Schokoladendiebe von FreeWolf (Ein Adventskalender (2012)) ================================================================================ Kapitel 3: Die erste Flocke ist schüchtern ------------------------------------------ Die erste Flocke ist schüchtern Es begann mit einer einzelnen Flocke, die ans Fenster flog, zwischen den Stäben des Gitters hindurch, welches sie vor der Welt beschützte. Sie zerschmolz sogleich, und keiner bemerkte sie. Das Rinnsal, das sie auf ihrem Weg als Wassertropfen an der Scheibe hinunter hinterließ, war so schmal und klein, dass man es zu leicht übersah. Die meisten bemerkten nicht, dass draußen etwas passierte, wenn sie durch die langen Korridore liefen, in deren hohen Gewölben sich das Echo der Schritte von schweren Stiefeln und gewisperten Gespräche verloren. Sie liefen immer geradeaus in Richtung Kantine, vorbei an verschlossenen Türen und Mönchen, welche sie betreuen sollten und sich eigentlich nicht wirklich um sie kümmerten. Sie wollten bloß zur warmen Suppe, die den anstrengenden Tag abschloss, und möglichst nicht an den schlechten Tisch. Niemand wollte an den schlechten Tisch, wo die Elite ihren Platz gefunden hatte. Normalerweise beeilte er sich mit allen anderen Neulingen, um bloß nicht als letzter anzukommen in dem Saal und Opfer der seltsamen Hackordnungen zu werden. Doch an diesem Tag wandte er den Kopf zur Seite, und erkannte das Rinnsal am Fenster, welches für ihn immer alles bedeutet hatte. "Es schneit!", sein aufgeregter Ausruf prallte laut an den Wänden wieder, und einer der Mönche schien drauf und dran, seinen Platz zu verlassen. Die Gruppe von Neulingen, mit denen er den Weg geteilt hatte, drehte sich halb zu ihm um. "Na und?", murmelte einer von ihnen, dessen Kappe ihm dauernd über die Augen rutschte, und die er doch nie abnehmen wollte - noch nicht einmal zum Schlafen, "Wir sind in Russland. Es schneit hier dauernd" Kai öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, und schloss ihn wieder. Sein Altersgenosse hatte Recht. Sie waren in Russland. Schnee war hier nichts Besonderes - nicht so wie dort, woher er kam. Kai zuckte mit den Schultern, steckte die Hände in die Hosentaschen und wartete, bis die kleine Gruppe ihre gewisperte Konversation wiederaufnahm und ihren Weg fortsetzte. Er ließ sich zurückfallen, wurde langsamer, blieb stehen. Er wich vom ihnen allen angestammten Weg auf dem ramponierten Läufer ab auf den harten, kalten Steinboden, und näherte sich den hohen Fenstern, auf denen immer weitere Wassertropfen den Weg nach unten suchten, in schief-geraden Bahnen. Unwillkürlich streckte er die kleine Hand aus, um die Rinnsale zu berühren, auch wenn ihm klar war, dass dies nicht möglich war. Sein Spiegelbild begegnete seinem Blick, große, rotbraune Augen sahen ihm freudig entgegen, und ein leises, kleines Lächeln schlich sich über seine Züge, während er die Hand an das kalte Fenster legte. "Es schneit!", rief da hinter ihm jemand aus, und er fuhr blitzschnell herum. Es war ein junger Rothaariger mit klaren, eisblauen Augen, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Er trug einen überlangen, weißen Schal, welchen er fest umklammerte, während er sich vorsichtig umblickte. Er schien etwas aus dem Konzept gebracht, weil seine Stimme so laut widerhallte, und der Mönch am Eingeng zur Kantine wieder Anstalten machte, zu ihnen herüberzukommen. Die kleine Gruppe, mit der er unterwegs gewesen war, hielt nicht an. Der Rotschopf blickte sich kurz um, um zu sehen, ob jemand ihn rügen würde. Sein Blick fiel auf Kai, welcher nur lächelte. "Es schneit", erwiderte er leise, wenn nicht weniger freudig, und wies zum Fenster, "Vorhin war da nur eine einzige Flocke, und jetzt sind es immer mehr!" - "Ich wünschte ich hätte die erste Flocke gesehen", bedauerte der kleine Rotschopf da, und eine seiner aberwitzigen Haarsträhnen, welche ihm ins Gesicht fielen, hüpfte als er den Kopf hob. "Hast du sie etwa gesehen?", fragte er mit großen Augen. Kai nickte stolz, ehe auch er sich wieder dem Schneetreiben vor dem Fenster zuwandte, welches sie die Gitter vergessen ließ. Der Rotschopf löste seine Hände aus dem Schal und lächelte schief. "Du hast Glück", erklärte er ernsthaft, "Die erste Flocke ist schüchtern, sie will nicht, dass jeder sie sieht!" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)