White Collar von Melange ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Wichtig! Kommt zum ersten Treffen des Abschlussjahrgangs 20xx der Y-Jungenschule am 2. August! Wir freuen uns auf einen gemütlichen Abend mit gutem Essen, Trinken und alten Freunden. Mikoto liest die E-Mail am Frühstückstisch während er sich Löffel um Löffel seines Müslis in den Mund schiebt. Ein Jahrgangstreffen? Sofort überfluten Szenen seiner Zeit in Rüschen und Reifröcken seine Gedanken, Erinnerungen an Yujiros sarkastische Witze und Torus warmes Lächeln. Über all dem wacht Arisada wie die Spinne im Netz und amüsiert sich über die Mühen seiner Untergebenen, der Prinzessinnen. Seit drei Jahren ist Mikoto die blöden Witze und Hetzjagden durch die Schule los, seit zwei Jahren sitzt er schon in seiner Studentenbude und büffelt vor sich hin. Niemand holt ihn mehr aus Vorlesungen oder zwingt ihn zur lästigen Pflicht, andere anzufeuern. Warum soll er zum Jahrgangstreffen gehen, wo nur die Vergangenheit wieder aufleben würde? Ein paar Tage später erzählt er Megumi davon. Sie bläst die Backen auf angesichts seines Unwillens. „Aber du hattest vor lauter Lernen gar keine Zeit, um deine Freunde zu treffen! Das ist doch eine gute Gelegenheit!“ Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen während er einen Schluck aus dem Pappbecher nimmt. Bitterer Cappuccino füllt seinen Mund. „Aber ich will nicht wieder betatscht und ausgelacht werden!“ Zu seiner Überraschung schenkt sie ihm ein Lächeln. „Was ist mit Toru und ... wie hieß er noch ... Sakamoto?“ „Akira“, berichtigt er, kaut an seiner Unterlippe herum. „Yujiro würde sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, auf mir herumzuhacken!“ Da lacht Megumi laut heraus. „Wie könnte er? Du opferst deine ganze Freizeit für dein Ziel und du arbeitest so hart! Jeder, der so einen Menschen verspottet, hat entweder kein Herz oder eins voller Eifersucht.“ Mikoto sieht sie an, der Kaffee ist vergessen. Wieder einmal erfüllt ihn Stolz auf seine kluge Megumi! Die Sorge in seinen Zügen weicht einem Lächeln. „Wahrscheinlich hast du Recht. Ich würde sie auch gerne wiedersehen. Komm, begleitest du mich noch zu Kinokuniya?“ Hand in Hand verlassen sie die Mensa am Campus und schlendern über die Straße zur Buchhandlung, wo Mikoto noch ein paar Lehrbücher aufstöbert. Damit wäre er für die nächsten Prüfungen gerüstet – die Sommerferien können beginnen. * Yujiro grinst sein Handy an während er die Nachricht liest. „Miko-chan, was treibst du wohl? Bald werden wir’s herausfinden!“ „Shihodani-kun ... führst du schon wieder Selbstgespräche?“, fragt Kimura, sein Manager, und beugt sich mit besorgtem Gesichtsausdruck zu ihm herab. Aber Yujiro erspart ihm die Mühe und steht auf, sodass Kimura zurückweicht. „Das gehört zum Metier, denkst du nicht?“ Und er schenkt dem älteren Mann ein strahlendes Lächeln. „Die Pause ist vorbei? Gut.“ Mit genau bemessenen Schritten gleitet er zurück ins Rampenlicht und seine blitzenden Augen hypnotisieren die Kamera. Er bewegt sich, dreht sich um die eigene Achse, legt eine Hand auf die Hüfte und zeigt ein strahlendes Lächeln als wäre er immer noch Prinzessin. Aber für den Kameramann, für die Lichttechniker, seinen Manager und alle anderen ist er genau das. Später verneigt er sich vor den Helfern, ein weiterer Drehtag geschafft und die Szenen im Kasten, und lässt sich ein Handtuch geben. Er wischt den Schweiß von seiner Stirn und trinkt einen Schluck Wasser, bevor Kimura ihn aus dem Gebäude schiebt. Dort warten Fans. Bei seinem Erscheinen heben sie die Köpfe, geben unverständliche Schreie von sich. Kameras blitzen. Yujiro lächelt und winkt während Kimura ihnen mit der Ellbogentechnik eine Gasse formt. Nach ein paar Schritten flüchten sie hinter die dunklen Scheiben eines silbernen Mercedes. So abgeschirmt lässt Yujiro das Lächeln fallen und atmet tief durch. „Das Shooting für Men’s Health?“ Kimura nickt in den Rückspiegel. „In einer Stunde. Hast du dich schon entschieden?“ Yujiro hebt die Augenbrauen. Ist da etwas, das er vergessen hat? „Das Jahrgangstreffen? Du hast den Abend frei, gehst du hin?“ Yujiro zuckt mit den Schultern während sein Blick aus dem Fenster wandert. Auf den Gehsteigen drängen sich Verliebte, Mädchengruppen, Schuljungen, Angestellte mit Aktentaschen. Will er sie sehen? Wenn er an die Oberschule zurückdenkt, sieht er vor allem ein Gesicht vor sich: Toru Kono, sein warmes Lächeln. Diesen Ausdruck kann selbst er nicht kopieren. „Warum nicht?“, sagt er schließlich, betont gleichgültig. „Ein bisschen Spaß kann ich gut gebrauchen.“ Kimura stößt ein kurzes Lachen aus. „Tu nicht so, als wärst du so eine große Berühmtheit. Du bist nur ein Werbeschauspieler, dessen Gesicht zufällig gut bei Mädchen ankommt.“ „Ich weiß“, murmelt Yujiro. „Ich weiß ...“ * Toru runzelt die Stirn und fährt sich mit der Hand durchs Haar, was inzwischen zu einer nervösen Angewohnheit wird. „Es tut mir wirklich leid. Bitte gedulden Sie sich noch einen Moment, Herr Kotobuki wird gleich bei Ihnen sein.“ Der Mann wirft ihm einen letzten gereizten Blick zu bevor er sich umdreht und zurück zur Sofagruppe schlendert, die Hände in den Taschen seines Anzugs. An seiner Brust prangt eine Plakette mit der Aufschrift ‚Gast‘. Er ist ein bekannter Autor, der auf seinen Redakteur wartet. Torus Blick schweift durch das Foyer: spiegelnde Steinfliesen, edle Ledersofas und ein niedriger Glastisch verraten westlichen Geschmack und Niveau. Als Literaturstudent sollte er mindestens im ersten Stock sitzen und Texte korrigieren oder übersetzen. Er seufzt. Stattdessen besteht seine Pflicht darin, ungeduldige Autoren mit einem Lächeln zu beruhigen. In den letzten Wochen gleicht es eher einem Krampf als dem Strahlen, für das sie ihn hierhin gesetzt haben. Der schlanke Mann sitzt wieder, wippt aber ungeduldig mit der Fußspitze. Toru beobachtet ihn aus den Augenwinkeln, obwohl er eine Allergie gegen nervöse Ticks hat. Er zuckt zusammen als seine Hosentasche vibriert. Natürlich erntet er einen Blick voller Verachtung, trotzdem klappt er das Handy auf und meldet sich. „Ich hoffe, ich störe nicht?“ Akira. Wie immer hellt sich Torus Stimmung auf sobald er diese Stimme erkennt. „Natürlich nicht! Was gibt es denn? Solltest du nicht gerade in einer Besprechung sitzen?“ „Wir konnten früher Schluss machen.“ Toru grinst. Genau wie in der Oberschule ist sein Freund auch auf der Uni in einer Führungsposition gelandet – aber für den Vorsitz der Studentenvertretung hat er sich selbst beworben. Niemand hat es gewagt, Arisadas und Mitakas Empfehlungen zu widersprechen. „Hast du die Nachricht bekommen?“, fragt Akira. Toru versucht sich zu erinnern wann er zuletzt seine Emails gecheckt hat. Gestern Abend? „Welche Nachricht?“ „Der Jahrgang, in dem ihr Prinzessinnen wart, veranstaltet ein Treffen.“ Er nennt Datum und Uhrzeit. „Das wird bestimmt lustig! Gehst du hin?“ Torus Miene verdüstert sich wieder. Er zieht eine Schublade auf und fummelt nach seinem Terminkalender. „An diesem Tag arbeite ich, aber am Abend sollte ich frei haben. Natürlich komme ich!“ „Schön“, sagt Akira und zögert. Nach dem Abschluss haben sich beide für dieselbe Uni entschieden. Obwohl Akira Betriebswirtschaft gewählt hat und Toru englische Literatur, treffen sie sich regelmäßig in der Umgebung des Campus. Toru kennt seinen Freund gut genug, um etwas zu ahnen. „Was ist los?“, fragt er. Seine Augen verfolgen, wie ein älterer Herr in Strickjacke und Stoffhosen das Foyer betritt, die Hand des Autoren schüttelt und ihn zum nächsten Lift führt. Gut. „Leider habe ich an dem Abend eine Sitzung der Studentenvertretung. Weil es um unser Budget geht, ist meine Anwesenheit sehr wichtig.“ „Wirklich schade ... Ich richte den anderen deine Grüße aus, ja?“ Sofort klingt Akira fröhlicher. „Mach auch Fotos, wenn du kannst. Ich wünsch euch viel Spaß!“ Toru bedankt sich und beendet das Gespräch. Er hofft, der Redakteur war zu sehr mit seinem Gast beschäftigt, um ihn zu beachten. Eine ungeschriebene Regel verbietet private Anrufe während der Arbeitszeit. Wieder fährt Toru sich durchs Haar, stützt dann das Kinn in die Handfläche und seufzt ins leere Foyer hinein. Die riesige Uhr an der gegenüberliegenden Wand tickt die Zeit weg, Stück für Stück, trotzdem bleiben ihm noch zwei Stunden bis Schichtende. Er wünscht sich zurück zu seinem Essay ... und unterhält sich damit, den Inhalt des letzten Buches von der Literaturliste im Kopf nachzuerzählen. Zu seiner Überraschung führt die Wegbeschreibung Toru zu einem schicken Lokal in Aoyama. Die Bar liegt in einer stillen Seitenstraße, wirkt gemütlich und elegant. Die Person, die auf der Schwelle steht, und Zigarettenrauch in die warme Sommerabendluft bläst, stellt die zweite Überraschung dar. „Arisada?!“, bringt Toru heraus. Er kann es kaum glauben und klammert sich an den Namen, um den Gedanken an eine Halluzination zu verdrängen. Mit einem Lächeln dreht sich der hochgewachsene Mann um und verbeugt sich knapp. Der hellgraue Anzug sieht aus wie maßgeschneidert und die weinrote Krawatte sitzt in seiner Mitte wie ein Blutstropfen. Sein Haar ist gebleicht und schimmert in warmem Honigbraun, sein Gesicht makellos wie immer. Nicht einmal die letzten drei Jahre haben dem ehemaligen SMV-Vorsitzenden die jugendliche Schönheit genommen. „Wenn das nicht Fräulein Toru Kono ist! Sieh an, du bist ja richtig erwachsen geworden!“ Das amüsierte Lächeln sitzt noch, genau wie früher. Toru räuspert sich. „Tu nicht so als wärst du meine Mutter ... Außerdem habe ich dich gar nicht erwartet. Warst du nicht einen Jahrgang über uns?“ In einer theatralischen Geste bedeckt Arisadas Hand die Augen. „Bin ich denn nicht willkommen? Ich wollte doch nur etwas Spaß mit euch jungen Hüpfern haben!“ „Du bist kein alter Mann“, stellt Toru richtig und sieht sich um. Noch ist niemand in Sicht, den er erkannt hätte. „Gib’s zu, du hast versteckte Motive!“ Arisada grinst. „Zu früh, Toru, zu früh. Du wirst schon noch herausfinden, warum ich hier bin ... Ah, Fräulein Shihodani gibt sich die Ehre! Immer noch so reizend wie früher!“ Toru folgt dem Blick des Älteren und seine Augen weiten sich. Mit Yujiro verbinden ihn ein paar Telefongespräche an späten Abenden, aber die Gelegenheiten, bei denen sie von Angesicht zu Angesicht miteinander geredet haben, sind im Sumpf der täglichen Pflichten versunken. Jetzt steigt er aus einem silbernen Mercedes als wäre es das Natürlichste der Welt. Sein Gang ist genauso geschmeidig wie früher und sein Lächeln genauso umwerfend. „Toru! Wie schön, dich wiederzusehen! Was macht das Studium?“ Arisada ignoriert er, aber dieser ist zu sehr damit beschäftigt, Yujiro von oben bis unten zu mustern. „Die Professoren bewerfen uns mit Essays und Prüfungen, aber es macht Spaß“, berichtet Toru wahrheitsgemäß. Aus dem Jungen mit Hang zum Perfektionismus ist ein junger Mann geworden, der Literatur liebt und gerne Geschichten und Sprache auseinandernimmt. „Und wie geht es mit der Arbeit? Du jobbst doch immer noch beim Verlag, oder?“ Toru nickt während das Lächeln von seinen Zügen verschwindet. „Ja ... Wenigstens ist die Bezahlung gut.“ „Wenigstens? Wenn du dich nicht wohl fühlst, solltest du etwas anderes versuchen!“ Yujiro stemmt die Hände in die Seiten. Wie immer trifft er den Nagel auf den Kopf. Aber Toru kann nur mit den Schultern zucken. Die Situation ist ähnlich ... Er erinnert sich an damals. Als er das letzte Mal seinen Willen durchgesetzt hat, war er im Nachhinein froh und glücklich, dass Yujiro und die anderen ihm die Augen geöffnet haben. Aber jetzt ... er hat sein Studium, das gemietete Zimmer, alles an einer festen Einnahmequelle aufgehängt. Nach und nach trudeln die anderen ein und die Gruppe wächst. Die Begrüßungen und neugierigen Fragen unterbrechen das Gespräch, aber Yujiros Blick sagt, dass er nicht vergessen wird, wo sie aufgehört haben. * Mikoto hat sich verlaufen, hastet durch die abendlichen Straßen und hat das unangenehme Gefühl, dass die anderen irgendwo schon zu feiern beginnen. Endlich findet er die Gasse, die er vor kurzem übersehen hat, und erkennt das Lokal an Arisadas Gestalt vor dem Eingang. Immer noch hält dieser seine Zigarette zwischen zwei Fingern. Seine Miene hellt sich bei Mikotos Anblick sofort auf. „Ah, Fräulein Mikoto! Wie rührend, eine Wiedervereinigung der ehemaligen Prinzessinnen!“ Mikoto stemmt die Hände in die Seiten und hört sich Arisadas Rede an, bis sein Herzschlag sich wieder beruhigt hat. „Was suchst du hier?“, fragt er knapp. Arisada wirft die Arme hoch und malt einen Streifen Zigarettenrauch in die Luft. „Darf ich euch nicht vermissen? Wie gemein!“ Gleich darauf grinst er Mikoto an. „Ich habe viel von dir gehört, Mikoto ...“ Nach Nächten voller Lehrbücher und Notizen über die kompliziertesten Zusammenhänge ist Mikoto nicht auf den Kopf gefallen – zumindest nicht mehr schwer von Begriff wie vor drei Jahren. „Vergiss es! Ich bin ein armer Medizinstudent ohne Kontakte. Bis später!“ Sein Eintritt kommt einer Flucht gleich. Ein Blick zurück verrät, dass Arisada nicht folgt. Er atmet auf, fragt die Bedienung nach dem Hinterzimmer und taucht in lautes Treiben und Gespräche ein. Manchen sieht man an, dass sie bereits zu tief ins Glas geschaut haben. Am anderen Ende des Tisches schießt eine Hand in die Höhe und ein strahlendes Lächeln kommt ihm entgegen. So etwas bringt nur Yujiro zustande! „Lange nicht gesehen“, murmelt er in die freundschaftliche Umarmung. Daneben sitzt Toru und sein Lächeln wärmt Mikotos Herz. Diese beiden! Yujiros Ausstrahlung wirft ihn immer noch um und Toru wirkt immer noch wie der Junge aus gutem Hause – trotzdem sehen sie erwachsener aus. „Heh, hast du was zu verbergen? Warum so ruhig?“, fragt Yujiro scharf. Auf einmal grinst auch Toru. „Du hast nicht mal gefragt, wie es uns geht!“ Beide seufzen in gespielter Verzweiflung. „Du hast uns total vergessen!“ Mikoto spürt, wie ihm die Hitze in die Wangen schießt. So schnell wirkt Sake nicht ... „Das stimmt überhaupt nicht! Lasst mich doch zu Wort kommen!“ „Sag, was du sagen willst, oder schweig für immer!“, erklärt Yujiro und nimmt den Ton eines weisen Gelehrten an. Toru beklatscht ihn in übertriebener Bewunderung. Mikoto verschränkt nur die Arme und grinst. „Ihr werdet nie erwachsen, oder? Macht Scherze auf meine Kosten wie immer.“ Für einen Moment starren sie ihn mit großen Augen an und er genießt das Schweigen. „Was hast du gegessen?“, fragt Toru. „Was hat deine Freundin dir beigebracht?“, will Yujiro wissen. Mikoto schüttelt den Kopf. Das blöde Grinsen ist wie auf sein Gesicht gepflastert. „Irgendwann wird jeder erwachsen und erfährt den Ernst des Lebens. Jetzt weiß ich, dass ich mich nicht mehr aufregen muss.“ Die zwei Clowns applaudieren. Dann greift Yujiro nach dem Sake während Toru ernst wird. „Was hast du inzwischen getrieben, Mikoto?“ Er erklärt. Wieder reißen sie die Augen auf und sind sprachlos. Mikoto will es unterdrücken, aber er kann nicht anders als sich in ihrer Bewunderung zu sonnen. Megumi hatte Recht! Natürlich, Megumi hat immer Recht. Die anderen spielen ein Trinkspiel und Toru beteiligt sich, aber Yujiro murmelt etwas von Arbeit und Autofahren, um sich zu entschuldigen, und Mikoto hält sich aus Prinzip von Alkohol fern. Abseits des lauten Gelächters essen sie ihr Sushi und schweigen für eine Weile. Mikoto hält es nicht länger aus. „Wie ist es dir ergangen? Hast du einen Job als Model oder Schauspieler bekommen, wie du wolltest?“ Er erinnert sich an die hohen Ziele, die sich Yujiro gegen Ende des letzten Schuljahres gesteckt hat. Zu seiner Überraschung schnaubt dieser. „Ja, Schauspieler. In Werbespots.“ „Ist das schlechter als für Film oder Fernsehen?“ Mikoto hat das Gefühl, ihm entgeht etwas. Warum stochert sein Freund so lustlos im Reis herum? Langsam schüttelt Yujiro den Kopf. „Wahrscheinlich nicht. Wenn ich mein Bestes gebe, bekomme ich vielleicht bessere Angebote.“ „Ich bin sicher, du arbeitest hart.“ „Für dich ist es einfach, das zu sagen, oder?“, meint Yujiro plötzlich und fängt Mikotos Blick ein. Dieser fühlt sich wie festgenagelt unter dem intensiven Starren. Aber er nimmt sich zusammen. „Hör mal ... willst du nicht sagen, was dich bedrückt, anstatt um den heißen Brei herumzureden?“ So schnell sinkt Yujiros Blick wieder auf den Tisch. Die meisten Schälchen sind geplündert, halb leer und verlassen. Eine Welle Gelächter tönt vom anderen Tischende herüber und verklingt. Yujiro seufzt, fährt sich mit den Händen übers Gesicht, seufzt noch einmal. Mikoto verbirgt seine Bestürzung hinter einer ruhigen Fassade. Als der andere endlich spricht, muss er sich vorbeugen, um die leisen Worte zu verstehen. „Ich weiß einfach nicht, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Immer wollte ich für andere lächeln ... Mädchen kreischen bei meinem Anblick, aber ich habe das Gefühl, sie sehen nur mein hübsches Gesicht.“ Für einen Moment ist Mikoto sprachlos. Yujiro, der sarkastische, scharfzüngige Yujiro, gibt eine Schwäche zu? Kurz schielt er zu den anderen hinüber, aber Toru ist gerade dabei, einem sich wehrenden Klassenkameraden eine Schale Sake aufzudrängen. „Vielleicht brauchst du eine Freundin“, beginnt er zaghaft. „Megumi kennt viele Mädchen, die freundlich und zurückhaltend sind.“ „Du verstehst das nicht“, zischt Yujiro. Mikoto schnaubt. „Wenn du meinst! Ich wollte nur helfen.“ Wieder ernst, berührt er Yujiros Schulter. „Wenn du dich aussprechen willst, kannst du mich jederzeit anrufen.“ Sein Freund schafft ein blasses Lächeln. „Danke. Es freut mich zu sehen, dass du so verlässlich geworden bist.“ Darauf bläst Mikoto empört die Backen auf. „War ich das früher nicht? Also wirklich!“ Ein lautes Klatschen unterbricht das Gespräch und übertönt das Gelächter des Trinkspiels. Arisada thront über der Kopfseite des Tisches. Stille breitet sich im Raum aus. Toru gleitet an Mikotos Seite und murmelt: „Deshalb ist er gekommen.“ Sein Atem riecht nach Alkohol. Mit dem Grinsen, das sein Markenzeichen ist, breitet Arisada die Arme aus und beginnt: „Manche mögen sich fragen, was ich, euer Senpai, auf diesem Treffen zu suchen habe ... Aber der Grund liegt auf der Hand: Wie ihr alle wollte ich lediglich ein bisschen Spaß haben und alte Bekannte wiedersehen! Außerdem möchte ich einen Toast aussprechen.“ Von irgendwo fördert er ein Bierglas zutage. „Jetzt kommt’s“, murmelt Yujiro düster. Mikoto ahnt, was er meint, und auch Toru sieht er es an. „Auf die ehemaligen Prinzessinnen, die immer in unseren Herzen weiterleben werden!“ Jubel bricht aus. Alle wenden sich dem anderen Ende des Tisches zu und heben in freudiger Erwartung ihre Gläser. „Prinzessinnen!“ „Ein letzter Gruß!“ Wie in alten Zeiten verständigen sie sich mit einem einzigen Blick. Dann heben sie die Gläser, die andere ihnen in die Hände geben, und verkünden unisono: „Wir wünschen euch eine glückliche Zukunft und viel Erfolg auf eurem weiteren Weg!“ Der Geräuschpegel übersteigt alles Bisherige. * Yujiro schüttelt den Kopf in die kühle Morgenluft und fährt sich durchs frisch gefönte Haar. Das neue Shampoo gibt ihm genau den richtigen Honigglanz. Einen Moment lang starrt er in den hellblauen Himmel hinauf und fragt sich, warum er ausgerechnet Mikoto von seinen Sorgen erzählt hat, aber ein Blick auf die Uhr wirft ihn in die Realität zurück. Unten wartet bereits der silberne Mercedes, der ihn zum Drehort bringt. Später zieht er zwei Becher Cappuccino aus dem Automaten an der Ecke und kehrt zurück zu der Parkbank am Brunnen. Auf dem Weg bemerkt er den Blick eines Mädchens in Schuluniform, senkt den Kopf und beschleunigt seine Schritte. Zum Glück folgt sie ihm nicht. Toru nimmt den Becher dankend entgegen und lehnt sich zurück. Eine Hand gestikuliert in Richtung der Kameraleute und des Regisseurs, der sie in irgendwelche Details des Lichteinfalls einweiht. „So sieht also dein Arbeitsalltag aus?“ „Ja. Wie am Filmset, oder? Allerdings bekomme ich nur ein oder zwei Minuten, in denen ich Begeisterung für ein neues Aftershave vortäusche.“ Toru zuckt mit den Schultern. „Jeder fängt mal klein an. Wichtig ist, dass du nicht aufhörst, weiterzugehen.“ Typisch Toru. Er findet immer die richtigen Worte. „Da spricht der Literaturstudent, gut gemacht“, meint Yujiro, wohl wissend, dass der andere seinen Sarkasmus versteht. Da senkt dieser den Kopf und fixiert staubige Erde. „So gut wie es sich anhört, ist es gar nicht“, murmelt er. Yujiro horcht auf. Toru spricht nie von sich aus über seine Probleme, aber keiner weiß so gut wie er, dass es nicht hilft, alles in sich hineinzufressen. „Was ist los? Gefällt dir das Fach nicht?“ Der andere schüttelt den Kopf. „Es ist der Job. Ich halte es einfach nicht aus, stundenlang an einer verdammten Rezeption zu sitzen! Ich wollte was ganz Anderes machen. Aber ich brauche das Geld.“ Yujiro grinst. „Wenn du ein bisschen Zeit brauchst, um herauszufinden, was du willst, helfe ich dir gerne.“ Toru sieht auf und blinzelt. „Was meinst du?“ Yujiro breitet die Arme aus. Die schwarze Lederjacke hebt sich als hätte er Flügel und darunter kommt ein cremefarbenes Hemd zutage, sauber, gebügelt, Stoff von erster Güte. „Deine Geldprobleme.“ In diesem Moment erkennt er seinen Fehler. In Torus Augen erlischt etwas. Mit einer ruckartigen Bewegung steht er auf und verbeugt sich knapp. „Ich muss zur Arbeit, die Nachmittagsschicht. Tut mir leid, aber ich kann nicht länger bleiben.“ „Toru, warte!“ Yujiro springt auf und macht ein paar Schritte, aber der Rücken, der sich hastig entfernt, hält ihn davon ab, weiter zu folgen. Dieser Rücken hat etwas Kaltes, das ihm einen Schauer über die Haut jagt. Das Wetter im August ist doch nicht so warm, als man auf den ersten Blick glauben könnte ... Seufzend nähert sich Yujiro dem Set und überredet den Regisseur, die Pause früher zu beenden. Trotzdem bleibt ein bitterer Nachgeschmack zurück. Ist es nicht pure Ironie, dass er, der mit seiner Arbeit nicht glücklich ist, zum Workaholic wird, um anderen Problemen aus dem Weg zu gehen? Das Wiedersehen mit alten Freunden hat ihn zu sehr an früher erinnert. * Toru vergräbt das Gesicht in den Armen. Hat sein Freund das verdient? Nein. Auch an diesem Nachmittag ist das Foyer ruhig und leer. Toru träumt vor sich hin, spielt die Szene immer wieder in Gedanken durch und entwirft verschiedene Entschuldigungen, Dinge, die er hätte sagen sollen und noch sagen will. Wieder zuckt er zusammen als das Handy in seiner Tasche vibriert. Er wirft einen Blick auf das Display. „Akira.“ Er hat angerufen, um sich zu entschuldigen und nach dem Jahrgangstreffen zu fragen. Toru seufzt. War das wirklich erst letztes Wochenende? Er fühlt sich so alt und die Zeit vergeht so schnell ... Aber Akira wäre nicht Akira, wenn er nicht die düstere Stimmung seines Freundes bemerken und ihn darauf ansprechen würde. Nachdem Toru von dem kurzen Wortgefecht erzählt hat, schweigt er einen Moment. „Meinst du nicht, du hast überreagiert? Yujiro hat sich verändert. Vielleicht warst du so geschockt, weil du in ihm immer noch den Jungen aus der Schule gesehen hast.“ „Drei Jahre sind eine lange Zeit“, meint Toru, fühlt sich aber wie immer getröstet. „Danke. Ich glaube, ich weiß, was ich tun muss. Schließlich kann das niemand außer mir wieder hinbiegen ...“ Akira gibt ihm Recht. Kurze Zeit später legen sie auf. Die Uhr sagt, dass Yujiro bestimmt noch arbeitet. Deshalb tippt Toru eine Mail. Tut mir leid. Reden wir morgen bei einem Kaffee? Die Antwort kommt erst als er seine Studentenbude aufschließt und die Jacke an den Haken hängt. Er schluckt, liest sie aber trotzdem. Ok. Entschuldigung angenommen. Er atmet auf. Darauf folgt die Wegbeschreibung zu einem Starbucks, der nur ein paar Minuten von Torus Uni entfernt ist. Das entlockt ihm ein Grinsen. Da hat jemand seine Hausaufgaben gemacht. In den nächsten Tagen pfeift der Wind durch die Straßen und bringt graue Wolken mit sich. Bis zum Treffen ist das Pflaster nass und die Menschen laufen mit gesenkten Köpfen von Ort zu Ort anstatt in der Sonne zu schlendern. Kleidung klebt am Körper und süßliche Gerüche ersetzen den Blumenduft des Sommers. „Damit kündigt sich die Regenzeit an“, begrüßt Yujiro Toru während dieser den dunkelblauen Regenschirm mit Verlagslogo zusammenfaltet und sich auf den Stuhl fallen lässt. Zwischen feuchten Strähnen starrt er seinen alten Freund an. „Spar dir die Floskeln“, grummelt er eher gegen das Wetter als gegen Yujiro. Allerdings muss er zugeben, dass dieser trotz klebriger Feuchtigkeit verboten frisch aussieht. Selbst sein Schulterzucken strömt Eleganz aus. „Das ist eben meine Art, das Eis zu brechen.“ Toru lächelt. „Das hast du gar nicht nötig.“ Kurz werden sie von der Kellnerin unterbrochen, einem Mädchen mit schwarzen Zöpfen, dessen Blick an Yujiro klebt. Sie errötet beim Klang seiner Stimme und kritzelt Torus Bestellung auf ihren Block ohne ihn anzusehen. Über Kaffeetassen, aus denen köstliches Aroma aufsteigt, beginnt Yujiro die Inquisition. „Du hast dir diesen Job nicht so vorgestellt, oder?“, fragt er, auf den Regenschirm deutend. Toru schüttelt den Kopf. Wortlos. „Aber du kannst nicht für die nächsten zwei oder drei Jahre so weitermachen. Sogar ich sehe, dass du damit nicht glücklich bist! Such dir eine andere Arbeit!“ Toru rutscht auf seinem Stuhl herum. Sein Finger windet sich um den Kaffeelöffel, dreht ihn im Kreis. „Was ist, wenn ich nicht gleich etwas finde? Die Miete, die Lehrbücher ... Wo nehme ich Geld dafür her?“ „Prinzessinnenprivilegien bräuchte man“, scherzt Yujiro, aber Torus Ausdruck wischt ihm das Grinsen aus dem Gesicht. Er seufzt. Auf einmal springt sein Löffel Toru ins Gesicht. „Du vergisst, dass du kein ungeliebtes Kind mehr bist, Toru. Hatten wir nicht schon einmal ein ähnliches Gespräch? Du stehst jetzt auf eigenen Beinen, hast ein Studienfach, das dich begeistert, und weißt, was du willst.“ Er wartet. Widerwillig murmelt Toru ein „Ja“ und hebt die Tasse, um sich dahinter zu verstecken. Das weiß er alles – er wollte es nur nicht sehen. Aber Yujiros Blick nimmt diesen hypnotischen Zug an und bannt ihn an Ort und Stelle. „In Tokyo gibt es genug Verlagshäuser, auch kleine! Irgendeins will dich bestimmt. Ich weiß es. Und wenn nicht ...“ Toru sieht auf. Was lauert schon wieder im Hintergrund ...? „... frage ich ein bisschen herum. Genau für sowas sind Freunde mit Beziehungen da!“ Yujiro grinst. Dann hebt er seine Tasse, in der Cappuccino herumschwappt. Toru blinzelt und hebt die Hände. „Was soll das auf einmal? Bist du etwa rührselig geworden in all den Jahren?“ Sein Gegenüber zuckt mit den Schultern und verschüttet fast heiße Flüssigkeit. „Berufskrankheit.“ Letztendlich hebt Toru ebenfalls die Tasse und sie stoßen klinkend „auf gute Jobs und die Zukunft“ an. Während er trinkt, beobachtet Toru seinen Freund über den Tassenrand hinweg. Wie könnte er diesem Kobold jemals böse sein? Yujiro hat es schon einmal gesagt: Sie verstehen einander, kommen aus ähnlichen Verhältnissen, sind immer zusammen. Tage später sitzt Toru wie üblich an der Rezeption seines alten Verlags und durchforstet knisternd die Stellenangebote einer Tageszeitung. Jemand räuspert sich und Toru blickt auf. „Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“ „Na, was schon? Melde mich bei Herrn Kotobuki an!“ Die näselnde Stimme, die hellen Augen hinter Brillengläsern und das Gesicht mit den scharfgeschnittenen Zügen drängt sich erneut auf. In Toru kocht etwas über. Mit einem Ruck erhebt er sich, sodass der Autor einen Schritt zurückweichen muss. „Melden Sie sich doch selbst an, wenn es Ihnen so viel Spaß macht“, sagt er, nimmt die Zeitung und verlässt die Rezeption in Richtung Lift. Der Autor hastet hinter ihm her. „Was soll der Blödsinn? Was glaubst du, wer du bist! Ich werde mich sofort bei deinem Vorgesetzten beschweren!“ Ein leises Klingeln kündigt den Lift an, die Türen öffnen sich. Höflich lächelnd wendet Toru seine letzten Worte an den Mann. „Tut mir leid, aber ohne Besucherplakette haben Sie keinen Zutritt zu den höheren Stockwerken.“ Und er fährt hinauf zum Büro seines Vorgesetzten, um zu kündigen. Als Toru am Abend den Stoff der nächsten Vorlesung durcharbeitet, vibriert sein Handy mit einer Mail. Nehme mir eine Weile frei und mache Urlaub in Hawaii. Sage Bescheid, wenn ich zurück bin. Y. Toru grinst. Der hellhäutige, blonde Yujiro auf Hawaii zwischen Sandstrand und gebräunten Touristen? Flinke Finger tippen eine Antwort. Ab und zu die Schule zu schwänzen ist auch gut für die Gesundheit! ;) Vergiss nur nicht, dass hier jemand wartet, der dich braun und zufrieden wiedersehen will. T. Zwei Minuten später vibriert es erneut. Bin doch nicht Mikoto. Keine Sorge, ich mache meine Hausaufgaben. Danach bekommst du mich wieder, Toko-chan. Das Grinsen wird breiter. Natürlich schlägt Yujiro den Weg ein, der am besten für ihn ist. Diesmal musste Toru ihn nicht einmal schubsen. Schon als Prinzessin müssen die Schüler lächeln und winken, egal was geschieht, egal wer vor einem steht. Denjenigen, die das können, wird das Leben Freundlichkeit und Glück bescheren, solange sie selbst nicht verzagen. Vielleicht ist das die Macht des Prinzessinnenlächelns. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)