Raftel (2) von sakemaki (The Rainbow Prism) ================================================================================ Kapitel 6: 6 - Shimotsuki-mura ------------------------------ Ebenso schnell wie der letzte Sturm über den East Blue hinweggefegt war, so schnell schob sich die nächste Warmfront hinterher. Sie putzte die allerletzten Wolkenfetzen vom mitternächtlichen Firmament und dekorierte ihn mit einem atemberaubenden Sternenhimmel, so als wäre jeder Stern einzeln dort oben aufgehängt worden. Dazwischen zerliefen die bunten Lichtstreifen wie Wasserfarben im Regen. Ein fast kreisrunder Mond pappte fehlplatziert zwischen den östlichen Gestirnen und setzte den kleinen Wellenkämmen auf dem sich sacht beruhigenden Meer winzige Schaumkrönchen auf. Ein schwarzer Punkt tauchte an der Horizontlinie auf. Unmerklich und beinah unsichtbar. Doch er wurde größer und größer und formte sich zu einer Silhouette. Aus ihr erwuchsen langsam Berge, deren bewaldete Gipfel im Mondlicht zu baden schienen. Eine Halbinsel im Dornröschenschlaf, die vermutlich nie wach geküsst werden würde. Erst sehr viele Seemeilen später würden sich ihre Umrisse mit den Gebirgen der Redline vereinen und sie vollkommen schlucken. Sanft und leise, als wolle die Sunny die unübersichtliche Landzunge nicht wecken, glitt sie über das Wasser und schlich sich nahezu unauffällig an ihr Reiseziel heran. Ein Kanonier starrte angestrengt durch ein Fernrohr, ein Rentier hielt dem Tiefschlaf nahe das Steuer, und ein Schwertkämpfer saß auf dem Sofa und studierte auf der Seekarte die küstennahen Ortsnamen. „Zappenduster! Noch nicht mal ein Leuchtfeuer oder eine Seebake. Chopper, penn' nicht ein!“ beschwerte sich Usopp und knuffte das Rentier in die Seite, dass es erschrocken hochfuhr. „Hab' doch gesagt, da werden schon zur Mittagszeit die Bürgersteige hochgeklappt“, kam es nur achselzuckend von Zoro zurück. Es klang eher wie eine Entschuldigung als die Bestätigung einer Tatsache. Er hielt Usopp die Seekarte vor die Nase und zeigte auf einen eingezeichneten Hafen, der nicht weit von ihrer aktuellen Schiffsposition aus lag. „Dahin.“ Der Kanonier legte den Kopf schief, bis der verdrehte Hals schmerzte, um den Kurs auf der Karte einschätzen zu können. Wann würde Zoro jemals lernen, einen Karte so zu halten, dass der Nordpfeil auch tatsächlich nach Norden zeigen würde? Noch während er sich Gedanken machte, klappte eine Tür. Schritte raschelten erst leise auf dem Rasen des Decks, dann erklommen sie die Treppe zum Steuer hinauf. Die Navigatorin stattete der Nachtschicht einen Kontrollbesuch ab und stellte sofort die Kursänderung fest. Noch bevor sie einen Wutanfall bekommen und sich über unfähige Crewmitglieder auslassen konnte, ließ sie sich beschwichtigen. Es handele sich hierbei nicht um Unfähigkeit, dass Schiff auf Kurs halten zu können, sondern um eine notwendige Maßnahme. Die Gewässer waren mehr als seicht. Auch wenn die Sunny nur sehr wenig Tiefgang besaß, wäre ein Ankern vor der Küste von Nöten und nerviges Ausbooten unumgänglich. Der angepeilte Hafen böte eine Mole als Hafenmauer. Diesen handfesten Argumenten gab Nami nach und griff mit einem Zirkel die Entfernung ab. Kurzum zeichnete sie den neuen Kurs ein und drücke der Langnase die Karte wieder in die Hand. Ungefähr eine Stunde Fahrtzeit trennte die Sunny von ihrem verdienten Anlegeplatz und einer restlichen Nachtruhe. „Noch eine Stunde? Es ist mitten in der Nacht!“ protestierte Chopper und kämpfte mit der stetig aufkommenden Müdigkeit. Es war schwer zu sagen, ob er das Steuerrad hielt oder das Steuerrad ihn, und so war er dankbar durch die Ablösung seitens Zoros. Im Halbschlaf schlich er über das Deck zu seinem ersehnten Bett. „Der macht mich echt Sorgen ...“, dachte Zoro laut mehr als nachdenklich vor sich her. Betreten blickte Usopp auf den Boden und brummelte etwas, was bestätigend, aber unverständlich klang. „Was meinst du?“ Fragend blickte Nami in die kleine Runde und warf dem Rentier noch einmal einen Blick nach, wie es die Tür zum Schlafraum hinter sich schloss. Doch die Miene des Schwertkämpfers bleib verschlossen und auch der Scharfschütze haderte mit einer Antwort. Ihm war Zoros Gedanke sofort wir ein Hieb durch alle Eingeweide gefahren. Nein, Nami war damals nicht auf dem Weg durch die Donnerebene im sogenannten Haus der Stille gewesen. Ein Orakel, welches Fragen auf alle Antworten wüsste. Auch die Wendeltreppe im Orakel war ihr fremd geblieben und ebenso, welche angsttreibende Entdeckung sie dort auf der Treppe machten. Todesspirale war ihm im Nachhinein durch den Kopf geschossen, wenn er daran dachte. Mit Schaudern erinnerte sich Usopp an das Blitzgewitter ohne Regen, an ohrenbetäubendes Krachen, an grauen Staub und Dunkelheit und an schwarze Panzerreiter, die ihre kleine Gruppe letztendlich zertrennt hatte. Und nun schien der Zahn der Zeit das wahr werden zu lassen, was sie damals auf der Treppe erlebten. Am Fuße der ersten Stufe blickte man in eine frische Morgensonne. Warm, mild und vorurteilsfrei liebkostet sie jedes neue Leben. Je höher man stieg, desto weiter schritt die Tageszeit voran. Jede Stufe war ein persönliches Lebensjahr. Oben empfing einen nur noch der Nachthimmel, falls es überhaupt jemand noch erlebt haben dürfte. Während er zusammen mit Zoro und Tashigi unwissentlich bereits recht viele Stufen erklommen hatte und von hoch oben schon in eine beginnende Abendsonne blickten, sah das Rentier viele, viele Stufe hinter innen schon diese Bild eines sinkenden Lebenslichtes. Usopp hatte Choppers Stufen gezählt und ein dicker Kloß bildete sich in seinem Hals, wenn er ihm bewusst wurde, dass es zwischen den Lebensjahren des kleinen Arztes und den gezählten Treppenstufen nicht mehr viel Spielraum gab. Er schluckte den Kloß runter und begann den Versuch einer Erklärung: „Naja, guck dir Chopper an. Sein Fell ist grau und struppig. Er schleicht nur vor sich her und schläft viel ...“ „Das ist uns allen aufgefallen“, gab Nami zurück. „Willst du etwas andeuten, dass er...?“ Nein, der Gedanke war so abstrus, dass sie ihn nicht zu ende zu denken vermochte. Chopper und sterben? Tränen stiegen ihr in die Augen. Das konnte nicht ernst gewesen sein. „Nami, Chopper ist ein Rentier! Die werden wenn überhaupt im Schnitt fünfzehn Jahre alt. Dass er schon über dreißig ist, verdankt er seiner Teufelsfrucht. Trotzdem ist und bleibt er ein Rentier. Das ist nun mal so.“ Auch wenn Zoros Worte noch so nüchtern und einleuchtend klangen, kannten sie sich lange genug, dass es auch für ihn nicht einfach war, diese Tatsache zu akzeptieren. Er starrte über das Meer geradeaus und ärgerte sich ein wenig, dieses schwerwiegende Thema laut ausgesprochen und somit seine Nakama traurig gestimmt zu haben. Allerdings würde sich die ganze Crew früher oder später damit auseinandersetzen müssen. So war es vielleicht gut, sich schon einmal innerlich beschäftigen zu müssen, einen sehr lieben und gut vertrauten Nakama zu verlieren. Oder hätte man nichts sagen sollen und alle wären bis zur letzten Sekunde fröhlich? Eine schwierige Entscheidung. Die Sunny machte gute Fahrt. Aus der Finsternis hob sich zwischen Meer und Himmel ein schwarzer Streifen ab. Noch einen Moment später machten man an Bord die einsam wirkende Mole aus. Sie griff wie ein langer Arm ins Meer hinein, als würde sie alle Schiffe einfangen und ihnen eine einladende Umarmung verpassen wollen. Die ausgesuchte Anlegestelle auf der Land zugewandten Seite der Mole war wohl durchdacht. Von See aus würde die Sunny sich erst sehr spät vor dem Hintergrund der Berge und Wälder abheben und war somit lange Zeit unsichtbar Feinden gegenüber. Aber sie lag nahe genug der Ausfahrt, um bei Gefahr schnell das offene Fahrwasser zu erreichen. Zoro und Usopp machten sich daran zu schaffen, die Taue um die Poller zu legen, während Nami schweigend das Steuer übernommen hatte und so gefühlvoll das Schiff an die Kaimauer bugsierte, als hätte sie feinstes Porzellan in den Händen. Der Schock über Choppers Zustand saß ihr immer noch in den Gliedern. Schweigend verließ sie den Steuerposten und verschwand in der Damenunterkunft. Zurück blieben die zwei Piraten an der Kaimauer, die unschlüssig dort ausharrten und über die verbleibenden Nachtstunden nachdachten. Der Molehafen war menschenleer. Nicht einmal Fischerboote hatten sich hierher verirrt. Fast geräuschlos wappte der Wellengang gegen die Kaimauer. Mit einem zarten Schimmer am östlichen Himmel deuteten sich die ersten Sonnenstrahlen an. „Ich habe das genau gesehen“, durchbrach Usopps Stimme die Überlegungen, sich entweder ins Bett zu verziehen oder bis zum Frühstück wach zu bleiben. „Was hast du schon wieder gesehen?“ „Deine Füße. Als du von Bord gegangen bist und den Boden hier berührt hattest, da ist der Boden kurz schwarz geworden. Du hast doch irgendwas gesehen. Stimmt's oder hab' ich recht?“ Zoro seufzte. Vor der Langnase konnte man rein gar nichts verbergen. Und selbst wenn dieser etwas verborgen geblieben war, so wurde solange in fremden Angelegenheiten gestochert, bis es schließlich entdeckt war. „Gar nichts hab ich gesehen“, brummelte er zurück und hatte in dieser Sekunde die Entscheidung gefällt, sich auf den Weg zumachen. Sollte die Langnase doch noch ein bisschen vor Neugier zappeln. Und tatsächlich war die Vision, sobald er wieder Land unter seinen Schuhen verspürt hatte, derartig kurz gewesen, dass er sie weder festhalten, noch gar vernünftig erkennen konnte. Für den Bruchteil der Sekunde hatte er an eine Motte oder ähnliches Insektenzeug denken müssen. Sicher war er sich nicht. Also war es gar nicht mal gelogen, dass er nichts gesehen hatte. Fast nichts. Die Wege trennten sich. Usopp bestand auf Frühstück und Zoro schlenderte an der Hafenmauer entlang auf das Festland zu. Erinnerungen kamen hoch. Es überraschte ihn, wie viele es nach all den Jahren noch waren. Weit würde der Weg bis ins Dorf werden. Oft hatte er und die anderen Jungen daher sich an Heuwagen herangeschlichen und waren als blinde Passagiere mitgefahren, bis sie von wütenden Wagenlenkern wieder rausgeschmissen wurden. Blieb man unentdeckt, nutze man die neu gewonnene Höhe durch die Heuladung aus und klaute im Vorbeifahren Äpfel von den spätsommerlichen Bäumen. Man hatte schon einen herrlichen Blödsinn in der Kindheit veranstaltet. Am Ende der Mole lag ein Hafen mit einem kleinen Handelsplatz und seinen typischen Gebäuden. Lagerhallen für Fischerboote und Güter aller Art, eine Taverne mit wenigen Gästezimmern und ein Zollhaus der Marine flankierten den Platz. Dahinter erhob sich ein bewaldeter Gebirgsausläufer, der sich drüben am Festland in den höheren Bergen verlor. Ein einziger Kopfsteinweg schlängelte sich zwischen den Häusern hindurch und verschwand in der Dunkelheit des Waldes. Kühl war es hier zwischen den Lorbeerbäumen. Ihre dichten fleischigen Blätter gaben der Sonne nur wenig Chancen, Sonnenflecken auf den Boden zu malen und so breiteten sich Moose und Farne zu Füßen der Bäume aus. Hier und da schlich ein Nebelfetzen um die Stämme. Eine gespenstische Wildromatik, welche Zoro wenig Beachtung entgegenbrachte. Der Weg verlor sein Kopfsteinpflaster und bot nun dort, wo Fuhrwerke entlangfuhren, festgefahrenen Schotter. Mittig zwischen den beiden Radspuren verblieb ein Grasstreifen. Der Wald wechselte sein Gesicht, gab die Lorbeerbäume auf und schmückte sich nun mit lichten Buchen. Es war die Dorfgrenze zwischen dem Hafengebiet und Shimotsuki. Dem hätte er wohl ebenso wenig Aufmerksamkeit geschenkt, wie der eintönigen Vegetation um sich herum, wäre da nicht ein Dôsojin gewesen. Just als er ihn passierte, war da wieder etwas. Eine kurze Sequenz an Kopfkino schoss sich in sein Hirn und war ebenso schnell verflogen. Er hatte nie an irgendwelche Götter geglaubt, weshalb er sich zeit seines Lebens nie mit diesen heiligen Wegsteinen am Rande der Straße beschäftigt, geschweige denn sie einmal betrachtet hätte. Doch zweifelsohne wollte dieser Stein hier etwas mitteilen. Er verließ den Weg, trat nur wenige Schritte durch den Farn und entdeckte den kleinen Übeltäter. Verwittert und vom matschigen Boden gebeutelt, stand der Stein schief gekippt und von Moos überwuchert dort stumm und ein bisschen verloren. Zoro machte sich wenig Mühe, die eingemeißelten Figuren freizulegen, indem er einfach mit der Stiefelspitze das Moos und den Dreck grob abkratzte. „Was willst du mir sagen?“ dachte er bei sich und war doch recht irritiert, als unter dem eingetrockneten Matsch die Umrisse eines Insektes deutlich wurden. Die Flügel waren nicht aus dem grauen Stein herausgemeißelt, sondern durch rosafarbenen Granit ersetzt worden. „Ein Schmetterling, keine Motte. Ein roter Schmetterling...“, seufzte er. „Die halbe Jugend dran vorbei gelatscht und nichts kapiert...“ Seinen Weg fortsetzend kam er schon alsbald aus dem Wald heraus an eine Weggabelung. Die Sonne leckte mit ihren Strahlen gerade erst über die Bergkuppe hinweg an den obersten Baumwipfeln. Vor ihm schlummerten kleine Höfe in den letzten Nachtschatten. Das Krähen eines Hahnes markierte den Tagesanbruch. Wohin sollte er nun gehen? Noch einige Minuten stand er unschlüssig an der Kreuzung und schaute den beiden Wegen entlang. Der Hauptweg führt inmitten des breiten Tals an den Häusern vorbei bis in die Dorfmitte. Der kleinere Weg war eher mit einem Trampelpfad gleichzusetzen und zog sich entlang des Waldrandes im Schatten der Bäume und endete später am Dorfrand. Das Ziel des Pfades kennend bog er auf diesen ab. Zum einen würde man ihn nicht sofort zu Gesicht bekommen und zum anderen verspürte er nun doch das Bedürfnis, dort hinzugehen, von wo aus seine lange Reise einmal begonnen hatte. Die Sonne flutete nun das ganze Tal und hatte genug Kraft gesammelt, um bereits in den frühen Morgenstunden unangenehm zu brennen. Sie labte sich an der Feuchtigkeit in den Reisfeldern und zog sie in dampfenden Schwaden gen Himmel auf. Die Kühle der schattigen Bäume war nun eine Wohltat. Dann war er da. Als wäre er nie weg gewesen ging er zielgerichtet durch die Reihen der Gräber, bis er das richtige gefunden hatte. Etwas betreten betrachtete er Kuinas Grab und ließ seinen Blicke über den Stein mit ihrem Namenszug wandern, blickte dann weiter zu dessen Fuße und musterte verlegen den mehr als riesigen Stapel an alten Zeitungen. Er hockte sich davor und hob vorsichtig einzelne Blätter an. Tashigi hatte ihm gegenüber mal erwähnt, ihr Vater würde alles an Berichten über ihn sammeln und an das Grab legen. Zoro hatte mit einem Steckbrief und vielleicht einer Handvoll Seiten an Zeitungsartikeln gerechnet, doch das hier glich eher einem Zeitungsarchiv. Fein säuberlich übereinander gelegt von der ältesten bis zur jüngsten Ausgabe aufsteigend. Ein Lebenslauf mit viel verschwendeter Druckerschwärze, festgehalten für die halbe Ewigkeit. „Wer so akribisch sammeln würde, könnte unmöglich sauer sein“, schoss es ihm durch den Kopf und musste in sich klein beigeben, dass Tashigi die letzten Jahre im Recht gewesen war, wenn sie ihn wieder und wieder gebeten hatte, sie mal nach Shimotsuki zu begleiten. Aber nichts und niemand hatte ihn dazu bewegen können. Mit den Fingerspitzen fuhr er an den Faltkanten der Zeitungen entlang und ertappte sich beim Selbstgespräch: „Da hattest du ja was zu lesen... Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht...“ Einer Lichtreflektion gleich tanzte ein schillernder roter Punkt an ihm vorbei, setzte sich kurz auf die Zeitungen und stupste seine Finger an. Er streckte sie aus. Der Lichtfunke bildete einen schmalen Körper und zarte Flügel aus. Ein kleiner roter Schmetterling hatte sich auf seinem Finger niedergelassen und ruhte mit weit geöffneten Flügeln in der Sonne. „Du wartest immer noch? Ich habe auch oft an dich gedacht...“ Längst hatte er sich gesetzt und betrachtete den hübschen Falter, wie er sich im Inneren seiner Handflächen geschützt und wohlig fühlte. Er hatte die Situation vollkommen falsch eingeschätzt. Längst hatte er gedacht, er wäre über seine Vergangenheit hinweg und er käme damit zurecht. Da half alles verlegen Unterlippenkauen nichts mehr. Kein Selbstbelügen hielt die Dämme noch zusammen, die nun brachen. Stumme Tränen rannen über sein Gesicht. Er konnte die Zeit nicht einschätzen, die er hier verbracht haben mochte, doch dem Sonnenstand zu urteilen ging es gegen Mittag, als Geräusche vom anderen Ende des Friedhofs an sein Ohr drangen. Erschrocken flatterte der Schmetterling auf und taumelte vor ihm auf und ab, als wolle er ihn auffordern zu folgen. Dann entschwand er gen Himmel in Richtung einer der Berge. „Der schwarze Berg?“, dachte er bei sich und wischte sich hastig mit dem Ärmel übers Gesicht. Es sollte bloß niemand merken, dass er geheult hätte. Zwischen den Grabsteinen hindurch erspähte er einige Grabreihen weiter einen alten Herren, den er nicht kannte. Dieser kniete dort nieder zum Gebet und hatte die Anwesenheit des Piraten nicht gemerkt. Gut so. Zoro stahl sich unauffällig davon. Weiter ging es in sicherem Abstand um die Häuser herum wieder hinaus aus dem Dorf, denn die Kendoschule lag nur wenige Gehminute etwas außerhalb. Nein, es hatte sich wirklich nichts verändert. Es wirkte alles nahezu wie in einem Freilichtmuseum und er wandelte wie ein fehlplatzierter Besucher darin herum. Die lange weiße Mauer schirmte die Schule und das Wohnhaus von der Außenwelt ab und verbarg in ihrem Inneren eine eigene kleine Welt voller Ruhe und Einklang. Mitten durch das Haupttor zu spazieren missfiel ihm. Das Tor würde damals wie heute vermutlich knarren. Zudem sah man vom Haus aus sofort, dass Besuch auf dem Hof stand. Also nahm er den Weg seiner Kindheit, wenn er etwas ausgefressen hatte oder einfach nach langen Irrwegen viel zu spät heimkam. Rechts um das Anwesend herum, den kleinen Busch als Trittleiter missbrauchen und schon saß man oben auf der Mauer, wo der große Fächerahorn hinter seinen roten Blättern Sichtschutz gab. Aber Vorsicht, mit etwas zu viel Schwung fiel man durchs Geäst und landete bäuchlings im Koi-Teich. Er vermied diesen Fehltritt und beobachtete den Innenhof. Vermutlich wusste Koushirou bereits, dass er da war. Wie auch immer sein alter Lehrmeister es zustande brachte, er hatte immer alles gewusste, was sich auf seinem Grund und Boden abspielte. Ob nun tagtägliche Sprünge über die Mauer, nächtliches Sake-Saufen zwischen den Bambushecken mit Freunden oder pubertäre Prügeleien im Dorf. Nichts blieb verborgen. Vermutlich besaß Koushirou das Observationshaki mit Nonstop-Funktion. Also glitt er leise von der Mauer und ging auf das Dôjô zu. Und tatsächlich saß dort am anderen Ende Koushirou in geruhsamer Konzentration, als hätte er seinen Zögling erwartet. In so einer Trainingshalle herrschten ganz klare Verhaltensregeln. Wer die nicht einhielt, flog umgehend wieder raus. Da kannte sein Ziehvater kein Pardon. Er schlupfte an der geöffneten Tür aus seinen Stiefeln und verbeugte sich kurz vor dem Hausaltar. Je weiter man von der Eingangstür entfernt seinen Sitzplatz hatte, desto höher war das Ansehen. Daher war der vorderste Platz generell für Koushirou reserviert. Zoro konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, jemals neben seinem Sensei jemanden sitzen gesehen zu haben, und da er nicht einschätzen konnte, wie es um seine Position auf der Beliebtheitsskala stand, suchte er sich seinen Platz weit weg von Koushirou und in der Nähe der Eingangstür. Die Schwerter sorgfältig neben sich abgelegt, die Hände auf den Oberschenkeln ruhend starrte er vor sich auf den Boden. Die Stille zerrte an den Nerven. Es war immer dem Ranghohen vorbehalten, ein Gespräch zu eröffnen und die Ruhe zu durchbrechen. „Los! Sag was oder schmeiß mich raus!“ schrie es in seinem Innersten. Für Zoro fühlte es sich wie eine halbe Ewigkeit an, als ihn endlich ruhige und freundliche Worte der Erlösung erreichten. „Mit soviel Demut kehrst du Heim? Das ehrt dich. Aber ist das wirklich der rechte Platz dort hinten für den weltbesten Schwertkämpfer?“ Zoro blickte verwundert auf. Koushirou sah in mit seiner ewig gütigen Mine über die Schulter hinweg an und wies auf einen Platz direkt neben ihm. Mehr anerkennendes Lob konnte es wahrlich nicht geben. Der Angesprochene tat wie ihm geheißen und wechselte den Platz. Ein Ahornblatt segelte aus seinen grünen Haaren lautlos zu Boden. „Hast du wieder die Abkürzung über die Mauer genommen? Ach Zoro, du hast dich überhaupt nicht verändert“, lachte der Ältere, und obgleich dem Jüngeren ein Grinsen über das Gesicht huschte, spürte er peinlich berührte Gesichtsröte aufsteigen. 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