Erwachen von VZerochanV (Die Welt nach dem Ende) ================================================================================ Kapitel 1: Entdeckung --------------------- Alles begann mit dem Ende. Es war das Ende eines Krieges, der beinahe die gesamte Menschheit ausgerottet hätte. Mittlerweile schrieb man das Jahr 2564, 212 Jahre nachdem der 80-jährige Krieg beendet wurde. Städte gab es schon lange nicht mehr. Ein Dorf? Vielleicht ein oder zwei. Nur durch Glück fand man die kleinen Siedlungen, die über den gesamten Planeten zerstreut waren. Und in einer von ihnen lebte eine junge Frau, die eines Tages eine Entdeckung machte, die enorme Konsequenzen mit sich zog.   „Mina, gehst du wieder jagen?“, ertönte die Stimme einer älteren Frau. Sie war aus einer der Hütten zu entnehmen, die sich entlang eines Flusses ausgebreitet hatten. Jede von ihnen war nicht sonderlich groß, dafür aber windgeschützt. Ihre Größe passte perfekt, um sich hinter den Erderhebungen verstecken zu können, die gewissermaßen schon ein Tal geformt hatten. Aus der Öffnung der bereits fokussierten Hütten sah man, wie eine dunkelbraune Haarsträhne hinausragte, der schon bald ein Kopf folgte. „Ja, Mutter! Ich verspreche, dass ich vor Nachtanbruch wieder da sein werde!“, sprach die Person, die nun vollständig aus ihrem Unterschlupf getreten war. Es entpuppte sich, dass Mina eine junge Dame im Alter von 19 Jahren war, die braune Augen und bis zu den Hüften gewachsene Haare hatte. Doch im Gegensatz zu ihren weiblichen Attributen, die allesamt keine Wünsche unerfüllt ließen, stand ihre Kleidung: Von oben bis unten war sie mit verschiedenen Fellarten bedeckt, trug um ihren Hals eine Kette aus Reißzähnen und ihre Hand führte eine Axt, die einem Drittel ihrer Körpergröße entsprach. „Na dann wollen wir mal.“, kündigte sie an und entnahm aus einem Beutel, den sie um ihre Hüften gebunden hatte, ein kleines, schwarzes Band. Nun legte sie es um ihre Haare und knotete es zusammen, sodass daraus ein Pferdeschwanz entstand. Seufzend hob sie die Axt auf, die sie beim Zusammenbinden ihrer Haare beiseite gelegt hatte. „Ich mag meine Haare zwar, aber beim Jagen stören sie einfach ungemein!“ Da sie nun alle Vorbereitungen getroffen hatte, konnte sie endlich losgehen. Auf ihrem Weg aus der Siedlung kam ihr ein Mann entgegen, der vor ihr anhielt und sie mit einem breiten Lächeln begrüßte: „Hallo, Mina! Gehst du mal wieder jagen? Viel Glück dabei! Du weißt, dass wir alle auf dich zählen.“ „Marco…“, entgegnete sie leicht gereizt und hob eine ihrer Augenbrauen in die Höhe. „Auf mich zählen? Oh ja, das tut ihr! Wenn sogar schon die Männer seit Tagen keine Beute mehr besorgen, dann MÜSST ihr ja auf mich zählen. Also wirklich! Ohne mich würdet ihr doch alle verhungern!“ Zur Untermauerung ihres Frustes verschränkte sie zusätzlich ihre Arme und würdigte Marco lediglich die Beachtung eines ihrer Augen. Doch so sehr sie ernst bleiben wollte, musste sie sich doch ihre Niederlage eingestehen. „Ich kann einfach nicht böse auf euch sein!“, sagte sie schmollend und begab sich wieder in ihre normale Haltung. „Aber das heißt nicht, dass ich es in Ordnung finde!“ „Ich weiß, ich weiß!“, zeigte Marco sein Verständnis. „Nur solange meine Frau schwanger ist, okay? Danach werde ich wieder meinen Beitrag leisten! Ich schwöre es dir bei meinem ungeborenen Kind!“ Wenn er es so formulierte, fühlte sich Mina gleich noch zehnmal schlechter, ihm solche Vorwürfe gemacht zu haben. Dennoch wollte sie nicht länger alles dulden. Sie selbst hatte nichts dagegen zu jagen, sogar im Gegenteil; sie mochte es sehr gern. Aber alles hatte ein Limit. Zwar hatte sie ihrer Mutter versprochen, vor Nacht wieder zurückzukehren, doch insgeheim wusste sie ganz genau, dass das nur leere Worte waren, um sie zu beruhigen. Ihre Siedlung war klein, aber groß genug, sodass die Lebensmittelversorgung ein Problem darstellte. Es gab viele ältere Menschen und Frauen, die nicht in der Lage waren zu jagen. Und dann gab es noch die Männer, die sich dagegen sträubten. Nur allzu oft hatte sie die Ausreden „Ich kann kein Blut sehen.“ oder „Die armen Tiere leiden lassen? Niemals!“ gehört. Genau deswegen hatte es sich Mina zur Aufgabe gemacht, einen Ausgleich für die Nichtbeteiligten zu schaffen. Dadurch wurde sie sogar schon als eine Art Berühmtheit angesehen. Ihr Jagd-Talent war etwas Einzigartiges. Niemand konnte darin mit ihr konkurrieren, aber das machte es für sie nur umso schwerer. Je mehr Leute davon mitbekamen, desto mehr hörten auf mit Jagen. Andere konnten es ja viel besser als man selbst, dann konnten diese also auch ruhig für mehrere jagen, wenn es ihnen so leicht fiel. „Es ist aber verdammt anstrengend für eine ganze Siedlung zu jagen!“, schrie Mina aus heiterem Himmel und rannte in Höchstgeschwindigkeit aus der Siedlung. Marco konnte ihr nur noch schmunzelnd hinterherblicken. „Dieses Mädchen hat zu viel Energie.“   Wenige Minuten von der Siedlung entfernt lag ein Wald, in dem es von wilden Tieren geradezu wimmelte. Bären, Hirsche, Wildschweine und noch vieles mehr erlegte Mina darin täglich. Um unbemerkt an ihre Beute zu gelangen, kletterte sie zuerst auf einen Baum und verschaffte sich einen Überblick über die Gegend. Fand sie nichts, ging sie weiter. Doch dieses Mal hatte sie Glück: Schon beim ersten Mal erkannte sie eine junge Hirschkuh. „Bingo.“ Vorsichtig näherte sie sich dem Tier und suchte abermals Schutz auf einem Baum. Nun wartete sie, bis die Hirschkuh zu ihr kam. So lange musste sie völlig ruhig bleiben. Kein Mucks, keine Bewegung. Sogar ihre Atmung konnte jetzt ihr größter Feind sein. Ruhig beobachtete sie das Tier und atmete langsam ein und aus. Eine Weile dauerte es, aber schließlich stand die Hirschkuh direkt unter ihr. Jetzt war Handeln angesagt. Wer hier zögerte, verschwendete eine einmalige Chance. Nicht so Mina. Sofort sprang sie vom Baum, ihre Axt in den Händen haltend, und landete auf dem Rücken des Tieres. Die Hirschkuh wurde bereits wild, wollte Mina abschütteln, aber ihre Zeit war nicht ausreichend; die Axt steckte in ihrem Körper. „Das wäre dann also Nummer eins!“, kommentierte sie zufrieden und stieg vom toten Tier, welches sie von ihrer Waffe befreite. Mit einem Ruck hatte sie es auf ihre Schulter gestemmt und wollte weitergehen, allerdings spürte sie, wie der Boden unter ihr plötzlich nachzugeben schien. „Was zum…?“, konnte sie nur noch sagen, bevor sich unter ihr ein Loch öffnete, das erst ihre Füße und dann den Rest ihres Körpers verschlang. Der Fall dauerte nicht sonderlich lang. Das Schlimmste war der Aufprall, jedoch nicht der von ihr, sondern von der Hirschkuh, die mitten auf ihrem Magen landete. „Verdammter Mist!“, schrie sie vor Schmerz und schob das Tier sogleich von sich. Nachdem das erledigt war, schaute sie sich zuallererst um. Leider konnte sie nicht viel erkennen, denn es war stockfinster. Erst glaubte sie, dass das der Bau irgendeines Tieres sei, aber das Gefühl ihrer Hände lehrte sie eines Besseren: „Was für ein harter Boden… Ist das etwa… Beton?“ Doch was hatte Beton in einem Wald zu suchen, fragte sie sich. Allerdings war der Beton nicht IM Wald, sondern UNTER dem Wald, was ihr einen kleinen Denkanstoß gab. „Vielleicht stammt dieser Ort aus der Vorkriegszeit? Wenn er unter der Erdoberfläche liegt, ist er möglicherweise von den Bomben verschont geblieben!“ Von der Neugier gepackt, den geheimnisvollen Ort zu erkunden, vergaß sie all ihre Schmerzen und stand ruckzuck auf den Beinen. Nochmals blickte sie umher, um ein Anzeichen zu finden, in welcher Richtung es weiterging. Jedoch blieb ihre Suche erfolglos. Dementsprechend musste sie es auf die langsame Weise machen: Sie tastete ihre Umgebung nach einer Wand ab und ging Stück für Stück an ihr entlang.   „Wann endet denn dieser blöde Gang endlich?“, beschwerte sich Mina. Noch immer hielt sie sich an der Wand fest und hatte keine Lichtquelle entdeckt. „Wenn das so weiter geht, verirre ich mich in diesem Loch noch…“ Als hätte ihre Nörgelei etwas bewirkt, berührte ihre Hand etwas, das allem Anschein nach ein Schalter war, und überall um sie herum begannen grüne Lichter aufzublinken. Erschrocken wich sie zurück und stieß ihren Rücken an einem harten Gegenstand. Während sie noch versuchte, die Situation zu realisieren, war der Raum in einem hellen Grün erleuchtet. „Wo...“ Sie drehte sich einmal um 180°, um den Raum zu begutachten. „bin ich hier gelandet?“ Alles sah komplett anders aus als in ihrer Heimat. Überall standen Maschinen und Geräte, von denen sie nicht einmal den Namen kannte, noch wusste, welchen Nutzen sie hatten. All das kam ihr wie ein Tagtraum vor, der sie in die Vergangenheit geführt hatte. Ungläubig kniff die sich selbst in die Wange und spürte den Schmerz nur allzu gut. Nein, das war kein Traum. Anfänglich überlegte sie, ob sie diesen Ort lieber vergessen und einfach verschwinden sollte, entschied sich schließlich aber doch dagegen. Etwas hatte ihren Blick gefangen genommen, als sie ihre Gedanken wieder halbwegs geordnet hatte und die Umgebung nun viel detaillierter wahrnahm. Ihre Augen reflektierten eine ungewöhnliche Anlage, die trotz ihrer meterdicken Staubschicht nichts an Imposanz einbüßte. Unter ihr konnte man, wenn auch erst nach dem zweiten Blick, mehrere Behälter erkennen, die nebeneinander aufgereiht waren. Mina schaute das Gebilde mit großer Skepsis an. Wenn sie es nicht besser wüsste, hätte sie beinahe eine Reihe Betten dahinter vermutet. Aber das war unmöglich. Wer würde denn schon in so einem Loch schlafen wollen, dachte sie sich und schüttelte nur belustigt über ihre eigenen, wirren Einfälle den Kopf. Doch ein dritter Blick darauf öffnete ihren Mund: „Sind das etwa…?“ Wie ein aufgescheuchtes Reh sprintete sie den Behältern entgegen und kam erst zum Stehen, als sie eine der Glasplatten berührte, die darauf befestigt war. Ihre Augen weiteten sich, während sie durch die Staubschicht und das Glas sah. Ihr Atem stockte, ihr Puls raste. Sie hätte mit vielem gerechnet, nur nicht mit diesem Fund: Im Inneren lag ein Mensch. Männlich. Vielleicht so alt wie sie. Ein Mensch. Schlief oder tot? Sie fasste sich an die Stirn und ging einige Schritte zurück. Der Schock saß tief. Noch nie in ihrem Leben hatte sie Menschen außerhalb ihrer Siedlung getroffen und auf einmal hatte sich das geändert, weil sie in ein Loch gefallen war. Einerseits wollte sie über diese Situation einfach nur lachen, andererseits platzte ihr Kopf beinahe bei der Fülle an Fragen, die sich in ihr Bewusstsein drängten. Wer war das? Woher kam er? Lebte er überhaupt noch? Bevor sie sich allerdings weiterhin selbst Fragen stellte, welche sie ohnehin nicht beantworten konnte, betrachtete sie erst die anderen Behälter. Wieder fand sie Menschen darin und jeder war anders als der vorherige. Männer, Frauen, Kinder, Greise. Insgesamt kam sie auf 12 Personen. Wenn Mina auch nicht viel von alldem verstand, konnte sie mit Sicherheit sagen, dass diese Menschen nicht von hier stammten. Ihre Kleidung war so bizarr, dass Mina nicht einmal ein passendes Adjektiv dafür fand. Nirgendwo sah sie Tierfell. Alle trugen eine merkwürdige, graue Schicht, die von Kopf bis Fuß reichte, fast so, als wären Ober- und Unterteil miteinander verbunden statt zwei einzelner Kleidungsstücke. So abstrus sie ihren Geschmack auch fand, gab es momentan wichtigere Dinge für sie zu klären. Am wichtigsten von allen: zu überprüfen, ob sie noch lebten. Da stieß sie jedoch schon auf das erste Problem. Wie sollte sie sie daraus holen? Das Glas zu zertrümmern - davon abgesehen, ob sie selbst dazu imstande war - war keine Option. Splitter konnten schwere Verletzungen hervorrufen, die sie lieber vermeiden wollte. Irgendwie mussten sie ja dort hinein gekommen sein, also musste es auch eine Möglichkeit geben, diese Teile aufzubekommen. Sie sah sich den ersten Behälter noch einmal genauer an, konnte an ihm aber nichts Besonderes erkennen, jedenfalls nichts, was sie nicht noch mehr verwunderte. Einen Augenblick blieb sie mitten im Raum stehen und schaute sich nochmals gründlich um. Irgendwo war etwas, das diese Behälter öffnete. Irgendwo war es, nur es zu finden war wie ein Rätsel. Kapitel 2: Begegnung -------------------- „Das ist einfach so… verflucht anstrengend!“, stöhnte sie, nachdem sie den Raum nun schon gefühlte zehnmal auf und ab gegangen war. Erschöpft lehnte sie sich an einen eingestaubten Gegenstand, um sich für ein paar Minuten ausruhen zu können. Das war ihr Plan, aber der Gegenstand hinter ihr gab mehr nach, als ihr lieb war, und sie wäre beinahe auf ihren vier Buchstaben gelandet. Das viele Bäume klettern während des Jagens hatte sich bezahlt gemacht, denn so konnte sie ihren Körper noch rechtzeitig nach vorne verlagern und ihr Gleichgewicht wiederfinden. Ihre strampelnden Armbewegungen waren zwar nicht unbedingt ein Hingucker, auf den sie stolz war, aber solange sie ihr blaue Flecken ersparten, war ihr das egal. Ein Schreck kam selten allein, durfte Mina schon bald feststellen. Kaum stand sie wieder auf beiden Füßen, bemerkte sie, wie sich bei den Behältern etwas bewegte. Die Glasplatten, die wie Kuppeln auf ihnen lagen, begannen sich nach oben zu bewegen und aus dem Inneren der Behälter strömte weißer Rauch. Minas Augen wanderten zu dem Gegenstand, an dem sie sich angelehnt hatte. Es war ein rostiger Stab, der sich von links nach rechts bewegt und anscheinend einen Mechanismus in Gang gesetzt hatte. Sie hatte ihr Ziel somit erreicht, wenn auch mehr durch Glück als Verstand. Aber das war unwichtig. Am Ende zählte das Ergebnis. Sie wartete. Darauf, dass sie ein Lebenszeichen erhielt. Einer wenigstens, hoffte sie inständig. Eine Minute war vergangen und der Rauch war verschwunden. Die Behälter standen offen und in ihnen lagen die Menschen. Schlafende oder nicht. Das Nicht bereitete ihr Angst. Zwar kannte sie die Menschen nicht, doch ein Mensch war ein Mensch. Ein Lebewesen der gleichen Art, ein Gefährte, ein Bekannter, vielleicht irgendwann sogar ein Freund. Sie wollte nicht daran denken, wie sie ein Dutzend Menschen im Untergrund gefunden hatte, nur um schließlich festzustellen, dass sie alle schon längst tot waren. Ein Dutzend – das entsprach ungefähr einem Drittel ihrer Siedlung. „H…hi…l….“, drang plötzlich eine schwache Stimme in ihr Ohr. Sofort lief sie zum Ursprung und fand sich vor dem ersten Behälter wieder. Dort sah sie ihn: Ein junger Mann, dessen Lider noch halb geschlossen waren, aber seine Hand nach oben streckte und um Hilfe bat. „Hil… fe…“ „Ich bin hier!“, rief Mina euphorisch und ergriff die Hand des Mannes. Sie erkannte, wie seine Pupillen sich langsam in ihre Richtung bewegten und sein Blick klarer wurde. Er hatte wunderschöne, golden leuchtende Augen, die Mina sofort in ihren Bann zogen. „Alles in Ordnung?“, fragte sie ihn vorsichtig und lockerte ihren Griff leicht, als sie bemerkte, wie sein Bewusstsein wieder zurückkehrte. Der junge Mann sagte nichts, sondern starrte bloß in Minas Gesicht. Er hatte Mühe beim Atmen, weshalb das Formulieren von richtigen Worten noch warten musste. Solange er nichts sagte, wartete Mina bloß still und streichelte sanft über die Finger, die sie umfasst hatte. Ein Stein war ihr vom Herzen gefallen, als sie seinen Hilferuf wahrgenommen hatte. Er lebte und das gab ihr ein unglaublich gutes Gefühl. Sie spürte förmlich, wie sich die Wärme ihres Körpers auf seinen übertrug und langsam wieder mit Leben füllte. Es verging einige Zeit, bis der junge Mann wieder sprach: „Kannst du… mir… hoch…?“ Seine Stimme war weit weniger zerbrechlich und leise als zu Beginn, doch richtige Sätze konnte sie immer noch nicht bilden. „Soll ich dir hochhelfen?“, versuchte Mina seine Worte zu deuten. Die ausbleibende Reaktion interpretierte sie als ein Ja. Behutsam berührte sie seine Arme und zog ihn nach oben, sodass sich sein Oberkörper aufrichtete. Eine Weile zitterte der fremde Körper, doch bald hatte er sich an die veränderte Haltung gewöhnt und Mina konnte ihn loslassen. Abwesend schaute er in Minas Richtung und öffnete seinen Mund, nur um ihn wenige Sekunden danach wieder lautlos zu schließen. Etwas überfordert wandte Mina kurzzeitig ihren Blick ab, denn auch ihr wollten nicht die passenden Worte in den Sinn kommen. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was man in solch einer Situation überhaupt tat. Sich vorstellen? Sich nach seinem Befinden erkundigen? Oder doch lieber schweigen, bis er etwas sagte? Letztendlich entschied sie sich für das Zweite. Sie hatte ihn zuvor schon gefragt, ob alles in Ordnung sei, doch da schien er noch nicht wirklich in der Realität angekommen zu sein. „Wie geht es dir? Du siehst ehrlich gesagt gar nicht gut aus.“ Und das war keine Übertreibung. So schön seine Augen auch waren, so leblos wirkten sie in diesem Moment auch. Seine Haut war blass wie Schnee und seine dunkelblonden Haare sahen aus, als hätte man sie mit unscharfen Klingen abgeschnitten. „…Kopfschmerzen.“, erhielt sie lediglich als Antwort. „Das ist nicht gut… Ich meine, Schmerzen im Allgemeinen! Ähm…“, erwiderte sie improvisierend und lachte, um ihre Unsicherheit zu verbergen. Dass dies eher das Gegenteil zur Folge hatte, war ihr nicht bewusst. „Und?“, ließ der Fremde ein weiteres Mal seine Stimme erklingen. Ein gewisser Druck schwang in seinem Unterton mit. „Und?“, wiederholte Mina das genannte Wort, jedoch in einer völlig anderen Betonung. Sie wusste nicht, was sie mit diesem Brocken anfangen sollte. „Das Jahr. Welches Jahr haben wir? Wie lange war mein Körper in Starre?“, konkretisierte er nochmals seine Frage und warf Mina einen musternden Blick zu. Sofort merkte sie, wie seine Augen ihren Körper gedanklich beinahe auszuziehen drohten. Aber das war ihr momentan herzlich egal. Stattdessen liefen seine Worte in einer Endlosschleife in ihrem Kopf auf und ab und drängten darauf, verarbeitet zu werden. Es gelang ihr nicht. Nichts davon ergab Sinn. Die Frage wollte sie ihm trotz des Chaos‘ in ihren Gedanken beantworten: „2564, das ist unser Jahr.“ „Zweitausendfünfhun…“, führte sich der Blonde die Zahl vor Augen. Zuerst geschah nichts. Er starrte nur nach vorn mit geöffnetem Mund und blinzelte die 30 Sekunden nicht ein einziges Mal. Dann kam es über ihn und er stolperte kopfüber aus dem Behälter heraus, an dem er sich ein Knie aufschlug, und landete letztlich mit seinem Hintern auf dem harten Betonboden. Er verzerrte sein Gesicht beim Aufprall, während er Mina komplett ignorierte. Kurz danach hielt er sich an dem Behälter fest, um sich mit dessen Hilfe nach oben zu ziehen und auf beiden Füßen zu stehen. Das Resultat sah eher dürftig aus: Zitternde Arme und schlotternde Beine machten keinen besonders sicheren Eindruck. „Kann ich dir irgendwie weiterhelfen?“, bot Mina dem jungen Mann an. Sie konnte es nicht ertragen, ihn so zu sehen und nichts dagegen zu unternehmen. Er schien Schmerzen zu haben; zumindest lag seine Stirn in Falten. Das konnte allerdings auch mit seinen bevorstehenden Worten zu tun gehabt haben: „2287 bin ich in dieses Ding eingestiegen… 277 Jahre lag ich da drin…“ Langsam dämmerte es Mina. Der Untergrund, der trotz der Bombenangriffe unversehrt blieb, die merkwürdige Anlage und schließlich noch diese Aussage. Das Jahr 2287 lag genau in dem Zeitraum, in dem der 80-jährige Krieg geherrscht hatte, was so viel bedeutete, dass diese Anlage… „Sie sollte euch vor dem Krieg beschützen!“, fasste Mina laut zusammen und schaute erwartungsvoll in das Gesicht des Mannes, der trotz seiner gekrümmten Körperhaltung immer noch größer war als sie selbst. „Und es scheint funktioniert zu haben.“, fügte sie noch leise hinzu. Eigentlich hatte sie nicht erwartet, dass er sie hören konnte, da seine Sinne ihm immer noch nicht ganz gehorchen wollten, doch er hatte ihren letzten Satz sehr wohl vernommen und machte daraufhin ein finsteres Gesicht. „Funktioniert? Du… wer bist du überhaupt? Du scheinst keine Wissenschaftlerin zu sein.“ Nach genauerer Betrachtung zog er seine rechte Augenbraue hoch und korrigierte sich: „Was rede ich da? Du siehst aus wie eine Wilde!“ Empört stieß Mina ein lautes „Hey!“ aus und plusterte ihre Wangen gespielt wütend auf. In gewisser Hinsicht hatte er damit gar nicht so Unrecht, doch sein Unterton klang ihr viel zu abwertend, als dass sie diesen Kommentar einfach so stehen lassen konnte. „Ich bin Mina! Jägerin. Und ich habe dich aus diesem Ding befreit und kein komischer Wissenschaftler!“, stellte sie sich nun endlich vor, wenngleich etwas anders als geplant. Mittlerweile konnte der Fremde wieder fast kerzengerade stehen, doch seine Stütze wollte er immer noch nicht loslassen. Mina schätzte seine Größe auf 1,82 m. Sein Körper war nicht dünn, aber auch nicht sehr muskulös. Gegen die meisten Männer aus ihrer Siedlung hätte er in einem Zweikampf kein Land gesehen. „Aaron. Ich bin… Ich war Student, aber das ist jetzt ja sowieso egal.“, seufzte er und schaute sich ein wenig im Raum um. Von seiner scharfen Zunge war nicht mehr viel übrig, dafür war seine Frustration kaum zu überhören. Mina sagte nichts. Zu traurig war der Anblick, wie Aaron an den Behältern vorbeischritt und sich die Gesichter der anderen Menschen einprägte. Jedes Mal hielt er einige Minuten inne, bevor er zum nächsten überging, bis er schließlich am Ende angekommen war. „Verdammt.“, fluchte er leise. „Sie alle…“ „Aaron, es tut mir leid. Immerhin… schienen sie keine Schmerzen gehabt zu haben.“, versuchte sie ihn zu trösten, doch Aaron hielt nicht viel von ihren leeren Floskeln. „Halt den Mund.“, knurrte er in ihre Richtung. Er wollte davon nichts hören. Zu viel ging momentan in seinem Kopf herum, da konnte er nicht auch noch einer Fremden sein Herz ausschütten. Mina war sich dessen bewusst, weshalb sie ihm deswegen nicht böse sein konnte. Sie selbst fühlte es auch, dabei waren es für sie nur Fremde. Wie musste sich Aaron dann bloß fühlen? Darauf fand sie keine Antwort. Alles, was sie tun konnte, war darauf zu hoffen, dass sich sein Herz schnell wieder erholte. Kapitel 3: Leben ---------------- Er verstand sie nicht. Wie eine Nacktschnecke klebte sie an seiner Seite und ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Sie sagte zwar nichts, aber ihre Präsenz allein löste schon Unruhe in ihm aus. „Wieso kommst du nicht mit mir mit?“, fragte Mina ihn ganz direkt und stellte sich vor ihn. „Ganz in der Nähe ist eine Siedlung. Wir sind nicht viele und haben auch nicht besonders viel Essen, aber für eine weitere Person wird es schon ausreichen, denke ich.“ Die Leichtigkeit, mit der sie ihm dieses Angebot unterbreitete, irritierte Aaron merklich. Sie kannten sich vielleicht eine Stunde und noch dazu gehörten sie in komplett andere Jahrhunderte. Ganz davon zu schweigen, dass seine Geschichte in ihren Augen doch absolut hirnrissig klingen musste. Er hatte fast 300 Jahre „geschlafen“. Das konnte nicht einmal er selbst so recht glauben. Aber Mina war freundlich, das war offensichtlich, und er wollte seine Lebensretterin nicht noch mehr angiften, also ging er näher auf ihr Angebot ein: „Eine Siedlung? Also haben noch andere Menschen überlebt?“ Eine dumme Frage, wie ihm kurz darauf selbst klar wurde. Natürlich lebten noch andere Menschen. Als sei Mina die Einzige auf dieser Welt. Entweder gar kein Mensch oder mehrere, aber nicht nur einer. Mina schien sich nicht daran zu stören und entgegnete lebhaft: „Oh ja! Und soweit ich weiß, ist unsere Siedlung nicht die einzige. Großväterchen hat davon erzählt, dass es noch andere Siedlungen, sogar Dörfer, geben soll! Die meisten seien aber zu weit weg, weswegen ich noch nie woanders gewesen bin.“ Interessiert spitzte Aaron seine Ohren. Das Gespräch, das er zu Beginn nur aus Höflichkeit fortgeführt hatte, half ihm wieder neue Kraft zu schöpfen. „Es gibt keine Städte mehr? Ich meine, Orte mit Tausenden von Menschen?“ Mina schüttelte den Kopf. „Nein. Jedenfalls hab ich nichts davon gehört. Aber das geht doch auch gar nicht. Wer soll so viele Menschen auf einmal versorgen können?“ Aaron hatte schon etwas in diese Richtung vermutet. Allein Minas Fellkleidung sprach Bände. Zu seiner Zeit wäre das nicht mal als Faschingskostüm durchgegangen. Die menschliche Zivilisation musste durch den Krieg herbe Rückschläge erlitten haben. Dennoch konnte er sich kein richtiges Bild von ihrem jetzigen Lebensstil machen. „Du sagtest, du seist Jägerin.“, begann Aaron seine Gedanken in Worte zu fassen. „Also, du jagst richtig? Tiere im Wald? Und mit…“ Seine Augen wanderten zu der riesigen Axt, die neben Mina am Boden lag. „…einer Axt?“, beendete er seinen Satz, der unfreiwillig zur Frage wurde. Mina war nun kein zerbrechliches Mädchen, aber ihre relativ normale Statur ließ trotzdem nicht darauf schließen, dass sie damit wilden Tieren hinterher rannte. Aarons ungläubig blinzelnden Augen erlangten sofort Minas Aufmerksamkeit. Sie griff neben sich und hob den mächtigen Gegenstand mit nur einer Hand hoch. Aaron schluckte, als sie ihm die Klinge direkt vor die Nase hielt. „Das ist meine, ganz recht! Mein Vater hat sie mir geschenkt. Es hat eine Weile gedauert, bis ich sie führen konnte, aber…“ Stolz grinste sie Aaron ins Gesicht. „…jetzt bin ich die beste Jägerin in unserer Siedlung!“ Aaron hatte geahnt, dass bei ihr eine Schraube locker war. Doch was sagte das dann über ihn aus, der ihr das sogar glaubte? „Wow.“, sagte er verblüfft und gleichzeitig auch etwas verängstigt. Er war froh, es sich nicht mit Mina verscherzt zu haben, ansonsten hätte er womöglich noch als das heutige Abendmahl gedient. „Also?“ Minas Augen funkelten, während sie Aaron anschaute. „Wollen wir jetzt los? Hier unten ist es nämlich nicht sonderlich gemütlich.“ Er erinnerte sich wieder an ihr Angebot. Sie wollte ihn mit zu ihrer Siedlung nehmen, in eine Welt, die ganz anders war als die, die er zurückgelassen hatte. Die Vorstellung des Unbekannten machte ihm Angst. Ein Teil von ihm wollte ewig hier unten verweilen. Hier, wo seine Kameraden lagen… Aber das war nicht möglich. Er musste einen Schlussstrich ziehen. Das Projekt war beendet und er hatte es als Einziger überstanden. Nun war er an der Reihe, ein neues Projekt zu starten. „In Ordnung. Lass uns von hier verschwinden.“ Ohne den Verbliebenen noch einen Blick zuzuwerfen, folgte er Mina stumm durch den dunklen Gang. Nur manchmal bat er Mina zu warten, da sich seine Beine erst wieder an das Laufen gewöhnen mussten.   „Ein Reh.“, erkannte Aaron das Wesen, das durch das Loch an der Decke in hellen Lichtstrahlen gebadet wurde. Ein weiteres Mal musste er in das Gesicht eines Toten blicken, jedoch waren seine jetzigen Empfindungen nicht mit den vorherigen gleichzusetzen. „Was macht ein Reh hier unten? Es hätte das Loch doch erkennen müssen.“ Mina zuckte mit den Schultern, als sie Aarons Überlegungen vernahm. Aaron hatte das keinesfalls als Vorwurf gemeint. Er wusste ja nicht einmal, dass Mina dafür verantwortlich gewesen war, aber aufgrund ihrer Körpersprache, die von Nervosität gerade nur so sprühte, konnte er sich ein paare Dinge zusammenreimen. Die riesige Wunde im Nacken des Tieres tat ihr Übriges. „Hast du es erlegt?“, fragte er ohne Umschweife, ungeahnt der Konsequenzen, die diese Frage in sich barg. „Ja, war ich!“, rief sie und drehte sich im selben Atemzug zu ihm. Ihr Gesicht war von Unsicherheit und Verlegenheit erfüllt. Erneut setzte sie zum Reden an: „Nicht sehr mädchenhaft, ist mir klar. Und dann bin ich mit dem Riesenvieh auch noch abgestürzt, weil ich nicht auf meine Umgebung geachtet habe! Lach mich ruhig aus! Ich hab’s nicht besser verdient…“ Aber Aaron lachte nicht, denn dafür hatte er keinen Grund, höchstens, weil ihn Minas Stimmungswechsel stutzig machte. Erst strahlte sie geradezu vor Selbstbewusstsein und versuchte, ihn aufzumuntern und dann ging sie in Verteidigungsposition, obwohl sie nicht mal kritisiert wurde. Das Jagen war wohl ihr wunder Punkt, schlussfolgerte er daraus. „So meinte ich das doch gar nicht. Ich wollte nur wissen, wieso ein Reh hier unten liegt.“ „Hm?“ Zögerlich musterte Mina sein Gesicht, wahrscheinlich, um herauszufinden, ob er log. Da sie dem nichts entgegensetze, war das Thema wohl erledigt. „Hier drüben ist eine Leiter.“ Sie deutete auf die Wand, die mit dem Loch verbunden war. „Anstelle des Lochs gab es vermutlich mal eine Falltür. Anscheinend war das Gewicht von der Hirschkuh und mir aber nach all den Jahren zu viel für sie gewesen.“ Nickend vermittelte Aaron ihr, dass er sie verstanden hatte, und kletterte als Erster die rostigen Stäbe hinauf. Anfangs war er skeptisch, dass sie ihn aushalten würden, aber als er unter sich Mina sah, wie sie mit der Hirschkuh auf ihren Schultern die Sprossen erklomm, verschwand dieser Gedanke recht schnell. Oben angekommen blieb er abrupt stehen und trat lediglich einige Zentimeter zur Seite, damit Mina sich aus dem Loch quetschen konnte. Er konnte sie im Unterbewusstsein leise fluchen hören, aber seine Aufmerksamkeit hatte etwas ganz anderes gefangen genommen. Er stand in einem Wald und atmete frische Luft ein, während seine nackten Füße im Moosboden zu versinken drohten. Nicht einmal der Ast störte ihn, der sich in seinen kleinen Zeh bohrte. Zu sehr faszinierte ihn die Aussicht, die er schon seit Jahren, nein, seit Jahrhunderten nicht mehr genossen hatte. Es war Natur pur, in ihrer reinsten Form. Um sie herum war laut und deutlich Vogelgezwitscher zu hören und er war sich sicher, auf einem der Bäume ein Eichhörnchen, einen eleganten Sprung gemacht haben, zu sehen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie viel Zeit tatsächlich vergangen war. „Das ist unglaublich…“, staunte er und wühlte mit seinen Zehen das Moos auf. Ein eigenartiges und gleichzeitig wunderschönes Gefühl. Noch nie hatte er sich dem Begriff „Leben“ so nah wie jetzt gefühlt. Erst, als Mina in sein Sichtfeld sprang, wurde er aus seiner Traumwelt gerissen. „Erde an Aaron! Zur Siedlung geht es in Richtung Osten!“ Seine Augen folgten rasch dem ausgestreckten Zeigefinger, der die Himmelsrichtung Osten symbolisierte. Am Stand der Sonne konnte er erkennen, dass es dementsprechend Nachmittag sein musste. Wieder übernahm Mina die Führung. Dem hatte Aaron nichts entgegenzusetzen. Obwohl er früher einmal in der Nähe gewohnt hatte, war nichts so geblieben, wie er es in Erinnerung hatte. Aber das störte ihn nicht. Im Gegenteil: Er war froh, dass sich alles so stark verändert hatte, denn das bedeutete einen Neuanfang. Während sie den unebenen Waldboden überquerten, wusste er die Schönheit von Schuhen erst wieder zu schätzen. Mehrmals ließ er Töne wie „Autsch!“ oder „Verdammter Ast!“ seinem Mundwerk entgleiten, woraufhin Mina jedes Mal ein leises Kichern von sich gab. Einmal hatte sie sich sogar umgedreht und ihm angeboten, ihn auch noch zu tragen, doch Aaron lehnte dankend ab. Schlimm genug, dass seine Männlichkeit allein beim Anblick von Minas unmenschlicher Stärke Risse bekam, da musste sie ihm nicht auch noch auf die Nase binden, was für ein Weichei er war, indem sie ihn demütigte.   „Wie lange dauert es noch?“, quengelte er wie ein kleines Kind, nachdem sein Fuß Bekanntschaft mit einem spitzen Stein gemacht hatte. Nicht mehr lange, und die Unterseite würde nur noch aus Knochen bestehen, befürchtete er anhand der Schmerzen, die von ihnen ausgingen. „Noch ein bisschen. Genau kann ich dir das nicht sagen. Darauf achte ich meist nicht. Es sei denn, ich werde von einem Eber gejagt. Dann wünsche ich mir, dass der Weg nur halb so lang dauert.“, antwortete sie gelassen und rückte das Tier auf ihrer Schulter zurecht. Die ersehnte Antwort war das zwar nicht gewesen, aber immerhin machte sich Aaron nun keine Gedanken mehr um die Zeit, sondern hielt Ausschau nach wilden Tieren, die hinter jedem Busch und Baum lauern konnten. Rennen konnte er in diesem Zustand ganz sicher nicht. Letztendlich waren sie noch eine Viertelstunde unterwegs, ehe sie das traute Heim der Jägerin erreicht hatten. Kapitel 4: Willkommen --------------------- Sie hatten Glück gehabt, die Siedlung noch vor Sonnenuntergang erreicht zu haben. Minas Horrorgeschichten von Fledermäusen und wilden Wölfen hatten nicht dazu beigetragen, dass Aaron sich dem Wald heimisch fühlte. Sein Verlangen nach einer sicheren Bleibe wurde schließlich erhört und er glaubte, nie in seinem Leben jemals so erleichtert gewesen zu sein. „Geschafft.“, begrüßte er den fremden Ort, der zumindest für heute als Ersatz seines Zuhauses dienen sollte. Sein erster Eindruck war mit Wärme erfüllt, als er die kleinen Zelte betrachtete und deren Besitzer, die eifrig von einer Behausung zur nächsten liefen und sich entweder untereinander unterhielten oder lediglich etwas vor dem Eingang ablegten. Ohne überhaupt ein einziges Mal mit ihnen gesprochen zu haben, war Aaron bewusst, wie eng ihre Bindung zueinander sein musste. „Wir sind alle wie eine große Familie.“, erklärte Mina lächelnd und stellte sich an Aarons Seite. Normalerweise hätte er nicht viel darüber nachgedacht, aber Minas Einschub passte einfach zu perfekt in seinen aktiven Gedankengang, sodass er sogar überlegte, ob sie vielleicht Gedanken lesen konnte. Verwunderung stieg in sein Gesicht, die Mina nicht verborgen blieb. „Du hast sie angestarrt, als seien sie eine fremde Rasse. Fasziniert und irgendwie… berührt. Waren die Menschen früher anders?“ Darauf eine Antwort zu geben, war leicht. Natürlich waren sie das. Nach Jahrhunderten veränderten sich Menschen nun einmal. Und schon damals war nicht jede Menschen-Vereinigung gleich. Stadtmenschen waren anders als Dorfmenschen. Jedes Land hatte seine eigene Kultur und damit auch Umgangsweise. Trotzdem antwortete Aaron anfangs nicht und betrachtete lieber das weitere Geschehen der Siedlung. Der größte Unterschied wurde ihm schmerzhaft bewusst: Solchen Frieden wie hier gab es damals nicht. „Ja, das waren sie.“, sagte er leise und richtete seinen Blick auf Mina. „Aber das ist jetzt unwichtig. Stell mich lieber deinen Familienmitgliedern vor. Sonst bleiben wir hier noch die ganze Nacht stehen. Und ich weiß nicht, wie lange deine Schultern das noch aushalten.“ Mina hob ihre rechte Augenbraue und entgegnete empört: „Was soll das denn bitte heißen? Denkst du, ich kann die Hirschkuh etwa keine ganze Nacht tragen? Du musst von dir ja nicht gleich auf andere schließen! Wenn es notwendig ist, kann ich sie sogar eine ganze Woche hochstemmen, und das mit nur einem Arm!“ Aaron war sich unsicher, ob er lachen oder traurig sein sollte, weil Mina ihn so missverstanden hatte. Da Mina ziemlich simpel gestrickt zu sein schien, entschied er sich dazu, auf den Zug aufzuspringen. „Okay, gewonnen. Ich bin mir sicher, dass du das kannst. Aber ich kann keine Woche lang nur rumstehen, also wenn du so freundlich wärst…“ Zufrieden grinsend nickte sie ihm zu. „In Ordnung! Ich bringe sie nur schnell zu unserem Lager. Wird nicht lange dauern. Danach führ ich die zu unserem Vorstand!“ Mit eiligen Schritten machte sie sich auf den Weg und ließ Aaron allein zurück. Sie hatte ihm nicht einmal Zeit für Einwände geboten. Was, wenn er gerne mitgegangen wäre? Den Gedanken strich er schnell wieder. Bevor er nicht etwas unter seinen Füßen hatte, wollte er sich momentan nicht weiter fortbewegen als nötig. Um seinen Füßen wenigstens ein paar Schmerzen zu nehmen, setzte er sich auf einen Stein, der gerade groß genug war, um Platz für sein Gesäß zu bieten.   10 Minuten später tauchte Mina energiegeladen wie eh und je vor ihm auf und präsentierte ihrem Partner ihre Ausbeute, die sie im Lager aufgetrieben hatte. „Tada! Das ist für dich! Sieh es als Willkommensgeschenk!“ Stutzig nahm Aaron die Sachen entgegen, die Mina ihm förmlich in die Rippen drückte. Unter ihnen befanden sich zwei Dinge, die er mit leuchtenden Augen willkommen hieß: Schuhe. Sie waren zwar bloß aus Bast, aber besser irgendeine Sohle als gar keine. Sofort zog er sie über seine nackten Füße und lief einige Schritten in ihnen Probe. Perfekt passten sie nicht, doch es handelte sich höchstens um wenige Millimeter, die ihm fehlten, um sie auszufüllen. „Vielen Dank, Mina! Das ist wirklich eine gelungene Überraschung.“, bedankte er sich bei ihr und hätte beinahe den Rest der Sachen vergessen, die er vorerst auf dem Stein abgelegt hatte. Durch Minas anhaltend erwartungsvollen Gesichtsausdruck konnte er sich allerdings wieder erinnern. „Das sind…“ Er griff in den durcheinander gewürfelten Stapel und fühlte verschiedene Lagen Leder und Fell in seinen Händen. „Kleidungsstücke?“ Seine Vermutung bestätigte sich, als er ein Lederhemd herauszog und hinterher noch die passende Fellweste. „Wenn ich dich den anderen vorstelle, sollen sie ja nicht gleich vor Schreck umfallen, noch ehe ich ihnen alles erzählen konnte.“, meinte Mina lachend. „Wa-“, begann Aaron entrüstet. Sie tat ja geradezu, als sei er ein Außerirdischer. Sein Blick wanderte an seinem Körper herab und fing die Bekleidung ein, die er seit Hunderten von Jahren getragen hatte. Und plötzlich war ihm selbst peinlich, was er sah. Ein hautenger Ganzkörperanzug in grau war nicht unbedingt Bestandteil seines Kleidungsstils. Damals hatte er ihn nur angezogen, weil er angeblich eine wichtige Komponente des Experiments sei. Ohne ihn hätte er nicht einmal ein Jahr in der Kapsel überlebt, hieß es. Wie auch immer, er war nicht mehr im Winterschlaf, also konnte er dem Verbrechen an seinem Modebewusstsein Lebewohl sagen. „Ich geh mal kurz meine Kleidung wechseln…“, informierte er Mina so leise es ging, um nicht sofort zum Gespött der Siedlung zu werden. Weder in diesem Anzug, noch splitternackt wollte er gern gesehen werden. „Verstanden. Am besten gehst du ein Stück in Richtung Wald und suchst dir einen Baum oder Busch. Um diese Uhrzeit sind die meisten wieder Zuhause. Dort sollte dich also niemand stören.“ Dankbar für diese Informationen lächelte Aaron verlegen und verschwand mitsamt seiner neuen Kleidung hinter einem Gebüsch, das ihm groß genug erschien.   „Das steht dir ausgezeichnet!“, rief Mina begeistert und schien aus dem Staunen kaum herauszukommen. Aaron versuchte sich einzureden, dass es an seinem unglaublich tollen Aussehen lag und nicht daran, dass er davor wie ein Menschenschreck gewirkt hatte, bei dem jeglicher Kleidungswechsel eine Verbesserung dargestellt hätte. Das Lederhemd und die lange Baumwollhose waren schlicht, aber bequem und fügten sich gut in das Gesamtbild der Siedlung ein. Alle trugen ähnliche Kleidungsstücke. Nichts Auffälliges. Solange es warm hielt und praktisch war, genügte es. Nur eine Sache war anders: Minas Augenbrauen gingen in die Höhe, als sie Aaron nochmals musterte. Augenblicklich öffnete sich ihr Mund in Entsetzen, denn sie hatte endlich seiner rechten Hand Beachtung geschenkt. „Die Fellweste! Wieso trägst du sie nicht?“ Aber ich „trage“ sie doch, nur eben in meiner Hand, hätte Aaron am liebsten sarkastisch entgegnet. Soweit er Mina nun jedoch kannte, war er sich absolut sicher, dass sie nichts mit Sarkasmus anfangen konnte. „Weißt du… Tierfell ist ein wenig zu speziell für mich… Ich hatte früher mal einen Hund und daher ist es etwas komisch, wenn ich etwas an meinem Körper trage, das mich an ihn erinnert…“, klärte Aaron sie auf. Es tat ihm weh, die Enttäuschung in Minas Augen zu sehen, doch so sehr er es auch wollte, konnte er sich nicht dazu durchringen, sie anzuziehen. „Mhm…“, grummelte Mina leise und zog einen Schmollmund. Sie reagierte, als hätte Aaron sie direkt beleidigt oder beschimpft. „Mina, das-“ Noch bevor er weiter reden konnte, veränderte sich Minas Mimik auf einen Schlag und ein Lächeln kam erneut zum Vorschein. „Nein, tut mir leid. Es ist nur ungewohnt für mich… Jeder in unserer Siedlung trägt Fell als Kleidung, es ist sozusagen wie eine Tradition. Du hast mich nur überrascht. Aber vermutlich war das bei euch früher nicht so üblich, was?“ Aaron war froh, wie schnell sie ihn verstanden und es akzeptiert hatte. „Ja, nicht unbedingt… Wobei es aber auch kein Verbrechen war. Viele reiche Leute haben damals eine Menge Geld ausgegeben, um bestimmte Fellarten zu tragen. Meistens kam es auf die Tierart an, wie teuer es war. Daraus wurden dann Mäntel oder Pelzschals gemacht. Ein anderer hätte die Weste also vielleicht angenommen. Nur bei mir hattest du leider kein Glück.“, erzählte er und legte die Weste in Minas Hände. „Trotzdem vielen Dank. Die Hose und das Hemd gefallen mir sehr gut.“ Minas Augen waren zuerst auf die Weste gerichtet und wanderten schließlich in Aarons Richtung, bis sie bei seinem Gesicht angekommen waren. Zu ihm aufblickend strahlte sie über beide Ohren und sagte: „Das freut mich!“ Wieder handelte Mina unverzüglich und machte drei sprunghafte Schritte nach hinten, sodass Aaron keine Zeit blieb, zu reagieren und nur noch zusah, wie sich Mina auf ihren Fußspitzen drehte und zur Siedlung zurücklief. Doch plötzlich blieb sie stehen und schaute über ihre Schulter nach hinten. „Ich hatte eine Menge Glück, dir begegnet zu sein, Aaron.“ „Huh?“ Wie eine Salzsäule stand er da, die ihren Mund nicht mehr zubekam und von seiner Umgebung nur noch das Allerwichtigste wahrnahm. So bemerkte er nicht einmal, wie Mina bereits weitergegangen war, obwohl ihre Worte immer noch in seinen Ohren klingelten. „Was sollte das denn…?“ Irritiert schüttelte er den Kopf und fasste sich an seine Brust, die ihm auf einmal viel enger vorkam als zuvor. Er war verwirrt und wusste nicht wieso. Doch. Es lag an Mina. Aber was an ihr hatte ihn so aus der Fassung gebracht? Wieder hörte er ihre Worte. „Glück… dir begegnet… Aaron“ Erst als ihre nächsten Worte in seine Ohren drangen, vermochte er es, aus seiner abgeschotteten Welt zu entkommen: „Aaron, wo bleibst du? Du warst doch derjenige, der meinte, er könne nicht ewig an einem Ort stehen bleiben! Und jetzt schlägst du dort Wurzeln!“ „I-ich komme ja schon!“ Hastig lief er los und schloss zu Mina auf. Kapitel 5: Zuhause ------------------ Das große Zelt, in das Mina Aaron geführt hatte, beinhaltete einen niedrigen, runden Tisch in der Mitte, um den sich einige Kissen verteilten. Durch den Platz und die vielen Sitzgelegenheiten wurde der Eindruck eines Versammlungsraumes vermittelt. In diesem Moment befand sich allerdings nur eine Person dort. Sofort erkannte Aaron den Bewohner des Zelts. 70-80 Jahre, ein langer Bart und hinzu kam noch das auffällige, lange Gewand, das er trug. Er war der Anführer. Aaron rückte ein wenig näher an Mina heran, richtete seinen Oberkörper kerzengerade und stellte sich anschließend vor: „Guten Abend, meine Name ist Aaron. Ich möchte Sie darum bitten, mir für diese Nacht Unterschlupf in eurer wundervollen Siedlung zu gewähren. Es wird wirklich nur für diese Nacht sein, das verspreche ich. Bei Morgenanbruch werde ich so schnell es geht weiterziehen. Doch für diese Nacht-“ „Was er meinte…“ Plötzlich trat Mina vor Aaron und führte das Gespräch an seiner Stelle fort. Aaron musste nicht lange überlegen, um zu verstehen, dass sein Auftritt fehlgeschlagen war. „Wir würden gerne eine Weile mit dir reden, Großvater.“ Einen Augenblick regte sich keiner der Drei, während sich Mina und der Älteste nur gegenseitig Blicke zuwarfen, bis der Angesprochene in die Konversation einstieg: „Natürlich. Du weißt doch, wie gerne ich mit dir rede, Mina.“ Sein nächster Blick fiel auf Aaron, der als Gegenreaktion nervös lächelte. „Du hast also Besuch mitgebracht. Das ist wahrhaftig eine Überraschung. Wie wäre es, wenn wir uns erst einmal setzen und bei einer Tasse Tee alles Weitere besprechen?“ Der ältere Mann betrat den Raum mit einer Kanne, aus der heißer Dampf strömte, und nahm neben Mina auf einem der Kissen Platz. In der Zwischenzeit hatte Mina drei Keramiktassen zusammengesucht, die sie an die Anwesenden verteilte. Vorsichtig nahm Aaron das noch leere Gefäß entgegen. Es war schwerer, als sein Äußeres vermuten ließ. „Möchtest du?“, fragte der Älteste, noch immer die Teekanne in der Hand haltend. Nickend beantwortete Aaron die Frage: „Sehr gerne.“ Als alle mit dem warmen Getränk versorgt waren, wurde es Zeit, auf Aarons und Minas Anliegen einzugehen. Mit einem Mal wurde die Atmosphäre dunkler, kaum hatte Mina das erste Wort geäußert. „Aaron stammt aus der Kriegszeit. Ich habe ihn während des Jagens in einer unterirdischen Forschungseinrichtung im Wald gefunden. Es waren noch andere Menschen dort, allerdings sind sie alle...“ Sie stoppte ihren Satz und ließ ihren Blick über den Tisch schweifen. Aaron sah das als gute Gelegenheit, um selbst das Wort zu ergreifen. „Das muss für Sie mit Sicherheit unmöglich klingen, aber sie sagt die Wahrheit. Ich habe in dieser Zeit keinen Ort mehr, den ich mein Zuhause nennen kann. Deshalb wäre es eine große Hilfe, wenn diese Siedlung wenigstens für eine Nacht als Ersatz dienen könnte.“ Die ausbleibende Reaktion rief in Aaron augenblicklich Bedenken aus. Der Älteste verzog nicht einmal ansatzweise die Miene. Er trank zwei Schlucke Tee, setzte die Tasse ab und atmete aus. Das tat er viermal, ohne dass Mina oder Aaron ihn unterbrachen. „Entschuldigung, aber-“, entschied sich Aaron schließlich einzugreifen, doch rasch wurde er von der tiefen Stimme zurückgedrängt. „Ich habe verstanden. Das klingt wahrlich unglaublich, dennoch nicht unmöglich.“ Überrascht schaute Aaron den Ältesten an. „Das heißt… Sie glauben mir?“ Wieder einmal gelang es dem älteren Herren Aaron zu verblüffen. Seine Antwort wurde von einem lauten Lachen eingeleitet, das minimal drei Zelte weiter zu hören war. „Glauben? Natürlich tu ich das! Oder nenn mir bitte einen Grund, weshalb ein wildfremder Mann plötzlich mitten im Nirgendwo auftauchen und mich anlügen sollte, um in dieser winzigen Siedlung zu übernachten, in der es absolut nichts Sehenswertes gibt.“ Aaron blieb nichts anderes übrig als zu schweigen. Wenn der Älteste es so formulierte, kam ihm seine Frage auf einmal dumm vor. „Dann…?“ Minas Augen glühten förmlich. „Er darf hierbleiben. Immerhin wurde er deinen prüfenden Augen unterworfen, Mina. Und jeder hier vertraut dir ohne Wenn und Aber. Würde ich deine Bitte ablehnen, hätte ich vermutlich die gesamte Siedlung gegen mich aufgelehnt.“ Erleichtert atmeten Mina und Aaron aus. Dieses Problem war somit aus der Welt, allerdings war das nur der Anfang. „Es ist schön, dass ihr euch freut, aber das eigentliche Problem, die Suche nach deinem Zuhause, löst es trotzdem nicht.“, tat der Älteste seine Meinung unverblümt kund. Aaron senkte den Kopf. Denn auch wenn er wusste, dass es nur eine vorübergehende Lösung war, traf ihn die Realität wie ein Schlag ins Gesicht. Er war froh, Mina begegnet zu sein und ihre Hilfe erhalten zu haben. Was kam aber danach? Würde es ein Ende geben „Und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende“? Diese Gedanken bereiteten ihm Kopfschmerzen. Natürlich wollte er glücklich sein. Nur war ihm die Bedeutung seines Glücks unbekannt; damals wie heute. Während seine Gedanken weiter kreisten, erläuterte der Älteste seine Ansichten: „Du kannst zwar gerne hier leben, doch willst du das? Ich möchte ehrlich zu dir sein: Als junger Mensch ist dieser Ort wie ein Gefängnis. Wir brauchen junge Leute zum Jagen, aber ich möchte niemanden zwingen, hier den Rest seines Lebens zu verbringen. In dieser Siedlung ist jeder Tag gleich. Hingegen ist die Welt da draußen anders. Du weißt nie, was passiert, wem du begegnest oder ob du den nächsten Tag überhaupt noch miterlebst, genauso wie auf einer Abenteuerreise.“ „Ein Abenteuer?“, war es Mina, die dieses Wort in den Mund nahm. Aaron lächelte, als er Minas erstauntes Gesicht sah. Sie war begeistert von den Vorstellungen, die der Älteste ihrer Fantasie als Futter gegeben hatte. „So was, wie wilde Monster erlegen, eine Prinzessin aus den Händen des Bösen befreien und ein Held werden, den die ganze Welt kennt?“ „Nun, ja… so ungefähr. Vielleicht aber nicht ganz so stereotypisch.“, antwortete der Älteste möglichst ehrlich, ohne dabei Minas Gefühle zu verletzen. Aaron war nicht ganz so begeistert von der Idee, die unbekannte Welt zu bereisen. Wenn er Minas Worten Glauben schenken konnte, gab es ohnehin nicht mehr viel, das bereist werden konnte. Möglicherweise wären sie Wochen unterwegs, ohne eine Siedlung zu finden und fielen letztlich dem Hungerstod zum Opfer. Er hing nicht mehr aber auch nicht weniger als andere Menschen an seinem Leben, doch an Hunger zu sterben war für ihn ausgeschlossen. „Ich weiß ja nicht… Hier ist es doch auch ganz schön.“, meinte er. Das Erste, dem er zum Opfer fallen sollte, waren allerdings Minas Hundeaugen, die sich wie zwei Messer durch sein Herz bohrten. Ihre Augen waren kurz davor jeden Augenblick in Tränen auszubrechen, oder zumindest wirkten sie so. Es war mehr als eindeutig, welche Antwort sie sich von ihm erhofft hatte. „Mina…“, seufzte er. Er konnte ihr nicht länger ins Gesicht schauen, aber eine positive Antwort wollte er ihr auch nicht geben. „So ist das also.“, sagte der Älteste plötzlich und setzte ein hämisches Lächeln auf. „Du bist also einer der langweiligen Sorte. Dabei hätte ich von einem Zeitreisenden wesentlich mehr Pepp erwartet. Willst du gar nicht wissen, was aus deiner alten Welt geworden ist, oder ob vielleicht noch andere auf gleiche Weise wie du überlebt haben?“ Der alte Mann war kein Anfänger im Überreden. Obwohl Aaron wusste, dass er provoziert wurde, konnte er diese Unterstellungen nicht einfach so hinnehmen. „Sie kennen mich nicht einmal und wollen wissen, dass ich ein Langweiler bin? Von wegen! Außerdem steht ja wohl außer Frage, dass ich wissen will, was sich in den 277 Jahren verändert hat! Dafür sterben möchte ich aber trotzdem nicht.“ „Oho. Also kein Langweiler, sondern ein Angsthase!“, korrigierte der Älteste. „Was wagen Sie sich eigentlich…? Ich bin auch kein Angsthase!“, konterte Aaron und stand auf. Seinen Zeigefinger richtete er auf den Ältesten und fuhr fort: „Meinetwegen mache ich bei diesem 'Abenteuer' mit! Aber davor will ich eine Karte von der Umgebung haben! Sonst setze ich keinen Fuß aus dieser Siedlung!“ Erst nach seiner Aufforderung merkte Aaron, dass er gerade sein Einverständnis gegeben hatte, mit Mina zu reisen. Innerlich verfluchte er sich, auf diese billigen Tricks hereingefallen zu sein, aber er wollte auch keinen Rückzieher machen. Wenn er auch sonst alles verloren hatte, seinen Stolz wollte er nicht auch noch hergeben. „Eine Karte hab ich leider nicht.“, gestand der Älteste, was Aaron fast einen Freudensprung machen ließ. „Aber ich weiß, wo du eine bekommen kannst.“ „Das war aber nicht, was wir vereinbart ha-“ Minas Hundeaugen mussten genau in diesem Moment in Aarons Sichtfeld fallen. „Und wo?“ „Nördlich von hier gibt es ein Dorf. Dort soll es eine Bibliothek geben. Bestimmt lässt sich dort auch eine Karte auftreiben. Und nicht nur das…“ Endlich begann die Reise in Aarons Ohren vielversprechend zu klingen. Eine Bibliothek war das beste Argument, das man ihm nennen konnte. „Dort gibt es Aufzeichnungen der letzten hundert Jahre!“, schlussfolgerte Aaron und hatte schon fast die gleichen leuchtenden Augen wie Mina. Damit war die Sache in Sack und Tüten. Er und Mina würden morgen früh aufbrechen, daran gab es nichts zu rütteln. „Wie weit ist das Dorf von hier entfernt?“, fragte er lieber jetzt, bevor das böse Erwachen ihn erst auf der Reise dorthin traf. Mina hatte gemeint, die Dörfer seien zu weit weg, weshalb sie noch nie die Siedlung verlassen hatte. „Einen halben Tag eventuell? Ich war lange nicht mehr dort. Aber man braucht definitiv nicht länger.“ Entweder log er oder Mina. Ein halber Tag war zu Fuß keine weite Entfernung. Misstrauisch hob Aaron die rechte Augenbraue. „Sind Sie sich sicher?“ „Genau! Bist du dir sicher, Großvater?“, wollte Mina ebenfalls erfahren. „Damals hast du mir nämlich gesagt, in der Nähe gäbe es keine Dörfer…“ „Ach, ja… Das war eine Lüge. Du warst noch so unerfahren und ich wollte unsere beste Jägerin doch nicht verlieren!“ Wenn Blicken töten könnten, wäre der alte Mann an Ort und Stelle an Herzversagen gestorben. Minas Wut war kaum zu übersehen. In diesem Moment glich sie ihrem erbarmungslosen Selbst, das kurz davor war, Wild zu erlegen. „A-aber jetzt bist du schon viel reifer und Aaron ist an deiner Seite! Und wir haben auch genug andere fähige Jäger…“, versuchte sich der Älteste rauszureden, aber Mina blieb stur. Ihr Blick war weiterhin eiskalt und sie sah es nicht ein, ein weiteres Wort mit ihm zu wechseln. „Auf geht’s, Aaron! Wir haben morgen einiges vor, also sollten wir uns lieber gut ausruhen.“ Aaron folgte ihr still, konnte sich aber nicht das leise Lachen verkneifen, das ihm beim Anblick des deprimierten Ältesten entfuhr. Diese Behandlung hatte er mehr als verdient. Was ihn weniger amüsierte, war der Gedanke an den morgigen Tag. Er würde also tatsächlich eine Reise antreten, in einer Welt, die er nicht kannte. Welche Gefahren auf ihrem Weg lagen, wusste zu diesem Zeitpunkt weder er noch Mina. Kapitel 6: Aufbruch ------------------- Der nächste Morgen war angebrochen und hatte Mina und Aaron in aller Frühe begrüßt. Es war nicht einmal sechs Uhr, als sich die beiden von den Siedlungsbewohnern verabschiedeten. Während Aaron sich lediglich für die Gastfreundschaft bedankte, fiel der Abschied für Mina wesentlich länger aus. Ihre Mutter wollte sie gar nicht gehen lassen. Mehrfach hörte Aaron die Sätze „Bitte geh nicht“ und „Du bist noch nicht alt genug“. Umso mehr bewunderte er Mina, dass sie standhaft blieb. Sie hatte ihrer Mutter versprochen, sie zu besuchen, doch jetzt musste sie ihren eigenen Weg gehen.   „Bist du dir sicher, dass du sie allein lassen willst?“ Sie hatten gerade erst die Siedlung verlassen, als Aaron Mina diese Frage stellte. „Jetzt kannst du noch umkehren. Im Gegensatz zu mir hast du hier eine Familie. Hätte mich meine Schwester gebeten zu bleiben, dann wäre ich vermutlich geblieben.“ „Du hast eine Schwester?“, war das Erste, was Mina aus seinen Informationen herausfilterte, und gleichzeitig das Unwichtigste. „Ja, eine kleine...“ Dennoch traf 'hast' nicht ganz zu. Mittlerweile war sie höchstwahrscheinlich nicht mehr am Leben, egal ob sie dem Krieg zum Opfer gefallen oder an Altersschwäche gestorben war. Fakt war, dass er sie nie wieder sehen würde. Der Gedanke klang so irreal. Für ihn fühlte es sich an, als hätte er sie erst gestern das letzte Mal gesehen. Und nun musste er akzeptieren, dass sie tot war. Seine kleine Schwester hatte die Welt eher verlassen als er. Diese Erkenntnis schmerzte weit mehr als der Blick auf die Leichen im Labor. Doch jetzt wusste er den Schmerz zu unterdrücken. „Deine Mutter.“, räusperte er sich. Mina hatte ihm immer noch nicht geantwortet. Entweder sie wollte nicht oder das Thema war ihr nicht wichtig genug, um darüber zu reden. „Meine Mutter wird das schon schaffen.“, meinte sie gelassen und übernahm die Führung. Sie lief direkt vor Aaron, bis sie ihren Abstand auf fünf Meter vergrößert hatte und sich plötzlich zu ihm drehte. Folglich lief sie nun rückwärts. „Ich liebe meine Mutter. Und ich weiß, dass sie das auch tut. Genau deshalb bin ich mir sicher, dass es in Ordnung ist, sie jetzt zu verlassen. Denn unser Band wird sicherstellen, dass ich mein Versprechen halte und wiederkommen werde! Das wissen wir beide.“ Mit anderen Worten: Sie baute auf das gegenseitige Vertrauen zwischen ihnen. Die Bände zwischen Familienmitgliedern waren wahrlich ein atemberaubendes Phänomen. Selbst nach den schrecklichsten Ereignissen hielt man zusammen und suchte nach einer gemeinsamen Lösung. Das Ergebnis war dabei egal. Allein der Zusammenhalt schaffte neuen Mut und Hoffnung. Diese Überlegungen hinterließen auf Aarons Lippen ein sanftes Lächeln, das ihm selbst zwar nicht auffiel, dafür aber Mina keineswegs verborgen blieb. „Du scheinst dich ja doch auf die Reise zu freuen, obwohl du heute früh fast das Handtuch geworfen hättest!“, stellte Mina erfreut fest, doch sie wusste nicht, dass sein Lächeln einen ganz anderen Grund hatte. Stattdessen musste sie ihn wieder an das erinnern, was er bis eben noch erfolgreich verdrängt hatte. Schlagartig verfinsterte sich sein Gesicht. „Ich freue mich ganz sicher nicht! Oder sag mir, wie man sich freuen kann, wenn einem ein Schwert in die Hand gedrückt wird mit den Worten 'Du wirst es gebrauchen können'?“ Er erinnerte sich nun wieder genau. Das Schwert in seiner rechten Hand, das er mit zittrigen Fingern festhielt, war die Ursache seiner schlechten Laune. Kurz nachdem Mina ihn geweckt hatte, wurde ihm die Botschaft übermittelt, dass der Älteste ein Geschenk für ihn habe. Anfangs noch neugierig, wandelte sich sein Gemüt sogleich, als der Gegenstand, alias Schwert, ihm überreicht wurde. Das war kein Geschenk - das war sein Eintrittsticket ins Grab. „Dieses Teil“ Voller Wut hielt er das Schwert mit der Spitze nach oben vor Minas Gesicht. „bedeutet nichts als Unheil, Verderben und Tod!“ „Selbst wenn es dich beschützt?“, erwiderte Mina naiv. Mit der linken Fingerkuppe ihres Zeigefingers drückte sie auf die Schwertspitze. Ein kleiner Tropfen Blut fiel nach unten und vereinte sich mit dem trockenen Boden, der etwas Feuchtigkeit sehr gut vertragen konnte. Aaron schüttelte den Kopf. „Ja, selbst dann. Ich finde, es ist gar nicht nötig, sich mit so was beschützen zu müssen, würden andere auch auf derlei Waffen verzichten!“ Minas Blick wurde schärfer. Zuvor hatte sie ihre Umgebung nur flüchtig wahrgenommen und mehrere Sinneseindrücke gleichzeitig eingefangen, doch jetzt konzentrierte sie sich einzig und allein auf Aaron. „Du musst es nicht nutzen, schließlich bin ich auch noch an deiner Seite. Und im Gegensatz zu dir werde ich meine Axt nicht verrosten lassen. Doch sag mir: Wo ist der Unterschied, wenn ich Leben nehme und nicht du? Es ändert nichts. Du würdest lediglich dein Gewissen beruhigen mit einer Lüge. 'Es hätte auch anders enden können. Ich habe nichts getan.' Das klingt gut. Aber... klingt es auch gut, wenn uns eine Horde Wildschweine überrascht oder uns Banditen umzingeln? Ich würde kämpfen, das steht außer Frage. Und genauso würde ich statt deines Schwertes dich beschützen. Aber manchmal ist das eigene Schwert schneller als das eines anderen und genau diese Sekunde Unterschied kann zwischen Leben und Tod entscheiden.“ Aaron hatte ihr genau zugehört. Mitten ihm Gehen hatten sie angehalten und schwiegen sich nun an. Ihre Argumente waren richtig, denn Aaron hatte sie nicht zum ersten Mal gehört. Jedoch wollte er sie nicht verstehen. Es war falsch, Leben zu nehmen. Beim Jagen hatte es einen Zweck. Hingegen war Kämpfen sinnlos. Würde man es vermeiden, könnten beide Parteien weiterleben. „Es gibt kein Gut und Böse auf der Welt, Aaron.“, unterbrach Mina plötzlich das Schweigen. „Du solltest das doch am besten wissen als jemand, der in der Kriegszeit gelebt hat. Dagegen ist heute das Paradies. Wie viele Menschen mussten damals ihr Leben lassen für nichts? Wie konntest du wohl diese Zeit überleben? Bestimmt, weil es auch da jemanden gab, der dich beschützt hatte und dir die Bürde des Tötens abnahm. Meinst du also nicht, dass jetzt eine gute Gelegenheit wäre, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen?“ Noch immer wollten keine Worte Aarons Mund verlassen. 'Die Dinge selbst in die Hand zu nehmen'. Wie ironisch dieser Teilsatz sich doch anfühlte, wenn er an seine rechte Hand hinabblickte. Das hatte er doch schon längst in dem Moment, als er das Schwert entgegengenommen hatte. Sein Mund verkrampfte sich zu einem verzweifelten Lächeln. Es fühlte sich falsch an, diese Entscheidung gefällt zu haben. Das Gespräch mit Mina war ein letzter Versuch des Widerstands gewesen, der nun ebenfalls missglückt war. Er würde das Schwert nicht abgeben. Das Zittern in seiner Hand war keine Angst. Es war Aufregung, die von Sekunde zu Sekunde stärker wurde. „Trotzdem möchte ich niemanden töten.“, stellte Aaron nochmals klar. „Ich weiß.“, entgegnete Mina. „Ich doch auch nicht.“ Gemeinsam setzten sie ihren Weg fort und entschieden sich dafür, das Thema erst einmal ruhen zu lassen. Kapitel 7: Monster ------------------ Sie waren nun schon fünf Stunden unterwegs, ohne eine Pause gemacht zu haben. Schließlich meldeten sich Aarons Körperregionen vor Schmerz. Da er lange Zeit geschlafen hatte, war sein Körper solche Fußmärsche nicht mehr gewohnt und seine Kondition absolut ungeeignet. „Mina, können wir bitte anhalten?“, bat er sie schnaufend und hielt bereits an, noch bevor Mina ihm eine Antwort geben konnte. Sofort hatte Mina ihn verstanden und beendete ihre Bewegung. „Alles in Ordnung? Tut irgendwas weh?“ Irgendwas war untertrieben. Er spürte nur noch stechende Schmerzen in seinen Muskeln, sein Puls raste, als sei er auf der Flucht und sein Magen hatte ihm schon vor Stunden mitgeteilt, dass er nach Nahrung verlangte. „Ich fühle mich elend und habe Hunger. Aber ansonsten geht es mir ganz gut.“, fasste er zusammen und setzte sich auf den Boden. Endlich konnte er sich strecken und seinen Beinen die schwere Last nehmen. Er war sich sicher, dass er noch nie zuvor so viele Schmerzen auf einmal gespürt hatte. Umso schöner war das Gefühl, die heiß ersehnte Pause zu erhalten. „Gegen deine Schmerzen kann ich nichts machen, aber ich kann deinen Hunger besänftigen!“, verkündete Mina voller Stolz. Sie setzte sich zu Aaron und legte den gut gefüllten Beutel ab, den sie die gesamte Zeit auf ihrem Rücken transportiert hatte. Mina musste den Beutel nicht einmal öffnen, damit Aaron herausbekam, was sich darin befand. Der Geruch war so intensiv, dass er nichts anderem mehr Beachtung schenken konnte - Himmel und Hölle zugleich. Er konnte keine Minute länger warten, um die Köstlichkeiten sein Eigen zu nennen. Frisches Fleisch, Käse und Äpfel hießen ihn willkommen, nachdem die Tore ins Schlaraffenland entriegelt waren. Es dauerte nicht mal eine Sekunde, bis er zu den ersten Speisen griff und sie ohne Umschweife in sich aufnahm. „Dosch schmöckt würklich auschgezeichnet!“, lobte er das Essen, um seine Zufriedenheit auszudrücken. So zufrieden, dass er sich beinahe daran verschluckte und nur knapp dem Hustenanfall entkam. Erneut holte er mit seiner Hand nach dem Fleisch aus, doch dieses Mal sollte sie nicht das gewollte Ziel erreichen. Millisekunden vor ihrer Vereinigung wurde Aaron urplötzlich gerammt und fiel mit dem Kopf voran auf den Boden, dessen Geschmack er nun leider ebenfalls kannte. „Mina, was sol-“, beschwerte er sich beim Abstützen. Seine Wut hatte sich jedoch schnell wieder gelegt, als er Mina vor sich sah, wie sie mit ihrer Axt ein monströs großes Wildschwein abwehrte. Zumindest war das die Bezeichnung, die er der Bestie am ehesten zuordnen konnte. Er hatte zwar noch nie ein Wildschwein in der freien Natur gesehen, doch von einem drei Meter hohem Waldtier mit Eckzähnen, die ein Meter lang waren, hatte er in den Tierbüchern noch nicht gelesen. „Was ist das?!“, war folglich seine erste Frage. Mit beiden Händen umklammerte er sein Schwert, das ihm auf einmal viel schwerer als vor wenigen Minuten erschien. Jetzt könnte er es zum ersten Mal nutzen, nur blieben das Wo, Wie und Wann ungeklärt. Er hatte noch nie ein Schwert geführt, noch hatte er jemals ein Tier erlegt. Und nun stand er einem Wesen gegenüber, das ihn vermutlich mit nur einem Biss verschlucken konnte. Vielleicht hatte es nicht einmal eine Schwachstelle und ihre einzige Überlebenschance war ein Rückzug. Aus Angst, einen Fehler zu begehen, der ihm das Leben kosten könnte, rührte er sich keinen Zentimeter und verfolgte bloß von weitem, wie Mina versuchte dem wilden Tier standzuhalten. „Du bist ein echt hässliches Vieh, hat dir das schon mal jemand gesagt? Und dann greifst du uns auch noch aus dem Hinterhalt an! Da hast du wirklich Pech, denn ich mag keine Spanner!“, warf sie dem Wildschwein Beleidigungen an den Kopf. Der Zweck dahinter wollte Aaron nicht ganz einleuchten, denn selbst wenn es kein normales Wildschwein war, so weckte es nicht den Eindruck, die Menschensprache zu verstehen. Vermutlich war es mal wieder eine von Minas Eigenarten, die ihr Kraft gaben oder sie motivierten, so wie wenn Kampfsportler schrien. Noch eine ganze Weile verharrten Mina und das Wildschwein in ihren Positionen, in denen sie sich jeweils gegeneinander pressten und sich den Widerstand des Bodens zunutze machten, um nicht weggeschoben zu werden. Sowohl bei ihr als auch dem Tier war dadurch eine Vertiefung unter ihren Füßen entstanden. Währenddessen überlegte Aaron, ob er nicht lieber doch in Aktion treten sollte, denn es hatte nicht den Anschein, als würde sich einer der beiden bald rühren. //Wenn ich mich von hinten anschleiche, könnte ich vielleicht seine Beine angreifen, wodurch es den Halt verliert und Mina ihm den Todesstoß versetzen kann!//, malte er sich den Optimalfall aus. Dass dieser tatsächlich eintreten würden, hielt er allerdings für unwahrscheinlich. Es gab zu viele Wenns in seinem Plan. Was, wenn sein Angriff keinen Schaden machte? Und wenn doch, würde Mina es mit einem Schlag erledigen können? Er schüttelte den Kopf, um sich wieder zu beruhigen. Noch Stunden hätte er so weiter machen können, ohne zu einem Entschluss zu kommen. Niemand konnte zu 100% voraussagen, was geschehen würde; weder er als Jagd-Amateur, noch ein Veteran. Es gab immer Zufälle, die die jetzige Situation beeinträchtigen konnten. Und dieses Mal wäre es möglich, dass der Zufall auf ihrer Seite stand, genauso aber auch andersherum. //Zögern wird nichts ändern! Ich muss etwas unternehmen!// Der Griff um sein Schwer verstärkte sich und die Anspannung in seinem Gesicht stieg auf ihr Maximum an. Er hatte Angst; wahnsinnige. Das Adrenalin in seinem Körper half ihm, diese Angst weitestgehend zu unterdrücken und so kam es, dass er mit langsamen Schritten vorwärts ging und sich in einem großen Bogen auf das Tier zubewegte. Das Verhalten der Bestie hatte sich nicht geändert, daher ging er davon aus, dass es seine Bewegungen noch nicht wahrgenommen hatte. Nun musste er nur noch unentdeckt bleiben. Wenige Meter fehlten ihm, bis es in Reichweite war. Leise Schritt er voran und atmete kaum hörbar ein und aus. Gleich würde er es angreifen. Ein letztes Mal nahm er die Luft um sich auf und holte schließlich mit seinem Schwert aus, das er ohne Probleme ins rechte Hinterbein des Wildschweins stach. Sofort wich Aaron zurück ungeachtet des lauten Schreis, den es von sich gab. Mina hatte seinen Plan verstanden und konnte für einen kurzen Moment ihre Axt aus der Verankerung der Stoßzähne ziehen. Die wenigen Sekunden, die ihr zur Verfügung standen, nutzte sie unverzüglich und traf mit ihrer Axt den Kopf des Tieres, das daraufhin zusammensackte. Sie wiederholte die Aktion nochmals, wodurch das Wildschwein sich nicht mehr bewegte. Aus Minas entspanntem Gesichtsausdruck konnte Aaron herauslesen, dass die Gefahr vorbei war und sie das Tier erfolgreich erlegt hatten. Ein Stein fiel ihm bei dieser Erkenntnis vom Herzen. „Wow. Das war ganz schön gefährlich.“, sagte er erschöpft und erleichtert zugleich. „Findest du?“, fragte Mina wenig erschüttert, während sie mit einem Tuch das Blut von ihrer Axt entfernte. „Diese Dinger gibt es überall. Ganz schön nervig, weil sie so groß sind, aber auch ziemlich dumm.“ Einen Moment lang war Aaron fast der Meinung, dass Mina scherzte, dann fiel ihm aber wieder ein, dass sie ganz und gar nicht der Typ für solche Albernheiten war, was bedeutete, dass sie das vollkommen ernst meinte. Er schluckte kräftig. „Du redest ja so, als wäre das eben nichts Besonderes gewesen! Aber das war doch kein normales Tier! Das war ein Monster!“ „Ein Monster?“, wiederholte sie verwundert und ging auf Aaron zu. „Dann weißt du es gar nicht? Man führte Tierexperimente durch, um neue Waffen für den Krieg zu erschaffen. Unter anderem waren Mutationen ein häufiges Resultat. Und das war eines davon.“ Sie log nicht. Ihre Augen waren voller Klarheit. Aber er wollte nicht glauben, was er hörte. „Das... war ein Tier? Das haben sie ihnen angetan...?“ Er machte einen Schritt zurück, als hätte man ihm einen Schlag versetzt. Aber das, was er fühlte, war ganz anders. Hass, Abscheu, Vorwürfe. Seine Generation war an diesen Monstern Schuld. „Es war ihnen gelungen, Tiere zu erschaffen, die nicht nur größer waren als ihre normalen Vertreter, sondern auch aggressiver. Dein Vergleich mit einem Monster ist daher wohl gar nicht so falsch. Sie leben im Prinzip nur, um zu töten, ohne Sinn und Zweck. Ein grausamer Fluch... Diejenigen, die zu so etwas imstande waren-“ Plötzlich fasste Aaron Minas Handgelenk. „Lass es.“, bat er sie aufzuhören. Mehr konnte er nicht vertragen. „Gehen wir einfach weiter, okay? Wir haben noch einiges vor uns.“ Mina sagte nichts dazu. Stumm sammelte sie ihre Sachen zusammen und beobachtete bloß nachdenklich ihren Mitreisenden von weitem. Was sie auch dachte, es war Aaron egal. Er war dankbar, dass sie ihn nicht mit irgendwelchen Fragen löcherte und seine Bitte angenommen hatte. Als sie fertig war, zogen sie weiter. Kapitel 8: Bibliothek --------------------- Einen ganzen Tag waren sie unterwegs, ehe sie die aneinandergereihten Häuserwände von weitem erkannten. In den vergangenen Stunden hatten sie kaum miteinander geredet, weswegen Minas Ausruf Aaron erschreckte: „Da ist tatsächlich ein Dorf! Ich glaub es gar nicht!“ Wieder einmal waren ihren Augen von einem hellen Leuchten umhüllt, das Aaron jedes Mal erneut in seinen Bann zog. Sie war wahrlich keine Künstlerin im Verbergen ihrer Emotionen. War sie wütend, zog sie kurz darauf einen Schmollmund; war sie glücklich, lag stets ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht. Und nun zeigte sie mehr als deutlich ihre Neugier und Aufregung. Aaron gefiel diese Eigenschaft an ihr, denn das machte es ihm leicht, auf sie einzugehen. „Du hast wirklich noch nie eins gesehen?“, hakte er nach. Doch im Grunde lieferte ihr Gesichtsausdruck bereits alle Antworten. Sie schüttelte schnell den Kopf. „Nein, noch nie. Das ist einfach... unglaublich! Wie viele Menschen dort wohl leben?“ „Gute Frage. Warum finden wir es nicht einfach heraus?“ Er deutete mit seinem Daumen in die Richtung des Dorfes, um ihre Route anzuzeigen. Das musste sich Mina nicht zweimal sagen lassen. Mit entschlossenem Blick übernahm sie die Führung und lief in Eiltempo vorwärts.   Überall waren Menschen zu sehen. Ein Markt mit allerlei Angeboten von Nahrung bis hin zu Kleidungsstücken bildete das Zentrum des Ortes. Mehrfach erkannte Aaron Leute, die ihr Bestes gaben, zu feilschen. Manches Mal klappte es sehr gut und die Person verließ den Stand mit einem breiten Grinsen. Ein anderes Mal wurde der Vorschlag nicht akzeptiert und eine kurze Szene fand statt, in der einige fiese Ausdrücke fielen. Glücklicherweise kam dabei niemand zu Schaden. Einmal packte ein Händler seinen Kunden am Kragen, doch die Frau des Händlers konnte ihren Mann mit nur einem einzigen Ausruf seines Namens zu einem verängstigten Tier werden lassen, das um Verzeihen bettelte. Dies amüsierte Aaron so sehr, dass er sich beim Lachen sogar den Bauch halten musste. Genau die gleichen Situationen hatte er am eigenen Leib erfahren, als er noch mit seiner Familie zusammen gelebt hatte. Was seine Mutter sagte, war Gesetz. Nicht einmal sein Vater, der in seiner Jugend sogar als wilder Raufbold bekannt war, konnte sich dem widersetzen. Mina hatte ganz andere Sorgen. Um sie herum hatte sich eine komplett neue Welt geöffnet, mit der sie niemals gerechnet hatte. Alles war neu für sie, deswegen gab sie ihr Bestes, um alles gleichzeitig wahrzunehmen, und drehte sich wie ein Propeller eifrig im Kreis. „Ist das alles riesig hier! In ein Haus allein würde schon unsere gesamte Siedlung hinein passen! Und hier gibt es gleich so viele davon!“, teilte sie einige ihrer Eindrücke mit Aaron, der sie daraufhin belächelte. „Ja, hier ist es schon ein ganzes Stück anders als in eurer Siedlung. Aber das ist noch nicht mal ansatzweise das Ausmaß einer Stadt. Die Häuser dort sind bestimmt zehnmal so groß wie hier!“ „Z-zehnmal?!“, wiederholte sie geschockt und stoppte mitten in ihrer Drehung. Mit weit aufgerissenem Mund schaute sie zu Aaron. „Das will ich unbedingt sehen!“ Gleiches galt für Aaron. Wie sehr hoffte er, dass noch mehr Menschen den Krieg überlebt hatten. Eine Stadt wäre dafür das beste Zeichen. Und um genau das herauszufinden, waren sie hier. Die Bibliothek in dem Dorf hatte bestimmt Geschichtsbücher und vielleicht sogar solche, die sich mit den letzten 300 Jahren befassten. „In Ordnung. Wenn wir hier fertig sind, setzen wir uns als nächstes Ziel eine Stadt.“, versprach er ihr. „Aber jetzt müssen wir erst mal die Bibliothek ausfindig machen.“ „Die Bibliothek. Verstanden.“ Wie immer dachte Mina nicht lange nach, bevor sie handelte. Sofort ging sie auf die erste Person zu, die ihr über den Weg lief. Diese stellte sich als ältere Frau heraus, die gerade ihren Einkauf beim Fischer beendet hatte. Sie wechselten ein paar Worte, hinzu kamen merkwürdige Armbewegungen von Minas Seite, die Aaron nicht zuordnen konnte, und dann trennten sich ihre Wege schon wieder. Wie ein Soldat, der seinen Befehl ausgeführt hatte, stellte sich Mina vor ihn und erstattete Bericht: „Die Bibliothek ist am westlichen Rand des Dorfes. Aber sie hat gesagt, wir sollen uns lieber keine großen Hoffnungen machen. Das war alles.“ Aaron zog nachdenklich seine rechte Augenbraue in die Höhe und verschränkte die Arme. Keine großen Hoffnungen machen? Das klang nicht sonderlich vielversprechend. Am Ende war die angebliche Bibliothek nichts weiter als eine staubige Abstellkammer. Davon wollte er sich trotzdem selbst überzeugen lassen. „Danke, Mina. Na dann, gehen wir mal zu dieser Bibliothek.“   Das Aushängeschild war strahlend sauber, die Fassade von sämtlichen Dreckspuren befreit, kein Unkraut wuchs im Vorgarten. Wer auch immer der Inhaber dieses Gebäudes war, er kümmerte sich sorgfältig darum. Unfreiwillig formte sich Aarons Mund zu einem leichten Lächeln. Der Ersteindruck war sehr positiv und innen sah es mit Sicherheit nicht anders aus. Niemand würde sich nur im äußeren Bereich solche Mühe geben. Damit konnte er seine Befürchtung, es sei nur ein altes, verlassenes Gebäude, jedenfalls streichen. Doch umso weniger konnte er etwas mit den Worten der älteren Frau anfangen. Er zuckte die Schultern. Vielleicht mochte sie einfach nur keine Bücher und redete die Bibliothek deshalb schlecht. Vielmehr interessierte ihn jetzt das Angebot. Denn nur weil das Gebäude gepflegt war, hieß das nicht, dass die Auswahl an Büchern seinen Erwartungen entsprach. Trotz allem war er zuversichtlich, etwas zu finden, das ihm weiterhelfen konnte. In so einem großen Gebäude musste es etwas geben und sein durch Mina entfachter Optimismus wollte ihn schlichtweg nichts anderes glauben lassen. Sie betraten das Haus und wurden gleich von einer angenehmen Atmosphäre in Empfang genommen. Genau wie Aaron es vermutet hatte, war es innen genauso gepflegt und sauber wie außen. Keine Staubschicht, die Regale waren alle parallel angeordnet und prall gefüllt mit Büchern. Irgendein Buch davon hatte sicher einen Hinweis auf die Ereignisse zu der Zeit, in der er bewusstlos war. Sofort wollte sich Aaron auf die Suche nach besagten Büchern begeben, doch ein junger Mann stellte sich ihm in den Weg. Er war etwas größer als Aaron und trug einen kurzen, seitlich ausgerichteten Pferdeschwanz, der seine pechschwarzen Haare bändigte. Dazu bildeten seine eisblauen Augen einen guten Kontrast. „Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte er freundlich. Aaron hatte ihn als Angestellten der Bibliothek zugeordnet. Sein Auftreten wirkte selbstsicher und besonnen, doch schätzte er ihn nicht auf viel älter als sich selbst, weshalb er nicht glauben konnte, dass es sich bei ihm um den Inhaber handelte. Er setzte zum Reden an, als ihm seine Augen ins Sichtfeld fielen. Diese eisblauen Augen waren wie ein Spiegel. Sobald Aaron in sie hineinschaute, hatte er das Verlangen, ihm all seine Gedanken mitzuteilen. „I-ich…“, fing er an. Informationen flossen durch seine Hirnwindungen, von denen er nicht mal wusste, dass er noch auf sie zugreifen konnte. Er schüttelte seinen Kopf, um den eisblauen Augen zu entrinnen und wieder Herr seiner Sinne zu werden. „Ich suche nach einem Buch.“, meinte er knapp. Das tat er ja auch, nur konnte er sich alsbald selbst denken, dass diese Aussage nicht sonderlich kreativ war. In einer Bibliothek ein Buch zu suchen - welch eine Überraschung. „Ein bestimmtes Buch.“, fügte er räuspernd hinzu, damit er nicht vollkommen dumm herüberkam. „Welche Kriterien muss das besagte Buch denn erfüllen? Soll ich nach einer bestimmten Thematik, einem Autor oder etwas anderem suchen?“, knüpfte der Angestellte sogleich an das Gespräch an. Aarons merkwürdige Reaktion hatte ihn nicht gestört, wie es von einem echten Geschäftsmann zu erwarten gewesen war. Allerdings machte ihn eines stutzig: In seinen Augen schwor Aaron, das gleiche Leuchten kurzzeitig erkannt zu haben, das er von Mina zu gut kannte. „Ein Geschichtsbuch. Es sollte von der Zeit des Kri-“ Er hätte vermutlich noch eine Stunde weiter reden können, doch es erschien ihm effizienter sein Stimmvolumen sich aufzusparen, wenn er sich sicher war, dass ihm sein Gesprächspartner nicht mehr folgte. Er hatte lediglich das Wort „Geschichtsbuch“ in den Mund genommen und schon hatte er gespürt, wie der Schwarzhaarige eine Blockade um sich aufgebaut hatte. Von einem Leuchten in seinen Augen konnte keine Rede mehr sein, stattdessen war eine Leere, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte, entstanden. „Ein Geschichtsbuch sagt er… Wegen eines Geschichtsbuches ist er hier… Ist das zu fassen…? Einfach unglaublich! Ein Geschichtsbuch!“ Wie im Delirium stotterte er diese Worte vor sich hin und schenkte Aaron nicht mal einen Hauch von Aufmerksamkeit. „Ähm, entschuldigen Sie? Alles in Ordnung bei Ihnen?“, erkundigte sich Aaron vergeblich. Erst nachdem Mina zu ihnen gestoßen war und das Buch „Steak - der König unter den Fleischarten“ vor Aarons Gesicht hielt, regte sich wieder etwas in den Augen des Angestellten. „Sieh mal, was ich gefunden habe, Aaron! Schau dir nur all diese Bilder an! Ich bin mir sicher, das würde dir auch so gut schmecken wie das Essen von-“ „E-eine Frau!“, schrie der Schwarzhaarige urplötzlich los und war mit einem Mal in der anderen Ecke des Raumes verschwunden. Sowohl Aaron als auch Mina schauten ihm irritiert nach und überlegten, was sie getan hatten und gleichzeitig tun sollten. Der Kerl war für die beiden ein einziges Mysterium. Erst das Geschichtsbuch und nun eine Frau. Diese zwei Dinge hatten keinerlei Gemeinsamkeiten, aber trotzdem lösten sie bei ihm psychische Labilität aus. Hatte er etwa zu allem eine traumatische Verbindung?, wunderte sich Aaron. „Nochmal: Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“, wiederholte Aaron seine Frage mit Nachdruck, nachdem sie ihn in der Ecke kauernd aufgefunden hatten. „Nein, du Blindfisch! Und jetzt verschwindet aus meiner Bibliothek!“, zischte er zitternd. Es stand außer Frage, dass er dabei nicht einmal zu ihnen schaute. So wenig Aaron diese Antwort überraschte, überraschte ihn der Besitzanspruch des zweiten Satzes schon. Dann war er also doch der Inhaber der Bibliothek. Umso mehr war das ein Grund, ihn nicht in Ruhe zu lassen. „Wir verschwinden gerne von hier, aber davor hätte ich noch gerne das Buch, nach dem ich suche.“, stellte er als Bedingung. Dem Bibliothekar war das aber alles andere als recht: „Solange sie hier ist, niemals!“ Damit bestätigte sich Aarons Annahme von einer Frauenphobie. Er seufzte. So gern er Mina dabei haben wollte, hinderte sie derzeit ihr Vorankommen. Er kostete ihn Überwindung, ihr diese Worte zu sagen, aber er hatte schließlich einen guten Grund dafür: „Mina, kannst du bitte draußen auf mich warten? Dem jungen Mann hier geht es nicht besonders gut und er bräuchte jetzt etwas Ruhe.“ „Wirklich?!“, rief sie schockiert, als habe sie davon nichts mitbekommen. Hastig drehte sie sich dem Bibliothekar zu und hockte sich direkt neben ihn, sodass er sogar Minas Atem an seinem Gesicht spüren konnte. Das alles geschah so schnell, dass sich Aaron keine Gelegenheit bot, sie davon abzuhalten. „Sind Sie etwa krank? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte sie besorgt und legte ihre Hand an seine Stirn. Völlig perplex schaute der Angesprochene sie an und antwortete nicht auf ihre Frage. Für einen Moment herrschte eine Totenstille, bis überrascht aus seinem Mund kam: „Ich hab ja gar keine Angst…“ Kapitel 9: Donnell ------------------ Die Drei saßen an einem runden Tisch, der kaum freie Fläche aufzuweisen hatte, da dreiviertel als weitere Ablagefläche für die Bücher diente, die in der Regalsammlung kein Heim mehr gefunden hatten. Zwischen unzähligen Bücherstapeln, die fast einen Rekord im Hochstapeln aufgestellt haben könnten, blickten die sechs Augen hindurch und warfen einander fragende Blicke zu. Es war eine angespannte Atmosphäre, die den Raum erfüllte und niemand so recht deuten konnte. Nicht einmal Mina öffnete ihren Mund, obwohl sie sonst nichts davon abhielt, ihre Meinung kundzutun. „Am besten beginnen wir am Anfang.“, schlug Aaron als Erster vor und verschaffte sich mit einem lauten Räuspern die Aufmerksamkeit der beiden. „Ich bin Aaron und das ist Mina. Wir kommen aus einer Siedlung, die einen Tag Fußmarsch von hier entfernt liegt, um ein Buch zu finden, das uns bei unserem Vorhaben weiterhelfen kann.“ Der schwarzhaarige Jüngling schwieg für einen Moment und fasste sich nachdenklich an sein Kinn. Seine Augen wanderten dabei mehrfach von Aaron zu Mina und umgekehrt. Nachdem er genügend Bedenkzeit beansprucht hatte, stellte auch er sich ihnen vor: „Mein Name ist Donnell. Ihr könnt mich aber auch gerne Don nennen! Wie ihr vermutlich schon wisst, bin ich der Eigentümer dieser Bibliothek. Aber ich muss gestehen, dass ich noch nie zuvor zwei Gestalten wie euch hier gesehen habe. Zum einen dich, Aaron, der mich tatsächlich nach einem Geschichtsbuch gefragt hat und dann die freundliche Mina, die trotz ihrer Weiblichkeit keinen Schweißausbruch bei mir verursacht hat! Das war wirklich das erste Mal, dass ich gleich zwei Verrückte auf einem Haufen hatte!“ Das Kompliment hätte Aaron ihm gerne zehnmal zurückgegeben, doch dafür war ihm seine Zeit dann doch zu kostbar, also konzentrierte er sich lieber auf das Wesentliche: „Deine Phobien mal außen vor, würde ich gerne erfahren, was an einem Geschichtsbuch denn so eigenartig ist. Geschichte ist Kultur und Kultur pflegt doch jede Epoche, oder nicht, Nell?“ „Wen interessiert denn bitte Geschichte?“, konterte Donnell schroff. „Außerdem sagte ich Don und nicht Nell!“ „Heißt das, du führst keine Geschichtsbücher, Nell? Und nur, weil DU dich nicht für Geschichte interessierst? Aber was ist denn mit deinen Kunden? Es gibt bestimmt eine Menge Leute, die daran Interesse haben!“ Donnell zuckte die Schultern. „Wenn ich darauf Wert legen würde, hätte ich schon längst etwas daran geändert. Tue ich aber nicht. Du solltest dir vielleicht erst einmal meine Büchersammlung ansehen, bevor du mich noch weiter kritisierst. Und es heißt für dich immer noch Don!“ Da Donnell nicht mit der Sprache rausrücken wollte, befolgte Aaron den Rat und sah sich im Gebäude weiter um. Wäre er nicht sofort von ihm angesprochen worden, hätte er das ohnehin getan. Nun verlief die Reihenfolge eben etwas anders. Er begann, das erste Regal zu durchsuchen und war beeindruckt, wie sauber Donnell alles gehalten hatte. Aarons fortgeschrittener „Staub-Radar“ schlug nirgendwo Alarm und das war äußerst selten der Fall. Was danach kam, hatte wenig mit Beeindrucken zu tun. Zum Staunen wurde er allemal gebracht, jedoch im negativen Sinne. Jeder Titel, den er las, jedes Cover, auf das er schaute, und einfach jedes Buch in diesem Raum hatte nur eine Thematik: Kochen. Diese große Bibliothek bestand aus nichts weiter als Kochbüchern. Aaron wollte es zuerst nicht glauben, aber ohne jeden Zweifel war jedes Buch in jeder Reihe ein Kochbuch. Selbst auf den Tischen lagen sie und belächelten ihn mit Variationen von Salaten, Süßspeisen und deftigen Mahlzeiten. „Na, hast du es jetzt endlich begriffen?“, fragte Donnell, als er sich ihm von hinten näherte. „Dein Geschichtsbuch wirst du hier niemals finden. Gib es also auf.“ „A-aber wieso? Wieso sind hier nur verdammte Kochbücher?!“, verlangte Aaron nach einer Antwort, die seine Enttäuschung hoffentlich besänftigen konnte. „Weil ich Kochen liebe, ganz einfach!“, versetzte Donnells strahlende Erklärung, die kaum ehrlicher sein konnte, ihm den letzten Todesstoß. Jetzt wusste auch er, dass ihr Tagesausflug eine Niete war. „Unglaublich!“, stöhnte er unzufrieden und setzte sich auf einen Stuhl, den die Kochbücher-Armee noch nicht erobert hatte. „Dabei war ich mir so sicher, dass es hier ein Geschichtsbuch geben muss!“ „Ich würde mich ja entschuldigen, aber eigentlich weiß im Dorf jeder, dass es hier nur Kochbücher gibt, deswegen dachte ich nicht, das extra erwähnen zu müssen. Normalerweise kommen hier nämlich keine Leute von außerhalb her. Umso glücklicher machte es mich, euch beide begrüßen zu dürfen. Sonst gehören nur ältere Herren, die von ihren Frauen geschickt werden, zu meiner Kundschaft. Da ward ihr eine willkommene Abwechslung. Aber das erklärt natürlich einiges. Ihr wolltet gar keins meiner wundervollen Kochbücher…“ Froh darüber, dass sie das Missverständnis erfolgreich aufgeklärt hatten, und gleichzeitig deprimiert, dass sie seine Leidenschaft für das Kochen nicht teilten, lehnte sich Donnell ans Fenster und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. „Also ist heute wieder mal ein Tag ohne Kundschaft…“ Aarons Mitleid hielt sich in Grenzen. Wenn er wirklich darauf aus war, mehr Kunden zu haben, hätte er sein Angebot schon längst ausgeweitet. Dennoch hatte Aaron noch nicht all sein Interesse am jungen Bibliothekar verloren. „Wo hast du deine Kochbücher überhaupt her? Die sind doch ganz sicher nicht aus dem Nichts aufgetaucht. Und ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass so viele Kochbücher rein zufällig ihren Weg in dieses Dorf gefunden haben.“ Donnell setzte ein triumphierendes Lächeln aus, als habe er die ganze Zeit nur darauf gewartet, dass diese Frage gestellt wurde. „Jahre langes Sammeln, mein Freund! Hier im Dorf kommen des Öfteren Händler vorbei, und mit etwas Glück hatten sie auch ab und zu ein paar Kochbücher dabei. Ein Händler, mit dem ich sehr gut befreundet bin, hält sogar meinetwegen extra auf seinen Reisen immer nach Kochbüchern Ausschau! Das Ganze war nicht billig, aber jedes Exemplar war seinen Preis definitiv wert! Vor allem, weil viele Bücher durch den Krieg damals verloren gegangen sind. Bücher sind allgemein eine Rarität und Kochbücher erst recht!“ Eine Rarität hieß zwar selten, aber das hieß nicht, unmöglich zu finden. Außerdem konnte es nicht schwer sein Bücher zu finden, wenn ein einzelner Mann so viele Exemplare ergattern konnte. „Händler also… Weißt du eventuell auch, wo sie die Bücher kaufen? Oder könntest du uns alternativ einem Bücherhändler vorstellen?“, fragte Aaron weiter nach. Und auch dabei konnte Donnell ihm weiterhelfen: „Dieses Buch scheint euch wohl wirklich viel zu bedeuten. Euer Ehrgeiz gefällt mir! Trotzdem… ganz hell seid ihr nicht im Kopf, oder? Die Bücher kaufen sie natürlich in der Stadt Leoriz ein!“ Sowohl Aaron als auch Mina machten ein Gesicht, als hätten sie gerade einen Sechser im Lotto gewonnen. „Stadt?!“, wiederholte Mina verblüfft. „Du kennst eine Stadt?!“ „Städte existieren tatsächlich noch?! Wie viele denn?!“, setzte Aaron nach. Beide rückten neugierig näher an ihn heran, bis sich ihr Abstand auf wenige Zentimeter reduziert hatte. Besonders Mina war Donnell auf die Pelle gerückt, denn es fehlte nur noch eine Nasenspitze, bis sich ihre Körper berührten. „A-also…“ Leicht errötet wich Donnell zwei Schritte zurück, um wieder Luft zum Atmen zu haben. Und die brauchte er gerade definitiv, denn die junge Dame vor ihm hatte seine Luftzufuhr für einen Augenblick vollständig blockiert. „Natürlich gibt es noch Städte! Nicht viele, aber es gibt sie. Zumindest Leoriz gibt es mit Sicherheit. Was andere Städte angeht… da müsst ihr jemand anderen fragen.“ Diese Informationen reichten Aaron bereits, um wieder neuen Mut zu fassen. Die Bestätigung einer Stadt reichte als Ausgleich für das miese Angebot, wenn sie nicht sogar besser war. Eine Stadt hieß noch mehr Menschen, noch mehr Gebäude und noch mehr Informationen. „Und wie kommen wir dorthin? Hast du eine Karte, die du uns leihen könntest?“, löcherte er Donnell weiterhin mit Fragen. „Die hab ich tatsächlich.“, erwiderte Donnell, allerdings klang seine Stimme weniger positiv, als seine positive Antwort vermuten ließ, denn sehr bald folgte das Aber. „Nur geb‘ ich sie euch nicht.“ „Warum denn nicht? Das ist wirklich extrem wichtig für uns! Ohne Karte oder Wegbeschreibung verirren wir uns!“, versuchte Aaron, ihn zu überreden, aber Donnell dachte gar nicht daran. „Diese Karte bekommt ihr nicht. Die hat mich ein halbes Vermögen gekostet! Da leih ich sie ganz sicher nicht zwei Fremden! Zudem hab ich mir geschworen, sie erst wieder anzurühren, wenn ich selbst dazu bereit bin, auf Reisen zu gehen!“ Während Aaron überlegte, wie er Donnell umstimmen konnte, sah Mina ihre Gelegenheit, sich in den Vordergrund zu stellen. „Du kannst doch bestimmt gut kochen, oder Nell?“ Der plötzliche Themenwechsel überraschte ihn zunächst, weswegen er zögerte, bis er darauf antwortete. „J-ja, wieso?“ „Dann kannst du auch ganz leckeres Essen machen?“ Noch immer war ihm nicht klar, was sie von ihm wollte, doch wieder bejahte er. „Ja, ich denke schon. Das ist eines meiner wenigen Talente, wenn nicht sogar mein einziges…“ „Wunderbar!“, rief sie zufrieden und klatschte in ihre Hände, als Zeichen dafür, dass sie sich entschieden hatte. „Wieso kommst du nicht einfach mit uns, Nell?“ „Was?!“, kam es aus Donnells und Aarons Mund gleichzeitig geschossen. Keiner der beiden hätte in diesem Moment mit dieser Schlussfolgerung gerechnet. Mina ließ sich davon nicht aus der Fassung bringen. Munter erklärte sie weiter, was sie damit meinte: „Du hast die Karte gekauft, um irgendwann einmal zu verreisen, und in einer Gruppe macht Reisen doch viel mehr Spaß! Außerdem steht Aaron total auf leckeres Essen! Damit wärst du eine großartige Ergänzung für unser Team! Also, was sagst du?“ Kapitel 10: Panik ----------------- In Donnells Gesicht bildete sich eine Mischung aus Schock und Unschlüssigkeit ab. Der Raum, den er zuvor noch als heimisch und wärmend empfunden hatte, versprühte plötzlich eine Kälte, die ihm gänzlich fremd war. Mina scherzte nicht, das hatte er sofort begriffen, dafür war ihr Lächeln einfach zu ehrlich. Und diese Ehrlichkeit war es, die sich wie ein Dolch durch sein Herz bohrte und es ihm unmöglich machte, etwas zu entgegnen. Nur eine Antwort wollte sie hören, aber er wusste nicht, ob er bereit war, sie ihr an dieser Stelle zu geben. Er hatte schon immer Probleme mit Frauen - oder in Kindheitstagen Mädchen - gehabt, allerdings unterschied sich diese Art von Problemen um Längen von der, die es dieses Mal zu bewältigen galt. Der Widerwille, eine freundliche, junge und sympathische Frau zu enttäuschen gegen die Panikattacken, wenn er Sichtkontakt mit dem anderen Geschlecht hatte. Es musste sich nicht die Frage stellen, welches „Problem“ er da vorzog. Trotzdem war es nicht leicht, mit dieser Situation umzugehen. Erst recht nicht, wenn man noch nie zwei Worte mit einer Frau gewechselt hatte, ohne dabei in seinem eigenen Schweiß zu baden. „Ich sagte, wenn ich bereit bin, oder? Und gerade bin ich ganz sicher nicht dazu bereit!“, erklärte er sich wenig begeistert über ihren Vorschlag. „Dann geben wir dir gerne noch etwas Zeit! Sag, wie viele Stunden du brauchst. Wir wollen sowieso nicht gleich wieder, kaum dass wir gekommen sind, aufbrechen. Nicht wahr, Aaron?“ Der Angesprochene macht eine Miene, als hätte man ihm einen Eimer mit kaltem Wasser über den Kopf geschüttet. Die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Ähm… Ich wollte mich schon noch etwas im Dorf umsehen…“ Es beruhigte Donnell, dass er nicht der Einzige war, der mit dieser Situation überfordert war. „Na also!“, rief Mina abschließend. „Dann schauen wir uns ein wenig im Dorf um und du überlegst währenddessen, ob du mitkommen möchtest.“ Sie ließ im zwar nach außen hin eine Wahl, aber insgeheim würde sie nur eine Antwort von ihm akzeptieren. Halbherzig wollte er diesen Vorschlag deshalb nicht angehen. Wenn er vielleicht wirklich gründlich darüber nachdachte, konnte er ihr eventuell eine Begründung geben, die sie verstand. Doch in seiner Bibliothek, umringt von seinen geliebten Büchern, zu bleiben, war keine faire Ausgangssituation. Solange er sie im Blick hatte, gab es gar keine Wahl für ihn. Als Sammler seine Sammlung allein zu lassen, war ausgeschlossen. Aber er wollte wenigstens Minas Bemühungen respektieren. Deshalb hatte er einen Entschluss gefasst: „Wenn ihr schon in meinem Heimatort unterwegs seid, dann ist es das Mindeste, dass ich euch herumführe!“ „Wirklich? Das wäre gleich noch besser!“, freute sich Mina, das zu hören. Auch Aaron hatte sich mittlerweile mit der Idee abgefunden, Donnell in ihrer Gruppe aufzunehmen, und sah darin eine gute Gelegenheit, ihn umzustimmen. „Während des Rundgangs können wir ihm noch mehr Argumente liefern, mit uns zu kommen.“, sprach er laut zu sich selbst, sehr wohl beabsichtigt, dass Donnell ihn hören konnte. „Ein Koch wäre schon verdammt nützlich!“ Ob er sich darüber freuen sollte, dass seine Fähigkeiten geschätzt wurden, oder traurig, dass er nur auf sie reduziert wurde, wusste Donnell selbst nicht so recht. Zuerst einmal wollte er sich einen besseren Eindruck von den beiden verschaffen, die eventuell bald seine Reisekameraden sein würden.   Fische, Obst und Gemüse, Textilien, Werkzeuge. Wieder hatte es sie auf den Markt verschlagen. Einer der Orte mit denen Donnell sehr vertraut war und zugleich abgrundtief hasste. Hier gab es die Zutaten, die er für seine Gerichte brauchte, aber gleichzeitig war es auch der Ort, der die meisten Leute aufwies. Darunter befanden sich natürlich auch viele Frauen. Minas Blick fiel genau in dem Moment auf Donnell, als er einen tiefen Seufzer ausstieß. Besorgt wandte sie sich ihrem neugewonnenen Freund zu und erkundigte sich über sein Befinden: „Geht es dir nicht gut? Seit wir hier sind, hast du nichts mehr gesagt.“ Augenblicklich machte er einen Schritt nach hinten durch die Überraschung, plötzlich von Mina angesprochen worden zu sein. „Mir geht es prima! Wirklich!“, sagte er das Erstbeste, was ihm auf die Schnelle einfiel, um die Aufmerksamkeit von sich zu lenken. Währenddessen bewegte sich sein Fuß nach hinten und machte Bekanntschaft mit einem hochhackigen Schuh. „Passen Sie gefälligst auf!“, hörte er die unverkennbar weibliche Stimme in sein Ohr rufen. Eine Achterbahnfahrt begann in Donnells Kopf, die zum Höllentrip wurde. Er hatte eine Frau berührt und wurde zusätzlich noch von ihr getadelt. Das war das erste Mal seit zehn Jahren gewesen, dass er einer Frau so nahe gekommen war, abgesehen von Mina. „E-es t-tut m-mi...“, stotterte er kaum hörbar. Er versuchte sich zusammenzureißen und ruhig stehen zu bleiben. Weiter zu reden war ausgeschlossen. Was er jetzt wollte, war unter allen Umständen zu vermeiden, seine Angst nach außen zu tragen. Solange er wenigstens das konnte, galt es schon als Erfolg. Wie es in ihm aussah, spielte keine Rolle, denn dort hatte die Panik ohnehin schon die Kontrolle über ihn erlangt. Nur leider hatte er dieses Mal Begleitung an seiner Seite, die sein Bewusstsein in die Realität holte und gleichermaßen auch die Panik. An Donnells Schultern rüttelnd, sprach Aaron zu ihm: „Hey, Nell! Du bist kreidebleich! Sag doch was!“ Da er keine Antwort gab, war Mina an der Reihe, ihn zum Reden zu überzeugen. Sie stellte sich neben ihn und ergriff seine Hand, die sie behutsam streichelte. „Alles wird gut! Wir sind bei dir, Nell!“, hoffte sie, ihn mit diesen Worten beruhigen zu können. „Nein...“, brachte er leise hervor. „Hör auf damit...“ Für eine Sekunde unterbrach sie ihre Handbewegungen. „Was meinst du?“ Doch ehe sie eine Antwort bekam, entzog ihr Donnell die zitternde Hand wieder und brüllte ihr regelrecht ins Gesicht: „Lasst mich einfach in Ruhe!“ Er rannte so schnell er konnte, um endlich der Menschenmasse entkommen zu können. Es war egal, wohin er rannte, Hauptsache er blieb nicht an diesem Ort, wo er das Getuschel der Frauen noch länger ertragen musste. Erst als sich sein Atmen zum Keuchen wandelte, ließ sein Tempo nach, bis er schließlich zum Stehen kam. Er spürte wie sein Puls raste und der Schweiß an ihm herunterrann. Eine angenehme Kühle erfüllte seinen Körper. Die Erschöpfung machte es ihm schwer, Energie in jeglicher Form zu verbrauchen, sei es weiterzulaufen, zu sprechen oder gar in Panik zu verfallen. Sein Körper verlangte nur noch nach Erholung. Wie sich herausstellte, war er bis zum nördlichen Dorfende gerannt. Dort gab es kaum noch Gebäude, geschweige denn Häuser. Eine alte Scheune und ein Abstellschuppen, dazu noch eine Reihe an Bäumen und eine Wiese neben einem kleinen Feld, indem Kohl angebaut wurde, und das Bild des ländlichen Dorfes war perfekt. Diverse landwirtschaftliche Geräte rundeten den Eindruck ab. Beim Blick auf den vom Rost zerfressenen Rechen fragte sich Donnell, ob er die nächste Laubsaison wohl überleben würde. So langweilig dieser Ort auf andere wirken musste, liebte Donnell diese idyllische Stille. Hier war er in Sicherheit und wurde von niemandem gestört. Unter einem der Bäume suchte er Schutz vor den aggressiven Mittags-Sonnenstrahlen und lehnte sich gegen den breiten Stamm, den er perfekt für ein kleines Mittagsschläfchen empfand. Er schloss die Augen und nach wenigen Minuten döste er bereits vor sich hin. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)