Erwachen von VZerochanV (Die Welt nach dem Ende) ================================================================================ Kapitel 3: Leben ---------------- Er verstand sie nicht. Wie eine Nacktschnecke klebte sie an seiner Seite und ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Sie sagte zwar nichts, aber ihre Präsenz allein löste schon Unruhe in ihm aus. „Wieso kommst du nicht mit mir mit?“, fragte Mina ihn ganz direkt und stellte sich vor ihn. „Ganz in der Nähe ist eine Siedlung. Wir sind nicht viele und haben auch nicht besonders viel Essen, aber für eine weitere Person wird es schon ausreichen, denke ich.“ Die Leichtigkeit, mit der sie ihm dieses Angebot unterbreitete, irritierte Aaron merklich. Sie kannten sich vielleicht eine Stunde und noch dazu gehörten sie in komplett andere Jahrhunderte. Ganz davon zu schweigen, dass seine Geschichte in ihren Augen doch absolut hirnrissig klingen musste. Er hatte fast 300 Jahre „geschlafen“. Das konnte nicht einmal er selbst so recht glauben. Aber Mina war freundlich, das war offensichtlich, und er wollte seine Lebensretterin nicht noch mehr angiften, also ging er näher auf ihr Angebot ein: „Eine Siedlung? Also haben noch andere Menschen überlebt?“ Eine dumme Frage, wie ihm kurz darauf selbst klar wurde. Natürlich lebten noch andere Menschen. Als sei Mina die Einzige auf dieser Welt. Entweder gar kein Mensch oder mehrere, aber nicht nur einer. Mina schien sich nicht daran zu stören und entgegnete lebhaft: „Oh ja! Und soweit ich weiß, ist unsere Siedlung nicht die einzige. Großväterchen hat davon erzählt, dass es noch andere Siedlungen, sogar Dörfer, geben soll! Die meisten seien aber zu weit weg, weswegen ich noch nie woanders gewesen bin.“ Interessiert spitzte Aaron seine Ohren. Das Gespräch, das er zu Beginn nur aus Höflichkeit fortgeführt hatte, half ihm wieder neue Kraft zu schöpfen. „Es gibt keine Städte mehr? Ich meine, Orte mit Tausenden von Menschen?“ Mina schüttelte den Kopf. „Nein. Jedenfalls hab ich nichts davon gehört. Aber das geht doch auch gar nicht. Wer soll so viele Menschen auf einmal versorgen können?“ Aaron hatte schon etwas in diese Richtung vermutet. Allein Minas Fellkleidung sprach Bände. Zu seiner Zeit wäre das nicht mal als Faschingskostüm durchgegangen. Die menschliche Zivilisation musste durch den Krieg herbe Rückschläge erlitten haben. Dennoch konnte er sich kein richtiges Bild von ihrem jetzigen Lebensstil machen. „Du sagtest, du seist Jägerin.“, begann Aaron seine Gedanken in Worte zu fassen. „Also, du jagst richtig? Tiere im Wald? Und mit…“ Seine Augen wanderten zu der riesigen Axt, die neben Mina am Boden lag. „…einer Axt?“, beendete er seinen Satz, der unfreiwillig zur Frage wurde. Mina war nun kein zerbrechliches Mädchen, aber ihre relativ normale Statur ließ trotzdem nicht darauf schließen, dass sie damit wilden Tieren hinterher rannte. Aarons ungläubig blinzelnden Augen erlangten sofort Minas Aufmerksamkeit. Sie griff neben sich und hob den mächtigen Gegenstand mit nur einer Hand hoch. Aaron schluckte, als sie ihm die Klinge direkt vor die Nase hielt. „Das ist meine, ganz recht! Mein Vater hat sie mir geschenkt. Es hat eine Weile gedauert, bis ich sie führen konnte, aber…“ Stolz grinste sie Aaron ins Gesicht. „…jetzt bin ich die beste Jägerin in unserer Siedlung!“ Aaron hatte geahnt, dass bei ihr eine Schraube locker war. Doch was sagte das dann über ihn aus, der ihr das sogar glaubte? „Wow.“, sagte er verblüfft und gleichzeitig auch etwas verängstigt. Er war froh, es sich nicht mit Mina verscherzt zu haben, ansonsten hätte er womöglich noch als das heutige Abendmahl gedient. „Also?“ Minas Augen funkelten, während sie Aaron anschaute. „Wollen wir jetzt los? Hier unten ist es nämlich nicht sonderlich gemütlich.“ Er erinnerte sich wieder an ihr Angebot. Sie wollte ihn mit zu ihrer Siedlung nehmen, in eine Welt, die ganz anders war als die, die er zurückgelassen hatte. Die Vorstellung des Unbekannten machte ihm Angst. Ein Teil von ihm wollte ewig hier unten verweilen. Hier, wo seine Kameraden lagen… Aber das war nicht möglich. Er musste einen Schlussstrich ziehen. Das Projekt war beendet und er hatte es als Einziger überstanden. Nun war er an der Reihe, ein neues Projekt zu starten. „In Ordnung. Lass uns von hier verschwinden.“ Ohne den Verbliebenen noch einen Blick zuzuwerfen, folgte er Mina stumm durch den dunklen Gang. Nur manchmal bat er Mina zu warten, da sich seine Beine erst wieder an das Laufen gewöhnen mussten.   „Ein Reh.“, erkannte Aaron das Wesen, das durch das Loch an der Decke in hellen Lichtstrahlen gebadet wurde. Ein weiteres Mal musste er in das Gesicht eines Toten blicken, jedoch waren seine jetzigen Empfindungen nicht mit den vorherigen gleichzusetzen. „Was macht ein Reh hier unten? Es hätte das Loch doch erkennen müssen.“ Mina zuckte mit den Schultern, als sie Aarons Überlegungen vernahm. Aaron hatte das keinesfalls als Vorwurf gemeint. Er wusste ja nicht einmal, dass Mina dafür verantwortlich gewesen war, aber aufgrund ihrer Körpersprache, die von Nervosität gerade nur so sprühte, konnte er sich ein paare Dinge zusammenreimen. Die riesige Wunde im Nacken des Tieres tat ihr Übriges. „Hast du es erlegt?“, fragte er ohne Umschweife, ungeahnt der Konsequenzen, die diese Frage in sich barg. „Ja, war ich!“, rief sie und drehte sich im selben Atemzug zu ihm. Ihr Gesicht war von Unsicherheit und Verlegenheit erfüllt. Erneut setzte sie zum Reden an: „Nicht sehr mädchenhaft, ist mir klar. Und dann bin ich mit dem Riesenvieh auch noch abgestürzt, weil ich nicht auf meine Umgebung geachtet habe! Lach mich ruhig aus! Ich hab’s nicht besser verdient…“ Aber Aaron lachte nicht, denn dafür hatte er keinen Grund, höchstens, weil ihn Minas Stimmungswechsel stutzig machte. Erst strahlte sie geradezu vor Selbstbewusstsein und versuchte, ihn aufzumuntern und dann ging sie in Verteidigungsposition, obwohl sie nicht mal kritisiert wurde. Das Jagen war wohl ihr wunder Punkt, schlussfolgerte er daraus. „So meinte ich das doch gar nicht. Ich wollte nur wissen, wieso ein Reh hier unten liegt.“ „Hm?“ Zögerlich musterte Mina sein Gesicht, wahrscheinlich, um herauszufinden, ob er log. Da sie dem nichts entgegensetze, war das Thema wohl erledigt. „Hier drüben ist eine Leiter.“ Sie deutete auf die Wand, die mit dem Loch verbunden war. „Anstelle des Lochs gab es vermutlich mal eine Falltür. Anscheinend war das Gewicht von der Hirschkuh und mir aber nach all den Jahren zu viel für sie gewesen.“ Nickend vermittelte Aaron ihr, dass er sie verstanden hatte, und kletterte als Erster die rostigen Stäbe hinauf. Anfangs war er skeptisch, dass sie ihn aushalten würden, aber als er unter sich Mina sah, wie sie mit der Hirschkuh auf ihren Schultern die Sprossen erklomm, verschwand dieser Gedanke recht schnell. Oben angekommen blieb er abrupt stehen und trat lediglich einige Zentimeter zur Seite, damit Mina sich aus dem Loch quetschen konnte. Er konnte sie im Unterbewusstsein leise fluchen hören, aber seine Aufmerksamkeit hatte etwas ganz anderes gefangen genommen. Er stand in einem Wald und atmete frische Luft ein, während seine nackten Füße im Moosboden zu versinken drohten. Nicht einmal der Ast störte ihn, der sich in seinen kleinen Zeh bohrte. Zu sehr faszinierte ihn die Aussicht, die er schon seit Jahren, nein, seit Jahrhunderten nicht mehr genossen hatte. Es war Natur pur, in ihrer reinsten Form. Um sie herum war laut und deutlich Vogelgezwitscher zu hören und er war sich sicher, auf einem der Bäume ein Eichhörnchen, einen eleganten Sprung gemacht haben, zu sehen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie viel Zeit tatsächlich vergangen war. „Das ist unglaublich…“, staunte er und wühlte mit seinen Zehen das Moos auf. Ein eigenartiges und gleichzeitig wunderschönes Gefühl. Noch nie hatte er sich dem Begriff „Leben“ so nah wie jetzt gefühlt. Erst, als Mina in sein Sichtfeld sprang, wurde er aus seiner Traumwelt gerissen. „Erde an Aaron! Zur Siedlung geht es in Richtung Osten!“ Seine Augen folgten rasch dem ausgestreckten Zeigefinger, der die Himmelsrichtung Osten symbolisierte. Am Stand der Sonne konnte er erkennen, dass es dementsprechend Nachmittag sein musste. Wieder übernahm Mina die Führung. Dem hatte Aaron nichts entgegenzusetzen. Obwohl er früher einmal in der Nähe gewohnt hatte, war nichts so geblieben, wie er es in Erinnerung hatte. Aber das störte ihn nicht. Im Gegenteil: Er war froh, dass sich alles so stark verändert hatte, denn das bedeutete einen Neuanfang. Während sie den unebenen Waldboden überquerten, wusste er die Schönheit von Schuhen erst wieder zu schätzen. Mehrmals ließ er Töne wie „Autsch!“ oder „Verdammter Ast!“ seinem Mundwerk entgleiten, woraufhin Mina jedes Mal ein leises Kichern von sich gab. Einmal hatte sie sich sogar umgedreht und ihm angeboten, ihn auch noch zu tragen, doch Aaron lehnte dankend ab. Schlimm genug, dass seine Männlichkeit allein beim Anblick von Minas unmenschlicher Stärke Risse bekam, da musste sie ihm nicht auch noch auf die Nase binden, was für ein Weichei er war, indem sie ihn demütigte.   „Wie lange dauert es noch?“, quengelte er wie ein kleines Kind, nachdem sein Fuß Bekanntschaft mit einem spitzen Stein gemacht hatte. Nicht mehr lange, und die Unterseite würde nur noch aus Knochen bestehen, befürchtete er anhand der Schmerzen, die von ihnen ausgingen. „Noch ein bisschen. Genau kann ich dir das nicht sagen. Darauf achte ich meist nicht. Es sei denn, ich werde von einem Eber gejagt. Dann wünsche ich mir, dass der Weg nur halb so lang dauert.“, antwortete sie gelassen und rückte das Tier auf ihrer Schulter zurecht. Die ersehnte Antwort war das zwar nicht gewesen, aber immerhin machte sich Aaron nun keine Gedanken mehr um die Zeit, sondern hielt Ausschau nach wilden Tieren, die hinter jedem Busch und Baum lauern konnten. Rennen konnte er in diesem Zustand ganz sicher nicht. Letztendlich waren sie noch eine Viertelstunde unterwegs, ehe sie das traute Heim der Jägerin erreicht hatten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)