorstellung einem Abendmahlskelch in seiner schlichten Schönheit am ehesten entsprach, hatte leider eine kleine herausgebrochene Ecke, und er überlegte, ob es in Ordnung war eine der frei bestimmbaren Kollekten für die Anfertigung eines neuen zu bestimmen und ihn zu ersetzen. Er würde das in der nächsten Gemeindesitzung ansprechen... Er hörte, wie die Tür zum Kirchenschiff aufgestoßen wurde, und runzelte die Stirn. Die meisten wussten, dass sie ihn entweder hier oder in seinem Büro fanden, aber es war sehr früh am Morgen, wer sollte das sein... Leise regte sich in ihm die Hoffnung, dass es der kleine kratzbürstige Kater vom vorherigen Abend sein mochte, jener vorlaute Bursche... Mit bedächtigen Schritten verließ er die Sakristei und betrat durch die hinter dem Altarbild verborgene Tür den Hauptraum des Gotteshauses. Es war alt und schön, mit schlichten weißverputzten Wänden, dezenten floralen Ornamenten an den hölzernen Sitzbänken und den Säulen der ebenfalls hölzernen Orgelempore. Durch die hohen schmalen, aber zahlreichen Fenster, die ebenfalls in dezenten floralen Mustern hellbunt gestaltet waren, fiel noch nicht besonders wärmendes frühes Sonnenlicht. An den Wänden gab es Bildnisse von Heiligen und zur Rechten befand sich ein schlicht gehaltener Marienschrein. Martin sah tatsächlich sein verlorenes Schaf auf der vordersten Bank sitzen und ihn einfach nur anstarren, was er dachte konnte Martin nicht herauslesen. „Du bist also gekommen...“ „Ja, ich hätte nicht gedacht, dass du Pfarrer bist...und dann auch noch katholisch.“ „Bis ich es wurde, hätte ich das auch nicht gedacht...“ „Und wie wurdest du es dann?“ Martin schmunzelte. „Wie wär‘s, wenn ich dir eine Frage beantworte, und dann du mir eine?“ „In Ordnung. Ich habe geantwortet, jetzt bist du dran.“ Der Pfarrer nickte und sein schwarzes Collarhemd wurde durch die Fenster in bunte Muster getaucht, als er zu dem jungen Mann ging und sich neben ihn setzte. „Ich hatte zwar mein Theologiestudium abgeschlossen, aber aufgrund meiner Neigung war ich davon ausgegangen, dass die Kirche eher davon absehen würde mich als Pfarrer einzusetzen, und so stellte ich mich darauf ein mir eine Arbeit irgendwo im christlich-bürokratischen Bereich zu suchen. Ich hatte sogar schon eine Stelle in einem Museum gefunden, in dem meine umfangreichen Kenntnisse der Christologie und vieler anderer Religionen sowie der Sprachen Lateinisch, Griechischen und Hebräisch nützlich gewesen wären, da sprach mich der vorherige Pfarrer dieser Gemeinde an. Er ist immer noch Vorsitzender der Organisation >Schwul und Christ< und war damals kurz davor in Ruhestand zu gehen. Er sagte damals, es sei gar nicht so schwer einen schwulen jungen Theologen zu finden, schwieriger sei es einen zu finden, der das auch zugab, und ich entspräche seinen Vorstellungen. Diese Gemeinde ist etwas außergewöhnlich und braucht einen außergewöhnlichen Hirten. Der alte Mann schlug mich vor und gegen meine Überzeugung bekam ich die Stelle. Ich habe begriffen, dass ich hier viel mehr bewirken kann, als wenn ich in einem Museum verstaube, und auch, dass dies hier mehr dem entspricht, was ich mir für mein Leben gewünscht habe...und so habe ich die Stelle angenommen.“ Chris ächzte „Wow, eine ganz schön ausführliche Antwort.“ Martin schmunzelte „Du kannst es mir ja mit gleicher Münze zurückzahlen. Was hat dich dazu bewogen deine Meinung zu ändern und doch zu mir zu kommen?“ „Hoffnung...auf mehr als nur kalte katholische Absolution...Hoffnung auf Glauben...vielleicht...und womöglich...Liebe...“ Ihre Blick trafen sich, weiches, pastelliges, helles Blau verlief in dunklem, entwaffnendem Braun, und sie wussten, dass Glaube nicht das einzige war, was sie hier zusammenführte. „Dann bist du hier am richtigen Ort. Diese Gemeinde legt keinen Schwerpunkt auf die Bibel, unser Glaube gründet sich auf der Gewissheit, dass Nächstenliebe und großherziges Handeln der Schlüssel zu einem guten Leben sind, und das, was Gott von den Menschen will, ist ein Leben in Frieden und Eintracht. Ein solches Leben allerdings kann nicht zustande kommen, wenn wir immerzu versuchen Menschen, die nichts tun, was uns schadet, ändern zu wollen.“ „Und woher hast du diese Gewissheit?“ „Ich glaube daran und hoffe darauf. Ich denke nicht darüber nach, dass ich mich irren könnte, denn damit verschwende ich meine Zeit. Liege ich falsch, dann bin ich verloren, was ich auch tue, denn ich kann nicht ändern, was ich liebe, aber wenn ich Recht habe, dann ist zweifeln nicht nur der falsche Weg, sondern sogar höchst kontraproduktiv.“ Chris runzelte die Stirn. „Du glaubst also an Gott, weil es deine einzige Chance ist?“ „Es ist für uns alle die einzige Chance, würdest du dich ändern, wenn du es besser wüsstest?“ „Habe ich diesen Eindruck gemacht?“ „Nein, die Frage war eher rhetorischer Natur. Dann hast du doch im Grunde das, was du willst. Wenn du dich meiner Gemeinde anschließt, dann wird Gott sich dir wieder offenbaren, denn er steckt in den Kleinigkeiten...in jedem Menschen, der dir etwas Gutes tut, steckt seine Liebe und in jedem Menschen, dem du etwas Gutes tust, auch. Außerdem machen gute Taten glücklich, das ist sogar wissenschaftlich bewiesen. Das ist wie mit dem Lächeln. Du lächelst, wenn dein Gehirn Endorphine ausschüttet, weil die dich glücklich machen, aber es werden auch Endorphine ausgeschüttet wenn du zuvor lächelst, und so bringt es dich nicht nur zum Lächeln, wenn du glücklich bist, sondern es macht dich auch glücklich, wenn du lächelst...ist das kein schöner Gedanke?“ Chris spürte stark die Wohltat dieser Worte und erkannte durchaus den leichten Humor, mit dem Martin auf ihn einredete, ganz zärtlich, ganz unparteiisch. Er versuche nicht mit Nachdruck etwas bei ihm zu erreichen, sondern erklärte ihm nur, was er ihm geben konnte, falls er sich darauf einließ. Martin erkannte, dass Chris sich wohlfühlte, und glaubte den richtigen Moment für die nächsten Worte gefunden zu haben. „Wenn ich offen mit dir sein darf, wäre es für mich ganz persönlich ein Glücksfall, wenn du bei uns bleiben würdest, du warst gestern...ausgesprochen überzeugend. Du bist bibelfester als ich, du bist intelligent und charismatisch, unsere Gemeinde gibt sich Mühe, aber viele sind wie Leon, gutherzig aber hilflos gegen Leute mit mehr Verstand, wie du...und auch ich. Ich brauche jemanden, der überzeugend ist und der auch Zweifler versteht...“ Chris schmunzelte. „Ich habe das Gefühl, diese Beschreibung trifft dich recht genau...“ „Einer alleine reicht manchmal eben nicht...“ Konnte dieser Mann ihm wirklich helfen wieder zu Gott zu finden? Seine Ausführungen waren einleuchtend. Sie waren völlig anders, als sein früherer kindlich fanatischer Glaube, aber in ihren Werten irgendwie auch klarer, eleganter...weniger menschlich grausam in ihren Regeln und zugleich viel erlösend menschlicher in ihren Hoffnungen und Versprechen...er fühlte sich auf dem richtigen Weg. „Ich will bleiben.“ Martins Lächeln war wundervoll, und kurz wurde Chris Entschluss von einer mächtigen Begierde getrübt, aber schon im nächsten Moment konnte er sich in Erinnerung rufen, dass sündigen nur menschlich war, auf den Glauben und die Hoffnung kam es an. Ihre Blicke trafen sich erneut. „Ich hoffe, dass ich deine Sehnsucht befriedigen kann.“ Und auf die Liebe auch, Himmel, wie konnte dieser Satz aus dem Mund eines Pfarrers so zweideutig und pervers klingen... Am nächsten Morgen vorm Büro von >Schwul und Christ< trafen sie sich und Chris lächelte. „Ich habe letzte Nacht von uns geträumt...“ Martin schmunzelte „Dir scheint es besser zu gehen...ich habe auch von uns geträumt.“ „Und was haben wir in deinem Traum gemacht?“ „Was haben wir denn in deinem gemacht?“ „Viel geredet...und du hast mir bewiesen, wie sexy Priesterroben sein können...“ Martin grinste „Lustig...meiner scheint deinem sehr ähnlich gewesen zu sein...“ Chris seufzte und lächelte Martin glücklich an. „Weißt du eigentlich, dass du mich damals gerettet hast?“ „Ja, und ich danke Gott jeden Tag dafür, dass er mir die Kraft dazu gab, dir Halt zu geben.“ „Halt? Du hast mir viel mehr gegeben.“ „Ach ja?“ „Ja, Hoffnung...Glaube...“ „Nur die?“ „Und die Liebe.“ „Die Größte unter den drein.“ „Genau, die großartige Liebe...“ Martins Blick wurde noch eine Spur dunkler. „Wir sollten langsam in unser Büro gehen, bis zum Treffen mit diesen Typen der Caritas haben wir nicht viel Zeit...“ Chris merkte, wie sein Mund bei Martins Unterton trocken wurde. „Du meinst, weil wir so viel Papierkram zu erledigen haben...“ Als ob, aber das wollte er gerne glauben, denn alles andere wäre zwar wunderschön, aber auch ziemlich unverfroren. „Aber natürlich.“ raunte der Größere selbstgefällig. Chris warf Martin einen feurigen Blick zu „Schatz...für einen Pfarrer bist du ein nahezu pathologischer Lügner...du sagst nie, was du meinst...“ „Ich bin außer Dienst.“ „Als ob du jemals außer Dienst wärst...“ „Dann bin ich eben einfach ein Mensch mit Fehlern, halt jetzt den Rand und komm.“ Chris spürte das vertraute Kribbeln bei Martins herrischem Ton. Ja, die Liebe war die Größte unter den drein... Das war unbestreitbar. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)