White Butterfly von Flordelis ================================================================================ Weißer Schmetterling -------------------- Eigentlich hatte Arnaud es sich angewöhnt, nicht einfach ungefragt Raquels Skizzen zu betrachten. Er wusste genau, dass sie das nicht wollte, dass die Bilder noch unvollkommen waren und deswegen von ihr als nicht gut genug für ihn angesehen wurden, aber er schenkte dieser Sorge keine große Beachtung. So oft schon hatte er ihr erklärt, dass selbst ihr schlechtestes Bild noch wesentlich schöner war, als sein bestes, was von ihr nie weiter kommentiert worden war. Also war er irgendwann dazu übergegangen, sie wirklich immer erst zu fragen und auf ihre Zustimmung zu warten, aber an diesem Tag war das keine Option für ihn. Seit einigen Tagen verweigerte sie ihm bereits, einen Blick auf ihre Bilder zu werfen, sie sprach kaum mehr mit ihm und war noch blasser als sonst. Natürlich machte ihm das Sorgen, weswegen er hoffte, in ihren sorgsam gehüteten Zeichnungen einen Hinweis zu finden. Seine Chance war schließlich gekommen, als sie eine Nacht in einem Gasthaus eines abgelegenen, kleinen Ortes verbrachten. Ihre Reise führte sie durch allerlei Gegenden, die allesamt einen ganz eigenen Zauber besaßen, etwas Schönes, das Raquel so sehnsüchtig verfolgte, aber bislang war keine Landschaft gut genug gewesen. Nicht einmal diese, obwohl sie hier erstmals mit Schnee konfrontiert gewesen waren, den sie stundenlang betrachtet hatte, bis die Sonne untergegangen war – was wiederum die schönste Dämmerung gewesen war, die Arnaud je zuvor gesehen hatte. Aber es war immer noch nicht, was Raquel suchte. Im Moment befand diese sich im Bad, um sich die Spuren der Anstrengung vom Körper zu waschen, was Arnaud die Gelegenheit gab, ihren Skizzenblock aus ihrer Tasche zu holen. Für einen Moment starrte er den Schutzumschlag nur an, fragte sich, ob er diesen Vertrauensbruch wirklich begehen sollte oder ob es nicht vielleicht besser wäre, den Block wieder zurückzulegen und dann auf ihre Rückkehr zu warten. Aber dann gewannen die Sorge und die Frage, was nur mit ihr los war, wieder die Oberhand, so dass er den Gedanken an den Vertrauensbruch beiseite schob und den Block aufschlug. Die ersten Seiten zeigten Bilder, die sie bereits vollendet hatte und zu einem großen Teil von ihrer Reise mit Jude und Yulie stammten. Arnaud kannte diese bereits, Raquel zeigte sie ihm immer sehr gerne, aber eigentlich betrachtete er sie wirklich ungern. Nicht, weil er ihre Zeichnungen nicht mochte, sondern weil sie Erinnerungen an diese Reise wiederbrachten, die ihn die beiden Freunde, deren Wege sich von ihnen getrennt hatten, vermissen ließ. Und das vermied er lieber. Wenige Seiten später gelangte er zu den neueren Bildern, von denen einige ausgearbeitet, aber nicht beendet, während andere noch immer nur Skizzen waren. Aber zumindest erkannte er jedes einzelne wieder. Eines zeigte eine ganze Allee voller Bäume mit erstaunlich tiefroten Blättern, auf einem anderen war ein Falke zu sehen, der gerade seine Flügel ausbreitete und ein weiteres zeigte sogar Arnaud selbst. Er schmunzelte ein wenig, als er dort angekommen war, das Bild war eindeutig noch nicht fertig, was ihn hoffen ließ, dass dies der Grund war, weswegen sie nicht wollte, dass er sich den Block ansah, ehe sie es nicht beendet hatte. Doch als er weiterblätterte, erkannte er, dass es nicht der Grund gewesen war. Auf den ersten Blick konnte er nicht sagen, warum sein Magen sich bei dem Bild einer gewöhnlichen Blumenwiese derart zusammenzog. Im Gegensatz zu ihren anderen Skizzen, hatte Raquel bei dieser mit Farben gearbeitet, so dass die blauen, roten und violetten Blüten, an die er sich noch gut erinnerte, wirklich lebendig wirkten. Auf einer dieser Blumen saß ein Schmetterling, dem jegliche Farbe fehlte, er war vollkommen weiß, weswegen er unangenehm hervorstach. Um dem Gefühl zu entgehen, das ihn gerade heimsuchte, blätterte er weiter. Auf jedem der folgenden Bilder, die in der letzten Zeit entstanden sein mussten, war ein solcher Schmetterling zu sehen – selbst auf jenem, das sie erst an diesem Tag, während sie den Schnee betrachtete, angefertigt hatte. Aufgrund des ganzen Weiß war er kaum auszumachen, aber dennoch vorhanden. Sorgsam packte er den Block wieder in Raquels Tasche zurück, dann erhob er sich von dem Bett, auf dem er gesessen hatte und begann, rastlos im Raum auf und ab zu laufen. Viel Platz besaß er zwischen den Betten und dem Tisch nicht, aber er störte sich nicht daran, stattdessen wirbelte er einfach alle vier Schritte herum, damit er wieder in die andere Richtung gehen konnte. Eigentlich half es ihm, beim Denken stillzustehen, aber sein Körper fühlte sich derart rastlos, dass er nicht gegen den Drang, herumzulaufen, ankämpfen konnte. Er wusste, dass dieser Schmetterling ein ungutes Symbol war, ein Omen – aber ihm wollte einfach nicht einfallen, für was er stand oder woher er dieses Wissen hatte. Aber selbst als er sich immer wieder sagte, dass es nicht schlimm war, dass es sich nur um einen Schmetterling handelte, wollte das beunruhigende Gefühl einfach nicht schwinden. Um sich abzulenken, machte er sich schließlich an seiner eigenen Tasche zu schaffen. Sobald Raquel zurückkam, würde er ihr die Medikamente geben müssen, die sie aus einer zurückliegenden Stadt mitgenommen hatten. In jenem Ort gab es ein Krankenhaus, in dem sich Raquel, nach Arnauds Ermunterung, hatte untersuchen lassen. Weder die Diagnose, noch die Prognose, waren dadurch geändert worden, aber immerhin hatte der nette Arzt ihnen ein Medikament mitgegeben, das vielleicht, möglicherweise, unter Umständen, helfen könnte. Bislang war dem nicht so gewesen, aber Arnaud achtete dennoch darauf, dass sie die Tabletten regelmäßig nahm, in der Hoffnung, dass es ihr Schicksal hinauszögern würde, bis sie doch noch ein Heilmittel fanden oder dass zumindest ihre Schmerzen gelindert wurden. Kaum hielt er die Pillendose in der Hand, hielt er wie elektrisiert inne. Schlagartig erinnerte er sich, warum dieses Symbol des Schmetterlings ihm derart unheilvoll erschien: Während Raquel untersucht worden war, hatte er sich im Wartebereich der Klinik umgesehen. Dabei waren ihm mehrere Bilder ins Auge gefallen – und auf jedem von ihnen war dieser weiße Schmetterling gewesen. Manchmal ganz offen in Szene gesetzt, manchmal nur ein kleines Detail in einem großen Werk, manchmal gar halb verdeckt und einmal war er sogar das einzig Sehenswerte gewesen. Die Krankenschwester hatte ihn schließlich darüber aufgeklärt, dass all diese Bilder von ehemaligen Patienten gemalt worden waren und dass sie alle kurz nach Vollenden der Kunstwerke, gestorben waren. „Schmetterlinge repräsentieren bekanntlich die Seelen“, hatte sie dazu gesagt. „Laut unseren Patienten stimmt es.“ Nach dieser Erinnerung fühlte er sich für einen kurzen Moment zu kraftlos, um auch nur den Kopf anzuheben. Ihm schien, dass sein ganzer Körper von einer Woge eiskalten Wassers überrollt wurde. Raquel würde sterben. Natürlich wusste er das schon lange, das war immerhin einer der Gründe, weswegen sie nun durch ganz Filgaia reisten. Aber erst in diesem Moment, mit ihren Bildern im Gedächtnis, wurde ihm erst so richtig bewusst, was das eigentlich bedeutete. Die Wucht dieser Erkenntnis war derart heftig, dass sie ihn sicher von den Füßen gerissen hätte, wenn es sich bei ihr um einen realen Angreifer gehandelt hätte. In seinem Leben war ihm bereits viel Leid begegnet, zumeist berührte es ihn nicht, es war immerhin eine harte Welt, in der sie lebten – aber wann immer es jemanden traf, der ihm nahe stand oder gar ihn selbst, änderte sich das. Sein erster Impuls war es, fortzurennen, so schnell und so weit wie möglich und sich vor allem zu verstecken, was diese Welt ihm Böses antun könnte. Wäre es ihm möglich gewesen, wäre er sogar vor Raquels Tod weggelaufen – und noch vor kurzem wäre er nun sicher, ohne zu zögern, einfach hinausgegangen und nie wieder gekehrt. Aber nun ging es um Raquel, er konnte ihr das nicht antun, er würde bleiben. Als sein Körper endlich wieder reagierte, stellte er die Pillendose auf den Tisch. Dabei bemerkte er, dass seine Hand nicht zitterte. Er fürchtete sich, hatte geradezu unbeschreibliche Angst, die ihn zum Wegrennen animieren wollte, aber er zitterte nicht im Mindesten. Vor kurzem, zu jener Zeit, in der er wirklich weggelaufen wäre, hätte sein ganzer Körper gebebt, ihn immer wieder stolpern lassen und damit sogar seine Flucht behindert, aber nun war davon nichts mehr zu sehen. Obwohl in seinem Inneren ein Sturm tobte, war er äußerlich vollkommen ruhig. Und er wusste sofort, was das bedeutete und was er tun müsste. Ja, er würde bleiben. Nicht nur weil er es ihr einmal versprochen hatte. Sie brauchte ihn – und er war nicht bereit, sie ihm Stich zu lassen, genausowenig, wie sie ihn damals, als er in der Situation gewesen war, dass er jemanden benötigte, der einfach bei ihm war, um die Angst zu lindern. Er würde ihr beistehen, weil sie ihm den Mut gegeben hatte, sich seinem Leben mit allen Gefahren zu stellen und über sich hinauszuwachsen. Er würde bleiben, weil er sie liebte und dieses Gefühl stärker als die Furcht war, die Erinnerung an ihr Lächeln stärker als jene an diese angsteinflößenden Schmetterlinge. Er würde bleiben und das bis zum Ende. Die Tür öffnete sich und Raquel kam wieder herein. Ihr Haar war noch nass, aber sie wirkte nicht mehr so blass wie zuvor. Als sie bemerkte, dass er mitten im Raum stand, blickte sie ihn mit gerunzelter Stirn an. „Stimmt etwas nicht?“ Er glaubte zu wissen, was sie in diesem Moment dachte, was sie in so vielen anderen Augenblicken fürchtete und er war entschieden, sie wieder einmal davon zu überzeugen, dass sie damit vollkommen falsch lag. Also ging er auf sie zu, nahm mit einem Lächeln ihre kaum merkbar zitternde Hand, die kälter war, als sie eigentlich sein dürfte und antwortete: „Nein, es ist alles in Ordnung.“ Und obwohl er noch immer Angst hatte und ungeachtet der Tatsache, dass er sich vor dem Tag fürchtete, an dem er nicht mehr ihre Stimme hören könnte, wusste er tief in seinem Inneren, dass seine Worte keine Lüge waren, um sie zu beruhigen. Er meinte sie vollkommen aufrichtig, so wie das Versprechen, das er ihr einst in Halim gegeben hatte. Ihr darauf eintretendes, glückliches Lächeln, verscheuchte die Kälte der Furcht in seinem Inneren, verbannte sie an einen Platz weit entfernt von seinem Herzen, wo sie hoffentlich nie wieder mit solcher Macht hervorbrechen würde. „Komm“, sagte er, „du solltest deine Tabletten nehmen.“ Ohne Widerworte ließ sie sich von ihm zu dem Tisch hinüberziehen. Ein roter Schimmer hatte sich auf ihr Gesicht gelegt und erinnerte damit nicht einmal mehr an die zuvor noch besorgniserregende Blässe. Und kurz bevor er sie wieder losließ, wurde ihm noch etwas bewusst: Ihre Hand war warm und zitterte nicht mehr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)