Die Vanille-Frau von Chimi-mimi ================================================================================ Kapitel 1: Eierschalen-Welt --------------------------- Trübsinnig sah Lysander aus dem Fenster in den grauen Regentag hinein. Dunkel und rauchig schwebten die Wolken über den Bergkuppen, schienen festzuhängen, gefangen zu sein – genauso gefangen wie er. Es war kein Tag, der freundlich gesinnt war. Es war ein Tag, der zum Grübeln verführte, zu pessimistischen Gedanken, zu Selbstmitleid und zum Verkriechen unter der Bettdecke. Genau der richtige Tag für Lysander, denn hätte die Sonne an einem blauen Himmel gestrahlt, hätte er zwar dasselbe getan, doch die Stimmung fehlte einfach. Nichts ging über einen grauen, finsteren, kalten, ungemütlichen, nassen Regentag. Nur vereinzelt hörte man das Schreien eines Vogels, der versuchte, sich über die düstere Stimmung hinwegzusetzen, doch keinem gelang es. Ihr Lied verklang so unmelodisch wie es begann und wie es nur an so einem Tag sein konnte. Ansonsten herrschte an diesem Ort eine unnatürliche Ruhe, nicht nur unnatürlich, manchmal kam es Lysander fast schon unwirklich vor. Wie die Pforte zu einer anderen Welt… doch den Zugang hatte er bisher noch nicht gefunden. Er lehnte den Kopf gegen das kühle Fensterglas, was er für einen Moment sogar genoss, bevor er sich der Situation wieder bewusst wurde. Gefangen in diesem… ach, dieser Raum verdiente nicht einmal die Bezeichnung Zimmer. Unwirtlich war er, geradezu karg eingerichtet. Lysander ließ den Blick schweifen, streifte das Bett nur kurz, sah das weiße Waschbecken, dessen fehlende Splitter und Sprünge er in der Zwischenzeit ohne hinzusehen nachfahren konnte. Dann war da noch der Stuhl, der ihn an die Schule erinnerte, nur eine Nummer größer, damit auch der dickste Besucher darauf Platz nehmen konnte. Ein kleiner Schrank, kaum der Rede wert und diese unsagbar nichtssagende Farbe. Eierschale. Wer kam nur auf solche Ideen? Gut, Lysander musste eines gestehen, wie bei jeder Bestandsaufnahme, der Blick war spektakulär, eindeutig spektakulär. Nur nutzte sich das nach einer gewissen Zeit ab und er hatte nur schon mehr als diese gewisse Zeit hier verbracht. Er wartete schon lange an diesem Fenster, saß auf der mäßig warmen Heizung, betrachtete die nicht mehr ganz so spektakuläre Aussicht und lehnte den Kopf gegen das kühle Fensterglas. „Na, wie geht es uns denn heute?“ „Sieht man das nicht? Wie soll es ihm schon gehen?“ Zwei Frauen betraten seine karge Zelle, wie er sie liebend gern bezeichnete. Eine lief schnurstracks zu dem Bett und seiner eierschalenfarbenen Bettwäsche. Warum nur Eierschale? Die andere lächelte ihn an, lehnte lässig gegen den winzigen Schrank (nicht eierschalenfarben). „Ihm geht es wie immer, oder?“ Lysander hatte sie noch nicht gesehen, bisher noch nicht. Er dachte, er würde alle Aufseher hier kennen, diese ach so wunderbaren und netten Menschen, doch sie war neu. Mit ihr kam ein Hauch von Vanille in das Zimmer und für einen Moment dachte er, dass Vanilleeis eine bessere Farbe als Eierschale abgegeben würde. „Ach, ach!“ Die andere, die ohne den Vanilleduft, rumorte lautstark an seinem Bett rum. „Wieder nichts? Aber keine Sorge, bald werden wir uns besser fühlen.“ Immer wenn diese Dame so mit ihm sprach – oh ja, er kannte sie gut, Iris, 56 Jahre alt, eigentlich verheiratet, aber ihr Mann hatte eine Affäre, doch die zwei Kinder… ach, ach -, bekam Lysander das Bedürfnis, seinen Kopf irgendwo dagegen zu schlagen. Stattdessen drückte er die Stirn noch dichter an das nicht mehr so kühle Fensterglas, er wollte doch nur allein sein. „Ich denke auch, bald wird es ihm besser gehen.“ Die Vanille-Frau ging an Iris vorbei und beugte sich zu ihm runter. Der Duft wurde noch stärker und unwillkürlich sog Lysander ihn fast schon gierig ein. Es war eine Abwechslung, durchbrach die Sterilität, den Trott, in dem er hier festhing. „Ich bin Samira. Aber bitte, nenn mich Sam, Lysander.“ Noch immer schwieg er hartnäckig und auch Iris schien das Problem zu ignorieren. Mit dem ihr eigenen „Ach, ach, ach herrje!“ verließ sie eilig das Zimmer, so wie immer. Selten hatte er eine Person gesehen, die immer so unter Strom stand und keine Ruhe fand. Doch was dachte er über Iris nach? Vor ihm stand die Vanille-Frau und lächelte ihn entspannt an. „Lysander… außergewöhnlich“, murmelte sie schließlich leise, als er weiterhin beschloss, ihr keine Antwort zu geben. „Dieses Zimmer, diese Farbe… furchtbar. Wie kommt man nur auf die Idee, dass das beruhigend wirken könnte?“ „Eierschale“, erwiderte er heiser. Und dann wusste er nicht, was ihn mehr erstaunte: Dass er ihr unwillkürlich antworten musste oder die Tatsache, dass seine Stimme nach langen Wochen des Schweigens noch funktionierte. „Eierschale? Also ehrlich… wer auch immer das angeordnet hat, hatte wohl Eierschalen auf den Augen.“ Die Vanille-Frau… nein, Sam, daran musste er sich erst gewöhnen, Sam zwinkerte ihm zu. „Ich finde, wir sollten der Eierschale mal eine Pause geben. Wie wäre es mit Regengrau, Waldschwarz und Wiesengrün?“ Sie wartete seine Antwort nicht ab, was auch gut war, denn sie hätte vermutlich keine bekommen, sondern zog ihn sanft mit sich mit. Wieder erstaunte Lysander sich selbst, denn er folgt ihr scheinbar willenlos durch die Flure. So sah es also außerhalb seiner kleinen Zelle aus? Es war ruhig, so ruhig wie auch bei ihm, das einzige Geräusch, das er wirklich wahrnahm, war das Rascheln von Sam, die neben ihm her lief. „Trostlos, nicht wahr?“ Sie drückte kurz seine Hand und schüttelte fast schon traurig den Kopf. Der Vanille-Geruch wurde intensiver. „Eierschalen überall! Und es ist so ruhig. Es bedrückt mich.“ Lysander hätte sie gerne gefragt, warum sie dann hier war und seine Hand hielt. Warum sie nicht woanders war, an einem fröhlicheren Ort. Warum sie nicht in vanillegelben Fluren unterwegs war, sondern hier in seiner Eierschalen-Welt. Doch er schwieg. Er schwieg schon so lange, dass es ihm schwer fiel, nicht mehr zu schweigen. Es war geradezu beängstigend zu wissen, dass er noch reden konnte. Und so lief er einfach sprachlos an Sams Seite die Flure entlang. Den Eingangsbereich hindurch. An einem Empfang vorbei. Und für einen Moment meinte er, seinen Namen dort zu vernehmen, doch die Vanille-Frau an seiner Seite ließ ihn nicht verharren, sondern zog ihn immer weiter mit sich, hinaus, hinaus aus der Eierschalen-Welt. „Keine Sorge, es dauert nicht mehr lange. Wir haben unser Ziel gleich erreicht.“ Sam lächelte ihn an und fast schien es Lysander, als würden sie einfach so dahinschweben, ohne Anstrengung, ohne Mühe. Doch er spürte, wie seine Beine sich bewegten, wie seine Füße in regelmäßigem Takt auf den Boden trommelten. Er atmete tief ein, genoss die Luft, den Duft nach Tannen, der sich nun unter Sams Vanille-Duft mischte, den Geruch des nahenden Regens, das Aroma der nassen Natur um ihn herum. „Ist es hier nicht wundervoll?“, stieß Sam lachend hervor und ihr Lauf wurde immer mehr zu einem Tanz. Ja, sie tanzten schon fast den Weg entlang und Lysander stimmte langsam, leise, angestrengt in ihr Lachen ein. Er hatte schon so lange nicht mehr gelacht, doch es fiel ihm immer leichter, bis ihrer beider Lachen miteinander verschmolz und fröhlich durch den grauen, düsteren Regentag schallte. Und Lysander fühlte sich frei, er fühlte sich endlich so frei, als er mit der Vanille-Frau durch den sanften Regen tanzte, lachend und weinend zugleich, denn es war das reine Glück, diese Freiheit zu empfinden. Und wer durch die Schatten sehen konnte, die verborgene Welt sehen konnte, entdeckte sie: Zwei Engel, die dem Himmel entgegen tanzten. Ihr Lachen war so warm, dass es die Wolken vertreiben konnte und die Sonne schickte ihnen einen Sonnenstrahl entgegen, auf dem sie ihren Weg fortsetzten. Wer genau hinsah, konnte sehen, wie die Wolken heller wurden, der Himmel blauer, das Gras grüner, denn immer dann wenn ein Engel die Erde berührt, blüht diese auf und zeigt sich in ihrer schönsten Pracht. Wer dies sehen konnte, musste unwillkürlich lächeln, er wurde berührt von diesem unirdischen Anblick, denn es gibt nichts Schöneres als das reine Glück eines Engels, der in seine Heimat zurückkehren darf. Doch wer nicht durch die Schatten sehen konnte, sah nur, dass die Wolken sich lichteten und ein weiterer normaler Tag begann. Nichts Besonderes, nur für die Frau, die Frau, die ihren Mann besuchen wollte. Die Frau, die einer resoluten Schwester gegenüber stand und in Tränen ausbrach. Die Frau, deren Mann schon so lange nicht mehr ihr Mann gewesen war, sondern nur eine reglose Puppe in einem Bett. Vielleicht konnte derjenige erkennen, dass es keine reine Trauer war, welche die Frau empfand, sondern dass sich auch Erleichterung darunter mischte, Erleichterung für sich und auch für ihren Mann, der endlich gehen konnte. Der Mann, der nun keine leere Hülle in einer Eierschalen-Welt mehr war. Aber egal, ob man nun durch die Schatten sehen konnte oder nicht, da war immer noch dieser Duft. Dieser leichte Hauch, der durch das Haus zog und so manchem ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Der Duft der Vanille-Frau. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)