Absolution von Noctifer ([Kartentricks] V. Der Hohepriester) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- 1. "Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen." Nicht du schon wieder, dachte Pater Salem im Stillen und bekreuzigte sich aus reiner Gewohnheit. "Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir die wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit." Der hölzerne Beichtstuhl knarrte leise, als der Mann auf der anderen Seite sich bewegte. Salem stellte sich vor, wie er seine geschmeidigen italienischen Naturlederschuhe auf der Fußablage abstellte, einen kurzen Blick auf seine Rolex warf und sich danach über das teure Designerhemd strich. Du bist ein Arschloch, Joel Adams, ein hochmütiges, eitles Arschloch. Der modrige Geruch nach alten, abgestandenen Sünden bescherte Salem eine saftige Migräne, die bereits im Anfangsstadium seinen Kopf dröhnen ließ. Hier im Beichtstuhl, in diesen engen, dunklen vier Wänden, kam er sich vor wie eine Ratte im Schuhkarton. Die Schritte über den Kirchenboden hallten drei Mal so laut hier drin. Er erkannte an der Art, wie sie über den alten Boden schlurften, schritten oder trampelten, die Mitglieder seiner kleinen Kirchengemeinde. Seine Schäfchen. Bis auf wenige Ausnahmen waren seine Schäfchen schwarz wie das Innere eines alten Ofenrohres. "Es ist eine Woche her, seit ich meine letzte Beichte abgelegt habe." Ja, Salem erinnerte sich noch genau. Der nicht allzu reuige Sünder beehrte ihn fast wöchentlich und berichtete ihm detailliert von seiner Affäre mit Suzie March, der Innenarchitektin jenseits jeglichen Geschmacks, die er seinen Kunden als Aufwands- und Planungsstunden anrechnete. Jede zweite Woche schummelte er sich bei seinen Steuerzahlungen durch und gab das Geld lieber für einen neuen Sportwagen, einen größeren Fernseher, oder eine billiges Nümmerchen mit einer Nutte aus. Und alle drei bis vier Wochen lief ihm seine Ehefrau in die geballte Faust. Als man ihn nach Statham versetzt hatte, war er noch von göttlichem Eifer erfüllt gewesen und hatte versucht, seine Schäfchen mit seinem Hirtenstock in die richtige Richtung zu scheuchen. Heute prügelte er gedanklich mit dem selben Hirtenstock auf sie ein. "Ich habe Ehebruch begangen, Vater..." Sein Blick fiel auf die Spitze einer unauffälligen, braunen Papiertüte, die unter seinem Sitz heraus blitzte. Er sah auf die Uhr und beschloss, dass 10 Uhr morgens ein guter Zeitpunkt war, um mit dem Trinken anzufangen. "... mindestens acht Mal in dieser Woche." Salem verdrehte die Augen und nahm einen Schluck Single Malt. Der scharfe Alkohol brannte in seiner Kehle, aber nicht deshalb verzog er das Gesicht; Joel Adams ging ans Eingemachte und erzählte von Suzie auf dem Schreibtisch, Suzie unter der Dusche, Suzie auf der Kommode, Suzie auf der Couch, Suzie auf dem Stuhl, Suzie zwischen Tür und Angel. Aber zumindest trieb er es nicht mit ihr in seinem-- "...Ehebett. Ich weiß, dass es vielleicht nichts bedeutet, aber das Ehebett... Ich habe irgendwie ein schlechtes Gewissen." Glückwunsch, du Stück Scheiße. Nach zehn Jahren als Beichtvater Stathams konnte Pater Salem nichts mehr aus der Fassung bringen. Es gab nichts, absolut gar nichts, das die Bewohner von Statham im Sündenkatalog ausgelassen hatten. Ehebruch - ach! Statistisch gesehen dürfte es keinen treuen Ehemann und keine treue Ehefrau in Statham geben. Joel Adams war nur die Spitze des Eisberges, wenn man nur an den alten Sullivan dachte, der für mehr Scheidungen verantwortlich war, als die obligatorische Sekretärin eines jungen, potenten Managers. "... als Jennifer mir an dem Abend diese Vorwürfe gemacht hat, verstehen Sie, Pater, Vorwürfe! Den ganzen Abend über, oh Gott, ich konnte nicht anders..." Salem dachte an die arme Jennifer, deren Vater erst vor kurzem überraschend an einem Herzinfarkt gestorben war, während ihre Mutter zwar ihre Krebserkrankung besiegt hatte, aber nur langsam wieder zu Kräften kam. Damit nicht genug belastet, hatte sie auch noch vor Jahren ein Arschloch vor Gottes Angesicht geheiratet, das sie wiederholt betrog und schlug. Arme Jennifer, dachte Salem erneut. Statham war ein Pfuhl, einer wahrer Sumpf und niemand wusste das besser als Pater Salem. Schaudernd dachte er an den Mord an Lulu DeWitt und schielte wieder auf die braune Tüte. Lulu - die Spitze des Gewaltexzesses, der täglich in Statham ausgelebt wurde. Gewalt in allen Formen und Farben, von innerehelicher Gewalt, bis hin zu sadomasochistischen Sexspielen in einer kleinen Gruppe, die sich als 'Freunde schöner Worte' tarnte , und jeden Freitag Abend ihre Spielchen zelebrierte. Vergewaltigungen, wovon nicht wenige ihm gebeichtet worden waren. Nicht, weil die Täter bereuten, oder realisierten, was sie ihrer Frau angetan hatten, nein, die Tat wurde als reines Kavaliersdelikt innerhalb der Ehe angesehen. Wusste irgendwer, irgendwer dort draußen, wie viel Gewalt eine Ehe bedeutete? Ja, natürlich. Einige Frauen wussten es besser als er, besser als alle anderen. Während er sich anhörte, wie Joel Adams seine Frau quer durch die prachtvolle Villa geprügelt hatte, dachte er darüber nach, weshalb Jennifer Joel nicht einfach verließ. Vermutlich aus den selben Gründen, weshalb Salem sein Priesteramt noch nicht niedergelegt hatte: Gewohnheit. Angst. Von Zuneigung konnte man nicht mehr sprechen, von Liebe umso weniger. Jennifer und Joel spiegelten wieder, was auch ihm passiert war: Die Liebe zu Gott, die irgendwann in ihm gebrannt hatte, war erloschen und die Gewohnheit hatte Einzug in die heiligen Hallen gehalten. Nur, dass Gott ihn nicht schlug – er war ihm schlichtweg egal. Wahrscheinlich. Oder Nietzsche hatte doch recht gehabt. Während Adams dazu überging ihm zu schildern, wie er sein Geld bei einer möglichen Scheidung schützen wollte - indem er es auf einer karibischen Insel bunkerte - dachte Salem darüber nach, dass er vielleicht nie glaubensstark genug gewesen war, um Priester zu werden. Aber war das mittlerweile nicht egal? Er saß hier. Und er hatte einen Job zu erledigen, wie jeder andere auch. Nur, dass er keine Autos reparierte, sondern seelische Mülltonne für solche spielte, die glaubten ihre Mitmenschen mit Füßen treten zu können – Gott würde es schon richten. Oder auch nicht. Vermutlich war es ihm genauso egal wie Salem, weil er seiner Nichtexistenz in vollen Zügen frönte. "Vater? Vater!" Salem schreckte aus seinen Gedanken auf und hätte beinahe etwas von seinem Whiskey verschüttet. War es das für diese Woche? Verstohlen blickte er auf seine Uhr und stellte fest, dass Adams dieses Mal seine Sünden, Verfehlungen und fadenscheinigen Reuebekenntnisse in einer Rekordzeit von 15 Minuten heruntergeleiert hatte. Wie immer: Zehn Schläge ins Gesicht, fünf auf die Hoden und deine Frau ist von dir erlöst, du Arschloch. Er nannte Adam die gleiche Zahl Vater-Unser und Ave-Maria, wie seit einigen Jahren und schmeckte den sauren, bitteren Geschmack von Scheinheiligkeit auf seiner Zunge, als er ihm alle Sünden absprach. "Ego te absolvo a peccatis tuis in nomine patris et filii et spiritus sancti." Niemand war völlig frei von Schuld, auch er nicht - gerade er nicht - der sich im Beichtstuhl betrank, weil er die Scheiße, die anderen aus dem Mund quoll, nicht mehr ertragen konnte. "Danket dem Herrn, denn er ist gütig." Kleinere Sünden, wie der Connelly-Junge, der mit seinen neun unschuldig-naiven Jahren geglaubt hatte, dass er in die Hölle kam, weil er seine Lehrerin wegen der Hausaufgaben angeflunkert hatte. "Sein Erbarmen währt ewig." Normale Sünden, wie er sie nannte. Solche, die er vergeben konnte, ohne mit der Wimper zu zucken. Blynns Abstecher zu einer Londoner Nutte letztes Jahr, kurz vor seiner Scheidung, oder Martha Gangers Geständnis, vor 25 Jahren ihren Ehemann - Gott hab' ihn selig - mit einem Touristen im Vollsuff betrogen zu haben. Solche Ereignisse konnte er verkraften, sowas ging irgendwie in Ordnung. "Der Herr hat dir die Sünden vergeben. Geh hin in Frieden." Und dann gab es noch solche Sünden, von denen er nichts wissen wollte, solche, die die Leute bitte nicht beichten, sondern mit ins Grab nehmen sollten. Als er von dem inzestuösen Verhältnis der Rhys Zwillinge erfahren hatte, dachte er einige Sekunden, er würde den Verstand verlieren. Er wollte schreien, schreien, bevor er seine Faust durch das löchrige Gitter jagte, das Sünder und Beichtvater voneinander trennte, um Jules die Scheiße aus dem Kopf zu prügeln. "Ich danke dem Herrn für seine ewigwährende Gnade." An diesem Abend vor drei Jahren hatte er angefangen zu saufen. "Amen." 2. Zu seinen besseren Angewohnheiten gehörte ein allabendlicher Spaziergang, von dem ihn kein noch so widriges Wetter abhalten konnte. Dieser Abend war klar, für den späten Herbst fast zu mild und Pater Salem entschloss sich, auf seinen Regenschirm verzichten zu können. Es sah nicht nach Regen aus, eher nach einem sternenklaren Himmel, der eine angenehm frische Brise mit sich bringen würde. Über die Soutane zog er seinen leichten Mantel, der bereits vom vielen Waschen ausgebleicht und mehr grau als schwarz war. Vor der Türe lauschte er dem leisen, sonoren Plätschern, von dem das kleine Haus auf der städtischen Insel umgeben war. Der Little Six mit seinen vielen Seitenarmen umspielte zu jeder Tages und Nachtzeit sowohl das Häuschen, das seine Kirche dem jeweiligen Hirten zur Verfügung stellte, wie auch die altehrwürdige Kirche selbst und den sie umgebenden Friedhof. Hoch ragte der Glockenturm in den zunehmend dunkler werdenden Nachthimmel hinauf und als Salem die schmale Brücke zum neuen Teil des Friedhofes überquerte, begannen die Glocken zu läuten. Mit halb geschlossenen Lidern folgte er dem schmalen Weg zwischen den Gräbern hindurch und lauschte dabei den kräftigen Glockenschlägen, zufrieden mit dem was er hörte. Der Gong klang voll und hallte weit. Eins … Zwei … Früher hatte ein Küster dafür gesorgt, dass die Seile zur richtigen Zeit gleichmäßig gezogen wurden, was manchmal zu spät, zu früh oder gar nicht geschah. Heute erledigten das kleine Zahnräder, die sekundengenau arbeiteten. Der Küster aber hatte immer noch genug zu tun, weshalb es Salem nicht überraschte, als er McDowell im alten Teil des Friedhofs antraf, wo er mit sorgenvoller Miene auf einen alten, schiefen Grabstein starrte. Völlig in seinen Gedanken versunken bemerkte er nicht, wie Salem hinter ihn trat. „Das Grundwasser“, brummte Salem und schreckte damit den Küster auf, der merklich zusammenzuckte und sich zu ihm umdrehte. Bei McDowell konnte man von einem 'Inventar der Kirche' sprechen, da er schon vier Jahrzehnte bevor Salem die Gemeinde übernommen hatte, in ihren Diensten gestanden hatte. Ob er jemals einen anderen Job gehabt hatte als diesen bezweifelte Salem. Der Mann lächelte und entblößte dabei gelbe Zähne, die genauso schief standen wie die alten Grabsteine. „Ay.“ Der Küster war kein Mann vieler Worte und damit war für ihn alles gesagt. Er drehte sich wieder zu den Grabsteinen um und starrte weiter auf ein besonders schiefes Exemplar, als wollte er ihn allein durch sein Starren dazu bringen, sich wieder gerade hin zu stellen. Im Stillen wünschte Salem ihm viel Erfolg. Mit gemächlichen Schritten durchquerte Salem den Kirchenhof und betrat die Callahan Street, die in die Straker Road überging und deren Verlauf er folgte. Die kleinen Häuschen mit den akkuraten Gärten lagen verlassen, nur noch wenige Kinder fanden sich in den Gärten und auf der Straße zum Spielen ein. Bald würden die Straßen vereinsamt in der Abendsonne glänzen, die Kinder wären beim Essen in den Häusern und würden danach – ja, was? Was taten Familien eigentlich nach dem Abendessen? Während Salem darüber sinnierte, dass es bei ihm zu Hause meist Alkohol für seinen Vater und im Zuge dessen für ihn und seine Mutter nur Schläge zum Abendessen gegeben hatte, trat ihm ein Mann in den Weg, der ihn freundlich grüßte. „Guten Abend, Pater.“ Salem rang sich ein Lächeln ab. „Guten Abend, Max. Sie haben noch geöffnet?“ Der Mann machte eine einladende Handbewegung und deutete auf das kleine, staubige Schaufenster hinter sich. „Ich habe bei meinen Streifzügen einige wunderbar erhaltene, alte Bibeln gefunden.“ Tatsächlich lagen in der Auslage mehrere ledergebundene, mit Rissen überzogene Bibeln, von denen Max behauptete, dass keine jünger sei als 100 Jahre. Sein Beruf verlangte von Salem Interesse zu heucheln, aber bei der Menge heiliger Schriften, die er im Laufe seines Priesterlebens schon in der Hand gehabt hatte, waren diese eine wie die andere. Es gab tausende davon, auf Flohmärkten, im Internet, in Privathaushalten und sie alle waren nicht mehr wert, als die kitschige Deko, die die 'Stücke' ins rechte Licht rücken sollte. Und Max wusste das. Er wusste es verdammt genau und dennoch würde er eine horrende Summe für jedes Exemplar verlangen, wohl in dem Wissen, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht einmal die Hälfte des Preises wert war. „Schön, schön“, brummte Salem und nickte anerkennend. Er war ein Heuchler – und Max ein Wucherer. Auge um Auge. „Ich sehe sie mir die nächsten Tage an.“ Mit diesem Versprechen schien Max zufrieden zu sein und fuhr im Plauderton fort. „Haben Sie schon gehört, dass schon wieder ein Mädchen verschwunden ist?“ Innerlich stöhnte Salem auf. Schon wieder? Verdammter Bastard! „Vielleicht ist es nicht verschwunden“, hörte der Priester sich selbst mit hohler Stimme sagen, „vielleicht ist es nur abgehauen, bei einer Freundin. Sie wissen doch wie Kinder sind.“ Heuchler. Max lehnte sich gegen die Hausmauer und klemmte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Der Mittsechziger rauchte gelegentlich, wie er selbst zu sagen pflegte. Für Salem hieß gelegentlich, dass er immer, wenn er am kleinen Antiquitätenladen an der Straker-, Ecke Barlow Street vorbei kam, damit rechnen musste, Max über die Füße zu fallen, der bei Wind und Wetter Sargnägel zu fressen schien. „Ihren Optimismus in allen Ehren, Pater, aber gerade bei dem, was passiert ist, hätte sich spätestens nach den Aufrufen der Polizei jemand gemeldet.“ Für einen kurzen Moment flackerte das Licht und warf gespenstige Schatten auf die alten Bibeln im Schaufenster. Salem spürte, wie ihm die Kälte ins Genick kroch, obwohl es immer noch nicht merklich kälter geworden war. Das dritte Mädchen in einem knappen halben Jahr. Im Frühling war Helen Alden, die gerade eine Woche zuvor ihren neunten Geburtstag gefeiert hatte, verschwunden. Vier Wochen später fand Mary, eine nette ältere Dame, die sterblichen Überreste Helens im Redfox-Park. Würde er Gebete sprechen, die noch von Herzen kamen, hätten diese Helen, ihrer Familie und Mary gegolten, doch seine bloßen Lippenbekenntnisse, die die Macht der Gewohnheit jeden Abend herauf beschwor, wäre ein Vergehen vor dem Schmerz, den diese Menschen erlitten hatten. Arme Mary, dachte er, wie er noch kurz zuvor an ihre Tochter Jennifer gedacht hatte. Als Seelsorger Stathams war er von der Polizei benachrichtigt worden, auf dass er sich um die verängstigte Mary hatte kümmern sollen. Der Schock war ihr tief in den Knochen gesessen. Kein halbes Jahr zuvor hatte sie mit ansehen müssen, wie John, ihr Mann, an einem Herzinfarkt starb, nun hatte der Anblick der Leiche des Mädchens diese kaum verheilte Wunde wieder aufgerissen. Von Mary wusste er, dass das Mädchen nackt gewesen war, verdeckt von abgerissenen Zweigen, Moos und Laub, unter Schlamm und Dreck versteckt. Weggeworfen wie der Müll, der sich in ihren Haaren und um ihren Körper gesammelt hatte. Mit dem Gesicht nach unten hatte sie im Wasser gelegen, ein Arm hatte sich im Wurzelwerk eines alten Baumes verfangen und so verhindert, dass die Strömung den Körper des Mädchens in einen der vielen unterirdischen Kanäle des Little Six mitgerissen hatte. Wäre Columbo, Marys junger Beagle, nicht so furchtbar neugierig gewesen und den Abhang hinunter geschlittert, wäre Helen vielleicht erst im Frühjahr nach der Schneeschmelze gefunden worden. So hatte Mary den Körper des armen Mädchens gefunden. Sie hatte die Leiche nicht angefasst, natürlich nicht. „Ich wusste, dass ich nichts mehr für das arme Mädchen tun konnte“, hatte sie zu Salem gesagt und dabei auf ihre zitternden Hände gestarrt. „Sie war so...“ Ihr war anzusehen gewesen, dass sie kurz davor gestanden war, wieder in Tränen auszubrechen. „So, wie ein Ballon, verstehen Sie, Pater? So wie bei diesen Kriminalserien im Fernsehen, wie sie Wasserleichen zeigen, aber viel --- größer. Sie war aufgedunsen, als würde sie bald platzen.“ Pater Salem hatte nicht verstanden, er sah keine Kriminalserien und in Büchern übersprang er meist die ausschweifenden Beschreibungen, die Autoren bei ihrem blutigen Handwerk oftmals exzessiv betrieben. Pater Salem hatte Helen getauft und an ihm war es auch gewesen sie zu begraben. Janis Blick aus stumpfen, gebrochenen Augen, als sie zaghaft die kleine, symbolische Schaufel voll Erde zur Hand genommen hatte, dieser Blick hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt. Sie hatte aufgesehen, zu ihm, der auf der anderen Seite des Grabes gestanden hatte, und ihr Blick war flehend gewesen, als hätte er die Macht Helen wieder zurück zu holen. Nur drei Monate später hatte er erneut vor einem Grab gestanden, in das ein kleiner Sarg hinab in die kalte, feuchte Erde gelassen wurde. Die Leiche der siebenjährigen Lisbeth Brady war wenige Tage zuvor im Redfox Forrest gefunden worden, wieder von einem Spaziergänger und dieses Mal halb vergraben. Sheriff Stark war der Ansicht, dass Füchse Lisbeth auf der Suche nach Nahrung ausgegraben hatten. Dafür sprach auch, dass sie angenagt worden war. Es war kein schöner Anblick gewesen, der sich Tommy Cohan und Micaela Carver eröffnet hatte. Offiziell wollten die Beiden die schöne Nacht genießen, das zumindest hatten sie Pater Salem gesagt, der aber hatte ihnen an der Art, wie sie den Blick bei diesen Worten gesenkt hatten angesehen, dass es nicht die schöne Nacht gewesen war, die sie gelockt hatte, sondern die abgelegene Stelle. Die Nacht war warm gewesen, verlockend für ein junges Pärchen, die beide noch bei ihren Eltern wohnten. Doch anstatt ein kleines Nümmerchen auf der Parkbank zu schieben, waren sie auf den Weg dorthin über einen Kinderarm gestolpert, der wie ein verdorrter Ast aus der Erde geragt haben musste. Pater Salem war die Lust nicht fremd, doch in Anbetracht des Fundes war den Beiden sicherlich für lange Zeit die Laune auf ein Schäferstündchen im Wald vergangen. Auf der Beerdigungen sorgte Joe Brady, Lisbeths Vater, für einen Eklat. Immer noch, Monate später, machte Salem sich Vorwürfe, dass gerade er, als Seelsorger, hätte sehen müssen, dass Joe die Nachricht ihres Todes und die Tage im Anschluss bis zur Beerdigung zu gefasst genommen hatte. Salem hätte sehen müssen, wie der Wahn sich langsam in seinen Augen ausgebreitet hatte, doch er hatte es nicht gesehen, sondern den Mann im Stillen um seine Fassung bewundert. Als Lisbeths Körper der Erde hätte übergeben werden sollen, war er vorgestürmt und hatte sich schreiend auf den kleinen Sarg geworfen. Noch bevor irgendjemand hatte reagieren können, waren die Seile gerissen und der Sarg, samt Joe, in das offene Grab gestürzt. Durch den Aufprall war das Holz gesplittert und das nächste, das Salem gesehen hatte war Joe, der den toten Körper seiner Tochter in den Armen gehalten hatte. Weinend war er vor und zurück geschaukelt, hatte geschrieen, sinnlose Worte gestammelt und Gott genauso verflucht, wie Sheriff Stark und seine Männer, die ihre liebe Mühe gehabt hatten, den rasenden Mann aus dem Grab seiner Tochter zu holen. Es war die schrecklichste Beerdigung gewesen, die Salem je erlebt hatte. Joe saß noch immer im Kings Corner, das als Erholungszentrum deklarierte Sanatorium unweit von Statham, während Laurie, seine Frau, mehr und mehr verkam. Sie fand ihren Trost im Alkohol und Salem hatte nicht das Recht, ihr Vorwürfe deshalb zu machen. Wie sie fand er die Antworten auf existenzielle Fragen nicht mehr bei Gott, sondern am Boden leerer Whiskeyflaschen. Der Statham Telegraph hatte selbstverständlich ausschweifende, reißerische Artikel zu den beiden Mordfällen gebracht. Verdammte Aasgeier! Es reichte ihnen nicht darüber zu berichten, wie es eigentlich ihr verdammter Job war – nicht mehr und nicht weniger – sie mussten spekulieren und die Menschen von Statham in Angst und Schrecken versetzen. Was die Familien der Opfer zu den Artikeln sagten, ob diese nicht auf die Spekulationen um grausamste Foltermethoden hätten verzichten wollen – sie waren nicht gefragt worden. Sie wurden nie gefragt. Das einzig Positive, das man den Aasgeiern der Presse anrechnen konnte waren die Warnungen, die sie zuverlässig druckten: Kein Tag war vergangen, an dem nicht in jedem noch so kleinen Anzeiger Stathams davor gewarnt wurde, seine Kinder aus den Augen zu lassen. Auch hatte der Statham Telegraph zum ersten Mal das Wort in den Mund genommen, das der Sheriff so sehr fürchtete: Serientäter. Die Parallelen waren nicht von der Hand zu weisen: Helen und Lisbeth waren beide junge Mädchen, noch Kinder, weit vom Teenageralter entfernt. Helen verschwand auf dem Weg zur Schule, obwohl diese keine fünf Minuten vom Elternhaus entfernt war. Sie musste ihren späteren Mörder auf der Deepneau Avenue, spätestens aber in der Markson Passage getroffen haben, an der sich auch die Schule befand. Lisbeth war an einem sonnigen Nachmittag aus dem Vorgarten verschwunden, unter anderem ein Grund, weshalb Joe dem Wahnsinn verfallen war: Während er in seiner Garage an seiner Harley geschraubt hatte, war seine Tochter keine zehn Meter weiter verschleppt worden und er hatte es erst zwei Stunden später bemerkt. Beide waren nach Aussage der Zeitungsartikel stranguliert worden. Und beiden Kindern hatte man nicht nur das Leben, sondern auch die Unschuld genommen. Der Sheriff hielt sich bedeckt was die genauen Obduktionsergebnisse betraf, doch er hatte bestätigt, dass die Körper eindeutige Merkmale einer Vergewaltigung aufgewiesen hatten. Von Mary wusste Salem, dass Helen furchtbar entstellt gewesen sein musste, denn sie hatte gesehen, wie der Sheriff den kleinen Körper aus dem Wasser gezogen hatte. „Grauenvoll“, hatte sie gestammelt, „der Arm hing ganz komisch weg, auch das Bein und sie hatte überall Schnitte, Pater, im Gesicht, auf der Brust und auch...“, Mary hatte die Lippen zusammen gekniffen und die Augen gesenkt. Pater Salem hatte verstanden und nicht weiter nachgefragt. Welcher Familie war dieses Mal ihr Kind entrissen worden? Ihm graute davor Max zu fragen, der nachdenklich auf dem Filter seiner Zigarette herum kaute. „Der Sheriff ist auf zweihundert“, sagte Max und spuckte den Filter auf die Straße. Salem folgte der Flugbahn mit dem Blick und sah dort, wo der Stummel landete, einen schieres Massengrab von Kippen liegen. Max rauchte tatsächlich bei jeder Gelegenheit. Seine Lunge musste mittlerweile ebenso gelblich-schwarz und faulig wie seine Zähne sein. „Wenn Sie auf dem Weg zum Park sind – vergessen Sie's. Starks Männer stehen an jeder Ecke, durchsuchen den Park, die Wälder, einige hat er sogar in die Kanalisation runter geschickt. Vor 'ner knappen halben Stunde war so ein junger Hüpfer in Uniform bei mir und hat mir ein Foto von Audrey Boone unter die Nase gehalten.“ „Boone?“, fragte Salem und spürte, wie sein Hals sich plötzlich anfühlte, als wäre er mit Sand gefüllt. „Audrey Boone? Die Kleine aus der Wilbert Passage?“ Max nickte und steckte sich den nächsten Sargnagel zwischen die Lippen. „Die Tochter von Rosalie und Ted. Kam nicht aus der Schule zurück.“ Plötzlich fühlte Salem sich unsäglich müde. Rosalie kannte er, selbstverständlich, jeder in Statham kannte sie. Ihr und Ted gehörte die Bäckerei am Rover Place in der oberen Stadt. In der kleinen Bäckerstube fabrizierten die Beiden derart leckeres Gebäck, dass die kleine Manufaktur weit über die Grenzen Stathams bekannt war. Salem selbst gestattete sich wann immer er an der Bäckerei vorbei kam einen von Rosalies herzhaften Muffins. Und Audrey, natürlich, der gesamte Rover Place war von bunten Kästchen überzogen, die Audrey immer wieder nach und neu zeichnete, über die sie hüpfte und sich nicht selten die Knie dabei aufschlug. Vor seinem geistigen Auge manifestierte sich ein Bild von ihrem aufgedunsenen, geschundenen Körper. Erst als er seine Augen so fest zusammen kniff, dass weiße Punkte auf dem Inneren seiner Lider tanzten, verflüchtigte sich die grausame Vision. Er spürte, wie ein scharfer Schmerz in seine Schläfen fuhr. Die Anzeichen einer ausgewachsenen Migräne, schon wieder. Du mieser Bastard, wenn ich dich erwische, bring ich dich um! Salem war kein Pazifist, obwohl seine Stellung als Priester von ihm verlangte, dass er Frieden predigte. Tat er auch. Aber er predigte auch den wahrhaften, tiefen Glauben an Gott und daran mangelte es ihm genauso, wie an christlicher Geduld mit solchen Bastarden. Solche, die junge Mädchen entführten, missbrauchten und anschließend umbrachten. Ein Unbekannter, der laut Veröffentlichung der Polizei ausschließlich in Statham agierte und sich hier seine Opfer suchte. Wie die Polizei schweigend ihre Rückschlüsse zog, so auch Salem: Der Unbekannte agierte hier nicht nur, der Pater war davon überzeugt, dass er hier auch lebte. Es war einer der ihren, unerkannt und unbehelligt, ein Mitglied seiner Gemeinde. Das schwärzeste Schaf seiner Herde. Mit einem fahrigen Händedruck verabschiedete sich Salem von Max, nicht ohne die heuchlerische Versicherung, dass er die nächsten Tage bei ihm vorbei schauen und sich die Ausgaben der Heiligen Schrift genauer ansehen würde. Würde er selbstverständlich nicht. Mit finsterer Miene kreuzte er die Hastings Street und fand sich eine halbe Stunde später vor dem Redfox Park – ohne bemerkt zu haben, dass er bereits die halbe Stadt durchquert hatte. Zu sehr war er in Gedanken versunken gewesen, hatte an die Beerdigung der kleinen Helen gedacht, an Janis flehenden Blick, an Mary, ihr zerfurchtes Gesicht und die zittrigen Hände. An Joe, wie er voller Zorn und Hass Gott verflucht hatte, dort unten in dem Grab, mit dem leblosen Körper seiner Tochter in den Armen. Schlussendlich dachte er an Rosalie und ihr Bild stand ihm so klar vor Augen, dass er einige Male verdutzt blinzelte, als sie ihn ansprach. „Guten Abend, Pater“, sagte Rosalie leise. Sie sah müde aus, tiefe Sorgenfalten hatten sich um ihre Augen und die Mundwinkel eingegraben. Ihr Gesicht wirkte eingefallen und ihr Stand unsicher. Die Sorge um ihre Tochter hatte die sonst so lebensfrohe Frau innerhalb weniger Stunden um Jahre altern lassen. Um ihre schmalen Schultern war eine braune Decke geschlungen, sie zitterte, wohl weniger wegen der Temperaturen, sie war schlichtweg übermüdet und mit den Nerven am Ende. Ohne ein Wort zu sagen legte Salem ihr die Hand auf die Schulter. Auch seine Hand zitterte, mehr aber, weil er sich nach etwas zu Trinken sehnte. Ein Glas Scotch würde sicherlich seine Nerven beruhigen, dachte er, während Rosalie Tränen über die Wange rannen und er sie an sich drückte. Sie zitterte am ganzen Leib und er spürte, wie sie sich in seinen Armen ganz ihrer Trauer hingab und zu schluchzen begann. In solchen Fällen glaubten Eltern fest daran, dass ihr Kind noch lebte, schien die Situation noch so klar, Rosalie jedoch ließ in diesem Moment zu, an das zu denken, was jede Mutter mehr fürchtete als ihren eigenen Tod: Ihr Kind begraben zu müssen. Salem sah auf, in einigen Metern Abstand zu Rosalie stand Sheriff Stark, der die Szenerie mit unergründlichem Blick beobachtete. Stark und Salem waren sich ähnlich und doch so verschieden: Beides Zyniker, beide vom Leben enttäuscht und doch beäugten sie sich kritisch, wie Hunde, die nicht wussten, ob sie den anderen sofort angreifen, oder erst an seinem Hintern schnüffeln sollten. Manchmal wäre alles einfacher, müsste man nur am Hintern des Gegenübers schnüffeln, um sich ein genaueres Bild von ihm zu machen. Das Kennenlernen, Reden, Heucheln und der verdammte Smalltalk würde wegfallen – die Fronten wären einfach geklärt. Salem beneidete Hunde, auch wenn ihn nicht einmal Gott persönlich dazu bringen könnte an Starks Hintern zu schnuppern. „Sheriff.“ „Pater.“ Salem tätschelte Rosalies Rücken, die noch immer weinend in seinen Armen hing und ihre Hände in seine Soutane krallte, als wäre es der letzte Halt in ihrem Leben. „Wollen Sie sich an der Suche beteiligen, Pater?“ Stark war ebenso klar wie Salem, dass dies nicht der Fall sein würde. Der Blick des Sheriffs blieb an der Hand hängen, die auf Rosalies Rücken verharrte. Sie zitterte und als Stark aufsah wusste Salem, dass der Sheriff nicht erst seit heute über seinen Alkoholkonsum Bescheid wusste. Dabei war er immer vorsichtig gewesen und hatte seine Vorrat stets ausserhalb von Statham aufgefrischt. Sah er schon derart versoffen aus? Die Scham, die Pater Salem verspürte, war ihm nicht unbekannt und dennoch hielt er dem Blick des Sheriffs stand, als wäre er ein trotziges Kind, das bei etwas Verbotenem erwischt worden war. Du hast auch deine Leichen im Keller, Freundchen. „Kann ich Ihnen denn irgendwie helfen?“, fragte Salem und kramte aus seinem Mantel eine Packung Taschentücher hervor, die er Rosalie reichte. Sie bedankte sich leise und schnäuzte dafür umso lauter, was die Stille, die sich zwischen Stark und Salem entwickelt hatte, nicht brechen konnte. „Nein“, sagte Stark schließlich. „Vielleicht … später.“ Die unausgesprochene Botschaft war klar: Bleib nüchtern. Vielleicht finden wir Audrey und vielleicht wird Rosalie jemanden brauchen, der ihr Taschentücher reicht. Die anderen Kinder waren immer erst nach einigen Wochen gefunden worden und Salem glaubte nicht, dass Audrey bereits tot war – allein der Umstand, dass erst wenige Tage bevor Helen gefunden worden war, er auf einem seiner abendlichen Spaziergänge ein paar Arbeiter dabei beobachtet hatte, wie sie nahe des späteren Fundorts einen der Kanäle gereinigt hatten. Salem war sich sicher, dass sie Helen gefunden hätten, wäre sie schon dort gewesen. Wahrscheinlich hielt der miese Bastard die Kinder noch einige Zeit am Leben, um sie... Der Priester wollte nicht weiter darüber nachdenken und sah auf. Stark war nur noch schemenhaft in den länger werdenden Schatten der Bäume zu erkennen. Der Himmel färbte sich langsam blutrot und Salem hoffte, allem woran er nicht glaubte zum Trotz, dass dies kein schlechtes Omen war. Einige Stunden später, der Mond stand bereits hoch am Himmel und es war doch ein wenig kälter geworden, kam er nach Hause. In seinem kleinen, von der Kirche gestellten Häuschen war es stockdunkel. Pater Salem war eigentlich kein Schisser, keine dieser Nasshosen, die sich ständig gruselten und von denen er einige Exemplare als Schäfchen in der Gemeinde hatte. Wie die etwas zu spirituell angehauchte Misses Patterson, die sich sicher war, dass ihre verstorbene Tante Beth ihr aus dem Jenseits Zeichen gab, oder Mister Paskin, der glaubte, dass der Vorbesitzer seines Hauses noch in betreffendem spukte. Nein, eigentlich war Salem kein Schisser, also ganz eigentlich. Aber das Haus war alt, die Dielen knarrten, es roch ein wenig modrig – und manchmal, in der Sekunde, in der er das dunkle Haus betrat und nach dem Lichtschalter tastete, diesen Bruchteil eines Wimpernschlages, wenn die Fingerspitzen über den rauen, kalten Beton fuhren, in dem er nichts vor Augen hatte als die undurchdringliche Dunkelheit, das leise Lied des Windes in melancholischem Liebesduett mit dem alten Haus im Ohr – er atmete jedes Mal erleichtert auf, wenn das Licht den Raum erhellte. Aber eigentlich war er kein Schisser. Linkerhand befand sich ein kleiner Beistelltisch, der bestimmt schon drei bis vier Seelsorger hatte kommen und sterben sehen, aber er stand tapfer auf wackeligen Beinen, wovon eines ein recht neues Kantholz war, das Salem höchstpersönlich dranmontiert hatte. Eines Nachts war er mit einem Saurausch vor dem Herrn auf den unschuldigen Beistelltisch gefallen, bei dem Versuch noch rechtzeitig die gesegnete Keramikschüssel zu erreichen, bevor ihm die Reste von Fish & Chips & Whiskey aus dem Gesicht fielen. Er hatte es nicht geschafft, sondern sich über seinen Jogginganzug übergeben, ebenso auf den Boden und den Beistelltisch. So war er auch am nächsten Morgen aufgewacht, mit dem ätzenden Geruch seines eigenen Erbrochenen in der Nase, dem Geschmack von Scheiße im Mund und dem Gefühl, als wäre er vom Kirchturm gefallen. Den ganzen Tag hatte er es nicht über sich gebracht, die Sauerei aufzuwischen, aber zumindest war er vor dem Gottesdienst duschen gegangen. Erst am nächsten Tag war er mit Mob und Putzeimer bewaffnet dem Zeugnis seines Verfalls zu Leibe gerückt. Den Beistelltisch hatte er eine Woche später repariert, er sollte ihn daran erinnern nicht wieder so viel zu saufen. Alles hatte seine Grenzen und auch als Alkoholiker, der er nunmal war – und sich dessen bewusst – einen solchen Absturz wollte er nicht noch einmal mitmachen. Trinken, ja – saufen, nein. Er wollte nicht wieder mit solchen Kopf- und Rückenschmerzen erwachen, mit diesem Geruch in der Nase und dem Geschmack im Mund - und ganz bestimmt wollte er sich nicht wieder panierten Whiskey mit Pommesstücken vom Unterarm kratzen müssen. Die Schlüssel ließ er auf besagten Beistelltisch fallen, wo bereits sein Mobiltelefon ein einsames Dasein fristete. Er legte den Kopf in den Nacken und roch den Moder, der ihm ein bisschen das Gefühl von zu Hause gab. Jäh zuckte er zusammen und riss den Kopf herum. Es war Mitten in der Nacht – und das Telefon läutete? Nicht gut. Gar nicht gut. Verdammte Scheiße, das war katastrophal. Er war Priester, wenn bei ihm jemand mitten in der Nacht anrief, dann ging es nie um Leben und Tod, sondern ausschließlich um Tod. Entweder, weil jemand gestorben war, oder weil jemand im Sterben lag. Und der erste Gedanke, der ihm kam, war der an Audrey. „Hier Pater Salem.“ Die Sekunden zogen sich, in denen er eine Antwort erwartete. Sheriff Stark? Vielleicht Rosalie selbst? „Pater?“ Eine Stimme, die er kannte, wenn er auch nicht wusste woher. Nicht Stark. Nicht Rosalie. Das war gut. „Pater, hier ist Anne Jameson“, ihre Stimme brach. „Unser Großvater. Wir glauben er liegt im Sterben...“ „Verstehe.“ Salem versuchte nicht erleichtert, sondern mitfühlend zu klingen, was ihm auch ganz gut gelang, wie er fand. „Ich bin gleich da.“ 3. Die Sonne war noch nicht am Horizont zu erahnen, aber in spätestens zwei Stunden würden die ersten Strahlen am Firmament tanzen. Vielleicht würde er sich das Schauspiel ansehen, dachte Salem, und sich dazu einen Whiskey genehmigen. Den ersten seit dem Schluck im Beichtstuhl. Die letzten Stunden hatte er damit zugebracht, dem alten Jameson die Hand zu halten, ihm die Sterbesakramente zu geben und anschließend die Familie im Rahmen des Nötigen zu trösten. Der alte Jameson hatte die neunzig schon weit hinter sich gelassen und nach dem letzten Schlaganfall war es absehbar gewesen, dass er beim jährlichen Apfelfest nicht mehr mit jungen Dingern um die achtzig das Tanzbein schwingen würde. Anne sollte recht behalten; kurz nachdem der alte Jameson die Sterbesakramente empfangen hatte, entschlief er friedlich in die Ewigkeit. Oder ihm war das Treiben schlichtweg zu bunt gewesen, was Salem ihm nicht hätte verübeln können. Seine fünf Söhne, drei Töchter und weitere dreizehn Enkel und vier Ur-Enkel, wie seine einzig verbliebene Schwester, einige entfernte Verwandte, Freunde und Nachbarn belagerten sein Haus. Alles in allem fast vierzig Personen, von denen sich einige vor die Tür zum Rauchen verdrückt hatten, während die Küche wegen Überfüllung geschlossen zu haben schien. Es war eine traurige Zusammenkunft, aber niemand wurde theatralisch. Viele weinten still, doch bei einigen konnte Salem sich den Eindrucks nicht erwehren, dass manche der Anwesenden schon mit gierigen Blicken ihr Erbe versuchten auszumachen. Diese Art von Leichenfledderern war ihm leider allzu vertraut. Nachdem seine Anwesenheit nicht mehr zwingend erforderlich war und sich die Verwandten des alten Jameson einer nach dem anderen verabschiedeten, beschloss er ebenfalls seine Hämorrhoidenschaukel zu satteln. Er war müde, außerdem lag er auf dem Trockenen und außerdem hatte er Hunger – genug Gründe also sich zu verabschieden. Der alte Lancia Delta sah aus, als würde er nach dem nächsten Regenbruch von der Straße gekehrt werden müssen. Selbst Salem war sich nicht mehr sicher, ob der Wagen jemals eine andere Farbe als rostbraun gehabt hatte, aber er vermutete, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach rot gewesen war. Oder auch nicht. Mit Wahrscheinlichkeiten war das so eine Sache. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass jemand in den späten Nachtstunden, oder den frühen Morgenstunden – wie man es sah – nicht den direkten Weg von der Ödnis nach Statham nahm, sondern den Umweg über den ol'Rock? Nicht sehr hoch, wahrscheinlich gegen null, wenn man bedachte, dass der Weg über ol'Rock nur von Einheimischen genommen wurde, die zu den alten Baracken wollten, die mehr Bauschutt waren als Gebäude, einige Kilometer von Statham in noch einsamerer Ödnis. Die Wahrscheinlichkeit war gering. Und doch, es war weniger eine Eingebung, als vielmehr seine Hand, die einfach den Blinker aktivierte und sein Kopf, der dem folgte. Warum er überhaupt den Blinker betätigte, obwohl nirgends ein Auto zu sehen war, dem er hätte anzeigen müssen wohin er wollte, das wusste Salem selbst nicht. Eigentlich wusste er noch nicht einmal wohin er wollte – und weshalb war er über Ol'Rock gefahren, anstatt direkt? Die eigentliche Frage aber, die existenzielle Frage war, ob es Gott vielleicht doch gab. Aber diese Frage würde sich Pater Salem erst in einer halben Stunde stellen. Möglicherweise erst in einer Stunde, oder am nächsten Tag, aber irgendwann bestimmt. In dem Moment, als er vor einem in einen Baum verkeilten Auto am Straßenrand anhielt und zögerte auszusteigen, in diesem Moment dachte er an sein Haus in Statham. Das gleiche Gefühl, das er hatte sobald er das Haus in der Dunkelheit betrat, überkam ihn hier in der Ödnis. Irgendwo im Nirgendwo und die Sonne war auch noch nicht in Sicht, nur der Mond, der kalt und gleichgültig die Landschaft mit fahlem Licht erhellte. Andere sprangen in einem solchen Moment aus dem Auto, nicht aber Salem, der nur zögerlich nach dem Türgriff fasste und die Augen zusammen kniff, als das Innenlicht ihn plötzlich blendete. Es war ein blauer Ford Escort, der einsam in der Ödnis stand, wie für einen innigen Kuss um eine alte Eiche geschlungen. Der Baum stand, wie er schon immer dagestanden war – vielleicht hatte er ein bisschen Laub eingebüßt, aber die Ignoranz, mit der dieser Baum das ihm zu Wurzeln liegende Auto strafte, war bewundernswert. Das Fahrzeug war bis auf die Hälfte seiner Wagenlänge zusammen geschoben, doch die Rücklichter brannten noch – ebenso ein Scheinwerfer, der mehr ein Grablicht war, als dass er wirklich Licht spendete. Salem ging um das Auto herum, sah ins Innere und runzelte die Stirn. Kein Fahrer, dafür aber ein Loch in der Frontscheibe, dessen gezackte Kanten im Licht des Lancia-Scheinwerfers dunkelrot glitzerten. Einen surrealen Moment lang wollte Salem die Kante berühren, zog dann aber die Hand zurück. Wo war der Fahrer? Irgendwo in der Nähe das dumpfe Winseln eines Tieres, vielleicht der Unfallverursacher, aber etwas, worum sich der Jäger kümmern sollte und nicht er. Er drehte den Kopf, ließ seinen Blick in gerader Linie dem Licht des Escort folgen und sah etwas auf dem Boden liegen. Etwas buntes. Ein Haufen knallbunter Farben. Salems Augen weiteten sich für einen kurzen Moment. „Jeffrey?“ Er lief auf den bunten Haufen zu und erkannte was passiert war: Der Mann war nicht angeschnallt gewesen und aus dem Auto heraus geschleudert worden. Schon von Weitem hatte er ihn erkannt: Es war Jeffrey, Stathams immer knallbunter Clown. Mit einiger Mühe drehte er den Mann um, denn Jeffrey war keiner dieser langen-Bohnenstangen-Clowns, sondern vom Format, als hätte ein ganzes Bündel dieser Clowns zum Frühstück verputzt. Sein Gesicht war weiß geschminkt, um so krasser war der Kontrast zu dem Blut, das auch Salem über die Hand lief, als dieser Jeffreys Kopf sachte anhob. Durfte man verletzte bewegen?, schoss es Salem durch den Kopf. Hatte er nicht irgendwann gehört, dass man keinesfalls ein Unfallopfer bewegen darf? Er war sich nicht sicher und erstarrte mitten in der Bewegung. Jeffreys rote, mähnenartige Perücke lag auf dem Boden, leuchtete grell im Scheinwerferlicht. Der weiße Kragen hatte sich mit seinem Blut vollgesogen, ebenso das blaue Hemd und von den drei Bommeln an der zeltartigen gelben Latzhose war nur noch eine vorhanden. Alles in allem sah Jeffrey schlecht aus, verdammt schlecht. Um das zu erkennen brauchte man kein Arzt zu sein. Leise stöhnte Jeffrey, seine Lider flatterten und er griff nach Salems Arm. Für einen Schwerverletzten war der Griff erstaunlich fest. „Jeffrey“, sagte Salem und hörte, wie seine eigene Stimme zitterte. „Jeffrey, hören Sie? Ich muss einen Arzt holen. Haben Sie ein Handy im Auto?“ Salems Handy lag, wie immer, zu Hause. Auf dem Beistelltischchen. Seit er es angekotzt hatte, stank es erbärmlich, aber er wusste nicht wie er den Geruch aus dem Gerät heraus bringen sollte. Zwar war er nicht sonderlich technisch versiert, aber in die Spülmaschine stecken war vermutlich keine Option. Der Clown stöhnte etwas, das sich nach 'Nein' anhörte, und bekam einen Hustenanfall. Es sah gottverdammt schlecht für Jeffrey aus. Was sollte er tun? Das nächste Haus war das der Jamesons, aber selbst das war einige Kilometer entfernt. Würde er fahren, wären das sicherlich zehn, wenn nicht gar fünfzehn Minuten über die Schotterpiste. Fünf Minuten telefonieren, zurück fahren – hatte der Mann noch eine halbe Stunde? Salem glaubte es nicht. Ihm trat Blut aus dem Mundwinkel und er hustete rosa Bläschen, die ein bisschen nach der Brause aussah, die er immer an Kinder verteilte. Grundgütiger, dachte Salem, der Mann stirbt. Plötzlich riss Jeffrey die Augen auf und Salem widerstand nur schwerlich dem Impuls zurück zu zucken. War das Schmerz oder Wahn, das er in seinen Augen sah? Vielleicht beides? Er keuchte etwas, so leise, dass Salem nicht zu ihm bücken musste, aber selbst dann verstand er nur ein abgewürgtes Kauderwelsch. Erst beim dritten Mal konnte er die Worte deuten und runzelte die Stirn. „Absu---suu--lu--tio-n.“ So schlimm, also? Verdammt. Der Mann wusste, dass er starb. Die rosa Bläschen auf seinen Lippen ließen keinen anderen Schluss zu. Unruhig rutsche Salem auf den Knien hin und her, ignorierte den Schmerz, als kleine spitze Kieselsteine den Stoff seiner Hose durchbohrten und seine Haut aufschürften. "Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen." Salem bekreuzigte sich und als er sah, wie Jeffrey kraftlos einen Arm hob, zweifellos um sich ebenfalls zu bekreuzigen, half er ihm dabei, indem er die weiß behandschuhte Hand nahm und mit der seinen leitete. "Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir die wahre Erkenntnis deiner Sünden und Seiner Barmherzigkeit." „Was --- sagen?“ Mist, dachte Salem, auch das noch. War Jeffrey überhaupt getauft? Er konnte sich nicht erinnern ihn je beim Gottesdienst gesehen zu haben. „Wann war deine letzte Beichte?“ Verwirrt blinzelte Jeffrey. Also nie. „Schon gut“, sagte Salem und versuchte möglichst ruhig zu klingen. „Erzähl mir einfach was du zu sagen hast.“ „Die --- die ---“, der Mann röchelte, „Kinder. Ich --- war.“ Irritiert blinzelte Salem. Kinder? Was war er? „Kinder! Hell-lle --- Lis---Lis. Ich---tttottt ge'acht.“ „Helen und Lisbeth?“ Salem hörte seine eigene Stimme unnatürlich hoch klingen und noch bevor in seinem Verstand der leise Verdacht keimte, hatte er bereits die Hände von dem Schwerverletzten genommen. „Helen und Lisbeth. Was ist mit ihnen?“ Träge blinzelte Jeffrey. Seine Lippen zierte ein schmerzverzerrtes Lächeln. Schmerzverzerrt, aber unverkennbar. Noch nie hatte Salem etwas als wirklich böse bezeichnet; seine Statham-Schäfchen waren zum Teil verirrt, zum Teil fehlgeleitet, zum Großteil aber haftete ihnen die menschliche Fehlbarkeit an. Aber dieses Lächeln hatte nichts menschliches mehr an sich. Es war einfach nur böse. „Du hast sie ermordet?“ „J-aah!“, krächtze er und es klang in Salems Ohren, als würde er schallend lachen. Seine Gedanken rasten. Du Bastard, wollte er ihn anschreien, du verfluchter, mieser Bastard hast das den Kindern angetan? Fahr' zur Hölle! FAHR ZUR HÖLLE! Doch er schwieg. Vor einigen Stunden hatte er sich noch selbst großmäulig anvertraut, dass er diesen perversen Bastard eigenhändig umbringen würde, würde er ihn erwischen. Und nun saß er da, vor dem kranken Perversen, diesem Bastard von Kinderschänder - und starrte ihn wie versteinert an. Jeffrey. Ein verdammter Clown, der Kinder nicht zum Lachen brachte. Der Mann röchelte, ihm waren die Schmerzen anzusehen und das Rasseln, das mit seinem Atem einherging, wurde merklich lauter. „Absu—suuu-lu!“, er hustete, sah aus als würde er ersticken. Wie in Trance hob Salem den Kopf des Mannes, um ihm Linderung zu verschaffen. Jeffrey sabberte, eine Mischung aus Blut und Speichel rann aus seinem Mundwinkel. „Du verlangst von mir die Absolution?“ Erneut ein Krächzen, unverkennbar zustimmend. Absolution. Salem wusste, dass er dazu befugt war. In einem Fall wie diesem, kurz vor dem Tod des Sünders, hätte er Jeffrey auch ohne Beichte seiner Sünden eine Generalabsolution erteilen können. Hätte. In der Theorie. In der Praxis hatte Salem gehofft, dass Jeffrey sich nur ein, zwei kleine, oder ein paar normale Sünden von der Seele hatte reden wollen. Womit er nicht gerechnet hatte war, dass der Mann von ihm verlangen könnte ihm zu vergeben – Vergewaltigung. Vergeben – Mord. Vergeben – den Mord und die Vergewaltigung zweier junger Mädchen. Zweier Kinder. „Nein“, flüsterte er zuJeffrey hinab. „Nein, Jeffrey.“ Er schluckte. „Du sagst mir zuerst wo Audrey ist. Du hast sie doch, nicht wahr?“ Natürlich hatte er sie. Und sie lebte. Sie musste am Leben sein. Er hatte nur von Helen und Lisbeth gesprochen, nicht aber von Audrey. Der Mann gurgelte etwas unverständliches, der rosa Schaum vor seinem Mund wabte. Damit hast du nicht gerechnet, was? Bastard! Die Angst stand ihm genauso in die Augen geschrieben wie der Zorn, sein Hass auf Salem – vielleicht auf die ganze Welt. Aber in erster Linie hatte er Angst. Bei den letzten Atemzügen waren schon viele Atheisten zu inbrünstig betenden Katholiken geworden. Oder zu Buddhisten. Vermutlich hätte Jeffrey auch auf den Koran geschworen, wäre statt Pater Salem ein Imam zufällig des Weges gekommen. Der Priester sah, wie es in ihm arbeitete, wie er abwog und schlussendlich – den Kopf schüttelte. „Deine Entscheidung, Jeffrey“, sagte Salem und hatte Mühe seine Stimme unter Kontrolle zu halten. „Ich kann dir keine Absolution erteilen, solange du nicht ehrlich bereust.“ Was er nicht tun würde. Niemals. Selbst, wenn er das hier überleben würde. Unter Schmerzen verkrampfte er sich, ein hohes Wimmern kam über seine Lippen und Salem konnte nicht umhin für einen kurzen Augenblick das Leiden, das der Mann ertrug, mit Genugtuung zu beobachten. Er hatte nicht im Ansatz das Verlangen sich zu bekreuzigen. Schmerzen waren noch immer der zuverlässigste und beste Freund, wenn man eine Entscheidung zu fällen hatte. Eine alte Kirchen-Weisheit. „Koff--ffe---“ Noch bevor Jeffrey das Wort hatte aussprechen können, war Salem schon aufgesprungen. Scheiß auf dich, scheiß auf deine Absolution. Es war das erste Mal seit Jahren, dass er rannte. Mit wehender Soutane. Wahrscheinlich ein Anblick, der Gold wert war. Ein Priester lief panisch vor einem Clown weg. So zumindest hätte man das Bild interpretieren können, wenn denn ein Beobachter dagewesen wäre. Doch außer zwei jungen Füchsen, den Auslösern des Unfalls, war niemand in der Nähe. Die Füchse paarten sich weiter, wie sie es auf der Straße getan hatten, als der Escort angerast gekommen war, unbeeindruckt von allem, was um sie herum geschah. Auch die wehende Soutane beeindruckte sie nicht, ebenso wenig der leise, endgültige Seufzer aus der Kehle des Clowns. Pater Salem riss den Kofferraumdeckel des Escort auf und starrte einige Sekunden wie erstarrt in das Innere des Wagens. Dann erst kam ihm ein erleichterter Schrei über die Lippen, nicht der Name Gottes, keine Lobpreisung – ein einfacher, gutturaler Schrei. Vorsichtig, als wäre sie zerbrechlich, hob Salem die gefesselte und geknebelte Audrey aus dem Kofferraum des zerbeulten Wagens. Den Unfall schien sie unverletzt überstanden zu haben, äußerlich war sie in Ordnung. Sie weinte, als er ihr das Klebeband vom Mund riss und noch mehr weinte sie, als er sie in seinen Wagen setzte und sagte, dass er nochmal weg müsse. Zu dem Clown. Einem tiefschwarzen Schaf, das Vergebung von ihm erwartete. Hatte er nicht seinen Willen gezeigt und Salem gesagt, wo er Audrey finden würde? Wobei irgendwer sicher in den Kofferraum gesehen hätte – früher, oder später. Konnte Salem das als Zeichen des guten Willens sehen? Als Zeichen der Reue? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er ihm nicht vergeben konnte. Gott vielleicht, aber er nicht. In der Sekunde, als er sich neben den Clown kniete und in das weiße, teigige Gesicht, in die glasigen Augen, wurde ihm bewusst, dass er ihm nicht mehr vergeben brauchte. Jeffrey stand nun an höchster Stelle und würde selbst um Vergebung bitten müssen. Seine Taten offen legen. Und vermutlich in der Hölle schmoren. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht war er auch in die schwarze Nacht übergegangen, ohne Erinnerung an sich, an seine Taten und seine Existenz. Audrey weinte im Auto, er hörte sie bis hierher und obwohl er den Impuls kaum unterdrücken konnte zu ihr zurück zu gehen, sich zur ihr ins Auto zu setzen und nach Statham zu fahren, hielt er einen Moment inne und sah zum Himmel hinauf. Die Sterne leuchteten nicht, sie waren verdeckt von grauen Wolken, der Regen prasselte unaufhörlich auf ihn herab, durchnässte ihn und ließ ihn frösteln. Aber er wusste, dass die Sterne da waren, dass sie leuchteten wie gestern, wie morgen und jeden Tag davor und danach. Es war nicht viel, aber es war ein Anfang, dieses Wissen. Und für den Anfang war ihm dieses Wissen genug. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)