Harry Potter und die Gestohlene Zeit von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 6: Verschollen ---------------------- "So ..." Remus schloss die Tür hinter sich und bot Harry einen Platz vor dem schweren Eichenholzschreibtisch an, der beinahe das ganze Büro einnahm. Er selbst ließ sich ihm gegenüber nieder und für einen Moment hatte Harry beinahe das Gefühl, er säße in einem seiner Gespräche mit Dumbledore - nur dass der Gesprächspartner ein völlig anderer war. Remus Lupin hatte nichts von Albus Dumbledores ruhiger Autorität und seiner fröhlichen Gelassenheit, die er im letzten Schuljahr zum ersten Mal erschüttert gesehen hatte . Stattdessen strahlte der Freund seines Vaters eine stille Traurigkeit aus. Für einen Mann, der noch nicht einmal vierzig Jahre erlebt hatte, sah er fraglos viel zu alt aus: Sein ehemals hellbraunes Haar war inzwischen bis auf wenige Strähnen schlohweiß geworden und Schicksalsschläge sowie persönliche Verluste hatten tiefe Sorgenfalten in sein schmales, ausgezehrtes Gesicht eingegraben. Als er Harry nun ansah, lächelte er matt und zog einen Schokoladenriegel aus einer der Schubladen, den er ihm auffordernd hinhielt. "Hier... ich denke, die kannst du jetzt gut gebrauchen." "Danke." Er hatte beinahe vergessen, dass Remus Schokolade als Allheilmittel anzusehen pflegte. Ganz Unrecht konnte er damit aber schlussendlich nicht haben, zumindest glaubte Harry, sich um einiges besser zu fühlen, nachdem er den Riegel hinuntergewürgt hatte. "Besser?" Harry nickte, den Mund noch immer voller Schokolade. Sie schwiegen für eine Weile, dann fragte Lupin mit unverhohlener Bitterkeit in der Stimme: "Verstehst du jetzt, was ich gestern am Telefon meinte? Als ich sagte, dass es Dinge gäbe, schlimmer als der Tod?" Harry dachte an Snapes blutiges Gesicht, den eingedrückten Brustkorb und die durchgeweichten Binden und war beinahe gewillt, seinem Gegenüber Recht zu geben. Trotzdem war er sich noch immer nicht sicher, ob Snape nicht genau dieses Schicksal auch verdient hatte. War er nicht ein Todesser gewesen und ging nicht auch Sirius' Tod, wenn schon nicht ganz dann doch zumindest zum Teil auf sein Konto? Nein, er konnte kein Mitleid empfinden - vielleicht Entsetzen über die Grausamkeit, mit der Menschen einander behandelten, aber kein Mitleid. Nicht mit diesem Mann... Harry starrte auf die Tischplatte , er hätte Remus in diesem Moment nicht ins Gesicht sehen können. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war ein Streit mit dem Zauberer, der seine einzige Verbindung mit der Vergangenheit und damit auch zu seinen Eltern und Sirius darstellte. So schwieg er und wartete darauf, dass Lupin von selbst den Anfang machte. "Ich habe es so gehalten, wie du es von mir verlangt hast und nicht mit Professor Dumbledore gesprochen... aber um ehrlich zu sein... Also mir ist nicht ganz wohl dabei, Harry..." Lupin presste seine gefalteten Hände so fest zusammen, dass die Knöchel weiß hervortraten. "Dumbledore braucht nicht zu wissen, dass dieses Gespräch jemals stattgefunden hat." Harry versuchte seinen inneren Aufruhr hinter falscher Selbstsicherheit zu verstecken. Langsam, aber sicher, begann er ungeduldig zu werden, nicht zuletzt deshalb, weil er nicht verstand, wo genau eigentlich die Brisanz dieses Themas lag und warum man ihm diese Tante über die Jahre hinweg verschwiegen hatte. "Das setzt voraus, dass du die Dinge, die ich dir sagen könnte, so hinnehmen wirst, wie sie sind - das heißt keine weiteren Nachforschungen anstellst. Nimm es mir nicht übel, aber ich habe da so meine Bedenken." "Ich glaube, ich verstehe nicht ganz, was du meinst." "Was hat dir deine Tante Petunia erzählt?" Harry gab das Gespräch mit Petunia Dursley so gut wieder, wie er konnte, bemüht, auch nur ja kein Detail auszulassen. Als er geendet hatte, stellte er überrascht fest, dass Lupin die Verblüffung ins Gesicht geschrieben stand. "Bist du dir ganz sicher, dass es sich bei der Frau in dem Gespräch um die Schwester deines Vaters handelt?" "Wenn Petunia die Tatsachen nicht verdreht hat..." Was sie leider nur zu oft tat, dachte Harry im Stillen. "Ehrlich gesagt sind mir diese Informationen völlig neu. Ich weiß nichts von einem Mord oder einem rätselhaften Todesser. Nein, so weit mir diese Geschichte bekannt ist, verschwand deine Tante Florence in Venezuela, nicht lange, bevor du geboren wurdest." "Venezuela?" "Nun gut...", seufzte Remus, "... ich habe ohnehin schon zuviel gesagt, dann kannst du auch gleich den Rest von dem erfahren, was ich weiß - auch wenn das nicht eben viel ist, wie du schnell bemerken wirst. Ich habe Florence nicht besonders gut gekannt - aber das hat wohl keiner von uns, nicht einmal James. In Hogwarts war sie im Jahrgang unter uns, eine Ravenclaw, sehr intelligent und eine hervorragende Quidditchspielerin. Hier enden die Gemeinsamkeiten mit deinem Vater auch schon, denn Harry, was immer du auch in Severus' Denkarium gesehen hast, James war ein lebenslustiger Mensch und ganz sicher der beste Freund, den man sich wünschen konnte." Harry war, als würde eine alte Wunde in ihm wieder aufgerissen werden, doch er zwang sich nichts zu erwidern und stattdessen weiter zuzuhören. "Flo hingegen war... schwierig. Sie ließ niemanden an sich ran, weder in Hogwarts noch zuhause und ich glaube, sie legte auch keinen besonderen Wert auf Gesellschaft. Sirius hat zwar... nun ja, jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, dass sie jemals enge Freunde gehabt hätte, es sei denn..." Lupin zögerte für einen Augenblick. "...es sei denn, sie hatte welche, von denen wir keine Ahnung hatten, was ich mir nun aber ehrlich gesagt, nicht vorstellen kann." Für Harrys Begriffe hatte er das viel zu schnell gesagt, so, als wolle er etwas vor ihm verbergen. Harry hätte gerne weiter nachgebohrt, doch sein Instinkt sagte ihm, dass er seine Bedenken besser für sich behielt, wenn er wollte, dass Remus mit seiner Erzählung fortfuhr. "Sie schloss als Beste ihres Jahrgangs ab, soweit ich mich noch erinnern kann, allerdings ohne jemals Vertrauensschülerin oder gar Schulsprecherin gewesen zu sein. Dein Großvater hätte sie damals gerne im Ministerium gesehen, doch sie ließ sich nichts sagen und fing beim Tagespropheten als Reporterin an. Es gab wohl einen riesigen Streit zuhause, auf jeden Fall konnte auch James sie nicht daran hindern, von Godric's Hollow nach London zu ziehen. Dort lebte sie gut zwei Jahre, während der ich sie nur einmal zu Gesicht bekam - und das durch Zufall, weil ich sie beim Einkaufen in der Winkelgasse traf. Den Kontakt zu den Potters hatte sie völlig abgebrochen - sie sahen und hörten nichts mehr von ihr, bis sie eine Eule vom Tagespropheten erhielten, in der ihnen mitgeteilt wurde, dass Florence bei Recherchearbeiten in Venezuela verschollen sei ..." "Aber wie passt das zu dem, was meine Tante gesagt hat? Dass sie umgebracht worden ist..." Lupin überlegte für einen Augenblick, bevor er schließlich antwortete. "Nun, natürlich ist anzunehmen, dass sie tot ist. Menschen verschwinden nicht so einfach und Venezuela ist sicher kein ungefährliches Land. Allerdings, und das gebe ich auch unumwunden zu, hat James zumindest mir gegenüber nie etwas von einem Mord oder Todessern erwähnt, die in die Sache verwickelt gewesen sein könnten." "Das verstehe ich nicht. Wo liegt der Zusammenhang zwischen Tante Petunias Geschichte und dem, was wirklich passiert ist?" "Vielleicht gibt es ja gar keinen! Ich bitte dich, Harry, vergiss das Ganze einfach. Seit all dem sind mehr als sechzehn Jahre vergangen und du könntest die Dinge wahrscheinlich ohnehin nicht mehr ändern. - selbst wenn ans Licht käme, was damals tatsächlich passiert ist!" Harry verstand sehr wohl, dass Remus das Thema als für beendet betrachtete, er selbst jedoch wollte so schnell nicht locker lassen. "Hat man denn nie nach ihr... nach Florence gesucht?" "Nun ja, deine Großeltern waren damals beide schon sehr krank, es war also völlig ausgeschlossen, dass sie selbst nach Venezuela reisten. Was deinen Vater angeht... genaugenommen weiß ich nicht, ob er etwas unternommen hat. Er und Florence standen sich nie besonders nahe, außerdem warst du gerade unterwegs..." "Aber sie war doch seine Schwester! Wie konnte er ihr gegenüber nur so... so gleichgültig sein?!?" Was war sein Vater nur für ein Mensch gewesen, dass er sich nicht einmal seiner eigenen Schwester gegenüber verpflichtet gefühlt hatte? Es hatte ihn bereits schwer mitgenommen, als er ihm im letzten Jahr dabei hatte zusehen müssen, wie er Snape ohne Grund auf dem Schulgelände angriff, das hier jedoch, diese offensichtliche Gefühllosigkeit traf ihn noch um einiges härter. "Ich weiß, was du jetzt denkst, aber so war es sicher nicht. James und Florence..." "Ihr wisst immer alles, nicht wahr?", brüllte Harry in einem plötzlichen Ausbruch von Frust und Ärger, der sich während des gesamten Gespräches in ihm aufgestaut hatte. "Nur weil ihr damals meinen Vater angebetet habt, könnt ihr nicht von mir verlangen, dass ich das Gleiche tue. Eure fadenscheinigen Entschuldigungen sind genug, hörst du: Genug!" Er sprang so heftig auf, dass er dabei den Stuhl umwarf, auf dem er zuvor gesessen hatte. Schwer atmend stützte er sich mit beiden Armen auf dem Schreibtisch auf, vergeblich bemüht, sein Temperament unter Kontrolle zu halten. Warum konnte Remus nicht ebenfalls aufstehen und ihn anbrüllen? Wem glaubte er jetzt noch zu helfen, wenn er einfach nur regungslos dasaß und Harry mit mitleidsvoller Miene anblickte? James... Sirius? Harry schlug mit der Faust auf den Tisch und presste die Augen zusammen. Während all der Wochen, die seit dem Tod seines Paten vergangen waren, hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als endlich weinen zu können, doch er hatte keine Tränen gehabt - bis zu diesem Moment. Teils erschrocken von seiner ungewöhnlich heftigen Reaktion, teils, weil er sich plötzlich nichts sehnlicher wünschte, als allein zu sein, wandte er sich ab und stürmte aus dem Büro, ohne dabei auf Lupins Versuche zu achten, ihn zurück zu halten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)