October to May von Earu (Intermezzo With A Stranger) ================================================================================ Kapitel 7: Trouble ------------------ 2. November … Nie wieder ist eine sehr lange Zeit. Für mich war sie das jedoch nicht, denn mein nie wieder dauerte nur geschätzte sechs Wochen. Sechs Wochen, in denen Gackt zu Anfang täglich mehrmals versuchte, mich zu erreichen. Wenigstens war er so fair, seine Nummer nicht zu unterdrücken, sodass ich immer sehen konnte, ob er es war, und damit auch entscheiden konnte, nicht ranzugehen. Ich wusste nicht, was er von mir wollte – fragen, wie es mir ging, was los gewesen war, ob ich mich wieder besser fühlte, ob er etwas falsch gemacht hatte, ob wir es denn jetzt noch einmal probieren wollten, was für ein Mimöschen ich denn wäre, ob ich tatsächlich glaubte, dass er mich jetzt noch einmal wiedersehen wollte. Die Palette war breit und je nach Laune ging ich von einer anderen Reaktion seinerseits aus. Doch meine Reaktion war immer dieselbe: warten, bis er aufgab und auflegte. Das ging ungefähr eine Woche lang so, dann wurde es weniger und schließlich hörte es auf. Schön, dachte ich nur, jetzt wurde ich nicht immer wieder an dieses Fiasko erinnert und würde mein Intermezzo mit Gackt ein für alle Mal vergessen können. Aber das wäre zu einfach gewesen, nicht wahr? Ganz genau! Wenn mir im Sommer schon der richtige Elan für meine Hausarbeiten etwas abhanden gekommen war, dann sah es jetzt bei meiner Abschlussarbeit noch schlimmer aus. Ich war noch richtig froh gewesen, als man mir am zweiten Tag nach Semesterbeginn gesagt hatte, dass mein Thema bewilligt worden war und ich nun offiziell anfangen könnte, doch das hatte sich schnell gelegt. Der Berg an Arbeit schreckte mich zwar nicht ab, aber es war schwer, sich immer wieder dazu zu motivieren, ein Stückchen mehr davon abzutragen. Meine Tage bestanden noch immer nur aus lesen, lesen, lesen und Notizen dazu machen und trotzdem war es frustrierend, wie langsam es anscheinend nur voranging. Denn immer wieder entdeckte ich noch neue Sekundärtexte, die ich mir ansehen wollte oder eher sollte, um bloß nichts zu verpassen, was Wichtig sein könnte. Gleichzeitig hatte ich umso weniger Lust darauf, je höher der Stapel an ungelesenem Material wurde. Daneben hatte ich mich auch noch für einen Kurs eingeschrieben, der sich in etwa mit dem Thema meiner Arbeit befasste und bei dem ich hoffte, dass er mir vielleicht noch einen anderen Blickwinkel oder zumindest noch einige Literaturhinweise verschaffen könnte. Noch mehr Arbeit also, die mich einnehmen konnte. Aber so wahr der Mythos von der ablenkenden Arbeit auch war, so hart traf mich dann wieder die Welle der Betrübnis, als ich die Bibliothek und das Seminargebäude am Ende des Tages verließ und meinem Kopf eigentlich wieder etwas Entspannung gönnen konnte. Deswegen verbrachte ich noch mehr Zeit mit Tetsu und den anderen, als ich es für gewöhnlich tat. Allerdings ließ ich es dabei nicht zu, dass wir irgendwo hingingen, wo ich zufällig einem gewissen jemand begegnen könnte. Ich unternahm mit meinen Freunden deshalb nur innerhalb unserer Wohnungen etwas oder – wenn sie denn aufgrund des für Oktober immer noch sehr schönen Wetters auf einen anderen Treffpunkt bestanden – spatzierte mit ihnen durch den Teil der Innenstadt, der so weit wie möglich von Gackts Wohnung entfernt war. Ich war dabei so in Sorge, dass ich ihm wieder begegnen könnte, dass es auch dann keine wirkliche Ablenkung für mich gab, wenn ich mich eigentlich genau deswegen an jemand anderen wandte. Und dann waren da noch die Zeiten, in denen ich zwangsläufig allein war: die Nächte – in denen ich paradoxerweise nun mehr denn je von Gackt träumte. Und natürlich waren sie voll von dem, was wir auch in der Realität getan hatten … nur dass ich dort nicht in nackter Panik floh, sondern Gackt mich immer bis an den Rand des Höhepunkts trieb, indem er mich mit der Hand und manchmal auch mit dem Mund verwöhnte, mich anschließend ganz nahm und mir damit den Rest gab. Natürlich empfand ich dabei keinerlei Schmerzen … wie Träume eben so waren. Aber ich verstand absolut nicht, wieso ich so etwas träumte. Wieso sehnten sich mein Körper und offensichtlich auch mein Unterbewusstsein so sehr nach etwas, dass mir ansonsten eine Höllenangst einjagte? Und was versuchte ich hier eigentlich, durch rationales Denken auf eine Lösung zu kommen? Ich hatte doch schon festgestellt, dass es vollkommen unnormal und auch ziemlich bescheuert war, auf jemanden zu stehen, den ich nur so wenig kannte. Irgendwas hatte sich da tief in mir festgesetzt, schmollte und blockierte damit so ziemlich alles andere. Was zur Hölle sollte das eigentlich?! Ich verstand mich selbst nicht mehr. Und damit war ich auch nicht der einzige. „Doiha“, sprach Tetsu mich an, „hörst du, Doiha?“ „Hm“, grunzte ich zum Zeichen, dass er weiterreden konnte. Ich lag auf der Couch in seinem Zimmer und starrte auf den Fernseher, in dem gerade irgendeine Talkshow mit irgendeinem Musiker lief, der über sein neues Album sprach. Er hatte eigentlich nicht wirklich Zeit für mich gehabt, sondern musste noch eine Präsentation vorbereiten, da er – ähnlich wie ich – immer noch Veranstaltungen besuchte. Allerdings tat er das nicht ganz freiwillig, sondern musste etwas wiederholen, was er im letzten Semester leider versemmelt hatte. Das hatte er nun davon, dass er seine Arbeit den halben Sommer lang liegen ließ und dann alles auf den letzten Drücker zu erledigen versuchte. Und auch jetzt ließ er sie wieder liegen, um sich mit mir zu unterhalten, obwohl er den Rest des Nachmittags doch recht diszipliniert an seiner Präsentation gefeilt hatte. „Ich frage mich wirklich, was in letzter Zeit mit dir los ist, Doiha“, sprach Tetsu aus, was ihm offensichtlich auf der Seele brannte. Und ich verdrehte die Augen, denn dieses Gespräch hatte er nicht zum ersten Mal mit mir führen wollen. Ich hatte nur immer abgeblockt und das würde ich heute ebenfalls tun. „Was soll schon mit mir sein?“, antwortete ich ihm erst einmal mit einer Gegenfrage, ohne auch nur in seine Richtung zu blicken. „Na ja, einfach alles eben“, versuchte mein bester Freund, es mir zu erklären, „das ist unser letztes Semester und anstatt pausenlos über deiner Arbeit zu sitzen, hängst du ständig irgendwo anders rum. Bei mir, Ken oder Yuki oder du haust uns an, dass wir irgendwo hingehen und was machen. Ich hatte eigentlich schon befürchtet, dass du ganz in die Bibliothek einziehst, um ja keine einzelne Minute zu verschwenden. Und ich … oder eher wir fragen uns, woran das liegt.“ „Stört es dich denn, dass ich so oft hier bin?“, lautete eine weitere meiner Gegenfragen. „Ich würde ja jetzt gerne irgendwas Sarkastisches antworten, aber dazu ist es mir einfach zu ernst, Doiha. Nein, es stört mich nicht, dass du hier bist. Aber es ist ja auch nicht so, dass wir zusammen was machen würden, wenn du da bist. Meistens sitzt du einfach nur daneben und siehst … müde aus. Man kann fast das Gefühl kriegen, dass du dir einfach nur jemanden suchst, der da ist, um da zu sein. Das ist so vollkommen untypisch für dich und deshalb mache ich mir Sorgen – ich werde einfach nicht mehr schlau aus dir. Und du erzählst mir ja kaum noch was.“ Hm … damit könnte er vielleicht sogar recht haben. Ich wusste es nicht und ich wollte genauso wenig darüber nachdenken. Auf alle Fälle stimmte es, dass ich ihm nichts über die Sache mit Gackt gesagt hatte, obwohl er es hatte wissen wollen. Er hatte bei unserem nächsten Treffen ganz scherzhaft danach gefragt. Und weil ich ihn vehement mit irgendwelchen Phrasen abgewimmelt hatte, hatte er natürlich weiter gebohrt, bis ich halb ausgetickt war. „Kannst du nicht endlich mal die Klappe halten?!“, hatte ich ihn angeschrien und es hatte mir auch sofort leid getan. Aber es war die reine Wahrheit gewesen und Tetsu wusste das genauso gut wie ich – er hatte gespürt, dass ich wirklich nicht darüber hatte reden wollen, und es deshalb erst einmal nicht mehr angesprochen. doch es schwelte seitdem in ihm drin, das wusste ich nur zu gut. Er hatte noch einige weitere Versuche durch die Blume hindurch gestartet, indem er immer mal wieder beiläufig gefragt hatte, ob ich Gackt in letzter Zeit getroffen hätte. Er hatte das netterweise dann auch aufgegeben, als ich leicht murrend verneint hatte. Und so verhielt es sich noch bis heute, denn es war nicht nur so, dass ich Gackt nicht mehr in die Augen sehen konnte … wollte, auch meinen Freunden gegenüber wollte ich diese Peinlichkeit … na ja, ich wollte es eben niemandem erzählen. Dass Gackt es wusste, weil er dabei gewesen war, reichte vollkommen aus. So weit war es nun also schon gekommen – ich vertraute meinem besten Freund nicht mehr an, was mich so belastete, meinem eigentlich besten Freund. „Doiha?“, hakte Tetsu nun wieder nach, weil ich zu seinen Vorwürfen nichts gesagt hatte. „Das bildest du dir nur ein, Tet-chan“, sagte ich abwehrend, stützte mich auf den linken Ellenbogen und drehte mich nun endlich etwas zu ihm, um ihn ansehen zu können, „es ist alles in Butter. Ich gehe das alles nur etwas lockerer an, so wie du es gesagt hast. Das hier ist mein letztes Semester und ich denke so langsam, dass ich vielleicht doch mehr von meiner Studienzeit hätte genießen sollen. Das ist jetzt die letzte Gelegenheit dazu.“ „Und deine Abschlussarbeit? Ich hab schließlich nicht gesagt, dass du alles schleifen lassen sollst.“ „Das krieg ich schon hin. Du kennst mich doch – immer zuverlässig, immer pünktlich, immer strebsam.“ „Jetzt ziehst du die ganze Sache ins Lächerliche, Doiha“, seufzte Tetsu und schüttelte den Kopf. „Ist ja gut. Ich hab mir genau ausgerechnet, wann ich mit dem Schreiben anfangen muss, um alles zu schaffen und trotzdem noch einen Puffer für die Korrektur am Ende zu haben. Die nächsten zwei Monate gehen noch für die Recherche drauf. Zufrieden?“, leierte ich herunter. „Na ja. Ich möchte trotzdem wirklich wissen, was dich geritten hat, dass du auf einmal so eine Kehrtwendung hingelegt hast. Ich wette, es hat mit Gackt zu tun.“ „Hat es nicht.“ „Und du denkst wirklich, dass ich dir das glaube?“ „Ja, weil-“ „Jetzt hör doch endlich auf, mir was vorzulügen, Hideto!“, rief Tetsu auf einmal, ohne mich vorher ausreden zu lassen, „du denkst wohl, dass ich vollkommen beschränkt bin, oder was?! Seit Wochen bist du so seltsam drauf – und zwar seit genau dem Tag, an dem ich mit Gackt telefoniert hab und er mir gesagt hat, dass du bei ihm übernachtet hättest. Seitdem hast du dich auch nicht mehr mit ihm getroffen, obwohl du vorher noch so gejammert hast, dass er nicht anruft. Was zur Hölle ist an dem Tag passiert? Hat er dir irgendwas getan? Hat er dich zu was gezwungen? Hideto, rede doch bitte mit mir!“ Nun war es an mir, zu seufzen. Was sollte das denn? Konnte er mich nicht einfach damit in Ruhe lassen? Er hatte es doch bisher auch getan! Wieso ließ er jetzt nicht locker? „Er hat nichts gemacht“, sagte ich dann doch und gab somit zum ersten Mal etwas von dem preis, was nicht in mein Alles-ist-wunderbar-Bild passte, das ich den anderen immer vorhielt, „es lag an mir und wir sehen uns jetzt nicht mehr, Ende. Es war sowieso eine total bescheuerte Idee …“ „Was war eine bescheuerte Idee?“, fragte Tetsu sofort nach. Offensichtlich hatte er Blut gewittert und glaubte jetzt, dass er mich endlich ausquetschen konnte. Aber da hatte er sich geschnitten – ich würde nicht den Fehler machen und mit ihm darüber reden. Ich wollte es doch einfach nur vergessen! „Alles mit Gackt war eine bescheuerte Idee. Mich damals auf der Halloweenparty auf ihn einzulassen, mich an seinem Geburtstag wieder auf ihn einzulassen und erst recht zu denken, dass ich mit ihm befreundet sein könnte.“ „Aber irgendwas muss doch vorgefal-“ „Dann ist eben was vorgefallen!“, platzte es schließlich doch aus mir heraus, wenn es Tetsu dann wenigstens endlich dazu brachte, mich nicht weiter zu löchern. Als ich aber merkte, dass ihn das natürlich ganz und gar nicht von dem Thema abbringen würde, ruderte ich wieder wild zurück: „Denk doch, was du willst. Was interessiert dich Gackt eigentlich so sehr? Du hast ihn sowieso nicht gemocht.“ „Ich hab nie gesagt, dass ich ihn nicht mag“, wandte Tetsu allerdings ein, „ich kenne ihn ja noch weniger als du und er interessiert mich deshalb auch nicht. Aber um dich mache ich mir Sorgen … und dass er irgendwas mit dir angestellt haben könnte, was dir ganz und gar nicht gut getan hat.“ „Hat er aber nicht. Okay?“ Natürlich war es nicht okay, das konnte ich nur zu gut sehen. Tetsu saß auf seinem Schreibtischstuhl, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und die Lippen geschürzt. Dabei blickte er mich mürrisch an und brabbelte irgendetwas vor sich hin, was ich nicht verstand. Aber er gab nach, das konnte ich ebenfalls sehen. Denn auch das war Tetsu – so stur er sein konnte, so würde er gleichzeitig immer dafür sorgen, dass wir uns nicht unnötig weiterstritten, wenn sich die Fronten verhärtet hatten. Und das hatten sie in diesem Falle aufs Extremste. Doch ich konnte mir sicher sein, dass der Waffenstillstand bei diesem Thema kein endgültiger sein würde. Er würde es wieder und wieder versuchen, bis er mich eines Tages auf dem falschen Fuß erwischte und ich alles ausplauderte. Und der Tag kam. „Kommst du denn morgen wenigstens zu dem Konzert mit?“, fragte Tetsu ein paar Minuten später sowohl vorsichtig als auch immer noch leicht mürrisch, als er sich längst wieder umgedreht und seiner Arbeit gewidmet hatte. Ich schaute schon wieder fern, bekam aber tatsächlich kaum etwas mit. „Konzert?“, murmelte ich träge. „Na, das von unserem Institut. Ich hab dir doch vor zwei Wochen erzählt, dass der Fachschaftsrat spenden sammeln will, damit unsere Abteilung in der Bibliothek endlich mal ein bisschen auf Vordermann gebracht werden kann. Die Bücher fallen vom vielen Lesen und Kopieren schon halb auseinander. Die Uni kümmert sich ja nicht drum, also müssen wir das selbst in die Hand nehmen.“ „Ach, du machst mit!“, rief ich, als es bei mir endlich klick gemacht hatte, „wieso hast du das denn nicht gleich gesagt?“ „Da siehst du mal, wie du mir zuhörst, Doiha! Ich mache nicht mit, weil ich genug mit mir selbst zu tun habe und da nicht noch zu den Proben gehen kann. Aber ich will es trotzdem unterstützen und außerdem sind da einige dabei, die wirklich was drauf haben. Selbst in den unteren Semestern sind einige … wenn du die hörst, haut es dich weg.“ „Na schön“, stimmte ich schließlich schulterzuckend zu. Was machte es schon, wenn ich einen Abend mal nicht auf den Sofas meiner Freunde oder in meiner eigenen Bude verbrachte? Dann würde Tetsu sich wenigstens nicht mehr beschweren, dass wir nichts zusammen machten, wenn ich da war. „Wann genau fängt es an?“ „Morgen, achtzehn Uhr.“ Das war der Tag. Am nächsten Abend saß ich pünktlich um zwanzig vor sechs neben Tetsu im größten Hörsaal, den die Fakultät der freien Künste zu bieten hatte. Doch wir waren nicht allein gekommen. Mein bester Freund hatte natürlich auch Ken, Yuki und Ayana mit hierher geschleift … von den geschätzten hundert anderen Leuten, die sich wie wir zwischen die unbequemen Holzklappsitze und die ebenfalls einklappbaren Pulte gequetscht hatten, mal ganz abgesehen. Der Saal war fast voll, obwohl es noch eine Weile bis zum Beginn der Veranstaltung war – ein Bild, das man im alltäglichen Universitätsbetrieb eher selten sah, denn entweder kam der größte Schwall an Hörern erst kurz vor knapp oder es saßen immer nur dieselben paar Leute da, weil der Rest schwänzte. Und es roch nach nassem Hund, weil es – ganz typisch für diese Jahreszeit – draußen schon den ganzen Tag wie aus Eimern schüttete. Anscheinend hatte man für dieses Event kräftig die Werbetrommel gerührt, und besonders Studenten von anderen künstlerischen Fachrichtungen waren gekommen, obwohl mal bei diesem Dreckswetter doch eher zu Hause blieb als vor die Tür zu gehen. Ich erkannte darunter auch einige meiner Kommilitonen – aber unser Institut saß ja auch hier im Fakultätsgebäude, da war es kein Wunder, dass man sich gegenseitig unter die Arme griff. „Ihr müsst auf die Nummer sechs achten“, riet Tetsu uns dann noch an, bevor er dazu keine Zeit mehr haben würde, „der ist wirklich richtig gut, obwohl er erst im zweiten Semester ist.“ „Was spielt er denn?“, hakte Ken darauf nach und beugte sich dazu etwas nach vorne, um an Yuki und mir vorbei zu Tetsu schauen zu können. Dieser gluckste aber nur, grinste und trällerte schon fast: „Das sag ich euch nicht.“ „Und wie sollen wir ihn dann erkennen, du hohle Nuss?“, war mein Kommentar zu der Sache. Wieso tat er überhaupt so geheimnisvoll? Wir würden ohnehin recht wenig damit anfangen können. Wenigstens den Namen konnte er uns verraten, damit wir bei der Ankündigung darauf achten konnten. „Mitzählen?“, war allerdings der Vorschlag meines besten Freundes, „und ihr könnt ihn gar nicht verfehlen. Der Kerl ist ein echt langes Elend.“ „Okay“, kam es diesmal wieder vom Ende unserer Reihe – von Ken, den Tetsus Ratespielchen in seiner grenzenlos entspannten Art wohl wesentlich weniger juckte als mich. Meh. Die restlichen Minuten bis zum Beginn des Konzertes verplauderten wir dann noch. Wir unterhielten uns untereinander, aber auch mit umsitzenden Kommilitonen, die Tetsu erkannten und ihn ansprachen. Ein paar davon kannte ich ebenfalls, weil sie ab und an mal dabei waren, wenn ich mich mit meinem besten Freund auf dem Campus traf, um nach der Uni noch irgendetwas zu unternehmen. Ayana und Yuki, die eigentlich direkt neben uns saßen, hielten sich dabei etwas zurück, aber Ken schöpfte aus dem Vollen – besonders, wenn es ein Mädchen war, mit dem wir gerade redeten. Das kam allerdings nur zweimal vor und Tetsu warf unserem Kumpel am Ende noch einen Blick zu, der Bände sprach und eigentlich keiner weiteren Worte mehr bedurfte. Trotzdem hielt es ihn nicht davon ab, noch etwas zu sagen: „Denk nicht mal dran. Die haben beide Freunde und du wirst ihnen das nicht versauen.“ „Hätte ich auch nie im Leben vorgehabt“, beteuerte Ken daraufhin mit erhobenen Händen. „Dein Wort in Gottes Ohr. Ich-“ Für mehr Worte war aber keine Zeit, denn der Dekan unserer Fakultät trat an das Rednerpult, um die Veranstaltung zu eröffnen, und Tetsu schluckte sofort herunter, was er noch hatte sagen wollen. Auch die Gespräche im Rest des Saals verstummten nach und nach, bis nach einer knappen halben Minute endlich komplette Stille herrschte. „Ich bedanke mich herzlich für Ihr zahlreiches Erscheinen“, begann der Dekan in feierlicher Stimmung, ganz so, als hätten wir hier unsere Exmatrikulationsfeier und nicht nur eine Spendenaktion. Natürlich war das eine wichtige und gute Sache, aber … na ja … es war eben ein Konzert für den guten Zweck – da musste man nicht schwafeln. Er tat es trotzdem und erklärte noch einmal ausführlich Sinn und Zweck dieser Veranstaltung, obwohl das die meisten doch wussten. Denn entweder erfuhren sie am eigenen Leib, dass diverse Gelder dringend notwendig waren, oder sie hatten es von Flyern oder Freunden erfahren, die dieses Konzert beworben hatten. Na ja, ich kannte den Mann, der da vorne am Pult stand, und wie viele andere wusste ich nur zu genau, wie gerne er sich selbst reden hörte. Die Verwaltung hier war im Vergleich zu anderen Fakultäten der absolute Horror, aber Hauptsache man konnte sich selbst beweihräuchern. Ich schaltete irgendwann ab und wartete nur noch darauf, dass es endlich mit dem Hauptteil des Programms losging. Doch selbst als verhaltener Beifall ertönte und ich mich wieder einklinkte, war es noch nicht so weit, denn es kam noch jemand vom Institut für Musik, der etwas sagen wollte. Es war eine Dame mittleren Alters, bei der Tetsu mich kurz anknuffte und mir zuflüsterte, dass das eine seiner liebsten Dozentinnen war: Takano-sensei. Den genauen Fachbereich bekam ich nicht ganz mit, weil direkt zu Anfang und noch bevor sie auch nur ein Wort hatte sagen können, mehr Beifall ertönte als zum Abgang des Dekans. „Die Frau ist wirklich astrein“, versuchte Tetsu, dagegen anzuflüstern, „sie ist kompetent und es macht trotzdem echt viel Spaß, bei ihr in den Seminaren zu sitzen. Außerdem lästert sie genauso über die schlechte Organisation hier wie die Studenten, deshalb hat sie das hier auch auf die Beine gestellt. Und sie ist irre witzig. Wir können uns ja mal als Gasthörer bei ihr reinsetzen. Hm?“ Ich war mir nicht ganz sicher, was er mit seinem Angebot bezwecken wollte. Er hatte diese Frau schon öfter erwähnt, aber mich noch nie eingeladen, einmal ein Seminar oder eine Vorlesung bei ihr mitzumachen. Ich hoffte doch stark, dass er nicht wieder die Glucke spielen wollte. „Hm“, brummte ich darauf erst einmal nur unschlüssig und war ganz froh, dass wir uns hier nicht großartig unterhalten konnten, sonst wäre die Diskussion vom Vorabend sicher wieder losgegangen. Tetsus Lieblingsdozentin hielt sich recht kurz und bedankte sich lediglich beim Publikum für das Erscheinen und für die Spenden und natürlich auch bei den fleißigen Studenten, die sich neben ihren Verpflichtungen der Uni gegenüber noch freiwillig gemeldet hatten, hier etwas beizutragen. Und dann ging es auch schon los. Den Anfang machte ein Duo, bestehend aus einem Jungen und einem Mädchen. Er spielte Klavier und sie sang dazu – es war die Pianoversion irgendeines beliebten Pop-Songs von vor einigen Jahren. Wäre das allerdings nicht vorher angesagt worden, hätte ich es auf Anhieb gar nicht erkannt, denn obwohl mir der Song schon ganz schlimm im Ohr gehangen hatte, hatten sie es tatsächlich hinbekommen, etwas Eigenes daraus zu machen. Als zweites kamen drei Studenten, die mehrere schnelle Stücke auf dem Shamisen spielten und dabei nicht einmal absetzten, sondern alles direkt miteinander verbanden, sodass ein ein gut zehnminütiges Lied daraus wurde. Außerdem vollbrachten sie es tatsächlich, während der gesamten Zeit, stur geradeaus zu starren und sich trotzdem keine Schnitzer zu leisten … oder auch nur irgendeine Regung zu zeigen. Danach spielte ein Mädchen irgendein langweiliges Stück auf einer Akustikgitarre. Ich behielt es kaum in Erinnerung, sondern fragte mich die ganze Zeit nur, wann es denn endlich weitergehen würde. Nummer vier war noch ein Mädchen, die sich allerdings etwas im Enka-Stil gewählt hatte – und zwar mit allem drum und dran, was ebenfalls nicht sonderlich ermunternd war. Erst bei der Trommlergruppe danach wurde ich wieder richtig wach. Und ich fragte mich, ob es an den schnellen, krachenden Rhythmen lag oder an der Tatsache, dass sie mich daran erinnerten, wie ich mit Gackt vor ein paar Wochen im Spielecenter dieses Trommelspiel ausprobiert hatte. Ich schob den Gedanken beiseite und konzentrierte mich wieder auf die Studenten vorne neben dem Rednerpult, die ihre Trommeln mit geübten Schlägen traktierten und dabei die Arme kunstvoll kreisen ließen. Es sah gut aus und hörte sich einfach nur klasse an, sodass mich auch ein wenig der Wunsch beschlich, so etwas zu können – es richtig zu können und nicht nur nach blauen und roten Kommandos auf eine Spielkonsole einzuhämmern, in der Hoffnung, dass man im richtigen Augenblick traf. Ich würde mich wohl selbst mit der traditionellen Kleidung abfinden können, die man dabei für gewöhnlich trug, auf die die Studenten heute aber verzichtet hatten. Und dann war es so weit: Tetsus hochgeschätzte Nummer sechs. Takano-sensei, die die ganze Zeit schon die Moderatorin spielte, trat wieder einmal kurz an das Pult heran, um anzukündigen, wer jetzt an der Reihe war: „Sie hören jetzt Kurosaki Yuu-kun mit einem selbstgeschriebenen Stück auf der Violine.“ Dann zog sie sich wieder an den Rand zurück und überließ die Bühne einem tatsächlich riesigen Kerl, der seine kleine, zierliche Violine so in der Hand hielt, als würde sie jeden Augenblick in tausend Stücke zerfallen. Er berührte den Hals fast nur mit den Fingerspitzen, während er das Ende des Klangkörpers zwischen Schulter und Kinn fixierte. Dann schwang er den Bogen mit einer ausladenden Armbewegung über das Instrument, stoppte nur Zentimeter darüber und legte ihn dann ganz sachte auf die Saiten, um den ersten Ton hervorzurufen. Es war eine sehr träge, aber gleichzeitig wunderschöne Melodie, die beinahe Augenblicklich bewirkte, dass ich mich am Boden zerstört fühlte. Ich hätte um ein Haar sogar angefangen zu weinen, aber irgendwie steckte ich da mittendrin fest. Ich konnte den Anflug der Tränen ganz deutlich spüren, aber sie kamen einfach nicht. Wow! So etwas hatte Musik zuvor nur ganz selten mit mir angestellt. Tetsu hatte wirklich nicht gelogen, als er gemeint hatte, dass der Kerl wirklich richtig gut sei. Dieser Kurosaki Yuu-kun, dieser … großer Gott! Er hatte sich eben etwas gedreht, sodass er nun nicht mehr nach unten blickte und auch sein Gesicht besser zu sehen war. Zwar hielt er die Augen geschlossen, aber es gab keinen Zweifel: Dieser Yuu war … You! Und dann fiel es mir auch wieder ein: Hatte Gackt nicht gesagt, dass You, sein Kumpel und Mitbewohner, hier an der Uni Musik studierte? Ich hatte es schon fast wieder vergessen … oder verdrängt. Aber ich hatte die Violine doch ganz deutlich im Wohnzimmer der beiden stehen sehen und eine der selbstbeschrifteten CDs in der Hand gehabt. Augenblicklich berührte mich die Musik nicht mehr, ich hörte sie ja noch nicht einmal mehr. Stattdessen suchte ich den Saal nach einem mir nur allzu bekannten Gesicht oder Haarschopf ab. Dafür drehte ich mich um, verrenkte mich halb auf meinem Sitz und erntete dafür verwirrte Blicke von denen, die in den Reihen hinter uns saßen. Und auch Tetsu schien sich zu wundern, denn er packte mich an der Schulter, um mich wieder in eine normale Sitzhaltung zu zwingen und mich gleichzeitig etwas zu ihm zu ziehen. Dann flüsterte er: „Was ist denn mit dir los? Hat dich was gestochen?!“ „Gackt ist hier!“, zischte ich knapp zurück, worauf mein bester Freund mich ansah, als hätte ich gerade gesagt, dass der Himmel gelb mit lila Punkten wäre. „Woher willst du das denn wissen? Hast du ihn gesehen?“ „Nein, aber der da vorne, das ist You.“ „Weiß ich doch. Wir haben uns letztes Semester beim Sommerfest vom Fachschaftsrat kennengelernt. Aber was hat das mit Gackt zu tun?“ „Er ist-“ „Psssst!“, machte dann auf einmal jemand hinter uns und unterbrach mich damit für einen Moment. Allerdings hielt mich das von nichts ab, ich senke nur die Stimme noch etwas weiter: „Er ist Gackts Mitbewohner. Und ich wette mit dir, dass der auch hier ist. Ihr braucht die Spenden doch unbedingt, da kann er ja gar nicht zu Hause bleiben!“ „Doiha, beruhig dich doch erst mal!“, lautete jedoch Tetsus Antwort. Wie panisch musste ich mich denn anhören, wenn er mir so kam, anstatt sich noch weiter nach dem eigentlichen Problem zu erkundigen? Ich schob auch das beiseite und machte stattdessen Anstalten, mich zu erheben, um mich so schnell wie möglich an den Leuten vorbei bis zum Ende der Reihe zu quetschen und dann zu flüchten, bevor ich ihm wirklich noch begegnete. Tetsu ließ es allerdings nicht zu. Er packte mich nur noch fester am Oberarm, drückte mich gegen die Rückenlehne und knurrte schon fast: „Du bleibst jetzt hier!“ Was? „Was?“ „Du wirst das den Leuten jetzt nicht versauen, Doiha. Und wenn du ihm tatsächlich begegnest, ist das vielleicht nur gut so. Dann könnt ihr das, was auch immer da zwischen euch vorgefallen ist, ein für allemal aus der Welt schaffen.“ Was?! Mir kam ein böser Gedanke. „Steckst du da etwa mit drin? Hast du das mit You und Gackt ausgeheckt? Sollte ich deshalb unbedingt herkommen?“, fragte ich Tetsu und benutzte dabei einen Tonfall, der eher vorwarf, als dass er nachhakte. Und ich erntete ein erneutes Zischen, diesmal von jemandem schräg vor mir. „So ein Blödsinn!“, verteidigte Tetsu sich und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust, „ich wusste ja bis eben nicht mal, dass die beiden sich kennen.“ „Aber du kennst You! Er hat dir doch bestimmt erzählt, dass er mit Gackt zusammenwohnt.“ „Nein, hat er nicht. Wir haben uns nur übers Studium unterhalten und was wir für Instrumente spielen, mehr nicht. Doiha, du wirst langsam paranoid. Rede doch bitte endlich mit ihm und schaff das aus der Welt.“ Und obwohl Tetsu nun schon wieder auf der Schiene der Konfliktvermeidung war und eher bettelte als schrie, bleib ich stur: „Den Teufel werd ich tun!“ „Doiha-“ „Komm mir nicht mit Doiha!“, schnappte ich, noch bevor Tetsu auch nur ein weiteres Wort sagen konnte, und stand nun doch auf. Er hielt mich schließlich nicht mehr fest, also konnte ich tun und lassen, was ich wollte. Konnte ich sowieso, aber … ach, verdammt! Ich quetschte mich an den Leuten vorbei und entschuldigte mich dabei nur sehr halbherzig bei ihnen. Es schien sie aber nicht zu kümmern – vermutlich waren sie ganz froh, dass das Gestreite endlich ein Ende haben würde und sie sich das Konzert in Ruhe zu Ende anhören konnten, wenn ich hinausging. Sollten sie doch, mir war es egal und ich wollte nur weg von hier! Ich stolperte und fiel fast der Länge nach hin, als ich an der letzten Person, die in unserer Reihe saß, vorbei musste. Es war ein Mädchen, das eine übergroße Tasche neben ihren Füßen auf den Boden gestellt hatte. Ich blickte noch einmal finster zu ihr zurück, aber sie bekam es nicht mit, da sie scheinbar unberührt nach vorne sah, wo You noch immer auf seiner Violine spielte. Dafür sahen mich andere an, teils verwundert und teils verärgert, während ich die Stufen zum Ausgang erklomm und dabei leise vor mich hin fluchte. Scheiß Tetsu, scheiß You, scheiß Gackt! Konnte man mir denn nicht einmal meinen Frieden lassen?! Ich wollte doch nur in Ruhe zu Ende studieren und mir dann einen Job suchen, bei dem ich Spaß hatte und der gleichzeitig mein Leben finanzierte. Das würde schon schwer genug werden – von meiner Abschlussarbeit, die ich vorher noch schreiben musste, mal ganz abgesehen – da konnte ich nun wirklich nicht noch solche Probleme wie Gackt gebrauchen. Aussprechen … was sollte das überhaupt? Vermutlich hatte er sowieso schon einen Haken an die Sache gemacht und hing jetzt mit dem nächsten ab. Ich wollte ihn eben nur nicht sehen und Tetsu konnte mir mit seinen sinnlosen Vorschlägen gestohlen bleiben. Sollte er sich doch mal hinstellen und nach so einem Intermezzo ganz locker um eine Aussprache bitten. Der hatte sie doch nicht mehr all- „Hyde?“ Ich erstarrte. Was machte ich eigentlich falsch? Was nur?! Ich war gerade einmal aus dem Hörsaal gekommen und hatte einige Blicke der Helfer aufgefangen, die draußen den Stand für die Spenden betreuten und sich sicherlich wunderten, dass ich schon ging, als mich eine mir nur allzu bekannte Stimme von hinten ansprach. Die Tür konnte noch nicht einmal richtig zu gewesen sein, da musste er hinter mir hindurch geschlüpft sein. Für einen Moment presste ich die Lippen aufeinander und schloss die Augen, wünschte mir, dass es nur Einbildung gewesen wäre, aber natürlich machte es das nicht besser. Schritte kamen auf mich zu und umrundeten mich. Als sich meine Starre endlich löste und die Augen wieder öffnete, stand Gackt vor mir. Seine Haare und die Lederjacke, die er trug, glänzten ein bisschen – vermutlich noch vom Regen draußen – und sein Blick war … unbeschreiblich. Also, wie in nicht beschreibbar. Er sah weder wütend aus noch angeekelt oder enttäuscht. Er war auch nicht fröhlich oder freundlich. Gackt starrte mich einfach nur an und schien auf eine Reaktion meinerseits zu warten. Aber ich hielt dem nicht stand und schaute weg, denn sofort kam wieder alles hoch, was ich so mühsam zu verdrängen versucht hatte. Es hatte ja auch ein bisschen geklappt, aber jetzt überfuhr mich wieder das Gefühl, mit dem ich damals vor ihm weggelaufen war. „W-was willst du?“, fragte ich schließlich und sprach dabei eher zu dem Loch in seiner Jeans knapp unterhalb der Tasche. Es sah aus, als wäre es absichtlich hineingeschnitten worden. „Was schon? Mit dir reden“, antwortete Gackt wie selbstverständlich, „du bist ja nicht mehr ans Telefon gegangen, nachdem du so einfach abgehauen bist. Ich hab sonst was gedacht, als du weg bist, als wäre der Teufel persönlich hinter dir her.“ „Ich hatte meine Gründe“, maulte ich daraufhin und warf einen kurzen Blick zu den Helfern, die uns nun interessiert zu mustern schienen. War ja auch kein Wunder, denn welche Attraktionen sollte es hier im Vorraum sonst noch geben, während drinnen das Konzert in vollem Gange war? „Verrätst du mir die auch mal?“ Frustration, es war eindeutig Frustration, die ich da aus Gackts Stimme heraushörte. „Ich war schließlich auch daran beteiligt.“ „Es hat nichts mit dir zu tun“, wimmelte ich ihn jedoch genauso ab, wie ich es bei Tetsu immer tat. „Das kannst du wem anders erzählen, Hyde. Du kannst mir nicht erzählen, dass es nichts mit mir zu tun hat, wenn du genau dann abhaust, wenn wir gerade dabei sind-“ „Hast du sie nicht mehr alle?!“, fuhr ich ihm dazwischen, bevor er irgendetwas Genaueres sagen konnte, und zischte dann so leise wie möglich, „damit gerade hier anzukommen, du Idiot!“ Ich sah ihm jetzt auch wieder ins Gesicht und erblickte die zu einer harten Linie zusammengepressten Lippen, die sonst so sündhaft weich und leidenschaftlich waren. Ich hatte es doch geahnt. „Schön. Wo dann?“ „Nirgendwo“, blieb aber auch ich weiterhin unnachgiebig, „ich will nicht über was reden, wo es nichts zu reden gibt.“ „Findest du.“ „Ja, finde ich“, bestätigte ich ihm und ging wieder voll auf Konfrontationskurs. „Das ist arschig von dir, Hyde“, kommentierte Gackt und schüttelte dazu den Kopf etwas. Aber damit würde er mich nicht kriegen. „Na, herzlichen Dank!“, entgegnete ich, „ich muss mir ja wohl von einem halben Kind nicht vorwerfen lassen, dass ich arschig wäre! Du belästigst mich hier doch!“ „Ich würde gerne mal wissen, wer von uns hier wirklich das Kind ist. Was du gemacht hast und jetzt immer noch machst, ist einfach nur feige. Ich rede wenigstens mit den Leuten, wenn irgendwas schiefgelaufen ist. Aber du … du stellst einfach auf stur und alle anderen sind scheiße, wenn sie was anderes behaupten. Nur zu deiner Info: Ich saß vier Reihen vor euch und man hat euch trotzdem noch streiten hören. Sonst hätte ich gar nicht mitbekommen, dass du heute überhaupt hier bist! Und ich will jetzt endlich wissen, warum du einfach abgehauen bist! Ich war scharf, du warst scharf – was zur Hölle ist los gewesen, dass du plötzlich der Meinung warst, mich mit einem mordsmäßigen Ständer sitzenlassen zu müssen?!“ Meine Augen wurden ganz groß und Hitze durchströmte mich, als Gackt mir das mitten ins Gesicht brüllte. Ich hielt auch die Luft an und dann … verschluckte sich jemand links von uns und begann, sich die Lunge beinahe aus dem Leib zu husten. Und mit einem Schlag wurde mir noch heißer, denn mir wurde auf einmal noch sehr viel bewusster, dass wir nicht allein waren und Gackt das gesagt hatte. Und das, obwohl ich ihn gebeten hatte, nicht hier darüber zu reden. Es war zu viel, es war eindeutig zu viel! Noch bevor ich einen weiteren Gedanken fassen konnte, holte ich aus, verpasste ihm eine kräftige Rechte mitten ins Gesicht und rannte davon. Ich bemerkte dabei nicht einmal, wie weh mir die Hand von dieser Aktion tat. Sie puckerte und pulsierte, wo meine Knöchel Bekanntschaft mit seinem Wangenknochen geschlossen hatten, aber ich blendete es aus. Alles, was ich wollte, war, von Gackt wegzukommen. Und es interessierte mich herzlich wenig, ob ich ihn bewusstlos geschlagen, ihm die Nase gebrochen oder ihn nur zu Boden gestoßen hatte, solange er mir nicht folgte. Ich rannte hinaus in den strömenden Regen und bog nach links ab. Ich wusste nicht mehr, ob das tatsächlich die Richtung war, in die ich musste, um nach Hause zu kommen, denn ich wollte nur Land gewinnen. Schon wieder. Und auch heute schien Gackt mir nicht zu folgen, aus welchen Gründen auch immer – die von damals kannte ich ja nun. Klatschnass kam ich am Zugang zur U-Bahn an, hetzte über den Bahnsteig und sprang in den erstbesten Zug, der gerade seine Türen schließen wollte. Die Leute drinnen beschwerten sich nicht, dass ich mich mit meinen vollkommen durchweichten Sachen zu ihnen in den Waggon quetschte. Lang lebe die japanische Höflichkeit: Schlägst du mir den Kopf nicht ein, schlag ich dir deinen auch nicht ein, selbst wenn du triefst. Das nächste Mal darf ich dich dann auch nassmachen. Und für lange wollte ich ohnehin nicht hier bleiben. Ich würde nur ein oder zwei Stationen fahren und dann aussteigen, vielleicht etwas warten und dann wieder einsteigen. Und irgendwann würde ich dann doch nach Hause gehen, bevor ich mich noch erkältete. Und dann würde ich … tbc. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)