Der Weg aus dem Kampf von Shirokko (Wenn Träume Berge versetzen) ================================================================================ Kapitel 8: getrennte Wege ------------------------- Kapitel 8 Getrennte Wege Auch als Mimoun von seiner Familie auf der nächstgelegenen Insel abgesetzt wurde, um kurz Pause zu machen, stand er am Rand von dieser und sah auf den grünen Fleck auf der Steppe hinunter. Dort saß der Magier, das wusste er. Dort saß der Junge, dem er sein Leben verdankte. Und er hatte ihm auf die letzten Minuten nur Kummer bereitet. Eine Berührung an seiner Schulter riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Seine Mutter stand neben ihm. Ihre warmen braunen Augen leuchteten wie schon lange nicht mehr. Doch es spiegelte sich auch leichte Sorge darin. Sie spürte, dass ihr Sohn nicht mehr derselbe war wie damals, als er in den Krieg zog. Ihre stumme Frage beantwortete er mit einem leichten Lächeln und sah wieder hinunter. Er spürte, wie ihre kühle Hand sanft seine Wange streichelte und sich dann auf seinen linken Flügel senkte. Seine Mutter hatte bisher nicht das volle Ausmaß des Schadens zu Gesicht bekommen und irgendwie scheute er ihre Reaktion. Dennoch ließ er es zu, als sie den Flügel ein wenig auseinander zog. Sanft strich sie über die Wundränder. Von der anderen Seite wurde ihm ein Trinkgefäß gereicht. Es war nicht Silia. Diese war zwar zu den hier ansässigen Familien gegangen, um dort um etwas Wasser zu bitten, doch auf ihre Erklärung, ihr im Krieg verschollener und für tot erklärter Bruder sei gesund zurück gekehrt, kam sofort das ganze Dorf zusammen, um dieses Wunder zu begutachten. Und nun hielt ihm ein etwa achtjähriger Junge stolz den Becher entgegen. Bei diesen leuchtenden Augen musste er einfach grinsen. Und umringt von seinem Volk hoch oben zwischen den Wolken fühlte er sich endlich wieder wie Zuhause. Und doch fehlte ihm etwas. Etwas, dass sich nicht bestimmen ließ. Nur ein kleiner, beinahe unbedeutender Teil, der große Auswirkungen zu haben schien. Von mehreren Seiten wurde er bestürmt, den Abend und die Nacht hier zu verbringen und ihnen von seinem abenteuerlichen Versteck- und Überlebensspiel zu berichten. Mimoun wich ihren Anfragen komplett aus. Er bat darum, endlich wieder in seinem eigenen Heim schlafen zu dürfen. Die Enttäuschung war groß und fast spürbar. Der Geflügelte wusste, dass er dieses entscheidende Detail seiner Heimreise nicht ewig verbergen konnte, doch gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass er dann kaum noch eine ruhige Minute haben würde. Also wollte er die letzte Nacht in Frieden nutzen. Dennoch verbrachten sie noch fast zwei Stunden in diesem Dorf. Es herrschte Entsetzen aufgrund der Schwere seiner Verletzungen. Jeder Geflügelte ahnte, was es bedeutete, nicht mehr fliegen zu können. Als sie endlich gehen gelassen wurden, wurde er von zwei starken Männern bis auf seine Heimatinsel getragen. Die Rüstung, die ihm zur Erleichterung abgenommen wurde und die weitere Verletzungen offenbart hatte, trugen die beiden Frauen. Was für ein Glück war es, dass seine Heimat so nahe war. Die Insel hätte in den letzten Wochen auch ganz woanders liegen können. Nur zögerlich betrat Mimoun sein Heim. Beinahe zärtlich berührte er die Steine aus denen das Gebäude erschaffen wurde. Passgenaue Quader bildeten die Außenwände, um den hier oben zeitweise heftigen Winden Widerstand bieten zu können. Die hohe Decke bildeten mehrere zusammengenähte schwere Lederbahnen, die bei Flatterübungen der Jungen nicht zu Schäden an den Flügeln führen konnten. Innen sorgten einfache Lederbahnen für räumliche Unterteilungen. Mit geschlossenen Augen zog Mimoun den vertrauten Geruch in sich ein. Zu weiterer Nostalgie ließ ihn seine Mutter nicht kommen, denn sie dirigierte ihn unnachgiebig in den Raum, den er vor einem Jahr noch zusammen mit seiner Schwester bewohnt hatte. Auch hier sah er sich um. Nichts hatte sich verändert. Selbst seine Schlafstatt sah aus, als wäre er nie weg gewesen. Dorthin drängte ihn seine Mutter nun und begann sich um die noch nicht völlig verheilte Bauchwunde, den gebrochenen rechten Arm und den Flügel zu kümmern. Es dauerte etwas, bis Mimoun es bemerkte, zu sehr war er in Erinnerungen versunken. Doch als er das immer heftiger werdende Zittern seiner Mutter sah, zog er sie in seine Arme. „Ich bin endlich wieder zu Hause.“, murmelte er in ihre vor Kummer längst mit grau durchzogenen braunen Haare. Die nächsten Tage wurde er von seiner Familie perfekt abgeschottet. Er konnte sein Heim nicht verlassen und ehrlich gesagt, wollte er es nicht. Die Rückkehr eines Gefallenen sprach sich nicht nur auf seiner Insel sehr schnell herum. Und immer mehr kamen neugierig herbei. Nach so langer Zeit in Feindesland war noch keiner zurückgekehrt. Doch als eine Einladung des Hohen Rates und der obersten Armeeführung kam, konnte er sich nicht mehr verbergen. Auch seine Mutter konnte nun nichts mehr tun. Voller Furcht um ihr Kind war sie seit seiner Rückkehr immer in seiner Nähe gewesen. Als fürchtete sie, ihn erneut zu verlieren. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend ließ er sich zu ihnen bringen. Besser er brachte es so schnell wie möglich hinter sich. Seine Mutter und Silia ließen sich natürlich nicht davon abhalten, ihn zu begleiten. Ihn erwarteten etwa dreißig Personen. Hohe Vertreter der verschiedenen Verwaltungsbezirke, die Anführerfamilie selbst und hoch angesehene Abgesandte der Armee. Mimoun rutschte das Herz in die Hose. Was genau wollten sie nun von ihm wissen? Wie weit sollte er die Wahrheit erzählen? Gefährdete das vielleicht Dhaôma? Gefährdete das vielleicht seine eigene Familie? Hilfe suchend sah er in die Runde und blieb dann schließlich bei seiner Familie hängen. Die beiden Frauen sahen sich kurz an, bevor sie ihm mit einem kurzen Nicken signalisierten, alles zu erzählen. So versuchte er, sich an jedes Detail zu erinnern, jedes Ereignis, das sich seit diesem unglückseligen Tag zugetragen hatte. Er berichtete von dem Sturz durch die Bäume und die harte Landung, dem Tod eines anderen, den er mit anhören musste, seinem unrühmlichen Versuch sich zu verstecken und dass er dennoch von einem Magier entdeckt worden war. Einige der Anwesenden lehnten sich aufgrund dieser Information neugierig vor. Doch niemand unterbrach ihn. Er sollte berichten, wie er dem Feind entkommen war. Mimoun erzählte weiter, wie er sich daran erinnerte, in der Baumhöhle zu sich gekommen zu sein und sich mit dem Magier konfrontiert sah. In einem kurzen Nebensatz erwähnte er seinen erfolglosen Fluchtversuch und die zweite Bewusstlosigkeit innerhalb weniger Stunden. Schon jetzt berichtete er von Dhaômas Versicherungen den Geflügelten wieder nach Hause zu geleiten. Unglaube zeigte sich auf vielen Gesichtern der Anwesenden. Mit einem kurzen Schnauben, gab Mimoun ihnen Recht. Auch er habe damals nicht daran geglaubt. Seine Erzählung ging weiter über den ersten Versuch nach Hause zu gehen, den darauf folgenden Fieberschub und Zusammenbruch, die zweiwöchige Ruhephase. Und von den letzten Tagen handelte sein Bericht. Der Jagd nach den Fischen, dem Angriff der Wölfe und dem Zusammenbruch des Magiers. Seine Sorge um den Magier und den Streit zwischen ihnen hielt er dann doch raus. Es war eine private Angelegenheit, die nun wirklich nicht hierher gehörte. Er schloss damit, dass Dhaôma sein Wort gehalten habe und er selbst nun endlich Zuhause sei. Lautes Stimmengewirr erhob sich. Es wurden unterschiedliche Fragen durcheinander geworfen. Wo dieser Magier nun wäre? Was Mimoun alles an Nützlichkeiten in Erfahrung bringen konnte? Warum er ihn am Leben gelassen hatte? Mimoun beantwortete alle Fragen ruhig und soweit sie Dhaôma nicht gefährden konnten oder die Antwort eine offensichtliche Lüge war. So wusste er zwar, wohin sich der Magier wenden wollte, doch wo er sich momentan exakt aufhielt, konnte er ja nicht wissen. Doch wo sich die Hauptstadt so ungefähr befand, die unterschiedlichen Klassen, die leuchtenden Zeichen als Signal für einen Zauber erwähnte er. Es war Wissen über die Magier, aber nichts, was für den Krieg von elementarer Bedeutung gewesen wäre. Die Antwort der letzten Frage fiel ihm leicht. Ernst sah er in die Runde, die Hände zu Fäusten geballt. Seine ganze Haltung drückte Entschlossenheit und Stolz aus. „Ich verdanke Dhaôma mein Leben. Und ich habe Euch dazu nichts weiter zu sagen. Wenn Ihr mich also entschuldigen wollt?“ Es wurde still in dem großen Raum. Mimoun verabschiedete sich mit einer knappen Verbeugung und wandte sich zum Gehen. Niemand hielt ihn auf. Außerhalb der Begrenzung lehnte er sich erst einmal erleichtert aufatmend an die Wand. Er wusste nicht, wie lange er geredet hatte, doch sein Mund fühlte sich ganz trocken an. Seine Mutter trat neben ihn und lächelte ihm glücklich zu. Sanft strich sie ihm über seine schwarzen Zotteln. Es war eine stille Zustimmung zu seinem Handeln. Doch Mimoun war sich in dieser Hinsicht nicht sicher. Er befürchtete, dass seine letzten Worte ein Nachspiel haben würde, doch seine Befürchtung blieb unbegründet. Im Laufe der nächsten Wochen meldete sich keiner weiter bei dem jungen Geflügelten. Und immer noch hatte er großen Zulauf, vor allem von ungebundenen jungen Mädchen, die diesen Kriegshelden gerne für sich gewinnen wollten und aufmerksam seinen Geschichten lauschten. Bereitwillig erzählte er von Dhaômas Güte, seiner Unbedarftheit, fast Naivität. Er ließ nie ein schlechtes Wort über ihn fallen oder gestattete es einem anderen, ihn mit den Magiern, die sie bekämpften, in einen Topf zu werfen. Doch auch dieser Zulauf ließ nach. Der Wind roch bereits nach dem nahenden Winter. Mimoun versuchte sich einzubringen, wo er es trotz seiner Behinderung konnte. Doch er war an diese Insel gefesselt. Er konnte nicht mit nach unten auf die Jagd gehen. Sämtliche Obstbäume dieser Insel waren mittlerweile verdorrt und brachten daher keinen Ertrag. Das bisschen Landwirtschaft war kaum der Rede wert und schnell erledigt. Er konnte nur bei der Lagerung und Verteilung helfen. Oder sich einfache Heilkunstfähigkeiten aneignen, wenn kleinere Verletzungen oder einfache Krankheiten auftraten. Doch mit der Zeit wurde es ihm langweilig. Er wusste nicht, was er tun sollte. Und so streunte er durch die Bibliothek, die ihr Dorf in den Höhlen im unteren Teil der Insel angelegt hatte. Viele Inseln hatten sich kleinere Räume diesbezüglich angelegt, doch die Bücher waren alle schon alt. Und Mimoun wusste nicht, was er hier wirklich sollte. Ohne Ziel durchstöberte er die in den Stein gehauenen Regale. Bis ihm ein kleines Notizbuch in die Hände fiel. Es war nur dünn und in brüchiges Leder eingebunden. Vorsichtig überflog er die ersten Seiten und lächelte. Das könnte Dhaôma weiterhelfen. Das Lächeln verschwand. Dhaôma würde es nie erhalten können. Er selbst konnte nicht nach unten und nach dem Magier suchen. Und jemand anderen um diesen Gefallen bitten konnte er, nun da der Winter endgültig hereingebrochen war, natürlich auch nicht. Jeder versuchte nun, seine Kräfte zu schonen. Zwar machte ihnen die Kälte nicht so viel aus, doch Lebensmittel waren im Winter immer knapp. Und niemand konnte voraussagen, wie lange die karge Jahreszeit dieses Mal dauern würde. Dennoch streckte er das Büchlein ohne zu überlegen ein und begab sich weiter auf Stöbertour. Einige Bücher über Kräuter und Pflanzen, Geschichten, Berichte über vergangene Zeiten. Bei solchen blieb er hängen. Er versuchte ernsthaft einen Grund für diesen Krieg zu finden. Er wollte eine Antwort auf die Frage, die Dhaôma in ihm ausgelöst hatte. Doch hier fand sich nichts. Hier waren nur Berichte aus friedlichen Zeiten. Aus Zeiten vor diesem verzehrenden Krieg. Als er fast gänzlich zwischen den Büchern versank, zog ihn Silia nach oben zurück. Sie zog ihn zum zentralen Platz, eine Art Versammlungsort für ihr Dorf. Jetzt im Winter hielten extra aufgestellte Planen zumindest den schärfsten Wind ab. Dort warteten zwei ihrer Freundinnen, Aylen und Jadya. Diese hatten ein Bündel bei sich. „Ähm?“, begann er, doch er kam nicht weit, als er grob gezwungen wurde, sich zu setzen. Silia baute sich vor ihm auf und sah ernst zu ihm hinunter. „Wir haben uns etwas überlegt. Wir wissen nicht, ob es funktioniert, und wir können für nichts garantieren, aber mit deinem Einverständnis werden wir es ausprobieren.“, begann sie, nahm Aylen das Bündel ab und begann es neben Mimoun zu entfalten. Dieser fragte nicht nach, sondern wartete ab, was geschehen würde. Das Bündel entpuppte sich als ganz dünnes, weiches Leder, in das einige dünne Lederschnüre eingewickelt waren. „Wir haben uns gedacht, dass wir das als Ersatz für die gerissene Haut dazwischenspannen.“ Abwehrend hob Mimoun die Hände. „Sekunde. Noch mal langsam.“ „Hör gefälligst zu! Wir werden es genau auf die benötigte Größe zuschneiden.“ Sie berührte den Flügel und spreizte ihn vorsichtig. Sie deutete auf die entsprechenden Stellen. „Wir lassen die Originalhaut dran. Als Stabilisation oder so. Jedenfalls müssen wir das Ersatzleder irgendwie befestigen. Das bedeutet, dass wir es ganz eng an die Speichen und am Dorn anbinden müssen. Das wiederum heißt, dass wir jeweils hier und hier Löcher machen müssen. Es wird wehtun. Auch weil wir die Rissränder zur Stabilisation am Leder befestigen müssen.“ Ihr Blick glitt über sein Gesicht, um ein Einverständnis zu erhaschen. „Du kannst sowieso nicht mehr fliegen, da macht es nichts, es zumindest auszuprobieren.“, versuchte sie es weiter. „Wem hab ich diese Idee zu verdanken?“ Mimoun wusste ehrlich nicht, wie er reagieren sollte. Einerseits bot sich ihm hier wahrscheinlich eine einmalige Gelegenheit wieder zu fliegen, andererseits würde seinem Flügel zusätzlicher Schaden zugefügt. Ob er es riskieren sollte? Jadya trat einen Schritt vor. „Ich war das.“, sagte sie fest. „Ich konnte den Gedanken einfach nicht ertragen, dass du so einfach aufgegeben hast.“ Mimoun lächelte mit gesenktem Kopf. Diese Worte ausgerechnet von diesem Mädchen. Früher war sie schüchtern und zurückhaltend gewesen, nie ging sie ein Risiko ein und nahm alles still hin. Aber wenn selbst sie zu dieser Tat bereit war, wie sollte er dann ablehnen? Und es war zumindest einen Versuch wert. Zustimmend nickte er und die Mädchen hüpften begeistert hoch. Sofort machten sie sich an die Arbeit. Mimoun musste sich flach hinlegen und den Flügel weit spannen, um die Fläche genau bestimmen zu können. Dies war schnell erledigt, Auch das Zuschneiden stellte sich nicht als Problem heraus. Doch die größte Herausforderung wartete noch auf ihn. Die Befestigung des Leders. Der Geflügelte legte sich einen Arm über das Gesicht und krampfte die andere Hand in den Boden unter ihm, als die Mädchen so schnell es ging mit ihren Nägeln die benötigten Löcher direkt neben die Speichen stanzten. Und es wurden viele benötigt, damit sich das Leder nicht zwischen den einzelnen Befestigungen zu sehr aufblähte. Auch bei dem Riss im Flügel wurden diese Löcher gebohrt. Als sie endlich fertig waren, konnte Mimoun erst einmal eine kurze Pause machen. Die winzigen Wunden wurden mit schmerzstillenden und entzündungshemmenden Salben behandelt, bevor sich die Mädchen daran machten, passgenaue Löcher in das Leder zu stanzen. Obwohl diese Aufgabe schneller erledigt war, ließen sie dem Geflügelten noch einige Minuten zur Erholung. „Weiter.“, presste Mimoun hervor. Er wollte keine Pause. Er wollte es hinter sich haben. Auf ein Nicken von Silia hin, machten sich die Mädchen wieder an die Arbeit. In der Zwischenzeit waren immer mehr Dorfbewohner zusammengekommen und verfolgten das Geschehen. Sie alle ahnten, was die jungen Geflügelten hier taten und sie alle drückten die Daumen, dass es glücken würde. Es war eine Qual für Mimoun, als die dünnen Lederschnüre durch die frischen Wunden gezogen wurden. Jeweils oben und unten wurde ein Knoten gemacht und die Schnüre ansonsten die komplette Länge der Speichen entlang gezogen. So locker wie möglich, um die Speichen nicht zu brechen, und so fest wie nötig, damit sich das Leder nicht zu weit löste. Die Rissränder wurden zusammengeführt und gemeinsam an das Leder gebunden, nur wenig lockerer als an den Speichen. Mehr als einmal keuchte Mimoun schmerzerfüllt auf, doch er hielt durch. Er bat nicht einmal um Pause. Als die komplette Prozedur nach fast zwei Stunden endlich abgeschlossen war, löste Mimoun seine verkrampften Muskeln. Noch immer liegend, klappte er prüfend den Flügel ein. Es war ein völlig ungewohntes, leicht unangenehmes Gefühl. Als er versuchte sich zu erheben, gaben seine Beine nach. Nach dem fast durchgängigen Verkrampfen gaben seine Muskeln nun auf. „Aber du wirst es noch nicht probieren.“, sagte Silia ernst, als sie ihrem Bruder Halt gab. „Erst müssen die Wunden heilen und sich daran gewöhnen, verstanden?“ Mimoun nickte. Mittlerweile hatte er wieder selbständig Stand gefunden. Obwohl er neugierig auf das Ergebnis war, wusste er aus leidlicher Erfahrung, was geschah, wenn er zu früh zu viel wollte. Eine Woche hielt er still, dann begann er mit leichten Flatterübungen. Es zog ein wenig an den Verbindungsstellen, aber das schob er auf die noch nicht völlig verheilten Löcher. Es gab nun einen leichten Gewichtsunterschied der Flügel, den er auszugleichen hatte, doch sie boten dem Wind wieder gleichmäßig Widerstand. Anfangs langsam, mit der Zeit aber intensiver begann er seine Flugfähigkeiten zu trainieren und auszubauen. Nichts anderes beschäftigte ihn mehr. Er versuchte in kleinen Übungen immer länger in der Luft zu bleiben oder über der Insel zu schweben. In den freien Himmel wagte er sich noch nicht. Das hatte noch Zeit. Jetzt im Winter war die Luft weiter oben noch kälter und würde das Leder nur unnötig angreifen. Wenn er nicht übte, war er dabei, es zu pflegen, damit es auch weiterhin weich und geschmeidig blieb. Die erste Warmphase nutzte er für seinen großen Start aus. Fast das gesamte Dorf war in der Luft, um ihm dabei beizustehen, dabei war es wichtiger, dass sie auf die Jagd gingen, um die Vorräte wieder aufzustocken. Kopfschüttelnd fixierte er sein Ziel. Es war eine der kleineren Inseln, die in einiger Entfernung durch den Himmel zog. Sie besaß etwa den Abstand, den Mimoun sich momentan zutraute. Und sie lag ein wenig höher als seine Heimatinsel, sie wäre also nicht so einfach zu erreichen. Noch einmal tief durchatmen und los. Mimoun stieß sich vom Rand ab und spannte seine Flügel weit. Er spürte den Wind, der ihn auffing wie einen alten Freund, so wie früher. Mit geschlossenen Augen ließ er sich durch die Luft gleiten und genoss. Als erste Jubelschreie laut wurden, konzentrierte sich der Geflügelte wieder auf sein Ziel. Die Strömungen des Windes hatten ihn ein wenig von seinem Kurs abgebracht, doch jetzt, da er wieder am Himmel schwebte, berührte es ihn nicht mehr. Er war sich völlig sicher, die Insel zu erreichen. Und es machte ihm tatsächlich weniger Schwierigkeiten, als angenommen. Zwar war er tatsächlich etwas erschöpft, doch zu glücklich, um dieser Tatsache allzu großen Raum zu geben. Die Luft um ihn herum war erfüllt von Jubel und dem Rauschen unzähliger Schwingen, die die Luft zerschnitten. Ein Teil von ihnen spaltete sich ab und strebte der Ebene entgegen, um neue Vorräte herbeizuschaffen. Einige flogen zurück zur Heimatinsel, einige ließen sich bei ihm nieder und beglückwünschten ihn direkt. Unter ihnen waren natürlich auch seine beiden Mädels, wie er begonnen hatte sie zu nennen. Während seine Schwester ihm direkt laut jauchzend um den Hals fiel, hielt sich seine Mutter im Hintergrund. Ihr Blick war ein wenig wehmütig. Er sah es zwar, doch er verstand es nicht. Für den Rückflug nahm er sich Zeit, um vorher wieder zu Kräften zu kommen. Die Euphorie war zwar noch nicht verflogen, doch schon um einiges eingedämmt. Und nun schlug die Erschöpfung zu. Er würde noch weiter üben müssen, um jemals wieder so fliegen zu können wie vor dem Zwischenfall. In Begleitung seiner Familie, die bis zum Schluss bei ihm geblieben war, machte er sich wieder auf den Heimweg. Wieder im Dorf führte ihn sein erster Weg zu dem Mädchen, der er dieses Glück zu verdanken hatte. Überschwänglich bedankte er sich bei Jadya, fragte sie, wie er ihr das vergelten könne, doch sie meinte, das hätte er schon. Mimoun verstand es nicht, doch weiterem Nachhaken wich das Mädchen nur verlegen aus. Da konnte er noch so bittend fragen, sie gab nicht nach. Schließlich gab er auf, hauchte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und flatterte nach Hause. Nun, da er es konnte, wollte er es auch wieder ausnutzen. Außerdem half es der Stärkung seiner Muskeln und Ausdauer. Er fand seine Mutter im Eingangsbereich vor, Silia saß neben ihr und sah unglaublich traurig aus. „Was… was ist passiert?“, wollte Mimoun erschrocken wissen. Alles, was er erntete, war ein trauriges Lächeln von beiden und eine lange Umarmung, in die er gezogen wurde. „Mein Kind.“, begann seine Mutter schließlich. „Du bedeutest mir alles. Ich bin so überglücklich, dass du lebst und nun auch wieder fliegen kannst. Doch gerade weil du mir so wichtig bist, spüre ich deine Zerrissenheit.“ Mimoun löste sich ein wenig von den beiden Frauen. Noch immer wusste er nicht, worauf seine Mutter hinauswollte. Noch immer wusste er nicht, wieso sie so traurig waren. „Welche Zerrissenheit?“, hakte er nach. Ein liebevolles Lächeln, wie wenn sie mit einem dummen Kind reden würde, glitt über ihre Lippen. „Bevor du die Möglichkeit hattest, wieder zu fliegen, hast du dich immer mehr in dich selbst und zu den Büchern verzogen. Deine Gedanken weilten oft nicht bei uns. Auch danach, nach deinen Übungen ging dein Blick häufig zu der unteren Ebene. Deine Gedanken galten ihm, oder?“, fragte sie direkt. „Du vermisst seine Gegenwart.“ Mimoun, der die ganze Zeit in der Hocke war, wurde von dieser Offenbarung zum Sitzen gezwungen. Jetzt, so direkt mit dieser Tatsache konfrontiert, ging es ihm auf. Wie häufig er sich gefragt hatte, wie es Dhaôma ging. Wie häufig er sich fragte, wo dieser gerade steckte und ob er seinem Ziel ein wenig näher gekommen war. „Er ist immer einsam gewesen.“, murmelte Mimoun. „Ich war vielleicht der Erste, mit dem er offen Freundschaft schließen konnte, ohne von seiner Mutter dafür bestraft zu werden. Und ich habe ihn einfach allein gelassen. Ich habe das Gefühl, ich habe ihn im Stich gelassen.“, murmelte er ehrlich. Nun, da er sich dieses Gefühl eingestand, zog es ihn emotional runter. Verständnisvoll legte sich eine Hand auf seine Schulter. Ein warmer Blick aus braunen, sich mit Tränen füllenden Augen traf ihn mitten ins Herz. Er wusste, was dieser Blick sagen wollte. „Dann geh zu ihm.“, sagte seine Mutter dennoch. Mimoun wehrte ab. „Ich kann euch doch nicht allein lassen.“, begann er, doch seine Schwester unterbrach ihn. „Wir wissen, dass du in seiner Nähe sicher bist. Du hast es oft genug betont. Und wir mussten schon lange Zeit ohne dich auskommen. Und zwischenzeitlich sogar in dem Glauben, du wärst tot.“ Mimoun zuckte bei Erwähnung dieser Episode zurück. Er bereute es furchtbar. „Nun wissen wir ja, dass es dir gut geht. Und du kannst uns ja ab und zu besuchen kommen.“ Die Tränen seiner Mutter flossen nun ungehindert. Es war nicht einfach für sie zu akzeptieren, dass ihr Kind nun seinen eigenen Weg finden musste. Die Zerrissenheit, von der seine Mutter gesprochen hatte, machte sich in ihm nun schmerzhaft bemerkbar. Er wollte hier bleiben, für seine Familie da sein, doch andererseits zog es ihn nach unten zu Dhaôma. Hilflos sah er von seiner Mutter zu seiner Schwester. „Geh.“, sagte Silia nun ebenfalls. Und Mimoun entschied sich. Entschlossen nickte er. „Ich komme wieder, ich verspreche es.“ Der junge Geflügelte erhob sich und packte zusammen, was er brauchte. Einmal Wechselkleidung, Wasser, das gefundene Notizbuch, sowie eine großflächige Karte auf der sowohl die beiden Dhaôma bereits bekannten Gebiete als auch etwas, das der Schlucht des Todes oder so ähnlich nahe kam, verzeichnet waren. Sein Blick glitt über die Rüstung seines Vaters. Sie war seit seiner Rückkehr ordentlich und wie als Schrein in einer Ecke platziert. Zögerlich strichen seine Finger über das feste Leder. Seine Kräfte waren nur begrenzt, doch im Gegensatz zu Dhaôma musste er sich darauf verlassen. Und um diese Kräfte möglichst lange für einen Kampf zur Verfügung zu haben, brauchte er ausreichenden Schutz. Und wenn er mit Dhaôma am Erdboden rumkrauchte, musste er seine Flügel auch nicht belasten. Die Tatsache, dass er den Magier erst einmal finden musste, verdrängte er. Entschlossen griff er nach den einzelnen Teilen und legte sie sich an. Seine Familie erwartete ihn am Ausgang. Seine Mutter weinte noch immer, doch sie lächelte aufmunternd. Sie zog ihren Sohn ein wenig herunter, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu geben, denn er war ihr schon vor langer Zeit über den Kopf gewachsen. „Du bist deinem Vater so unglaublich ähnlich.“, lächelte sie. „Nicht nur von Aussehen. Auch er ging immer seinen Weg, egal was es bedeutete.“ Mimoun lächelte traurig. Einem Teil von ihm widerstrebte es immer mehr zu gehen und so wandte er sich schnell seiner Schwester zu. Auch ihre Tränen rannen ungehindert die Wangen hinunter. Sanft zog er das zierliche Mädchen in seine Arme. „Pass mir bloß gut auf Mutter auf, bis ich zurück bin.“, bat er erstickt. Sie wand sich aus seiner Umarmung und band ihm ein Lederband mit einem kleinen grünlich-schwarzen Stein um. Es war das letzte Geschenk ihres Vaters an Silia gewesen. „Ich will es zurück haben.“, forderte sie. Mimoun bedachte seine kleine Schwester mit einem liebevollen Blick. Zum Zeichen, dass er verstanden hatte, nickte er und wandte sich zum Gehen. Obwohl seine Familie ihn bis zum Rand der Insel hätte begleiten können, blieben sie in der Hütte. Dafür gingen andere Dorfmitglieder stumm an seiner Seite wie zum letzten Geleit. Er verstand. Sie alle wussten Bescheid. Sie alle hatten gemeinsam darüber gesprochen, nur ihm war es entgangen. Sie alle unterstützten ihn. Sein Blick glitt über alle, die ihn von frühster Kindheit an kannten, seine Spielgefährten von damals, über die große Familie, die dieses Dorf bildete und für ihn war. Der Dorfälteste trat vor und überreichte ihm einen neuen Bogen mit einigen Pfeilen. Mimoun schalt sich. Daran hatte er nicht gedacht. „Danke.“, sagte er und er meinte es von ganzem Herzen. Rückwärts ließ er sich von der Insel kippen, drehte sich aber schon nach wenigen Metern fallen. Die Insel war im Laufe des Winters wie jedes Jahr um diese Zeit in Richtung großes Wasser gezogen, doch die Wolfsberge lagen von der Schlucht gesehen näher. Auch von der Insel waren diese Berge einfacher zu erreichen. Dort würde er sich zuerst umsehen. Weiter unten erspürte er einen Luftstrom, der ihn in die ungefähre Richtung seines Zieles trug. Häufig schwebte er nur auf dem Wind, um seine Kräfte zu schonen, doch immer häufiger brauchte er eine Pause. Um unangenehmen Fragen anderer Geflügelter zu entkommen, suchte er sich unbewohnte Inseln, doch je näher er dem Gebirge kam, umso seltener wurden die Inseln. Dafür begann sich unter ihm ein winterlicher Wald zu erstrecken. Und auch wenn es eine Weile her war, wusste er noch so in etwa, wie man in solch einem Terrain überlebte. Er suchte sich einen höheren Baum, auf dem er bequem landen konnte und von dem er später auch einfacher starten konnte. Gut. Bis zu den eigentlichen Bergen war es nicht mehr weit. Jetzt begann die eigentliche Suche. Wo sollte er nur beginnen? Mimoun entschied sich, erst einmal ein bis zwei Tage Pause zu machen. Seine Kräfte waren in den letzten Wochen immer schneller geschwunden. Es war Zeit, dass er sich die nötige Ruhe gönnte und sich darüber klar wurde, wie er weiter vorgehen wollte. Die Wolfsberge waren ein nicht gerade kleines Gebiet und hier herrschte noch Winter. Auch wenn das Nahen des Frühlings sich langsam mit dem Wind ankündigte. Der Geflügelte sprang von seinem Baum und landete auf dem Waldboden. Erst einmal würde er auf die Jagd gehen müssen. Und Wasser finden. Obwohl er sich im Notfall auch mit dem Schnee begnügen konnte. Die Jagd gestaltete sich innerhalb des Waldes als schwieriger als gedacht. Einmal hatte er eine gute Beute gefunden, doch dieses miese Kaninchen sprang immer wieder hinter die Bäume und Büsche und machte so das Zielen mit dem Bogen unmöglich. Also suchte er sich einen kräftigen Baum, auf dem er die nächsten Tage verbringen würde und brachte dort alles momentan Unnütze unter. Nun, da er wieder beide Hände zum Klettern hatte, würde er die Schlafphasen nicht auf dem unsicheren Waldboden zubringen. Auch unnötige Rüstungsteile legte er dort erst einmal ab, um auf der Jagd leichter und wendiger zu sein. Doch auch jetzt dauerte es noch einige Stunden, bis er endlich eines Kaninchens habhaft werden konnte. Die Jagd im Wald war für ihn nun einmal ungewohnt. Zwei Tage später machte er sich wieder auf den Weg. Sein Flug führte ihn tiefer in die Berge. Doch war das überhaupt der richtige Weg? Sich um diese Zeit allein in den Bergen herumzutreiben, war für einen Magier selbstmörderisch. Mimoun erinnerte sich noch gut daran, wie Dhaôma vor Kälte gezittert hatte in der Nacht in der Steppe. Und hier in den Bergen wurde es kälter je höher man kam. Entschlossen schüttelte er den Kopf, um lästige Gedanken los zu werden. Nun war er schon einmal hier, nun konnte er sich auch zumindest mal umsehen. Doch wonach? Es verging fast eine Woche, in der er ziellos durch die Wälder und Berge streifte. Er war schon kurz davor aufzugeben. Nirgends hatte er einen Hinweis entdecken können, dass dieser Magier sich überhaupt hier herumtrieb. Und so hatte sich der Geflügelte dazu entschlossen, doch zum großen Wasser zu fliegen. Vielleicht würde sich ihm dort der entscheidende Hinweis offenbaren. Nur vorher musste er noch seine Nahrungsvorräte aufstocken. In der Jagd war er besser geworden. Mimoun hatte gelernt, sich in Geduld zu üben. Manchmal stundenlang saß er auf einem Baum und wartete, bis ihm Beute vor seinen Bogen kam. Nur heute überraschte ihn seine Beute, während er am Waldboden hockte. Ein junges Reh schritt in nicht allzu weiter Entfernung an ihm vorbei. Kurz schnupperte es, doch es schien ihn nicht zu bemerken. Dieses Tier würde Fleisch für Tage liefern, stellte der Geflügelte erfreut fest und machte sich an die Verfolgung. Viele Meter schlich er ihm hinterher, doch es schaffte es immer in einer ungünstigen Position zu stehen oder sich im entscheidenden Moment zu bewegen. Doch Mimoun überstürzte nichts. Er würde es schon noch kriegen. Immer tiefer in die Berge folgte er dem Tier. Häufig sah es sich witternd um, nicht selten auch in seine Richtung, aber entweder hatte es ihn noch immer nicht bemerkt oder es sah ihn nicht als Gefahr an. Ohne dass es Mimoun bewusst geworden war, erreichten sie plötzlich den Waldrand. Sichernd sah sich das Reh noch einmal um, bevor es auf die freie Fläche trat. Der Jäger sah seine Zeit gekommen und legte den Pfeil an. Doch als er sah, wohin dieses Tier strebte, stockte er und entspannte dann lächelnd den Bogen. Als er aus dem Wald trat, erstreckte sich vor ihm eine in voller Blüte stehende Wiese, weiter hinten konnte er einen ebenso erwachten Kirschbaum sehen. Obwohl das Grün schon eine Weile durch die Bäume geschimmert haben musste, war Mimoun voll und ganz auf seine Beute fixiert gewesen. Offen trat er auf die Wiese. Das Reh stand etwas abseits von ihm und schaute ihm alarmiert entgegen. Doch Mimoun hatte nicht mehr vor, dieses Tier zu schießen. Es hatte ihn unbewusst zu dem Ort geführt, der ihm sagte, dass er auf der richtigen Spur war. Lange sah er sich auf der Wiese um, doch nirgends konnte er eine Spur des Magiers ausmachen. Dennoch gab er jetzt nicht auf. Er sammelte all seine Sachen zusammen, nahm sich einige essbare Pflanzen zur Abwechslung seines Speiseplans mit und flog wieder tiefer in die Berge. Sein Flug war nicht mehr dicht über dem Boden, um Dhaôma direkt zu sehen, sondern etwas höher, um weitere Hinweise des Magiers ausmachen zu können. Dhaôma blieb noch bis zum nächsten Tag in dem Mischpflanzendschungel. Lange genug, damit er seine Samen wieder zusammenklauben konnte. Es waren so viele und es war eine Menge Arbeit, aber es war die Arbeit auch wert. Nachts salbte er sich mit den Resten der Creme ein, die er für seinen Hanebito gefertigt hatte. Die Schrammen auf seinem Gesicht und seinen Händen waren nicht tief, sie brannten nur. Auch sein linkes Knie hatte etwas abbekommen, aber seltsamerweise war die Seide der Hose nicht gerissen. Offenbar stimmte, was gesagt wurde: Seide war robust. Irgendwo sollte er dennoch Wasser finden, damit er die Kleider waschen konnte. Gegen Mittag verließ er seine Oase und machte sich auf den Weg in die Schlucht, nutzte dazu einen schmalen Pfad, der die steile Wand durchschnitt. In Richtung Mittag, ein wenig nach Sonnenaufgang. Er wollte in die Wolfsberge, aber dazu musste er die Große Schlucht erst einmal durchqueren. Immerhin führte das Flussbett sogar Wasser, so dass er schwimmen und seine Sachen waschen konnte. Zu seinem Glück war es nicht so viel, dass die Strömung unüberwindbar war. Mit einem beherzten Wurf schaffte er es sogar, das Buch und die Samen trocken auf die andere Seite zu bekommen. Auf der anderen Seite und am nächsten Tag erklomm er die Felsen wieder, um sich dann in die Karge Zone aufzumachen. Weiter als bis zu deren Grenze war er niemals gegangen, zu gefährlich erschien ihm dieses leere Land, aber wenn Mimoun sagte, die Berge lägen in dieser Richtung, dann musste er sie wohl oder übel durchqueren. Seit er nicht mehr mit dem Hanebito reiste, konnte er sein eigenes Tempo anschlagen, was ihn um einiges schneller vorwärts kommen ließ. Trotzdem vermisste er die stille oder auch redselige Gesellschaft manchmal. Gerade nachts, wenn die Sterne den Himmel unendlich werden ließen, kam er sich verloren und einsam vor. Zum Glück hatte er eine Decke, in die er sich einwickeln konnte, und seine Magie, die das Gras um ihn dichter machte, als dass irgendjemand ihn dort sehen konnte. Die kleine Blume, die den Geruchsinn betäubte, war dabei sein Schutz vor Raubtieren. Jede Nacht ließ er sie erblühen. Es war ein Trost zu wissen, dass sein Hanebito daheim war und nicht hier mit ihm fror. Die Karge Zone war kein schöner Ort. Es war unerträglich warm tagsüber, nachts war es fast zu kalt zum Atmen, so dass er die Zeiten zwischen den Extremtemperaturen zum Wandern nahm. Außerdem wurde das Wasser trotz sparsamem Gebrauch immer wieder knapp. Zwei mal suchte er vergeblich nach Wasser, um dann nach ein oder zwei Tagen brennendem Durst durch Zufall ein Wasserloch oder eine Oase zu entdecken. Wegen dem Wassermangel wurde es auch unmöglich, Pflanzen wachsen zu lassen, was ihn hungrig machte. Einmal rettete ihn nur, dass er eine große Echse fing. Das Blut war Feuchtigkeit, das Fleisch Nahrung, auch wenn rohes Fleisch noch so eklig war. Danach machte er auf alles Jagd, was ihm über den Weg lief. Er begriff, was Hoffnung und Überlebenswille wirklich waren. Er verstand, was Hunger und Durst bedeuteten. Und er war regelrecht überwältigt vor Erleichterung, als er nach sieben Wochen Trockenheit in der Ferne wieder Grün sah. Zuerst hielt er es für eine Luftspiegelung, die ihm mit ihrer flimmernden Suggestion schon oft Streiche gespielt hatten, aber während er näher kam, spürte er die ersehnte Feuchtigkeit auf der ausgetrockneten Haut. Trotz Erschöpfung spornte er sich noch einmal an, beschleunigte sein Tempo, bis er auf einen Flussarm stieß. Nie hatte er solche Pflanzen gesehen! Sie waren farbenprächtiger und geruchsintensiver als er jemals geahnt hätte. Oder kam ihm das nach den Wochen in der Wüste nur so vor? Die Blätter waren viel größer und einfacher gebaut. Und es war wärmer, diesiger. Es war egal. Wo immer er war, Dhaôma war so glücklich, aus der Kargen Zone herausgekommen zu sein, dass es ihm sogar egal war, dass die feuchte Luft den Schweiß aus den Poren trieb. Es gab genügend Wasser, um das auszugleichen, und endlich konnte er im Schatten der Bäume seinen Sonnenbrand ausheilen, der nur dank der Decke in annehmbaren Ausmaßen geblieben war. Da sich der Fluss, wie er feststellte, wie ein breites, grünes Band durch den Sand und die Felsen zog, beschloss Dhaôma seine Marschrichtung anzupassen. Alles war besser, als erneut durch die Karge Zone zu marschieren, wo man ständig Gefahr lief, zu verdursten. Der Weg ging jetzt wieder gen Sonnenaufgang, immer den Fluss hinauf. Schließlich kam Wasser aus den Bergen und floss irgendwann ins Große Wasser, hatte er gelesen. Die Fauna in der unbekannten Umgebung überraschte ihn immer wieder. Die Tiere waren bunter und offensichtlich gefräßiger. Überall konnte man beobachten, wie sie sich gegenseitig fraßen oder kämpften. Besser, man hielt sich da im Hintergrund, um nicht das Opfer einer dieser Attacken zu werden. Selbst eine Pflanze fand er, die sich von Insekten ernährte! Ein bisschen Manipulation und sie war groß genug, um ihm einen Vogel zu fangen, der auf den komischen Tropfen einfach kleben blieb. Praktisches Samengut. Dennoch war er nicht aufmerksam genug. An einem Abend vergaß er, dass Unaufmerksamkeit sich rächen konnte, und betrachtete den Sonnenuntergang, als er von einem großen, schwarzen Panther angegriffen wurde. Die Raubkatze hatte sich angeschlichen, als er gefischt hatte, die Betäubungsblume hatte sie nicht gestört, und mit einem Fauchen hatte sie angegriffen. Ihre scharfen Krallen senkten sich in seine Haut und nur einem Schutzreflex war es zu verdanken, dass Dhaôma ins Wasser fiel, aus der Reichweite des Angreifers heraus. Die tiefen Kratzer auf der Schulter brannten wie Feuer, als das Wasser eindrang, es blutete, aber er konnte sich nicht darum kümmern. Die Strömung war zu stark, um sich darum überhaupt Gedanken zu machen. Er hatte doch erst am Morgen einen Wasserfall hinter sich gelassen! Er musste dringend das Ufer erreichen! Trotz mannigfaltiger Anstrengung schaffte er es nicht. Der Sog an seinem Körper wurde stärker, seine Kräfte schwanden und er hatte genug damit zu tun, über Wasser zu bleiben, um Luft zu bekommen. Bis unter ihm und um ihn herum alles Gewicht plötzlich verschwand und er für einen Moment das Gefühl hatte zu schweben, bevor er mit dem Wasser zusammen in die Tiefe stürzte. Panisch kniff er die Augen zusammen und schrie. Dann traf er die Wasseroberfläche, doch es tat nicht so weh, wie er befürchtet hatte. Stattdessen tauchte er hinein, wurde hinuntergezogen und verlor das Bewusstsein. Als er wieder erwachte, war er fiebrig. Sein Körper fühlte sich schwach an, sein Geist war noch tief in den Schatten verborgen, so dass er sich nur mit äußerster Anstrengung aus dem Wasserbecken schleppen konnte, in das er gespült worden war. Immerhin bemerkte er, dass sein Hemd zerrissen, sein Rucksack nass und sein linker Arm förmlich taub war. Er brauchte etwas, das er auf die Katzenkratzer tun konnte, bevor es sich vollends entzündete! Mit letzter Kraft und die vielen hellen Flecken vor seinen Augen ignorierend suchte er aus dem Samenmatsch ein paar heraus und ließ sie gedeihen. Einige Blätter dieser Pflanzen aß er, andere zerkaute er und drückte sie auf die Schulter, presste die Augen zusammen, um nicht vor Schmerzen zu schreien, als das charakteristische Brennen eintrat. Anschließend rollte er sich unter einem der riesigen Bäume zusammen und ergab sich der Traumlosigkeit. Wie lange er schlief oder wie oft er aufwachte, was er tat, ob das, was er erlebte und sah, Traumgebilde oder Realität waren, konnte er am Ende nicht sagen. Als er wieder zu Bewusstsein kam, war ihm heiß, er hatte Durst, seine Haut brannte, also ging er etwas trinken und baden. Danach fühlte er sich besser. Ein paar Früchte stillten seinen Hunger, bevor er wieder einschlief. Sein linker Arm pulsierte in der Nacht so stark, dass er davon aufwachte und ihn kühlen ging. Beim nächsten Mal war es vorbei. Das Fieber war weg, die Wunde auf seiner Schulter tat kaum noch weh und zeigte fortgeschrittene Anzeichen von Heilung. Er musste mehrere Tage im Delirium verbracht haben. Dhaôma zog sich das Ersatzhemd aus dem Rucksack an und versuchte, so gut es ging, sein Buch zu trocknen, bevor er seinen Weg fortsetzte. Er war eine gute Strecke abgetrieben worden, die er jetzt ein zweites Mal laufen musste. Aber immerhin hatte die Sache mit dem Panther ihn gelehrt, vorsichtiger zu sein. Dies war nicht sein Wald. Er musste besser aufpassen, was um ihn herum geschah. In den paar Wochen änderte sich die Umgebung kontinuierlich. Die Pflanzen verloren ihre enorme Größe, die Luft wurde kühler und weniger diesig. Dhaôma begriff, dass dieser Klimawechsel bedeutete, dass er aus der Kargen Zone heraus sein musste. Ob er die Berge erreicht hatte? So weit war er dann doch noch nicht gekommen, aber als er auf einen hohen Baum kletterte, von dem aus man über die anderen sehen konnte, stellte er fest, dass die Berge in greifbare Nähe gerückt waren. Wie große, drohende Zähne ragten sie in den Himmel, oben glänzten sie Weiß, unten leuchteten sie in fröhlichen bunten Farben. Waren das die Wolfsberge? Neuer Elan war in ihm erwacht, der ihn mit größerer Geschwindigkeit vorwärts streben ließ. Und ohne es zu bemerken, näherte er sich dem Winter in den Bergen. Der Wald wurde dem ähnlicher, in dem er aufgewachsen war, aber als er die Anzeichen der kalten Jahreszeit wahrnahm, war er regelrecht entsetzt. Niemals hatte er draußen gewohnt, wenn es kalt gewesen war! Er brauchte einen Unterschlupf! Holz, Wasser, Vorräte! Ihm dämmerte, dass er vor einem ernsten Problem stand. Außerdem, wenn das Jahr wirklich schon so weit fortgeschritten war, dann war er in seiner Stadt mit Sicherheit endgültig für tot erklärt worden! Zu lange hatte er sich nicht mehr gemeldet. Ob irgendjemand um ihn getrauert hatte, so wie die Frau um Hanebito getrauert hatte? Unmerklich wurde ihm kälter, spürte er die Einsamkeit noch ein wenig mehr an ihm nagen, aber er konnte sich nicht darum kümmern. Als er den Entschluss getroffen hatte, diese Reise zu unternehmen, hatte er gewusst, dass er niemals wieder nach Hause gehen würde. Es war zu spät, es zu bereuen. Er hatte doch auch nichts zu verlieren. Dhaôma fand eine Höhle am Fuß eines Berges, die klein genug war, um sie effektiv heizen zu können. Er verkleinerte den Eingang mit einem dichten Geflecht aus Haselnussbäumen, danach begann er Vorräte zu sammeln, wobei ihm seine Magie ebenfalls eine große Hilfe war. Auch bei der Jagd half es ihm, Pflanzen zu seinem Vorteil umzugestalten. Trotz seiner Unerfahrenheit jagte er auch große Tiere mit Fallen, zog ihnen das Fell ab und versuchte das Fleisch haltbar zu machen, was ihm nicht immer gelingen wollte. Aber er brauchte die Felle. Mit seinen Sommerkleidern würde er frieren, wenn er nicht etwas Warmes hatte, unter das er sich zusammenrollen konnte! Außerdem stockte er seinen zerstörten Samenschatz wieder auf, so gut er konnte. Trotz allem wurde dieser Winter hart. Das Wasser fror schon früh ein, seine Vorräte waren bei weitem nicht genug, um damit mehrere Monate auszukommen, so dass er sparsam damit umgehen musste, und das Feuerholz reichte nicht wirklich. Um neues zu holen, musste er hinaus, die Decke und die Felle, in die er sich wickelte, boten kaum Schutz vor dem schneidenden Wind. Als er nach diesem ersten Ausflug in den Schnee zurückkam, war er fertig und mit seinen Kräften am Ende. Es musste etwas passieren, sonst würde er sterben! Dhaôma organisierte sich um. Er bastelte sich Stiefel und versah sie mit Wachs, um sie wasserdicht zu machen. Er begann die Felle umzuarbeiten, doch weil er nicht wusste, wie er sie gerben konnte, waren sie steif und unangenehm auf der Haut. Wenigstens waren sie wärmer als seine Seidensachen, die er nach einigem Überlegen einfach drunter zog. Sie gaben eine schöne Schutzschicht ab zwischen dem rauen Leder und seiner Haut. Mit seiner Magie fertigte er sich einen Speer an, weil er mehr Nahrung und Felle benötigte. Dann vergingen mehrere Wochen, in denen er keine Beute machte. Niemals hatte er jagen müssen, jetzt lernte er zwar schnell, aber es dauerte trotzdem seine Zeit. Stundenlang übte er das Werfen, bis er einigermaßen kraftvoll und sicher traf, so dass die Mühe auch Erfolg versprach. Als er zum ersten Mal einen Schneehasen erlegte, jubelte er laut und tanzte eine Art Freudentanz. Danach wurde es besser. Häufiger fand er seine Beute und schlich sich an, ohne sie vorher zu verjagen, dann warf er seinen Speer. Meistens traf er nicht besonders gut, aber wenn er dem Tier anschließend in den Wald folgte, fand er es verendet in einer Lache voll Blut. Dann musste er sich beeilen, es in seinen Unterschlupf zu bringen, denn Wölfe und Luchse machten ihm seine Beute gerne streitig. Des Weiteren entdeckte er im Laufe des Winters, dass er aus Eis Wasser machen konnte. Dazu brauchte er keine Hitze, sondern nur seine Magie. Er war bei einer Jagd in eine Lawine geraten und der auf ihn drückende Schnee hatte ihn zu ersticken gedroht. Voller Angst hatte er geschrieen und wie durch ein Wunder war der Schnee langsam weg geschmolzen, bis er in einer natürlichen Wanne mit eiskaltem Wasser lag. Der Husten, der sich dieser Entwicklung neuer Kräfte anschloss, fesselte ihn tagelang an die Höhle und das Bett, bis er sich mit einigen Heilkräutern versorgte, die den Husten linderten. Aber egal, wie schlimm er krank war, die Tatsache, dass er jetzt Schnee und Eis schmelzen konnte, freute ihn. Also übte er in den dunklen Winterstunden diese Kraft. Es kostete Unmengen an Kraft, als er begann, aber irgendwann konnte er es einigermaßen steuern. Mit ein wenig Anstrengung konnte er unter einer unvorsichtigen Gämse, die sich den Berg so weit heruntergewagt hatte, den Schnee schmelzen, so dass sie den Halt verlor und in den Tod stürzte. Fleisch für ihn. Es war einer der wenigen Lichtblicke in der Winterzeit. Der Frühling kündigte sich erst spät an. Und wurde noch einmal von einer schlimmen Kälteperiode verdrängt, aber letztlich ließ sich die Rückkehr des Lebens nicht mehr aufhalten. Dhaôma konnte es kaum erwarten, die enge Höhle endlich zu verlassen und in den Wald zu laufen, ungehindert durch Schnee und Eis. Und weil es ihm zu langsam ging, nutzte er all seine Kraft, die Natur um sich herum zu wecken. Er zwang Knospen sich zu öffnen, lockte Schneeglöckchen und Winterlinge hervor, überredete einen Kirschbaum, seine rosigen Blüten zu zeigen. Die Weiden verströmten schon vor ihrer Zeit ihren angenehmen Duft und der Ölbaum schob seine ersten, gigantischen Blätter. Selbst die Gräser, die im Wald immer etwas später kamen, zog er aus der Erde. Vor lauter Übermut und Glück rief er sogar die Spätzünder schon auf den Plan, bis sich selbst die Tiere nicht mehr dieser Macht entziehen konnten. Das neue Grün versprach Futter, da störte es nicht, dass da so ein seltsames Wesen durch den Wald sprang und lachte. Aber Dhaôma jagte sie auch nicht mehr. Ihm war das Fleisch über. Pflanzen waren bessere Kost und davon weckte er im Moment genug. Dhaôma wartete noch eine Woche, bevor er seine Sachen zusammenpackte, soweit er sie tragen konnte. Alle Felle, die er nicht mitnehmen konnte, stapelte er ordentlich in der Höhle, falls er zurückkommen würde, bevor er den Eingang dichtmachte, um ihn vor unliebsamen Bewohnern zu schützen. Mit seiner neuen Tunika aus weißem Kaninchenpelz und einem Umhang aus allerlei verschiedenen Tierfellen, sah er aus wie ein großer Jäger, der Speer förderte diesen Gedanken noch. Seine zerrissen Ärmel und Hosenbeine dagegen wirkten wie ein Landstreicher, aber er hatte keine intakten Kleider mehr, also musste das reichen. Immerhin waren seine Schuhe noch funktionstüchtig. „Auf in die Berge.“, feuerte er sich selbst an. Und weil er gute Laune hatte und die Sonne schien, weckte er auf seinem Weg immer wieder den einen oder anderen Baum, der ihm zu langsam war, um mit ihm den Frühling zu begrüßen, oder befreite unglückliche Schneeglöckchen von der Schneelast. Es ging schon am nächsten Tag steiler bergauf. Dhaôma suchte sich seinen Weg zur Südseite des Hangs, weil er davon ausging, dass dort der Schnee schneller weg schmolz, achtete aber darauf, dass er auch an Höhe gewann. Immerhin hatte er vor, auf den höchsten Gipfel des Gebirges zu klettern. Schon gegen Mittag änderte sich der Wald erneut. Aus dem schönen, frühlingshaften Mischwald wurde ein Nadelwald. Nie hatte Dhaôma so viele Nadelbäume auf einem Haufen gesehen. Und schon gar nicht solche. Sie dufteten auf eine ganz eigene Weise, würzig, nach Harz und ein wenig nach Melisse. Es fiel ihm nicht einmal schwer, hier einige Samen abzustauben, denn die Bäume waren nicht geizig damit. Und sie hüteten ihre Nachkommen in kleinen Zapfen. Praktisch. Schade war nur, dass man am Boden keine Pflanzen hatte. Außer braunen Nadeln gab es hier wenig. Auch die Sonne war in dieser Umgebung nur zu erahnen. Was ein deprimierender Wald. Eine Lichtung veranlasste ihn dann doch, einfach bergan zu gehen. Je schneller er über die Bäume kam, desto besser. Was war er entsetzt, als er auf den letzten Metern zum Gipfel sah, dass der Berg, den er sich ausgesucht hatte, lediglich ein Vorreiter der eigentlichen Berge war! Er war klein und vergleichsweise frei von Schnee, die Berge, die sich dahinter auftürmten, überragten einander wie in einem Wettstreit. Wie sollte er da jemals den größten finden? Und was sollte er wegen des Schnees unternehmen? Solange es taute, war es sicher gefährlich, sich unter solche Schneemassen zu wagen. Entmutigt setzte er sich auf einen sonnigen Felsen und blickte zu den Bergen hinüber. Egal, wie er es anstellte, dem Schnee konnte er nicht ausweichen, denn die Berge selbst warfen viel zu viel Schatten, um die Sonne überall hinkommen zu lassen. Um die Gipfel herum zu laufen, um zu dem vermeintlich höchsten zu kommen, verwarf er auch schnell wieder, da er sich vorstellen konnte, dass die Täler mit Tauwasser überschwemmt waren. „Ich bin zu ungeduldig.“, schalt er sich irgendwann. „Ich habe doch alle Zeit der Welt.“ Damit stand er auf. Die Sonne war auf ihrer Bahn schon fortgeschritten und er wollte nicht die Nacht ungeschützt auf dieser Freifläche verbringen. Also machte er sich auf den Weg hinunter in den Schatten, denn dort würde er am nächsten Morgen von der Sonne geweckt werden. Falls die Nadelbäume so nett waren. Nach dem ersten kleinen Hinweis wurde Mimoun von unbändiger Freude gepackt. Er war auf dem richtigen Weg. Immer wieder fielen ihm einzelne Bäume ins Auge, die lange vor ihrer Zeit erwacht waren. Bei jedem legte er eine Rast ein und suchte die Umgebung ab, doch nichts. Nirgends fand sich eine weitere Fährte des Magiers. Doch die Spur der erwachten Bäume führte unweigerlich Richtung Gipfel. Die Nacht verbrachte er auf einem der in frische Blätter gekleideten Bäume. Am nächsten Tag startete er, sobald die Sonne ihn geweckt hatte. Sein Flug führte ihn noch immer Richtung Gipfel, doch der Wald änderte sich. Es kamen immer mehr Nadelgehölze hinzu. Und diese waren das ganze Jahr hindurch grün. Hier einen weiteren geweckten Baum zu finden, war ein Ding der Unmöglichkeit. Völlig erschöpft machte er gegen Mittag Rast auf der Spitze eines der größeren Bäume. Diese war nicht so stabil und bog sich unter seiner Last ein wenig Richtung Erdboden. Der Geflügelte trank den letzten Rest Wasser, den er bei sich trug. Damit versuchte er einerseits seinen Durst, andererseits aber seinen Hunger zum Schweigen zu bringen. Die wenigen Früchte, die er sich mitgenommen hatte, hatten nur bis zum gestrigen Abend gereicht. Und da er nur auf die Suche nach dem Magier fixiert war, hatte er auch nicht mehr daran gedacht, nach Wild zu jagen. Nun sah er sich aufmerksam nach geeigneter Beute oder einer Wasserstelle um. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)