Der Weg aus dem Kampf von Shirokko (Wenn Träume Berge versetzen) ================================================================================ Kapitel 28: Soziale Lektionen ----------------------------- Kapitel 28 Soziale Lektionen Am nächsten Morgen war Dhaôma schon früh wach. Und weil er Hunger hatte und Mimoun noch schlief, suchte er sich eine Stelle, an der er etwas wachsen lassen konnte. Auf halber Strecke fand er eine Eidechse, die von der Kälte zu träge war, um schnell genug wegzulaufen, und so nahm er sie als Beute mit. Nur kurz war ihm der Gedanke gekommen, dass Drachen wohl auch Eidechsen waren und sie ihm das übel nehmen könnten, aber dann zuckte er mit den Schultern. Er glaubte nicht daran, dass es irgendwelche Konsequenzen haben würde. Zu oft hatte er schon Eidechsen gejagt und gegessen. Der Felsen wurde überhängend und Dhaôma musste seitlich ausweichen, um weiter hinaufklettern zu können, doch auf dem Dach des Felsens fand er endlich, was er brauchte: Erde. Ab dort war es einfach. Ein Kern von einem Birnbaum heraussuchen, einpflanzen, wachsen lassen, ernten. Schwierig war der Abstieg. Da er nicht sehen konnte, wo er hintrat, musste er sich auf sein Gefühl verlassen. Dementsprechend lange dauerte die Kletterpartie, bis er zurück bei seinem Freund war. Noch immer war dieser nicht wach. Offenbar hatte er lange nicht schlafen können. So leise er konnte, legte er seine Beute neben Mimoun und setzte sich dann wieder hin, um sich auszuruhen. Klettern war anstrengend geworden. Früher hatte es ihm nicht solche Probleme bereitet. Träge wälzte sich Mimoun herum. Ihm war nicht nach aufstehen. Er fühlte sich noch immer ausgelaugt. Nicht körperlich, emotional. Dabei war es doch nur ein kleiner Streit gewesen. Etwas ganz natürliches. Warum nahm es ihn diesmal so mit? Seufzend setzte er sich auf und sah in die Runde. Ein Blick nach oben zeigte ihm, dass der Tag längst begonnen haben musste. Als nächstes entdeckte er das Frühstück, das bereits neben ihm bereit lag. Sofort tat sein Magen lautstark sein Verlangen kund. Seine Hand griff nach der Eidechse, packte sie am Schwanz, ließ sie aber noch abschätzig in der Luft schweben und suchte nach Dhaôma. „Guten Morgen.“, begrüßte er ihn fröhlich. „Magst du auch etwas davon ab haben?“ Bezeichnend wedelte er mit seinem auserkorenen Frühstück herum. Plötzlich löste sich der Körper von der Schwanzspitze und plumpste in Mimouns Schoss. Ups. Da hatte er wohl zu heftig geschüttelt. Ein Lachen versteckend, hielt sich Dhaôma die Hand vor den Mund. Das war ja was. Jeder wusste doch, dass Eidechsen den Schwanz verlieren konnten, wenn man nicht vorsichtig war! Zum Glück konnte das Vieh nicht mehr weglaufen. „Nein, alles deins.“ Wieder kicherte er, dann schüttelte er sich. War doch logisch, wo es hier kein Holz gab, um das Fleisch zu rösten. „Ich halte mich an die hier.“ Bezeichnend hob er eine Birne hoch, bevor er herzhaft hinein biss. Dank des Flusses war sie saftig und ein wenig davon tropfte über sein Kinn. Grinsend schob sich der Geflügelte den Rest des Schwanzes in den Mund. Er war begeistert, wie einfach man Dhaôma zum Lachen bringen konnte. Und es stand seinem Freund entschieden besser als Grübeln oder Sorgenfalten. Mimoun versank nun selbst in Grübeleien. Sollte er das Thema von gestern wieder ansprechen oder es einfach auf sich beruhen lassen? Momentan schien ja wieder alles in Ordnung zu sein. Bei den Stimmungsschwankungen des Magiers konnte sich das jedoch auch genauso schnell wieder ändern. Am besten ihm keine Möglichkeit dazu geben. Mit einem Lächeln und völlig entspannt, wandte er sich dem Hauptteil seines Frühstücks zu. Viel war an dem Tier nicht dran, aber es reichte, um den größten Hunger zu stillen. Und für den Rest bediente er sich ebenfalls an den Früchten. Bei ihm wurde es eine ähnliche Sauerei wie bei Dhaôma. Den Saft, der ihm über das Kinn lief, wischte er mit einer nachlässigen Bewegung seines Armes ab. Nachdem er sich endlich satt fühlte, streckte sich der Geflügelte wieder auf dem harten Grund aus. Nur um wenige Augenblicke komplett hochzuschnellen. Wurde Zeit, dass sie weiterkamen. Er hatte schon zu lange geschlafen. Mit Bewegungen, die er mittlerweile im Schlaf beherrschte, legte Mimoun seine Rüstung an und nahm sich den Rest seiner Habseligkeiten, sah abwartend zu seinem Freund. „Du bist heute wie eine von den Fadenpuppen, die ich einmal gesehen habe. So viele unerwartete Bewegungen.“, neckte ihn Dhaôma, der nur seinen Rucksack anziehen musste. „Ganz im Ernst. Wir müssen aus dieser Schlucht hier raus, sonst werden wir entweder verhungern oder abstürzen.“ Als er sich dem schmalen Grat zuwandte, fiel das Lächeln allerdings in sich zusammen. Offenbar wollte Mimoun noch nicht gehen. Aber das hieß nicht, dass es sich nicht jederzeit ändern konnte. Aber fragen wollte er auch nicht mehr. Stattdessen würde er genießen, solange er noch konnte, dass er jemanden hatte, auf den er sich verlassen konnte. Sein Fuß setzte sich auf die schmale Stiege, die in einem sanften Bogen abwärts führte. Die Schlucht machte hier einen Knick und das Wasser war reißender, weil es mit dem Richtungswechsel nicht einverstanden war. Er würde Acht geben müssen. Mimoun blieb dort, wo er war, und beobachtete Dhaôma dabei, wie er sich auf dem schmalen Weg vorwärts tastete. Dieser hatte Recht. Sie brauchten etwas zu essen. Sich nur von Eidechsen zu ernähren, würde sehr schnell sehr eintönig werden. Als sein Freund schon ein gutes Stück geschafft hatte, hob auch er ab und folgte ihm langsam. Sein Blick glitt zu dem schmalen Streifen Himmel, der über ihm zu erkennen war und fasste einen Plan. Er änderte seine Flugrichtung. Immer höher stieg er und verließ schließlich die Schlucht. Beinahe sofort fiel das beklemmende Gefühl von ihm ab, das ihn wie ein dunkler Schleier dort unten immer umhüllt hatte. Kurz tobte er durch die Luft und über die weiten Ebenen, bis er sich wieder ins Gedächtnis rief, was er eigentlich vorgehabt hatte. Suchend glitt sein Blick über die Grasweiten, hielt Ausschau nach Beute und Feuerholz. Zuerst beschaffte er das Holz und lagerte es am Rand der Schlucht. Danach kümmerte er sich um das Fleisch. Er erkor sich eine junge Antilope aus, erlegte und zerlegte sie, bevor er sich, nun schwer bepackt, wieder in die Schlucht stürzte. In der ganzen Zeit glitten seine Gedanken immer wieder zu Dhaôma. Hoffentlich ging es ihm gut. Nicht, dass er in der Zwischenzeit abgestürzt war. Kaum hatte der Geflügelte den Sims wieder ausgemacht, folgte er ihm. Sein Blick irrte voraus, in der Hoffnung seinen Freund schnell zu entdecken. Dhaôma hatte die Flügelschläge gehört, als Mimoun die Schlucht verlassen hatte. Im gleichen Moment hatte sich sein Herz zusammengezogen und das Atmen war für Minuten zu schwer gewesen, um genügend Luft zu bekommen, bevor sich Ruhe über ihn gesenkt hatte. Die gleiche stoische Ruhe, die er seit seiner Kindheit immer mit sich herumgeschleppt hatte. Sie war es gewesen, die es ihm ermöglicht hatte, seiner Familie vorzulügen, es wäre alles in Ordnung. Und sie war der Grund, warum es ihm gelungen war, sich selbst zu belügen, dass es nicht schlimm war, alleine zu sein, solange man ein Ziel hatte. Lächelnd hatte er gewunken, seine Kehle zu eng, um Lebewohl zu sagen, aber Mimoun hatte ja auch nichts gesagt. So war es besser. Seine Beine hatten irgendwann den Dienst wieder aufgenommen. Leicht wie nie hatte er seinen Weg gefunden, war vorangekommen, ohne zu pausieren. Sein Körper floh vor dem, was ihn im Geiste verfolgte: Einsamkeit. Erleichterung durchflutete den Geflügelten, als er seinen Freund schließlich ausmachen konnte. Dieser war weiter gekommen, als Mimoun vermutet hatte und so wuchs seine Sorge mit jeder Minute. Sie verrauchte nun in Nichts. „Ich warte vorne.“, rief er ihm zu. „Das Zeug ist schwer.“ Und schon war er an ihm vorbei und strebte die nächste sich bietende Möglichkeit zum Ausruhen an. Erschöpft ließ er sich zu Boden sinken, nachdem seine Last der Schwerkraft schneller nachgeben musste. Er ließ sie einfach fallen. Nachdem er sich halbwegs erholt hatte, machte er sich daran, alles für ein Feuer vorzubereiten. Entzünden konnte er es nicht. Er sollte die Feuersteine ab jetzt bei sich tragen, das würde Zeit sparen. Erschrocken war der Braunhaarige zusammengezuckt, als Mimoun an ihm vorbeigesegelt war, und beinahe hätte es in einem schmerzhaften Fall geendet. Geradeso noch hatte er sich festhalten können, während er ihm nachsah, sein Kopf völlig blank. Letztlich ließ er sich auf ein Knie nieder und lachte leise, obwohl er viel lieber geweint hätte. Seine Gefühle spielten verrückt. Die Hoffnung war zurück, stärker denn je, die vorherige schmerzhafte Hoffnungslosigkeit hatte ein Loch in ihm hinterlassen, das er nicht so einfach stopfen konnte. Ich warte vorne… Was bedeutete das? Dass er blieb? Aber warum war er nicht mehr bei ihm? Hielt sich auf Abstand, ohne etwas zu sagen. Und was war das für ein Zeug, das schwer war? Schwer ließ er seine Stirn gegen den klammen Fels sinken und schloss die Augen. Er spürte, wie es auf den Wangen kitzelte, und war erstaunt, dass es Tränen waren. Er hatte sie nicht kommen gespürt. Was sollte er denn nun denken? Was sollte sein Herz erwaten? Was konnte er hoffen und was nicht? Dhaôma brauchte lange, um sich wieder zu erholen, damit er genug Konzentration aufbrachte, um weiterzugehen. Und auch dann war er sich seiner Sache und der sich bietenden Situation nicht sicher. Nachdem er selbst das Fleisch soweit vorbereitet hatte, dass es nur noch gebraten werden musste, war noch immer keine Spur von seinem Freund zu sehen. Sorgenvoll lauschte er in die Stille hinein. Er spürte noch leichte Erschöpfung und so entledigte er sich aller hinderlicher Habseligkeiten und Rüstung und flog zurück zu Dhaôma. Hoffentlich war nicht doch noch etwas passiert. Als er seinen Freund endlich entdeckte, war er irritiert. Es sah nicht so aus, als wäre er sonderlich viel weiter gekommen. Hatte er hier etwa Pause gemacht? Mühsam flatternd hielt er sich neben ihm in der Luft. Erschrocken erkannte er Tränenspuren auf dem Gesicht des anderen. „Alles okay?“, fragte er zögerlich und besah ihn sich von oben bis unten. „Hast du dich verletzt?“ Mühsam lächelnd schüttelte Dhaôma den Kopf. „Nein. Aber es tut trotzdem weh.“, sagte er. Das verstand er nicht. Wie sollte etwas wehtun, wenn er gar nicht verletzt war? Wie am Tag zuvor landete Mimoun auf dem schmalen Sims ein wenig abseits von Dhaôma und hangelte sich zu ihm hinüber. Seine Hand tastete über die Stirn des Magiers. Dieser schien nicht krank zu sein. Und er konnte auch sonst nichts Auffälliges an ihm erkennen. „Wo tut es weh?“, verlangte er zu erfahren. Er machte sich Sorgen, Dhaôma konnte es spüren. Aber er wusste es doch auch nicht so genau! „Hier.“, legte er die Hand auf die Brust, ließ sie weiter hinunterwandern auf den Bauch. „Hier und…“ Er schluckte wieder aufquellende Tränen hinunter, bevor er seinen Hals umfasste. „…hier.“ Aufmerksam beobachtete Mimoun ihn dabei. Bei den ersten beiden Regionen hätte er noch darauf getippt, dass er vielleicht was Falsches gegessen hatte, was sehr unwahrscheinlich war, doch je mehr Stellen Dhaôma anzeigte umso ruhiger wurde Mimoun. Er begann zu ahnen, was es war. „Komm mal her.“, bat er leise und öffnete einladend den Arm. Lange zögerte Dhaôma nicht. Es war nur ein Schritt und schon konnte er Wärme und leichten Atem an seinem Hals spüren. Einem Impuls folgend schlang er seine Arme um Mimouns Mitte. Sagen konnte er nichts. Sein Hals war wie zugeschnürt. Sein Verdacht bestätigte sich nach dieser schnellen Reaktion Dhaômas. Und da wollte dieser Junge tatsächlich, dass er ging? „Dummkopf.“, murmelte er und vergrub sein Gesicht in Dhaômas Halskuhle. „Ich halte meine Versprechen.“ Seine Hand streichelte kurz über den Rücken des Magiers, bevor sie über seine Schulter hinunter zu seinem Arm strich. „Komm. Halt dich richtig fest. Wir fliegen.“ Seine Anweisung unterstrich er mit leichtem Zug an dem Arm, der ihn umschlungen hielt. Das ließ sich Dhaôma nicht zweimal sagen. Er war erschöpft und die Nähe tat gut. Also legte er seine Arme um Mimouns Hals und signalisierte mit einem Nicken, dass er bereit war. Mimoun zögerte nicht lange und hob wieder ab. Die Strecke zu dem Rastplatz war schnell überwunden. Sein Blick glitt kurz über den vorbereiteten Holzstapel, doch ohne ein Wort wandte er sich ab, Dhaôma noch immer im Arm. Umständlich hockte er sich mit ihm zusammen an die Wand. Einen Arm und seine Flügel legte er beschützend um den Körper des anderen. Mit der anderen Hand strich er immer wieder beruhigend durch das weiche Haar. Dhaôma lehnte sich beinahe suchend in diese Berührung. Es war nicht so, dass er übermäßig viel Kontakt brauchte, aber diesmal tat es gut, war auf tröstliche Weise versichernd. Es half, die Schmerzen zurückzudrängen, von denen er nicht wusste, woher sie kamen. „Warum?“, fragte er irgendwann. „Wie kannst du so stark sein? Wie kannst du immer wissen, was du tun musst?“ Kurz unterbrach er das Streicheln, führte die Bewegung schnell wieder fort. „Ich bin nicht stark.“, wies er diese Tatsache zurück. Tief atmete er durch. „Auch wenn es nicht immer offensichtlich ist, aber ich habe Angst. Angst vor der Zukunft, Angst um meine Familie, Angst um dich. Und ich will euch alle beschützen, doch das kann ich nicht. Ich habe Angst davor, einen von euch zu verlieren.“ Mimoun zog Dhaôma dichter an sich heran und vergrub sein Gesicht in dessen Haaren. „Ich weiß nicht, was ich tun soll.“, gestand er leise. Er hatte Angst, ihn zu verlieren? Nicht nur seine Familie, sondern ihn auch? „Aber warum kannst du dann immer vorangehen? Immer leiten, immer Entscheidungen treffen, allen helfen…“ „Ich möchte nicht bereuen müssen.“, erwiderte der Geflügelte und entließ seinen Freund aus dem gröbsten Klammergriff, hielt ihn nur noch locker umschlungen. „Ich möchte keiner vergebenen Chance nachtrauern müssen. Niemand kann vorhersagen, was die Zukunft noch bringt. Und nichts kann uns sagen, wie unsere Entscheidungen sich darauf auswirken werden. Ich hab schon einige Fehlentscheidungen getroffen. Auch einige, die sich viel später doch nicht als Fehler herausstellten. Das kann man nicht vorher wissen. Man muss es einfach probieren und sehen, was geschieht. Nur du selbst kannst entscheiden, wie dein Leben laufen soll.“ Kurz schnaubte er. „Du hast mir mal an den Kopf geworfen, dass ich besser als meinesgleichen sei, da ich anfangen würde, frei zu denken. Aber du selbst lässt dich noch immer von den Schatten deiner Familie fesseln. Und egal, was ich auch versuche, ich kann dich daraus nicht befreien. Das ist nichts, was ich schaffen kann. Das musst du tun.“ Erneut strich er ihm durch die Haare. Seine Worte verkamen immer mehr zu einem leisen Selbstgespräch, einem einfachen Verbalisieren seiner Sorgen, Ängste und Gedanken. „Vielleicht ist der Schatten zu stark für dich. Vielleicht sind die Ketten zu stark, als dass du sie sprengen könntest. Und ich muss hier hilflos daneben sitzen und kann nichts tun. Ich hab Angst, dass ich dich ihretwegen verliere. Wegen dem, was sie dir anerzogen und dich gelehrt haben. Von dem du dich nicht befreien kannst.“ Beschämt ließ der Braunhaarige den Kopf sinken. Die ganze Zeit hatte er mit offenem Mund an Mimouns Lippen gehangen, aber der Vorwurf war hart. „Und was für ein Schatten ist das, der mich kettet?“, fragte er rau. Bisher hatte er gedacht, er hätte seine Familie hinter sich gelassen, was veranlasste seinen Freund dazu, vom Gegenteil zu sprechen? „Einsamkeit.“, erwiderte Mimoun hart. Und bevor Dhaôma etwas erwidern konnte, fuhr er fort: „Früher hat dich deine Mutter dafür bestraft, dass du Freunde hattest. Dann hat sie diese bestraft. Nun habe ich den Eindruck, als würdest du dich selbst bestrafen, nur weil ich hier bin. Ohne Rücksicht, weder auf meine noch auf deine Gefühle, versuchst du, mich von dir zu stoßen und wieder in die Einsamkeit zu flüchten. Du willst nicht, dass ich gehe, das ist mehr als offensichtlich. Ich will hier ebenfalls nicht weg, es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche, als hier zu sein. Und dennoch scheinst du Angst davor zu haben, dass ich hier bin. Du willst, dass ich gehe und doch verletzt du dich damit. Und egal was ich auch sage, es kommt nicht bei dir an. Du begreifst nicht, wie sehr du mich mit diesem Verhalten verletzt, aber ich glaube, du kannst nicht anders. Du hast doch nur Einsamkeit und Schmerz kennen gelernt.“ Er verletzte ihn. Das war das erste, das in Dhaômas Kopf widerhallte, doch es blieb nicht allein. Bestrafte er sich wirklich selbst dafür, dass er einen Freund gefunden hatte? Suchte er die Einsamkeit, die er so sehr fürchtete? Blicklos hafteten seine Augen im Nichts. Warum? Das ergab doch keinen Sinn! Wieso sollte er etwas suchen, das schmerzhaft war? Seine Augen weiteten sich. Schmerzen? Waren das die Schmerzen, die er nicht zuordnen konnte? Das, was seine Brust zusammenzog und seinen Hals einengte? Konnte Mimoun es deswegen heilen? Und warum kettete die Einsamkeit ihn an seine Familie? Das war doch ein Widerspruch! Als Dhaôma nichts mehr sagte, schwieg Mimoun. Vielleicht brauchte der Junge in seinen Armen nun Zeit zum Nachdenken. Unablässig strich er ihm durch die Haare. Die andere Hand begann seinen Rücken auf und ab zu wandern. Was sollte er auch groß tun? Er musste warten, bis es dem Magier wieder besser ging. Und genau diesem schwirrten die Gedanken durch den Kopf. Was genau hatte er bisher getan? Mimoun hatte ihn einmal gefragt, warum er sich nicht später, als seine Mutter ihn aus den Augen verloren hatte, neue Freunde gesucht hatte, warum er sich selbst lieber isoliert hatte, aber darauf hatte er damals keine zufrieden stellende Antwort gehabt. Wiederholte er jetzt sein Verhalten? Als Mimoun von seiner Familie abgeholt worden war, hatte er auch gespürt, dass er einsam war, hatte sich immer wieder danach gesehnt, dass der Schwarzhaarige wiederkam, selbst wenn die Reise ihn abgelenkt hatte. Besonders im Winter war es schlimm gewesen, als er nicht mehr die Wahl hatte, ob er lieber mit seinen Pflanzen zusammen war oder mit Menschenwesen. Dann war er gekommen und es war etwas von ihm abgefallen, das er nicht beschreiben konnte. Das Drückende in seiner Seele war verschwunden, an seine Stelle war Ruhe und Ausgeglichenheit getreten, eine Leichtigkeit, die das Leben sehr viel farbenfroher gestaltete. Es machte ihm Spaß, Kleinigkeiten zu tun, die Mimoun glücklich machten. Selbst unter den Hanebito war Mimoun immer derjenige geblieben, für den er mehr getan hatte als für die anderen, den er immer im Auge behalten hatte. Und war es nicht so, dass dort seine Unsicherheiten angefangen hatten? Weil er kennen gelernt hatte, was ein freies Leben in der Luft bedeutete? Aber das hatte nicht bedeutet, dass er ihn von sich stoßen wollte. Im Grunde hatte er doch sogar Mimouns Schwester deswegen nicht gemocht, weil er Angst davor gehabt hatte, dass sie ihn zu sehr an sich band, ihn daran hinderte, weiterhin mit ihm zu wandern. Und anstatt dass er das Geschenk, dass er doch lieber bei ihm blieb, dankend angenommen hatte, wollte er Mimoun zu einem Leben ohne sich überreden. Warum? Weil er gelernt hatte, dass Mimouns Familie genau das war, was er sich für seine Familie immer gewünscht hatte. Weil er nicht wollte, dass Mimoun das aufgeben musste. Aber das war es nicht allein. Er spürte, dass da mehr war. „Weil ich Angst davor habe, dass du irgendwann gehst.“, sagte er mehr zu sich selbst als zu seinem Freund. „Es ist einfacher zu wissen, wann man wieder alleine ist, als dass man jeden Tag darauf wartet, plötzlich alleine dazustehen.“ Er seufzte zittrig. Genau das war der Grund, warum er so unsicher war. Aber bedeutete das nicht, dass er Mimoun nicht vertraute? War das nicht ein Vertrauensbruch? Als würde Mimoun sein Wort brechen. Das hatte er noch nie getan. Nicht ihm gegenüber. Aber hatten ihn nicht alle immer irgendwann allein gelassen? War es vielleicht das, was Mimoun mit seinen Worten meinte, dass er an seine Familie - die Vergangenheit gekettet war? Dass er kein Vertrauen mehr haben konnte? Darin, dass ihn jemand mochte? Darin, dass jemand bei ihm sein wollte? Hatte er verlernt, Freundschaft anzuerkennen? Wieder atmete er zitternd ein. War das der Grund, warum er Mimoun verletzte? Weil er ihm nicht vertrauen konnte? Nein, weil er Angst hatte, zu vertrauen! Mimoun im Gegensatz dazu vertraute ihm immer. Dass er in seinem Dorf Freunde fand, dass er ihn heilte, dass er ihm half, wenn etwas nicht funktionierte, dass er Frieden bringen konnte. Dass er seinen Traum erfüllen konnte, Drachen zu finden, und mit ihnen zusammen die Magier und die Hanebito zu versöhnen. „Und du bist doch stark.“, murmelte er mit einem schwachen Lächeln. Im Gegensatz zu ihm war der Schwarzhaarige aufrecht und mutig. Entschlossen ballte er die Hände zusammen, seine Augenbrauen zogen sich zusammen und bildeten eine steile Falte auf seiner Stirn. So musste er auch werden. Mutig, damit er wieder vertrauen konnte. Stark, damit er seinen Freund und Addar nicht enttäuschen musste. Aufrecht, damit er diejenigen überzeugen konnte, die ihm von Hause aus nie zuhören würden: seine Familie und die Hohen Häuser der Magier. „Hab ich irgendetwas falsch verstanden?“, wandte er sich urplötzlich an Mimoun, völlig vergessend, dass er diese Diskussion größtenteils in seinem Kopf ausgefochten hatte. Als Dhaôma anfing zu reden, lauschte Mimoun aufmerksam. Er wollte darauf etwas erwidern, doch es schien so, als wäre sein Freund erneut in Gedanken versunken. Also schwieg er weiter, fuhr mit den Fingern immer wieder durch die weichen Haare. Den nächsten vor sich hin gemurmelten Satz beantwortete er mit einem milden Lächeln. Ob sich Dhaôma überhaupt bewusst war, dass er vor sich hinredete? Aufmerksam verfolgte der Geflügelte jede Bewegung, sah die geballten Fäuste, die gerunzelte Stirn. Was wohl in seinem Kopf gerade vor sich ging? Gerade weil er es nicht sagen konnte, wusste er auf die letzte Frage keine Antwort. „Ich weiß es nicht.“, lächelte Mimoun weich. „Aber du brauchst keine Angst davor haben, dass ich dich alleine lasse. Ich hatte es dir doch versprochen, nicht wahr?“ „Okay.“, beschloss Dhaôma seinen ersten Grundsatz gleich mal zu verfolgen. Mehr Vertrauen ohne zu zweifeln. Seine Hände fuhren durch seine wirren Haare, um sie aus der Stirn zu befördern. Es fühlte sich an, als ob da mehr Knoten drin wären als sonst. Mochte an der liebevollen Behandlung durch den Hanebito liegen. „Also, gehen wir jetzt weiter oder…“ Sein Blick fiel auf das Holz und das Fleisch und er wurde rot. „Ai.“ Und mit reichlich roten Wangen begriff er im nächsten Moment, warum Mimoun weg gewesen war. Er hatte gejagt. Und sogar Feuerholz gesucht. „Danke.“ Mimoun lachte herzhaft und piekte seinem Freund in die roten Wangen. So niedlich. Mit einem gezielten Griff in Dhaômas Tasche förderte er die Feuersteine zutage, ließ sie zwischen den Fingern kreisen, während er sich endgültig von seinem Freund löste und auf das vorbereitete Feuerholz zustrebte. „So haben wir doch beide was davon. Ich meinen Ausflug und du vernünftiges Essen.“ Und schon machte er sich daran, das Feuer in Gang zu bringen. Nach ein paar Sekunden, in denen Dhaôma sich endgültig sammelte, folgte er zu den Stöcken und Ästen, die nun langsam Feuer fingen. Sein Kopf war ruhiger als die letzten Tage und er spürte so etwas, wie eine innere Kraft, die ihm Halt gab, als er sich neben den Geflügelten setzte. Gleichzeitig fühlte er eine bleierne Müdigkeit, die vom Weinen und dem vorherigen Gefühlschaos kam. „Ich hab mich erschrocken, als du einfach verschwunden bist.“ Ohne Wertung kamen die Worte über seine Lippen. Kurz sah Mimoun von dem Feuer auf und schaute seinen Freund entschuldigend an. „Es tut mir Leid. Es war… eine Übersprungshandlung. Wir hatten kein Essen mehr, du magst keine Rohkost und du hattest gestern richtig festgestellt, dass ich hier jederzeit raus kann. Tut mir wirklich Leid. Ich hatte nicht erwartet, dass es dich verletzt, wenn ich für einige Zeit weg bin. Oh.“ Ihm fiel wieder der Nachmittag in den Bergen ein, den er im Regen auf einem Baum verbracht hatte, weil er dachte, der Magier brauche einige Zeit für sich. Und damals war er auch so panisch hinterher gewesen. Betreten senkte er den Blick wieder. „Verzeih. Du hast Recht. Ich werde ab jetzt Bescheid sagen.“ „Danke.“ Danach war das Thema vom Tisch. Neugierig lehnte er sich vor und lupfte die Haut, in der das Fleisch eingewickelt war, kurz an. „Und was war das da für ein Tier? So ein Fell hab ich noch nie gesehen.“ Es war gelblich und ganz kurz, ähnlich dem eines Hirsches, aber hatte definitiv die falsche Farbe. „Antilope.“, erklärte Mimoun. „Kommen in unserer Region eher selten vor, deshalb hast du so was wahrscheinlich noch nicht gesehen.“ Prüfend besah er sich Dhaôma. Dieser hatte das Thema gewechselt, wirkte auch nicht mehr so niedergeschlagen und verstört. Nun beruhigt wandte er sich wieder seiner Aufgabe zu. Viel war nicht mehr zu machen. Das Feuer brannte, das Fleisch war bereits vorbereitet. Nun hieß es nur noch warten. Und darauf achten, dass Dhaômas Essen nicht verkohlte. Die nächste Zeit wanderten sie die Schlucht entlang. Zwischendurch wurde der Sims immer mal wieder breit genug, damit sie nebeneinander laufen konnten oder aber gemütlich schlafen. Dann wieder war er so schmal, dass Mimoun ihn tragen musste, damit er nicht Gefahr lief, abzustürzen. Generell flog Mimoun oft vor. Bis es plötzlich nicht mehr ging. Mitsamt dem Sims verschwand der Fluss unter dem Fels. Selbst für Dhaôma war es zu schmal, um einfach aufrecht zu gehen. Er würde kriechen müssen. Etwas ratlos blieb er stehen und sah zu Mimoun zurück, der ihm diese Entwicklung schon angekündigt hatte. Unglücklich verzog dieser das Gesicht, während er sich die Szenerie betrachtete. Entweder er entschied sich dazu, oberirdisch nach dem Ausgang des Flusses zu suchen, nicht wissend wie es seinem Freund in der Zeit dort unten erging, falls dieser dort durchklettern wollte, oder er kroch auf dem Bauch durch die Erde, nicht wissend, ob es irgendwann keine Möglichkeit zur Umkehr mehr geben und er dort elendig feststecken würde. Und niemand konnte sagen, wie weit die Strecke war. Auf die Schnelle hatte er keinen Ausgang finden können. „Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese zum Teil riesigen Geschöpfe in diesem winzigen Loch hocken?“, umging er erst einmal das eigentliche Problem. „Das kommt darauf an, ob es irgendwo noch einen anderen Ausgang gibt oder nicht.“ Unsicher zuckte Dhaôma mit den Schultern. Er war sich selbst nicht sicher, ob er so gerne unter der Erde begraben sein wollte. Andererseits war ein gutes Versteck die Voraussetzung dafür, dass man nicht entdeckt werden konnte. „Aber das Wasser fließt irgendwann ins Meer. Das heißt, der Fluss muss irgendwo wieder an die Oberfläche kommen. Oder?“ „Ja.“, erwiderte Mimoun gedehnt. „Das ist aber auch das einzige, was momentan sicher ist. Niemand kann uns garantieren, dass den ganzen Lauf entlang ein Weg ist oder ob der Fluss stellenweise den kompletten Gang ausfüllt. Die Schlucht ist nicht so schlimm, da kann ich jederzeit raus, aber da unten…“ „Aber wenn sie hier leben, dann auf jeden Fall dort unten, oder? Wir sind schon seit zwei Wochen in dieser gigantischen Umgebung und du hast schon wenig Platz zum Fliegen. Auch wenn es nicht der richtige Eingang ist. Wir haben sie doch auch nie gesehen, oder?“ In Dhaôma wuchs der Wunsch, wirklich dort unten hineinzugehen, um zu sehen, ob irgendjemand dort war. Oder irgendetwas. „Wir können doch zurückgehen, wenn es zu eng wird, oder?“ Mimoun schnaubte verächtlich und verschränkte die Arme. Mit hochgezogener Augenbraue flatterte er ein wenig mit seinen Flügeln. „Niemand kann vorhersagen, ob sich die Möglichkeit zum Umdrehen bietet oder ob ich rückwärts krauchen müsste, was nicht sonderlich einfach ist mit den Dingern. Es sei denn wir brechen die Speichen und Knochen, damit ich um die Ecke passe und du heilst es später. Und was ist mit Licht? Du kannst nicht alle naselang Leuchtmoos wachsen lassen. Das erschöpft dich und wir würden langsamer vorwärts kommen, als wenn wir uns in Dunkelheit vortasten würden. Und Vorräte? Wenn diese Suche dort unten länger dauert? Ob es etwas dort unten gibt, was sich jagen lässt?“ Er schüttelte den Kopf, als ihm bewusst wurde, dass er langsam immer schroffer wurde in seinem Ton. „Entschuldige. Ich fühl mich nicht wohl dabei. Schlimmer noch, als mit der Schlucht an sich.“ Betroffen blickte Dhaôma ihn an. Mimoun hatte Recht. Wenn er selbst stecken blieb, konnte er rückwärts krauchen, aber Mimoun hatte natürliche Widerhaken in Form seiner Flügel. Und sie zu brechen kam nicht in Frage. Immerhin hätte er eine Antwort auf die Sache mit dem Leuchtmoos. Man könnte es mit sich tragen. Und auch Vorräte könnten sie mitnehmen. Natürlich nicht so viel, aber immerhin etwas. „Vielleicht hast du Recht.“ Es gab hunderte Gefahren, die sie nicht einfach mit Flucht oder Fliegen lösen konnten. Andererseits hatte er sich vorgenommen, stärker zu werden, mutiger. „Aber ich möchte deswegen nicht aufgeben. Immerhin könnte hier die erste Etappe zu unserem Traum liegen. Oder unser Ziel. Vielleicht gibt es dort drinnen einen Wegweiser.“ Mimouns Gesicht wurde noch ein wenig unglücklicher. Aber er nickte. Hier aufzugeben passte nicht zu ihnen. Sie hatten schon soviel durchgemacht deswegen. Sein Blick wanderte über den engen Eingang und er seufzte schwer. „Wie wär’s? Ich genieße das letzte Mal für unbestimmte Zeit die freien Lüfte, beschaffe noch ein wenig Fleisch und Holz und du erkundest ein wenig den Anfang davon.“ Mit einem missglückten Lächeln deutete er auf das Höllenloch. „Vielleicht haben wir Glück und es wird nachher breiter.“ Nickend besah sich der Braunhaarige das Loch. „Dann verbringen wir einfach die Nacht noch hier draußen und gehen erst am nächsten Tag rein. Und ich erkunde schon mal die ersten paar hundert Meter.“ Aufmunternd lächelte er seinem Freund zu. Das wird schon alles, sollte das heißen. Doch bevor er hineinging, musste er noch Leuchtmoos wachsen lassen. Vielleicht konnte man das Zeug irgendwie an die Kleider binden, damit er es nicht halten musste. Geschäftig begann er in seinem Beutelchen zu wühlen. Dankbar erwiderte Mimoun das Lächeln. So wurde ihm wenigstens noch ein wenig Aufschub gewährt, bevor er endgültig begraben wurde. Unbewusst schauderte es ihn bei dem Gedanken daran. „Ich bin gleich zurück.“, kündigte er an. Der Geflügelte sagte das nun immer, selbst wenn er sich für kleine Flüge in Dhaômas Sichtfeld entfernte. Anschließend erhob er sich in die Lüfte. Alles, was er für die Jagd nicht brauchte, legte er vorher bei Dhaôma ab. Es war nur unnötiger Ballast und eine Garantie für seinen Freund, dass er auf jeden Fall zurückkommen würde. Teils bewusst, teils unbeabsichtigt zog er seinen Flug in die Länge. Erst tobte er durch die Wolken, ließ sich fallen, vollführte Drehungen, zog Kreise. Anschließend strich er im Tiefflug über das Land hinweg auf der Suche nach dem Holz, welches er anschließend am Rande der Schlucht ablegte. Es war besser so, als wenn die Jagdbeute unbeaufsichtigt darauf warten würde, dass er zurückkam oder ein anderer Räuber auftauchte. Nachdem Mimoun das Holz fallengelassen hatte, stand er kurz am Rande der Klippe und sah in das Dunkel hinunter. Sein Magen krampfte sich erneut bei dem Gedanken zusammen, zwischen den Erdmassen, dicht neben dem unberechenbaren Fluss, eingeklemmt zu sein. Entschlossen wandte er sich ab und ging auf die Jagd. Zu lange wollte er Dhaôma dann doch nicht warten lassen. Er hielt nach größerer Beute Ausschau, dass sie auch genügend Vorräte hatten und so zog sich das erneut ein wenig in die Länge. Auch weil er es erst einmal auseinander nehmen musste, um überschüssiges Gewicht loszuwerden. Schließlich blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als wieder in die Schlucht zu dem Magier zurückzukehren. Hosted by Animexx e.V. 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