Last Farewell von Sinistra ================================================================================ Kapitel 6: Home, Sweet Home --------------------------- Montag. Montag war ein schlechter Tag. Grundsätzlich. Schon fast einen Monat war Seunghyun spurlos verschwunden, nicht einmal ein Lebenszeichen hatte er ihnen zukommen lassen. Jiyong hing lustlos auf einem der vier Drehstühle, die hinter einem langen Tisch im Tanzstudio Nr. 4 des YG-Gebäudes aufgereiht standen. Auf den Stühlen neben ihm saßen Yongbae, Daesung und Seungri. Es war der erste Tag der Woche, in der die Castings für einen neuen Rapper stattfinden sollten. Sie hatten schon drei oder vier Kandidaten gesehen – Jiyong hatte nicht mitgezählt. Wenn er überhaupt einmal hingesehen hatte. Doch nicht nur er schien wenig begeistert zu sein, auch die jungen Männer neben ihm hatten unauffällig die Handys aus den Hosentaschen gekramt. Seungri und Daesung schienen miteinander zu texten, auf Yongbaes Gerät lief eine aufgemotzte Tetrisversion. Wieder schwang die Glastür auf und ein recht jung aussehender Typ trat mit einem dermaßen riesigen Selbstbewusstsein vor die Truppe, dass es beinahe schon lächerlich wirkte. Yongbae pausierte unter dem Tisch sein Spiel und musterte den Jungen. Der Auftritt schien dem Ältesten jetzt schon gegen den Strich zu gehen. „Name, Alter?“, fragte er knapp angebunden. Die Antwort kam prompt, aber Jiyong hörte nicht hin. Auf seinem Handy tippte er die dreißigste SMS an Seunghyun innerhalb einer Woche. Wie konnte der verdammte Idiot nur all die Nachrichten ignorieren? So wie Jiyong ihn kannte, hätte er spätestens nach der zehnten an die Decke gehen und ihn wutentbrannt anrufen müssen. Doch die Taktik ging nicht auf – nicht dieses Mal. Er musste sich zusammenreißen, um das teure Gerät nicht aus Frust auf den Boden zu schleudern. Stattdessen steckte er es zurück in die Tasche seiner Hose. Inzwischen war der Kandidat enttäuscht wieder abgezogen. Jiyong sah die anderen an und gähnte demonstrativ. „Noch jemand einen Kaffee?“, fragte er, als er aufstand und in Richtung Tür schlurfte. Ein zustimmendes Murmeln kam von seinen Kollegen, das er mal großzügig als „Ja“ deutete. Auf den Fluren von YG Entertainment war es gewohnt still. Die meisten arbeiteten in ihren Studios oder Büros und kamen selten mal heraus, um sich Kaffee oder einen Snack zu besorgen. Er bog ab in den schwarz gehaltenen Lounge-Bereich, in dem einer der vielen Kaffeeautomaten seinen Platz hatte. Jiyong zog die Chipkarte durch, die jedes Mitglied des Labels für die Automaten im Gebäude besaß, und drückte den Knopf für schwarzen Kaffee. Während die erste Tasse sich langsam mit der dampfenden, dunklen Flüssigkeit füllte, hörte er hinter sich die Tür zur Lounge aufgehen. Er drehte sich um, um zu sehen wer sich da zu ihm gesellte und begann zu lächeln. „Hey..“, grüßte Bom ihn verlegen. Er sah, wie sie eine Locke ihres langen, rot gefärbten Haares um den Zeigefinger wickelte. War sie nervös? Er nahm die erste Tasse aus dem Automaten und stellte sie auf einen der kleinen Tische neben dem Automaten ab, bevor er den nächsten Kaffee orderte. Bom stellte sich hinter den Sänger und trippelte von einem High-Heel auf den anderen. Er drehte sich wieder zu ihr um und grinste. „Tut mir Leid, ist 'ne Sammelbestellung. Ich fürchte, du musst dich noch gedulden, Bom.“ Sie lächelte wieder. „Macht nichts, GD. Ich...-“ Sie stockte. Er sah sie fragend an. „Ja?“ Doch die hübsche Frau schüttelte nur den Kopf. „Schon gut. Ach, weißt du was, ich – ich werde einfach...zu dem Automaten da drüben gehen.“ Er folgte dem Zeig ihres Fingers in Richtung des zweiten Kaffeeautomaten an der gegenüber liegenden Wand und zog die Augenbrauen hoch. Irgendetwas sagte ihm, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Oder spielte ihm seine Wahrnehmung nun schon Streiche? Bom stand vor dem anderen Automaten und schien nicht einmal zu wissen, was sie gerade noch trinken wollte. Ein Piepen zeigte an, dass der nächste Kaffee fertig war. Als Jiyong sich wieder auf den Rückweg zum Studio machte, balancierte er die vier dampfenden Pappbecher auf einem der eindeutig viel zu kleinen Plastiktabletts vor sich her, die neben jedem Automaten zu finden waren. Sie alle konnten den Kaffee sicherlich gut gebrauchen. Es kam ihm vor als hätte er seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen und die Ringe unter seinen Augen waren kaum noch mit Make-up zu verdecken. Er trabte an den Studiotüren vorbei. Eins, zwei, drei... Die Bildschirme an den Wänden spuckten ihm unzählige, knallige Bilder der Musiker von YG entgegen, ein tonloses Musikvideo jagte das andere. Sonst hatten es ihn immer in Hochstimmung versetzt, seine Erfolge an sich vorbeiziehen zu sehen. Doch als er an diesem Tag vor der Glastür zum Studio Nr. 4 zum Stehen kam und gerade im Begriff war sie zu öffnen, schlug seine Stimmung plötzlich um. Das, was er dort sah, verschlug ihm den Atem und ließ sein Herz so schnell schlagen, dass er fürchtete, es könnte jeden Moment aussetzen. Er blieb wie angewurzelt vor der Tür stehen, war nicht in der Lage sie zu öffnen. Niemals hätte er mit so etwas gerechnet und nun traf es ihn wie ein Schlag direkt vor den Kopf. Es gab ein Klatschen und er spürte, wie der heiße Kaffee auf seiner Hose und dem Pullover landete, als das Tablett aus seinen Händen zu Boden glitt. Ein erstickter Aufschrei kam über seine Lippen. Die vier Augenpaare im Raum richteten ihren Blick neugierig auf ihn. Er taumelte rückwärts, machte dann auf dem Absatz kehrt und hastete schnellen Schrittes den Flur entlang, zurück in Richtung Lounge. Das Brennen des heißen Getränkes auf seiner Haut war nebensächlich geworden. Er wollte nur weg. Weg von dort. Und vor allem: Weg von ihm. Hinter sich vernahm er schwere Schritte, die langsam aber sicher näher kamen. Jiyong realisierte, dass es keinen Sinn haben würde wegzulaufen. Er würde ihn kriegen, ob jetzt oder später. Irgendwann, irgendwo würde er unachtsam werden und dann würde er ihn einholen und überwältigen, ihn zugrunde richten. Er wurde langsamer. Eine große Hand legte sich unsanft auf seine Schulter und hinderte ihn daran, weiter zu gehen. Einen irrwitzigen Moment lang glaubte er Seunghyun zu sehen, sobald er sich umdrehen würde. Seunghyun wie er, verärgert über das merkwürdige Verhalten seines Partners, tadelnd auf ihn hinunter sah, ihn am Arm packte und zurück zu den anderen zog. Doch die Stimme, die nun erklang, hatte sich ihm auf andere Weise ins Gedächtnis eingebrannt. „Warum so eilig, GD?“, fragte Chunghee spöttisch. Jiyong fuhr herum, schüttelte in der Bewegung die fremde Hand ab. „Was willst du hier?“ Eine unbändige Wut keimte in ihm auf, als er in das Gesicht des Menschen blickte, der sein Leben und das der anderen beinahe komplett zerstört hatte. Warum war er wiedergekommen? Hatte er nicht schon genug angerichtet? Der Mann grinste verschlagen. „Freust du dich nicht mich wiederzusehen? Wir hatten doch so viel... Spaß.“ Die Art, wie er dieses letzte Wort betonte, jagte Jiyong einen kalten Schauer über den Rücken. Er wich zurück, um Abstand zwischen sich und diesen Abschaum von einem Mann zu bringen. Doch Chunghee schnellte mit einer überraschenden Geschwindigkeit vor und kaum zwei Sekunden später fand sich Jiyong mit dem Rücken gegen die Wand gepresst wieder. Chunghees Atem schlug ihm entgegen, als jener sich zu ihm herunter beugte. Er stank nach Alkohol. Wie war dieser Kerl überhaupt in das Gebäude gekommen? Hatte YG Entertainment jeglichen Anstand verloren? „Willst du Geld?“, fragte der Jüngere leise und sah sich hektisch auf dem kleinen Nebenkorridor um, in dem sie gelandet waren. Doch gerade heute erschien das komplette Gebäude wie ausgestorben. Er hörte Chunghee lachen. „Nein, kein Geld...“, erwiderte er und in seinem Tonfall schwang eine unterschwellige Drohung mit. Sein Gesicht war so nah, dass sich ihre Nasen fast berührten. Jiyong kämpfte verzweifelt gegen das Schwindelgefühl an, das ihn ergreifen wollte. Chunghee presste ihn fester gegen die Wand. „Ich will dich, GD“, raunte er. „Komm' jeden Freitag in unseren Club und ich werde meinen Mund halten.“ Das dreckige Grinsen verschwamm vor Jiyongs Augen zu einer bösen Fratze. „Lass die anderen in Ruhe“, forderte er mit zittriger Stimme. „Lass sie in Frieden und ich mache alles, was du von mir willst.“ Chunghees Grinsen erlosch. „Einverstanden. Aber solltest du am Freitag nicht auftauchen – war es das. Ich finde einen Weg, um dich kaputt zu machen. Dich und deine kleinen Freunde.“ Auf dem Flur waren Schritte zu hören. Chunghee ließ von seinem Opfer ab und sah es eindringlich an. „Freitag. Club. Und kein Wort zu irgendjemandem“, erklärte er noch einmal mit Nachdruck, dann wandte er sich ab und lief den Korridor entlang, weg von den Schritten, die immer näher kamen, bis er hinter der nächsten Ecke verschwand wie ein böses Phantom. Jiyong hatte noch immer den Gestank von Chunghees Atem in der Nase. Seine Welt, die er gerade mühsam wieder hatte zusammenflicken wollen, zerbrach neuerlich, begann sich vor seinen Augen zu drehen, immer schneller, bis er kraftlos an der Wand hinunter zu Boden sank. Er wollte weinen, wollte sich auf dem Boden zusammenrollen wie ein kleines Kind und einfach liegen bleiben. Doch er musste stark sein. Gerade schien alles wieder besser zu laufen. Er durfte das nicht wieder zerstören. Die Schritte auf dem Hauptflur waren fast bei ihm und als Seungri an ihm vorbei lief, hatte Jiyong sich gerade wieder mühsam aufgerappelt und lehnte an der Korridorwand. Der Jüngste schien ihn zuerst gar nicht gesehen zu haben, doch dann kam er plötzlich wieder zurück und schielte zögerlich um die Ecke. Als hätte er Angst vor dem, was er sehen könnte, schoss es dem Bandleader durch den Kopf. „Hyung, was ist los?“, fragte der Jüngere vorsichtig und kam auf ihn zu. „Wir haben dich gesucht!“ Jiyong zögerte einen Moment lang. Er suchte nach einer Erklärung für seine plötzliche Flucht, in der der Namen „Chunghee“ nicht vorkam – was sich als schwerer entpuppte als er vermutet hatte. Schließlich erklärte er stockend: „Ich – mir... Mir ist der Kaffee runtergefallen. Ich schätze, ich habe mich verbrannt. Wollte gerade zum Bad, um mit Wasser zu kühlen.Tut mir Leid...“ Gut. Das war nichtmal gelogen. Seine Oberschenkel schmerzten tatsächlich höllisch. Seungri musterte ihn mitleidig, packte ihn dann am Arm. „Du musst dich nicht entschuldigen, Hyung. Yongbae und Daesung haken gerade noch den letzten Kandidaten für heute ab.“ Jiyong stolperte hinter dem Jüngsten her. Zuerst wagte er es nicht, ihn auf Chunghee anzusprechen, aber er musste wissen ob die anderen ihn hatten zuordnen können. Ob sie Verdacht geschöpft hatten, wer der Fremde war. „Was war mit dem, der dran war, als ich wiederkam?“, fragte der Leader bemüht ruhig und beiläufig. Seungri blickte sich nicht um während er sprach. Er hatte seine Schritte inzwischen so sehr beschleunigt, dass er seinen Freund regelrecht hinter sich herschleifte. „Du meinst... wie hieß er denn gleich... Changbae! Der wird es sicherlich nicht werden. Hast du ihn dir nicht genauer angesehen? Der war doch mindestens vierzig...“ Jiyong grinste bitter. Und ob er sich den Kerl angesehen hatte. Er hatte genug Gelegenheit dazu gehabt – auch wenn er sich an die eine im Club nicht mehr so genau erinnerte. Changbae hatte er sich also genannt. Wenigstens hatte er die anderen in Frieden gelassen. Er würde das schon regeln – Freitag, im Club, allein. In New York war es zehn Uhr morgens, als Alex mit klopfendem Herzen vor der Hoteltür stand, durch die sie inzwischen schon so oft gegangen war. Mittlerweile warfen ihr nicht einmal mehr die Rezeptionistinnen misstrauische Blicke zu, wenn sie durch die pompöse Lobby schritt. Trotzdem war sie jedes Mal aufgeregt wie ein kleines Kind, wenn Seunghyun die Tür öffnete. Sie hatte ihn noch nicht auf das angesprochen, was sie im Internet gefunden hatte. Es war sicherlich besser, keine schlafenden Hunde zu wecken. Energisch klopfte sie an die dunkle Holztür und wartete. Nur ein paar Sekunden später öffnete Seunghyun ihr die Tür und lächelte als er zur Seite trat, um sie vorbei zu lassen. „Morgen“, grüßte er und erklärte dann: „Ich hab' uns Frühstück bestellt. Ich hoffe, ich habe das Richtige geordert.“ Sie blickte auf den kleinen Tisch mit den zwei Stühlen, der nahe bei der Fensterfront stand. Neben einem Strauß Blumen reihten sich dicht aneinander gedrängt Teller und Schalen mit Rührei, Obst, Brot und Joghurt, sowie eine Kanne Kaffee. Sie verschwieg, dass sie gerade mit ihrem Freund im Coffee Shop gefrühstückt hatte, und setzte sich an den Tisch. Den Umschlag, den sie seit heute früh mit sich herumschleppte, legte sie im Vorbeigehen auf dem Nachtschrank neben dem Bett ab. Seunghyun beäugte ihn neugierig, sagte aber vorerst nichts. Er schenkte ihnen beiden Kaffee ein und nahm dann selbst Platz, um sich Rührei und Speck auf den Teller zu schaufeln. Alex beobachtete ihn amüsiert. Als er ihren Blick bemerkte, hielt er inne und überließ ihr widerwillig den Rest aus der Schale. „Tut mir Leid, ich steh' auf euer Frühstück“, erklärte er mit reumütigem Blick. Dann nickte er mit dem Kinn in Richtung des Umschlags. „Was ist das?“ Alex lächelte. „Überraschung. Den darfst du dir nachher im Taxi ansehen.“ Seunghyun runzelte die Stirn, fragte aber nicht weiter nach. Sie würde schon ihre Gründe haben. Eine gute halbe Stunde später stieg Seunghyun hinter Alex in das Taxi ein, das gerade vor dem Hotel gehalten hatte, und ließ sich neben ihr auf die Rückbank fallen. Alex nannte dem Fahrer eine ihm unbekannte Adresse und lehnte sich dann zurück. „Jetzt gib den Umschlag her, ich will wissen was Sache ist!“, knurrte er und schnappte ihr das Objekt der Begierde forsch aus den Händen. Er konnte Überraschungen nicht ausstehen. Überraschungen hatte man nicht unter Kontrolle – sie überraschten einen. Als er den Umschlag öffnete, spürte er Alex' gespannten Blick auf sich. Er schüttelte den Inhalt auf seinen Schoß. Zum Vorschein kam – eine Visitenkarte? Eine winzige Visitenkarte in einem DinA4 Umschlag? Wirklich? „Willst du mich verarschen?“, murmelte er, ohne seine Freundin anzusehen. Er wusste trotzdem, wie sehr er sie mit seiner Frage getroffen haben musste, er kannte sie inzwischen gut genug. „Schau sie dir wenigstens erstmal an, du... Ach, vergiss es! Gib sie wieder her, ich will zurück nach Hause!“ Sie griff nach der Karte, doch er war schneller und hielt sie von ihr weg, sodass sie fast auf seinen Schoß krabbelte, um sie wiederzuerlangen. Seunghyun sah den mahnenden Blick des Fahrers im Rückspiegel und schob Alex mit sanfter Bestimmtheit von sich herunter, bevor er schnell einen Blick auf die Karte warf. „DNS Immobilien“, stand dort in schlichter, blauer Schrift. Darunter eine Adresse und die weiteren Kontaktdaten. Seunghyun blickte Alex irritiert an, die schmollend von ihm weggerückt war und ihm finstere Blicke zuwarf. „Das ist eines der besten Maklerbüros von New York City, du Ignorant! Ich wollte doch nur, dass du nicht ewig in diesem Hotel hausen musst!“ Dem Rapper fiel die Kinnlade herunter und einen Augenblick lang war er tatsächlich sprachlos. Der Taxifahrer hatte während der Fahrt ihre Auseinandersetzung mitverfolgt und sah sie nun, da er an einer roten Ampel stand, durch den Rückspiegel fragend an. „Was ist denn nun?“, wollte er wissen. „Ist die Adresse noch aktuell?“ Bevor Alex den Mund aufmachen konnte, erwiderte Seunghyun hastig: „Ja, fahren Sie uns hin!“ Die restliche Fahrt verlief schweigend. Seunghyun war noch immer fremd im Big Apple, doch seine Orientierung, die er auf den Ausflügen mit Alex gewonnen hatte, reichte aus, um sagen zu können, dass sie sich keinesfalls dem Finanzdistrikt näherten, in dem das Maklerbüro laut Visitenkarte lag. Noch eine Überraschung. Toll. Aber der junge Mann hatte dazugelernt. Er hielt den Mund, bis das Taxi vor einem modernen Hochhaus hielt, das nur aus Stahl und Glas zu bestehen schien. Alex bedeutete ihm auszusteigen und er trat aus dem Taxi hinaus auf den breiten Gehweg. Vor dem Gebäudeeingang stand ein junger Mann, nicht viel älter als Seunghyun selbst. Er trug einen smarten, schwarzen Blazer, darunter ein helles Shirt, und eine dunkle Jeans mit schwarzen Lederschuhen. Als er Seunghyun und Alex aussteigen sah, kam er breit grinsend auf sie zugelaufen, die Hand bereits im Gehen zum Gruß ausgestreckt. Ein wenig überrumpelt schüttelte Seunghyun sie. So langsam dämmerte ihm, was das hier sollte. Das war nicht das Büro des Maklers – sie standen vor der Immobilie, die Alex für ihn ausgewählt haben musste.“Mr. Choi, nicht wahr?“, begann der junge Makler zu reden. „Jonathan Bermond mein Name, DNS Immobilien. Ihre Freundin hat einen wirklich exzellenten Geschmack bewiesen, das Objekt wird Ihnen sicher zusagen, Mr. Choi!“ Seunghyun blieb stumm. Er fühlte sich ein wenig hilflos, schwafelte der Kerl vor ihm doch so schnell, dass er gerade einmal die Hälfte verstand. Alex lächelte ermutigend und griff nach Seunghyuns Hand, um mit ihm dem Makler zu folgen, der bereits auf das Gebäude zuhielt. Ihre Berührung war so beiläufig und trotzdem jagte sie Seunghyun einen Schauer über den Rücken. In der Eingangshalle war alles minimalistisch gehalten, fast schon steril. Nur einige Grünpflanzen und kleine, weiße Polstersitzecken verteilten sich auf dem weißen Marmorboden. Am Ende der Halle befand sich der Aufzug. In der Kabine drückte Jonathan die „13“ und gab mit flinken Fingern einen Code in die Tastatur ein, dann setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung. Seunghyun spürte Alex' Blicke auf sich, während sich die Fahrstuhltüren einen Moment später wieder öffneten. Er wusste nicht wie jemand wie Alex an so eine Immobilie geraten sein konnte, doch was sich da vor ihm auftat war unglaublich. Sie traten hinaus in einen großen, lichtdurchfluteten Raum. Die Außenwände waren komplett verglast und gaben den Blick auf New Yorks atemberaubende Skyline frei, die er so sehr liebte. „Das, Mr. Choi, ist eines der exklusivsten Penthouses aus meinem Fundus. Drei Etagen, 641 Quadratmeter Wohnfläche, 246 Quadratmeter Dachterasse. Es gibt 15 Räume, davon drei Schlafzimmer, fünf Bäder, zwei...“ „Wie viel?“, unterbrach Seunghyun ihn. Der Makler stutzte. „35 Millionen US-Dollar, Mr. Choi.“ Seunghyun schluckte trocken und sah zweifelnd zu Alex hinüber. Die junge Frau sah ihn aus großen Augen an. „Ist das zu viel?“, fragte sie unsicher. Der Rapper ging in Gedanken seine Kontostände durch, während er dem Makler durch diverse großzügige und helle Räume folgte. Er würde sich dringend einen Job suchen müssen, wenn er dieses Monster kaufen wollte. Zwar hatte er das Geld für den Kauf, doch er wollte nicht wissen wie hoch die Nebenkosten sein würden. Trotzdem nickte er nach einer Weile zustimmend und streckte dem Makler widerstrebend die Hand entgegen. An diese Sitte würde er sich nie gewöhnen... „Ich nehme es, Jonathan.“ Fünf Tage später trat Seunghyun zum ersten Mal in das Penthouse, das er nun sein Eigen nennen durfte. Er hatte urprünglich nicht vorgehabt so viel Geld in seinen Neuanfang zu investieren, hatte er doch ein normales Leben beginnen wollen, weit ab von dem Trubel seiner ehemaligen Prominenz. Doch das Penthouse hatte ihn fasziniert. Er schien einfach nicht von seinem Streben nach Luxus ablassen zu können. Eine letzte Verbindung zu dem Leben, von dem er einmal ein Teil gewesen war, das ihn in seiner Persönlichkeit so stark geprägt hatte. Als er nun in dem großen Ankleidezimmer der Mastersuite im fünfzehnten Stock stand und die wenigen Kleider in die riesigen, schwarz lackierten Schränke verteilte, überkam ihn seit langem wieder die Sehnsucht. Heimlich schlich sie sich in seine Gedanken ein und lenkte sie über den Ozean, hin zu seinen Liebsten. Ja, er liebte sie immer noch. Seine Familie, seine Freunde – und ihn. Nur deswegen hatte er ihn verlassen. Wie viel Leben könnte in dieser Wohnung sein, wenn er nur hier wäre. So schien sie ihm leer und einsam. Unter seinen Klamotten kam ein kleines Gerät zum Vorschein, das er beinahe vergessen hatte – sein altes Smartphone. Er hatte es in all der Zeit nicht übers Herz gebracht, das Ding wegzuschmeißen – obwohl er sich hier in New York ein neues zugelegt hatte. Es schien ihn zu rufen, dort aus den Tiefen seiner Tasche heraus, forderte seine Aufmerksamkeit. Er hob es mit zitternden Fingern hoch und drückte den roten Hörer. Einige Sekunden dauerte es, bis der Startbildschirm erschien. Seunghyun schluckte trocken, als er die Meldung sah: „97 neue Nachrichten.“ Das durfte doch nicht wahr sein. Er öffnete die Liste der Textnachrichten, die beinahe den Speicherplatz sprengten. Die älteste Nachricht war vom Tag nach seiner Abreise – das Datum hatte sich unwiderruflich in sein Gedächtnis eingeprägt. Die neueste Nachricht war vom letzten Freitag. Und alle trugen sie denselben Absender: „GD“. Seunghyun ging hinüber zu dem übergroßen Bett, um sich darauf fallen zu lassen. Fast versank er in der weichen Matratze. Er schaltete die Nachttischlampe ein und öffnete die älteste Nachricht. „Seunghyun, wo bist du? Es tut mir Leid, wirklich.“ Wahllos begann er weitere Nachrichten zu öffnen, überflog sie, las einzelne genauer. „Bitte komm zurück! Bitte! Ich will nicht mehr, es tut mir Leid! Ich bin nichts mehr ohne dich! Bitte!!!“ „Du verdammter, egoistischer Bastard! Ich hasse dich! HASSE dich!!“ „Wir alle brauchen dich, Hyung. Es ist so anders, seit du weg bist. Wir vermissen dich noch immer so sehr...“ „Bitte sag doch, wo du bist. Niemand wird zu dir kommen, das verspreche ich. Nur gib mir ein Zeichen, dass es dir gut geht.“ Tränen stiegen in die Augen des sonst so unnahbaren jungen Mannes, doch eine einzige Nachricht musste er noch lesen – diejenige, die ihn vor nur wenigen Tagen erreicht hatte. Er öffnete sie. Nur zwei Worte standen dort, doch sie schienen ihm förmlich entgegen zu springen: „HILF MIR.“ Was hatte das zu bedeuten? Angst stieg in Seunghyun auf. Angst um den Menschen, den er so kaltschnäuzig zurückgelassen hatte. Ein Mensch, der ohne ihn so schwach schien, so wehrlos. Nie hatte er gewollt, dass Jiyong sich wegen ihm etwas antat. Er musste das Smartphone vor sich aufs Bettdeck legen, seine Hände bebten wie Espenlaub. Draußen vor der Glasfront seines Schlafzimmers wurde es allmählich dunkel und die Lichter der Stadt gingen nach und nach an. Doch heute hatte er keine Augen für dieses Bild, was er sonst so abgöttisch liebte. Er wusste nicht wie spät es in seinem Heimatland gerade war. Vielleicht schliefen sie dort gerade oder arbeiteten an einem neuen Song – dem ersten ohne ihn? Aber Zeit spielte keine Rolle. Nicht jetzt. Nicht für ihn. Nur ein einziger Anruf und er würde sich zufrieden geben. Er würde sich nur kurz vergewissern, dass alles in Ordnung war dort drüben – und dann würde er sie endgültig in Frieden lassen. Seunghyun wählte Jiyongs Handynummer aus seinen Kontakten aus und stellte das Gerät auf „Lautsprecher“. Einige quälende Sekungen vergingen. Niemand hob ab. Enttäuscht wollte Seunghyun auflegen, als es plötzlich in der Leitung knackte und eine Stimme erklang. Eine unbändige Freude überkam ihn – bis er merkte, dass das nicht die Stimme war, die er zu hören erwartet hatte. Es war nicht die helle, weiche Stimme seines ehemaligen Leaders. Diese war unangenehm – tief und so rau wie Schmirgelpapier. „Seunghyun...“, knurrte sie und als er bestätigte: „Bist du nicht der kleine Freund von G-Dragon? Der sich aus dem Staub gemacht hat? Lass dir eins gesagt sein: Wage es nicht, noch einmal mit ihm in Kontakt zu treten. Du brauchst dir gar keine Mühe zu machen. Er gehört jetzt mir.“ Seunghyun wollte protestieren, wollte fragen, wer der Mann war und wie zum Teufel er an Jiyongs Handy gekommen war. Doch seine Lippen schienen wie gelähmt und bevor er auch nur einen einzigen Laut herausbrachte, wurde die Verbindung unterbrochen. Klick. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)