Darker than you think von Nordwind ================================================================================ o1 -- o1| Ihm war kalt. Er ging mitten auf der Straße. Ihm war kalt und er war nass. Ein leichter Nieselregen fiel auf ihn herab. Wie im Traum beobachtete er wie die winzigen, glitzernden Tropfen in Zeitlupe vom grauen Himmel herab auf die Pflastersteine fielen. Tala blinzelte. Hohe Wohnkomplexe, parkende Autos und Bäume, die vereinzelt am Straßenrand wuchsen, nahmen allmählich Gestalt an, als die Welt um ihn herum an Schärfe gewann und das Bewusstsein zu ihm zurückkehrte. Er hielt in der Bewegung inne, ehe seine Beine einen weiteren Schritt machen konnten. Regenwasser tropfte von den langen, roten Strähnen, die ihm im Gesicht klebten. Mit einer zögernden Bewegung strich er sie beiseite. Sein schwarzer Kapuzenpullover und die Jeans waren nahezu völlig durchweicht. In der Hand hielt er einen dunkelblauen Schirm, den er nicht aufgespannt hatte. Wie bin ich hierher gekommen? Die Frage war in seinem Kopf, ehe ihm klar wurde, dass er keine Erinnerung daran besaß, was ihn in diese Straße geführt hatte, und traf ihn völlig unerwartet. Ihm wurde schwindlig und er fasste sich mit der Hand an die Stirn, als wolle er seinen Kopf stützen, während er sich allmählich von dem ersten Schrecken erholte. Seine Hände zitterten, vor Kälte oder vor Angst? Warum bin ich hier? Er drehte sich einmal mit langsamen Schritten um sich selbst und sah sich um. Sein Blick streifte schlichte Wohngebäude, umzäunte Vorgärten und Straßenschilder, die ihm alle vage bekannt vorkamen. Er wusste wo er sich befand. Ein lautes, penetrantes Hupen durchriss plötzlich die Stille und ließ ihn zusammenzucken. Eine Flutwelle an Geräuschen stürzte mit einem Mal auf ihn ein: Das Prasseln des Regens, das Rauschen des Windes, das Rascheln der Blätter an Büschen und Bäumen, ein schreiendes Kind irgendwo in einem der Häuser, der Lärm einer Baustelle in einer der Seitenstraßen. Tala presste sich die Hände auf die Ohren und wich auf den Gehweg zurück. Das Auto rauschte an ihm vorbei. Was zum Teufel ist hier los? Als er sich halbwegs sicher war, dass alle seine Sinne wieder wie gewohnt ihre Funktion aufgenommen hatten, wandte er sich benommen um und ging langsam den Weg zurück, den er allem Anschein nach gekommen war. Beinahe gaben seine Beine unter ihm nach, seine Knie fühlten sich wackelig an, doch er zwang sich weiterzugehen. Es war nicht weit zu dem großen, schlichten Mehrfamilienhaus in dem die Wohnung lag, die er mit seinen Teamkollegen bewohnte. Tala schob die die Eingangstüre des himmelblauen Gebäudes auf und trat ein. Er wischte seine Schuhe auf er Matte ab, die im Eingangsbereich zwischen Briefkästen und Treppe lag, stellte jedoch bald fest, dass es keinen Zweck hatte. Die Treppe bedachte Tala mit einem langen, abschätzenden Blick, ehe er schließlich, trotz seiner tiefen Abneigung, resigniert den Knopf betätigte um den Fahrstuhl zu rufen, denn die endlosen Treppenstufen bis zum vierten Stock, die er unter normalen Umständen im Laufschritt nahm, wirkten mit einem Mal wie ein unüberwindliches Hindernis. Während der Fahrstuhl gemütlich nach oben fuhr, zwang Tala sich nicht in die Spiegel zu blicken, mit denen die Innenwände der kleinen Kammer ausgekleidet waren, und versuchte mit allen Mitteln die Fragen zu verdrängen, die sich unaufhaltsam in sein Bewusstsein zwängten. Wann bin ich auf die Straße hinaus gegangen? Was wollte ich da draußen? Warum zum Teufel kann ich mich nicht daran erinnern? Tala atmete beinahe erleichtert auf, als er endlich oben ankam und den Fahrstuhl verlassen konnte. Er ging mit eiligen Schritten den schlichten, in modernen Brauntönen gehaltenen Korridor hinunter, ehe er vor der Wohnungstüre stehen blieb. Er suchte in seinen Hosentaschen nach dem Schlüssel, erfolglos. Sie waren vollkommen leer. Er hatte wohl nichts eingesteckt, als er hinaus gegangen war. Tala hob die Hand um die Klingel zu betätigen, als er missvergnügt feststellte, dass seine Finger noch immer zitterten. Er vernahm das Summen des Klingeltons auf der anderen Seite der Türe, es dauerte einen kurzen Moment, dann folgten gedämpfte Schritte. Die Türe ging auf und Bryan stand dahinter. Er musterte Tala mit einem schiefen Blick, ehe er zur Seite trat um den Weg freizugeben. „Du siehst furchtbar aus,“ kommentierte er Talas Erscheinung mit einem hämischen Grinsen auf den Lippen, ehe er sich von ihm abwandte und hinter einen der vielen Türen verschwand, die vom zentralen Flur der Wohnung abgingen. Tala ignorierte ihn und zog sich die durchweichten Schuhe aus. Es sah nicht danach aus, als würde dieser Tag in naher Zukunft auf irgendeine Weise besser werden. Er wollte direkt in sein Zimmer verschwinden um in trockene Kleidung zu wechseln, doch Spencer steckte in eben diesem Moment den Kopf durch den Türbogen, der zum gemeinsamen Wohnzimmer führte. „Tala?“ Sein blonder Teamkollege musterte ihn ebenso skeptisch wie bereits Bryan zuvor. Etwas an Talas Erscheinung schien ihn eindeutig zu stören, denn er lehnte sich an den Türrahmen anstatt zu verschwinden. „Wolltest du nicht zur Buchhandlung vorne an der Ecke gehen?“ Tala erstarrte beinahe unmerklich. Er war also tatsächlich mit einem bestimmten Ziel hinaus auf die Straße gegangen und hatte Spencer darüber informiert. Warum nur konnte er sich beim besten Willen nicht daran erinnern? „Ich hab den Geldbeutel vergessen,“ erwiderte er tonlos und zwang sich zur Ruhe. Es war die falsche Ausrede gewesen, das wurde ihm sofort klar, als er beobachtete wie Spencer besorgt die Stirn in Falten legte. „Du warst eine ganze Stunde weg.“ Tala starrte ihn wortlos an. Ein zunehmender Schwindel überkam ihn und die Gedanken begannen sich in seinem Kopf zu drehen. „Ich war noch einen Kaffee trinken.“ Ein unwirscher Ton trat in seine Stimme, ungeduldig wandte er Spencer den Rücken zu und machte einen Schritt in Richtung seiner Zimmertüre, die plötzlich in nahezu unendlicher Ferne zu liegen schien. „Ohne Geld?“ Das offene Misstrauen, dass in Spencers Worten mitschwang, ließ Tala innehalten. Musste Spencer wirklich ausgerechnet in diesem Augenblick einen Hang zum Scharfsinn entwickeln?Tala drehte sich betont langsam um und bedachte seinen Teamkollegen mit einem warnenden Blick aus kalten, eisblauen Augen, der ihm das letzte Bisschen Selbstbeherrschung abverlangte. Alles um ihn herum drehte sich und Übelkeit überkam ihn. Er hatte alle Mühe sich nichts davon anmerken zu lassen. „Was wird das,“ fauchte er und seine Stimme klang bedrohlicher als beabsichtigt. Etwas stimmte nicht mit ihm. „Ein Verhör?“ Spencer starrte ihn erschrocken an und setzte dazu an sich zu rechtfertigen, doch Tala hatte sich bereits erneut umgewandt und ging mit festen Schritten auf seine Zimmertüre zu, ehe Spencer ein Wort herausbrachte. Bryan trat in den Türrahmen zu seinem Zimmer und schaute mit hochgezogenen Augenbrauen von Tala, der in seinem eigenen Zimmer verschwand, zu Spencer. „Was ist denn mit dem los? Ist schon den ganzen Tag so komisch drauf.“ Spencer schüttelte zur Antwort nur ratlos den Kopf. Als er die Türe hinter sich geschlossen hatte, zog Tala den durchweichten Kapuzenpullover aus und ließ sich erschöpft auf das Bett fallen. Er schloss die Augen und atmete langsam aus um seine durcheinander wirbelnde Gedanken zu beruhigen. Allmählich beruhigte sich sein Magen und zurück blieb nur ein dumpfer, pochender Schmerz hinter seiner Stirn. Eine Stunde. War er wirklich eine Stunde lang im Regen draußen durch die Straßen gelaufen ohne sich daran erinnern zu können? Er wischte sich mit den Fingern das Regenwasser aus dem Gesicht. Wurde er etwa krank? Er legte die Hand flach auf seine Stirn um die Temperatur zu fühlen, doch seine Haut war kühl und es gab kein Anzeichen für ein Fieber. Was war nur los mit ihm? Es war nicht das erste Mal gewesen, dass es geschehen war, doch bisher hatte er es nicht allzu ernst genommen. Es waren immer nur kurze Zeitabschnitte, wenige Sekunden oder Minuten gewesen, an die er keine Erinnerungen hatte. Manchmal war es ihm vorgekommen, als stände er wie benommen neben sich, während er sich selbst dabei beobachtete wie er mit Spencer oder Bryan sprach oder irgendetwas tat. Er hatte es als Nichtigkeit abgetan, hatte es aus seinen Gedanken verdrängt. Eine Stunde jedoch, eine Stunde war verdammt lange und es erschreckte ihn mehr, als er sich offen eingestehen wollte. Verlor er langsam den Verstand? Er wusste, dass er jemandem davon erzählen musste. Er brauchte jemanden, der ihm sagte, dass er nicht verrückt wurde. Der besorgte Ausdruck in Spencers Gesicht drängte sich in seine Gedanken, gefolgt von Bryans höhnischem Grinsen. Doch nein, er konnte ihnen nicht davon erzählen. Er wollte es nicht. Tala drehte sich auf den Bauch und vergrub sein Gesicht in den weichen, kühlen Stoff des Kissen. Er fühlte sich matt und erschöpft, seine Muskeln brannten als wäre er den ganzen Tag lang auf der Flucht gewesen und nicht nur eine Stunde in der Stadt herumgewandert. Sein Kopf schmerzte und er wollte am liebsten Schlafen. Er schob beide Hände unter das Kissen und stieß mit den Fingerspitzen auf kühles Metall. Seine Finger schlossen sich um einen kleinen, runden Gegenstand mit scharfen Kanten. Wolborg. Bittere Kälte ging von dem Beyblade aus, als wäre es nicht aus Metall sondern aus purem Eis gefertigt. Wie war es dorthin gekommen? Hatte er selbst es unter das Kissen gelegt? Ein scharfer Schmerz bohrte sich in seinen Finger. Tala fluchte leise, richtete sich auf und warf einen missmutigen Blick auf seine Hand. Blut quoll aus der winzigen Wunde an seinem Daumen. Er hatte sich tatsächlich am Angriffsring geschnitten. Er schloss für einen winzigen Moment die Augen und schüttelte ungläubig den Kopf. Unfassbar. Tala ließ seinen Blick suchend durch den Raum schweifen. Sein Zimmer war eher spartanisch und äußerst zweckmäßig eingerichtet. Es gab ein Bett, einen schlichten Kleiderschrank, einen Schreibtisch an einem Fenster, das den Blick hinaus auf den kleinen Vorort Moskaus freigab, in dem sie lebten, und ein offenes Regal, das an Büchern nahezu überquoll. Nach dem Zusammenbruch der Abtei hatte er zum ersten Mal ein Buch aus eigenem Interesse gelesen und schnell festgestellt, dass es eine hervorragende Ablenkung für seine Gedanken lieferte, ihm zumal beim Einschlafen half und weitgehend vor finsteren Träumen bewahrte. Er stand auf und ging zum Schreibtisch hinüber, der vollständig mit Ersatzbauteilen für Beyblades und dem zugehörigen Werkzeug bedeckt war, wenn man einmal von dem Eck absah, in dem sein Laptop stand. Unter einem umgestürzten Stapel Verteidigungsringen zog Tala mit spitzen Fingern eine Packung Papiertaschentücher hervor. Er nahm eines heraus und wickelte es fest um seine blutende Fingerspitze. Das dumpfe Geräusch von Schritten näherte sich draußen auf dem Korridor. Tala hielt in der Bewegung inne und lauschte aufmerksam. Die Schritte verstummten auf der anderen Seite seiner Zimmertür, doch das erwartete Klopfen blieb aus. Wahrscheinlich war es Spencer, der sicher gehen wollte, dass alles in Ordnung war. Geh weg, dachte Tala unwirsch. Lass mich in Ruhe. Nur einen Augenblick später entfernten sich die Schritte wieder und Tala atmete erleichtert auf. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, waren mehr zynische Kommentare und Fragen. Tala hasste Fragen, vor allem dann wenn er die Antworten nicht kannte. Antworten wiederum war genau was er dringend benötigte. Er ließ sich auf den Stuhl sinken, der beim Schreibtisch stand und schloss die Augen. Was ist das Letzte, an das du dich erinnern kannst, Tala? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)