Tokyo: Real Vampire von Futuhiro (Zwischen Gothic und Legende) ================================================================================ Kapitel 6: zwangsberaten ------------------------ Kopfschüttelnd reichte Oniji am nächsten Vormittag seine EC-Karte über den Tresen. Er hatte sich gerade in einem Gothic-Laden in Shibuya eine Hose mit Stahlösen für umgerechnet 217 Euro gekauft, ein Nietenoberteil für umgerechnet 104 Euro und Schmuck im Wert einer weiteren, dreistelligen Summe. Echt unfassbar. Er wusste nicht, ob er zu dem Verkäufer wirklich sagen sollte, oder nicht. Aber er hatte wenig Alternativen. Zeda hatte sich widerwillig bereit erklärt, ihm zu helfen, aber „nicht so, wie du aussiehst!“, um es mal mit seinen Worten auszudrücken. Zeda war der Auffassung, egal wen sie am Sky Tree treffen würden, es wäre zwingend eine angemessene Aufmachung nötig, sonst wäre jedwedes Anliegen sofort zum Scheitern verurteilt. „Warum dauert das so lange?“, wollte der Gothic mit der Undercut-Frisur genervt wissen, als Oniji wieder aus dem Geschäft kam und der ihn schon auf der Straße erwartete. Der Student schaute verdutzt auf seine Armbanduhr. „Sekunde mal, wir waren erst in 5 Minuten an der Kreuzung da vorn verabredet. Wieso machst du so einen Stress?“ „Du hättest die Klamotten wenigstens gleich anziehen können.“, hielt Zeda dagegen, ohne auf seine Frage einzugehen. „Da drüben ist eine öffentliche Toilette, geh dich dort umziehen! Und, scheiße, mach irgendwas mit deinen Haaren!“ „Mein Haargel war alle.“ „Dann kauf dir auf dem Weg zum Sky Tree ein neues!“, fauchte Zeda und seine Vampirzähne blitzten dabei beängstigend auf. Heute trug er Eckzähne aus Chrom, die funkelten als gehörten sie zu einer bösartigen Zerstörungsmaschine. „Hast du eine Ahnung, wo diese ist, in die man Safall gebracht hat?“ „Selbst wenn ich es wüsste, was willst du da?“ „Ich will hingehen und mich denen anbieten, im Austausch für Safall.“ Zeda warf ihm nur einen strafenden Blick zu. „Ich hab dir doch gesagt, daß ihm nicht zu helfen ist.“ „Du WILLST ihm bloß nicht helfen. Du bist echt ein vorbildlicher Freund, Zeda!“, maulte Oniji zurück und kam sich dabei ein wenig stolz auf sich selbst vor. Zeda blieb stehen und zerrte ihn an der Schulter zu sich herum. „Die Tatsache, daß ich dir helfe, zeigt schon mehr als deutlich, wie sehr mir Safall am Herzen liegt, du Idiot! Er ist sehr beliebt und überall hoch geachtet und der Kreuz König weis das, darum lässt er ihm vieles durchgehen! Denn Safall setzt als Sympathieträger viele Dinge für ihn durch, die der König allein niemals unter die Leute bringen würde. Aber einen Schüler hätte selbst Safall nicht haben dürfen! Wenn ich mich jetzt um dich kümmere, riskiere ich Kopf und Kragen! Nur, wenn man dich allein lässt, reitest du Safall am Ende bloß noch tiefer in den Schlamassel rein!“ Oniji guckte dumm. „Wieso riskierst du jetzt Kopf und Kragen, wenn du mir hilfst?“ „Geh dich verflucht nochmal endlich umziehen!“ Zeda nahm ihm die Tüte mit den neuen Klamotten weg, nur um sie ihm in der gleichen Bewegung wieder demonstrativ in die Arme zu drücken, als wolle er ihn nachdrücklich an die Existenz dieser Tüte erinnern. Dann drehte er Oniji am Kragen um und stieß ihn unsanft in das öffentliche WC hinein, vor dem sie inzwischen angekommen waren. „Zum Sky Tree haben wir noch einen langen Weg vor uns! Also beeil dich!“ „Wir haben noch 4 Stunden! Es ist gerademal 10.“, maulte der Student in sich hinein, wohlweislich zu leise für die Ohren seines Helfers wider Willen. Eine gute Stunde später bretterten die beiden in Zedas altem Leichenwagen einen schlaglochübersäten Feldweg entlang. Der Leichenwagen war spürbar nicht für solche Strecken gedacht und ächzte und schepperte an allen Ecken und Enden. Oniji hatte gar nicht erst gefragt, warum sie vom Sky Tree Tower wegfuhren, anstatt zu ihm hin. Er hatte auch nicht gefragt, wer oder was Ziel dieser Fahrt sein würde. Aber langsam kam ihm die Gegend bekannt vor und es meldete sich ein leiser Verdacht in ihm. Sie waren auf dem Weg zu Sewill, Safalls Zwillingsschwester. Vor der entlegenen Berghütte brachte Zeda sein Auto zum Stehen und atmete tief durch, während er das Häuschen musterte. Dann zog er ein Schnappmesser aus seiner Hosentasche, ließ es aufspringen und hielt Oniji fordernd die Hand hin. „Gib mir deinen Arm!“, verlangte er. „Wozu?“ Etwas eingeschüchtert zog der Student seine Gliedmaßen in Sicherheit. „Ich will dein Blut!“ „Keine Chance!“ „Für meine Hilfe erwarte ich Gegenleistung! Du wirst jetzt einen Pakt mit mir schließen!“ „Das hättest du dir eher überlegen müssen!“, quietschte Oniji mit überschnappender Stimme. Die Klinge in Zedas Hand machte ihm Angst. Ungeduldig griff der Gothic nach Onijis Unterarm, zog ihn mit der Kraft eines Bulldozers zu sich herüber und setzte das Messer an. Oniji hielt instinktiv still, damit Zeda wenigstens richtig treffen konnte und ihm nicht versehentlich die Pulsschlagader aufschlitzte. Er quiekte kurz auf, als der schneidende Schmerz heftiger ausfiel als erwartet. „Safall sagte, ihr würdet nur von Freiwilligen trinken. Ich fühle mich gerade gar nicht als Freiwilliger!“ Angeekelt schloss Oniji die Augen und musste sich wirklich zum Stillhalten zwingen, als Zedas Zungenspitze das entstehende Blutrinnsal aufleckte und unangenehm über die Wunde fuhr. Sein Magen krampfte sich zusammen. „Für die Kanüle fehlt uns die Zeit.“, gab Zeda nur zurück, wischte das Messer an seinem Pullover ab und schnitt sich kompromisslos in den eigenen Arm. Den hielt er dann Oniji hin, was die deutliche Aufforderung war, zu trinken. „Das ist mein Versprechen an dich, dir zu helfen und auf dich aufzupassen, bis Safall sich wieder selber um dich kümmern kann. Versprechen, besiegelt mit Blut, sind die glaubwürdigsten überhaupt.“ „Ist das auch dein Versprechen, daß du frei von irgendwelchen Krankheiten bist, mit denen du mich jetzt anstecken könntest?“, maulte der Student und schaute mürrisch auf den hingehaltenen Arm, an dem langsam ein Bluttropfen eine rote, der Schwerkraft folgende Spur zeichnete. Der Gothic antwortete nur mit einem vorwurfsvollen Blick. Offenbar war diese Art von Schwur in der Vampiristen-Szene tatsächlich eine sehr ernstzunehmende Sache und kein bloßer Scherz. „Welches Versprechen hast du mir gerade abgenommen, als du mich angestochen hast?“, hakte Oniji seufzend nach, überwand seinen Ekel und saugte den Schnitt an Zedas Arm vorsichtig aus. Im Gegensatz zu Safalls Blut, das er in einem Glas bekommen hatte, das er ohne großen Zungenkontakt einfach hinunterstürzen konnte und mit Wasser nachspülen konnte, war er bei Zedas Blut nun tatsächlich gezwungen, den metallischen Geschmack in voller Intensität über sich ergehen zu lassen. Und da Zedas Blut noch körperwarm war, entfaltete es tatsächlich einen anderen, weniger penetranten Beigeschmack als das ausgekühlte Zeug aus dem Glas. Aber nichtsdestotrotz fand Oniji es immer noch widerlich genug, um abgestoßen zu sein. „Nur, daß du derjenige bist, dem mein Versprechen gilt.“, beantwortete Zeda seine Frage, zog sich dann den langen Ärmel über die Schnittwunde und stieg aus dem Auto aus. Die junge Frau mit den kurzen, weißen Haaren stand bereits in der Tür und erwartete sie. Vermutlich hatte sie den Motor des Wagens vor ihrem Haus gehört und nachgesehen, wer da zu Besuch kam. Seufzend quälte sich auch Oniji aus dem Autositz. „Sewill, wir brauchen deine Hilfe. Wärst du so nett, uns deine Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen?“, bat Zeda, nachdem er sie mit einem Handkuss begrüßt hatte. Oniji erwartete dabei fast, daß er ihr mit seinen verchromten Eckzähnen in die Hand beißen würde, aber nichts dergleichen geschah. „Natürlich. Die Freunde meines Bruders sind auch meine Freunde. Ich helfe euch gern. Was kann ich für dich tun?“ „Safall steckt in Schwierigkeiten.“, platzte es aus Oniji heraus. „Tatsächlich?“ Verwundert griff Sewill nach dem Deck Tarot-Karten, die sich wie zufällig gerade neben ihr auf dem Tisch befanden, und legte mit schnellen, sicheren Handgriffen sechs Karten in einem Kreuzmuster. Kurz musterte sie die Bilder. „Hm, nein, er ist in Ordnung. Er hat wohl gerade irgendeine Einschränkung in seinen Freiheiten oder seinem Aktionsradius, aber ansonsten ...“ „Wegen Safall sind wir nicht hier.“, unterbrach Zeda das divinatorische Treiben. „Wir haben eigene Probleme.“ „... die mit Safalls Problemen im Zusammenhang stehen, nehme ich an.“, schmunzelte Sewill, schaute noch einen Moment auf die Karten und schob sie dann wieder zu einem Stapel zusammen. „Du willst wissen, was der Tag dir bringt.“, fuhr sie an Oniji gewandt fort. „Habe ich dir nicht das Spiegeln und das Runenwerfen beigebracht? Wieso fragst du deine Orakel-Medien nicht selbst?“ „Du kannst selber wahrsagen?“, wollte Zeda fassungslos wissen. „Warum sagst du mir das nicht? Dann hätten wir uns den Weg hierher sparen können!“ „Also erstens wusste ich ja gar nicht, wohin du mich hier schleppst. Und zweitens kann ich noch lange nicht wahrsagen, nur weil ich eine Anleitung für die Runensteine auf den Tisch geklatscht bekomme.“, hielt der Student selbstverteidigend dagegen. Sewills Lächeln wurde breiter. Auch sie trug wieder lange, aufgesteckte Eckzähne, die sich allerdings farblich ein wenig von ihren echten Zähnen abhoben, wie Oniji jetzt bemerkte. Ihre Naturzähne waren etwas gelblicher. Sie holte ihr Samtsäckchen mit den Granatsteinen aus einer Kommodenschublade. Auf die Steine waren Runen eingraviert und mit Goldfarbe nachgezogen. „Zeit, was zu lernen. Halte die Hände auf!“, wies sie Oniji an und schüttete ihm die Steine hinein. „Spiel ein bischen mit ihnen rum. Du musst jeden davon wenigstens einmal berührt haben. ... Such dir neun davon aus, die du benutzen möchtest. Ich empfehle dir Runen aus dem Alten Futhark, die sind aussagefähiger. Nimm auf jeden Fall Uruz, Kenaz, Gebo und Hagalaz, die spielen immer eine Rolle, egal wie deine Frage lautet.“ Oniji schaute sie mit fragendem Blick an. Er verstand kein Wort. Also suchte sie ihm die vier genannten Runen selbst heraus. „Such dir noch fünf aus. Schließ die Augen und lass dich von deinem Gefühl leiten.“ Der Student schloss die Augen, atmete durch um sich zu entspannen und fingerte eine Weile an den Steinen herum, spürte aber absolut gar nichts. Entnervt wählte er dann letztlich nach dem Lostopfprinzip irgendwelche Runen aus, die er zufällig gerade zu fassen bekam. „Jetzt stell deine Frage.“ „Ich wüsste gern ...“ „Nicht laut! Nur dran denken! ... Und jetzt wirf sie auf den Tisch.“ Oniji würfelte die Steine vorsichtig auf die Tischplatte und betrachtete das nichtssagende Ergebnis. Er hätte sich die Anleitung, die er letztes Mal von Sewill bekommen hatte, wenigstens einmal ansehen sollen, dachte er. Sewill beugte sich über den Tisch. „Ah ja.“, meinte sie verstehend. „Die meisten Runen liegen mit dem Gesicht nach oben. Das heißt, die Situation ist eindeutig und durchschaubar. Es sind keine verborgenen Mächte im Spiel.“ Sie deutete auf einen weit abseits liegenden Stein. „Tiwaz hat sich abgesondert. Also ist Gerechtigkeit hier kein Thema. Es ist egal, ob das Geschehene gerecht ist oder nicht.“ „Wem sagst du das.“, seufzte Oniji unglücklich. „Berkana und Ehwaz liegen beieinander und berühren sich. Die beiden sind ... naja ... Vertrauen und Teamwork, im Prinzip. Wenn sich die Runen berühren, arbeiten diese beiden Aspekte eng zusammen.“ Sie warf ihm einen listigen Blick zu. „Ich hatte nicht den Eindruck, daß zwischen euch beiden sehr viel Vertrauen im Spiel ist.“ „Wohlmöglich bezieht sich das Vertrauen nicht auf mich. Wohl eher auf Zeda und Safall untereinander.“ „Nein, alles hier bezieht sich auf dich. Du hast die Runen schließlich geworfen.“ Sie lehnte sich sexy auf die Tischplatte und schaute wieder auf die Steine. „Ich vermisse eine Rune. Uruz. Sie steht für Stärke und Gesundheit und solche Sachen. Sie liegt mit dem Gesicht nach unten. Das ist schlecht. Mal sehen, hier drüben liegen auch noch drei Runen in einer Gruppe und beeinflussen sich dadurch gegenseitig ...“ Oniji lauschte noch weiter Sewills Ausführungen und versuchte sich wenigstens ein bischen was vom Interpretations-Schema zu merken, da er ihren komplexen Gedankenverknüpfungen schnell nicht mehr folgen konnte, bekam ansonsten aber keine wirklich hilfreichen Hinweise oder Tipps mehr für das, was ihnen heute Nachmittag am Sky Tree Tower bevorstehen mochte. Vermutlich konnte Safalls Schwester nichts konkreteres aus den Runen herauslesen, weil sie sich die Frage zu diesem Wurf gar nicht angehört hatte. Warum Zeda ihn wohl überhaupt hier hergeschleppt hatte? Traute er sich auch nicht zum Sky Tree Tower, ohne sich vorher Rat zur Gesamtsituation eingeholt zu haben? Was, wenn Sewills Vorhersagen überaus pessimistisch waren? Würde Zeda sich dann weigern, zum Sky Tree mitzukommen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)