Herbstmädchen von _Supernaturalist_ ================================================================================ Prolog: Erinnerung ------------------ Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern:   Die Schneeflocken fielen vom Himmel. Sie waren ganz zart und schmolzen bei der ersten Berührung. Sie schmeckten nach nicht viel, nur nach Wasser und dennoch machten wir Kinder uns einen großen Spaß daraus, sie mit unseren Zungen zu fangen. Ich erinnere mich daran, wie sie um uns herum tanzten, immer mehr werdend, auf ihrer kurzweiligen Wanderschaft gen Erdengrund. Noch immer kann ich die grauen, schweren Wolken über uns sehen, drohend und ihr Unheil verbergend.   Ich erinnere mich an die Kälte, die mit ihnen kam, die einen jeden nach Decken und Mänteln suchen ließ, tief verstaut in alten Schränken und Truhen. Und ich erinnere mich an den Frost, welcher folgte, die Blumen gefrierend und die Blätter zerfressend. All das Obst und Gemüse in den Gärten tötend. Zitternd denke ich noch heute an meinen Atem, sich wie kleine Herbstnebel vor mir bildend, mit jedem Atemzug, den ich nahm.   Ich erinnere mich an die Freude und Faszination, die wir als Kinder damals spürten, wie wir in unserem ersten Schnee tanzten und tollten, nicht wissend, welche Gefahr er mit sich brachte.   Und ich erinnere mich daran, wie meine Mutter und Vater schon alles für einen abrupten Aufbruch zusammengesucht hatten, es in Säcke und Kisten gepackt, genauso, wie auch all die anderen Menschen in unserem alten Dorf. Ich erinnere mich daran, wie sie einfach keine Zeit hatten, sich mit uns an dieser Pracht zu erfreuen – schließlich ahnten sie, was uns zu blühen drohte.   Schon mit dem Fall der ersten Schneeflocke, hatten sie alle gewusst, was zu tun war – nun bereit die lang gesparte Naivität der Kinder zu zerstören, wissend, dass sie – dass wir – vor all den Gefahren da draußen nicht länger geschützt werden konnten. Zu lange, so mein Vater, hatte es schließlich schon keinen Angriff mehr gegeben. Zu lange schon war die eisige Grenze zum Land des Winters nicht näher gerückt und hatte uns, das Volk des Herbstes bedroht. Zu lange schon wollte diese eisige Königin, eine Frau, die wohl noch nie eine Seele lebend zu Gesicht bekommen hatte, kein Opfer mehr nehmen. So war es wohl lange vor meiner Geburt gewesen, dass sie das letzte Mal ihre Schergen schickte, um ihr Land zu vergrößern und nur noch mehr Macht an sich zu reißen.   Doch dieses Mal hätte kein Wort meiner Mutter die drohende Gefahr schön reden können – der Krieg hatte schließlich unser Dorf erreicht, bereit es zu zerstören.   Ohne Worte hatten sie mich und meine kleinere Schwester gepackt, während auch unsere Freunde ihren Familien folgen mussten und hatten uns auf den alten, wackligen Wagen gesetzt, welcher dann schleunigst von unserem Esel gezogen wurde.   Natürlich hatten wir protestiert, wollten zurück zu der Pracht des Schnees und weiterspielen und tanzen, verstanden wir ja damals noch nicht, dass wir sonst dem Tod geweiht waren. So blickten wir noch lange nach, so lange, dass wir sehen konnten, wie eine Schar von Winterkriegern in unser Dorf – in unserem Zuhause – einfielen und alles zerstörten, was ihnen vor die Klinge kam. Häuser und Möbel schlugen sie in tausend Stücke. Das Vieh, das zurückgelassen wurde, metzelten sei nieder. Natürlich hatten meine Schwester und ich schon oft gesehen, wie ein Huhn oder Schwein geschlachtet wurde, doch nie haben wir wahrgenommen, wie Menschen mit solch einer Brutalität vorgingen. Nie haben wir erlebt, dass Menschen so grausam sein konnten und es änderte unser Leben: Während meine Schwester nur noch mehr zur Güte in Person heranwuchs, erkannte ich, dass nicht alle Menschen einfach gut waren und schätzte nur die, die ich kannte.   Ja, mein erster Wintereinbruch prägte mich, mehr, als ich wahrscheinlich heute zugeben würde. Und - ja, ich erinnere mich noch genau an diesen Tag. Erinnere mich daran, dass die Gefahr des Winters näher war, als ich wohl je geahnt hätte und ertappe mich nun dabei, dass ich jeden Morgen betend zum Himmel blicke, fürchtend, dass einmal wieder diese verhassten Flocken hinabfielen und wieder nahende Gefahr ankündigten.   Seitdem weiß ich – und es sind nun fast zehn Jahre seitdem vergangen - dass ich mich nie der Kälte ergeben würde und für immer ein Herbstmädchen bliebe, auch wenn mein Leben davon abhängen würde. Kapitel 1: Beutezüge -------------------- Es musste kurz nach Mitternacht sein. Die weiße Mondsichel stand hoch am Himmel und zauberte mit der Hilfe der Wolken gar verwunschenes Licht, ließ unseren Atem strahlend hell strahlen, während wir uns durch die Büsche stahlen, auf der Suche nach begehrten Gütern. Nein, es war absolut verboten, was wir da taten – doch sonst wären wir und unsere Familien wohl schon alle vor Hunger verkommen. Ein wenig mussten wir ja unseren Eltern unter die Arme greifen, wenn wir alle überleben wollten. Und bisher war ja alles gut gelaufen und nie hatte man uns entdeckt. Naja…zumindest hatte man uns nie gefangen nehmen können. „Psst! Sei leise und pass‘ auf, wo du hinläufst!“, hörte ich es zu meiner Linken flüstern, als zu meiner Rechten jemand einen Zweig unter seinen Füßen zertreten hatte. Das laute Knacken hallte noch lange in der dichten Dunkelheit und hätte uns alle verraten können. „Ja, Entschuldigung!“, brummte die Stimme. „War ja nicht meine Absicht…“ „Jetzt seid doch mal leise! Oder man findet uns doch noch!“, ertönte es nun noch hinter mir. Ich weiß nicht, warum meine Freunde an diesem Abend so aufgeregt waren. Normalerweise konnten wir uns in anderen Nächten einfach an unsere Beute heranschleichen, nehmen, was wir für wertvoll erachteten und dann wieder verschwunden, ohne das uns je jemand bemerken würde. In dieser Nacht bezweifelte ich ein wenig, ob wir dieses Konzept einhalten könnten. „Man, jetzt beruhigt euch doch alle mal! Ich kann uns schon hinter Gittern sehen…oder…Schlimmeres… Wie kann es sein, dass die einzige, die immer konzentriert bei der Sache ist, Berryn ist? Von ihr habe ich noch keinen einzigen Mucks gehört!“ Ich verdrehte meine Augen, als ich diese Worte von der vierten Stimme hörte, bevor ich unter einem tiefhängenden Ast durchkroch. Ich entschied mich dabei, nicht zu kommentieren. „Vielleicht sollten wir einfach alle wieder die Klappe halten!“, beschwichtigte nun die erste Stimme wieder. „Wir müssten ja bald da sein… Und ich habe keine Lust, dass uns Soldaten finden. Oder dass Winterkrieger aus dem Hinterhalt gesprungen kommen und uns angreifen. Ja dann wäre mein Tag gelaufen…“ „Ja, weil wir dann alle wahrscheinlich tot wären, liebe Schwester…“, erklang die zweite Stimme wieder, während wir uns nun alle am Rande der Lichtung sammelten und zwischen Ästen und trockenen Blättern spähten, endlich unser Ziel vor den Augen. Und mit einem Mal waren sie alle ganz still, sodass man nicht einmal den Atem meiner Vier Freunde hören konnte. Mein Freund Hinn hatte davon gehört, kurz bevor er das Wirtshaus, in welchem er arbeitete, verlassen hatte. Er hatte gehört, wie es im südlichen Wald wohl einen Hinterhalt von Winterkriegern auf eine Handelskutsche gegeben hatte und es wohl keine Überlebenden gab. Außer dem dicken, alten Händler, der panisch in unser Dorf fliehen konnte und von dieser grausamen Tat berichtete. Schleunigst kam Hinn dann zu uns gelaufen, erzählte uns davon und wir wussten, was wir zu später Stunde zu tun hatten: Aufsuchen der Kutsche, finden, was wertvoll war und sich leicht zu Geld machen ließ und wieder verschwinden, bevor uns irgendwer bemerken würde. Es war schließlich auch nicht schwer, wieder unbemerkt ins Dorf zurückzukehren, da alle tief und fest schliefen. Außerdem waren meine Mutter und mein Vater gerade verreist, um selbst einige Einkäufe zu tätigen. Nicht dass sie es sonst bemerkten, wenn meine Schwester und ich uns davon schlichen. Auch heute erhofften wir uns große Beute, da die Soldaten des Herbstreiches erst am frühen Morgen kommen würden, um die Unordnung zu beseitigen. Natürlich gab es da immer noch Gefahr, dass schon einige von ihnen losgesandt wurden, um sich nach weiteren Angriffen zu erkundigen. Oder dass alles ein Hinterhalt der Winterkrieger war, in welchen wir geradezu liefen. Doch solche Zufälle geschahen nur selten – einmal erwischten uns die Herbstsoldaten fast, und dreimal wurden wir beinahe von den Feinden getötet. Dadurch, dass wir unsere Beutezüge schon seit sechs Jahren machen, mindestens einmal im Monat, kann man also von einer recht geringen Quote reden. Für einige Sekunden überflog ich das Bild im Mondschein vor mir: Die Kutsche lag auf ihrer Seite, eines der Räder lag sogar nicht weit von uns, um Rande des Waldes. Das Pferd lag daneben, schien nicht mehr fähig gewesen zu sein, um fliehen zu können, da sich mehrere Pfeile in seine Seite gebohrt hatten, die Schafte gen Himmel reckend, während die Federn an deren Ende sanft im matten Licht glänzten. Weiterhin konnte ich fünf leblose Körper ausmachen, verteilt auf der gesamten Lichtung. Vorsichtig, um ja kein Geräusch im trockenen Herbstlaub unter meinen Füßen zu machen, bückte ich mich und tastete sorgsam über den kalten Waldboden, bis ich einen etwa faustgroßen Stein fand und ihn aufhob. Ich warf ihn. Er prallte vor der Kutsche auf, kullerte dann noch ein wenig weiter. Wir aber warteten für einige Zeit. Hinn warf dann noch einen Stein, nur um wirklich sicher zu gehen, dass wir allein waren. Und das waren wir auch, denn wieder regte sich niemand und so betraten wir die Lichtung. „Ihr wisst Bescheid!“, murmelte ich, meine Stimme noch immer leiser haltend, als normal, einfach um wirklich auf der sicheren Seite zu sein. Sie nickten alle, öffneten ihre Taschen und Säckchen, die sie mitgebracht hatten und begannen alles zu durchsuchen, um kleine Schätze und andere wertvolle Güter zu finden. Ich aber schlich noch einmal um die Kutsche herum, um sicherzugehen, dass sie alle wirklich tot waren und nicht nur mit uns spielten. Den ersten, den ich von Bauch auf Rücken drehte, war ein Soldat das Herbstlandes, was in mir ein wenig die Hoffnung keimen ließ – schließlich hieße das, dass der Händler reich genug war, um sich Geleitschutz leisten zu können. Ich durchsuchte schleunigst seine Taschen, was ein wenig Ernüchterung schaffte – denn bis auf zwei dürftiger Kupfermünzen waren diese komplett leer. Und ich wusste genau, dass der Soldat sie nur mit sich führte, um im Fall seines Todes sich ein eigenes Grab leisten zu können. Daher seufzte ich leise, steckte die Münzen zurück und zog weiter zum nächsten Soldat. Natürlich – wir sind Diebe, aber wir stehlen nur, was wir auch wirklich brauchten. Wir hatten auch unsere Moral und einen Toten seinen letzten Wunsch rauben, richtig beerdigt zu werden, war nun wirklich nicht unser Anliegen. Bei den zwei Winterkriegern, welche wohl ihren Wunden erlegen sein mussten, konnte ich gerademal je einen Orden finden, welche der Schmied einschmelzen könnte, sowie einige, rostige Waffen. So war es ja kein Wunder, dass sie zu Grunde gerichtet wurden, wenn sie selbst sich nicht einmal richtig verteidigen konnten. „He – Berryn! Ich habe hier drei Porzellanteller – alle nur mit leichten Rissen oder Absplitterungen. Meinst du, dass man die noch gebrauchen kann?“, hörte ich plötzlich die Stimme meiner kleinen Schwester Marlyn, welche in die Kutsche hineingeklettert war. Ich konnte sie, als ich von dem zweiten Herbstsoldaten aufblickte, geradeso ausmachen, wie sie durch das Fenster, nun gen Himmel gerichtet, sah. „Nein, nein. Beschränke dich nur auf Waren, die keine Mängel aufweisen. Nur die können wir noch verkaufen. Außerdem passen die wohl kaum in deine Tasche, oder?“ „Oh…du hast Recht…“, murmelte sie, verschwand dann wieder im Inneren des Gefährts. „Naja…“, hörte ich dann nicht weit von mir eine weitere, männliche Stimme und sah noch einmal, ein wenig genervt, auf, um Hinn und Marquu ins Auge zu fassen, wie sie eine Kiste durchwühlten. „So wirklich viel Wertvolles hat der gute Herr Händler nicht… Nur Besteck, Geschirr, ein paar Körbe…“ „Ist das Besteck aus Silber?“, erklang nun noch die Stimme von Frinna, Schwester von Hinn, nun wieder etwas hoffnungsvoll, als sie sich irgendwas Glänzendes in die Tasche steckte. Sie eilte auch gleich zu ihrem Bruder und spähte mit den beiden jungen Männern in die Kiste. Doch ein Geräusch der Ernüchterung von ihren Lippen ließ sie wieder zur Realität zurückkehren. „Toll…nur Holz…“, murmelte sie, ging dann gleich weiter zu einem Sack, um weiter zu plündern. „Holzbesteck ist aber nicht so schlecht! So etwas verkauft sich an manchen Tagen so gut, wie geschnitten Brot“, erinnerte meine Schwester uns, auch wenn sie noch immer in der Kutsche war. „Meinst du…?“, brummte Marquu, der ja durch das kleine Lädchen seiner Mutter für den Aspekt des Verkaufens zuständig war. Auch wenn dies nur unter der Ladentheke geschah, so verdiente er somit als angesehener Schwarzhändler zusätzlich ein paar Münzen dazu. „Also mich hat schon seit einiger Zeit niemand mehr danach gefragt. Aber wahrscheinlich sollte ich eine Handvoll vom guten Holzbesteck mitnehmen, falls meine Kunden danach verlangen.“ „Denke du dann aber daran, dass du uns dafür auch einen Anteil gibst“, sagte ich noch, als ich zum letzten Soldaten ging, der ein wenig abgeschlagen am anderen Ende der Lichtung lag. Wahrscheinlich hatte er sein jähes Ende gefunden, als er fliehen wollte. „Für dich lege ich natürlich auch noch etwas oben drauf…“, säuselte Marquu und lehnte sich mit den Ellenbogen auf den Rand der Kiste, das Kinn auf den Händen ruhend, um besser und auf seine übliche, verliebte Art und Weise, zu mir sehen zu können. „…und wenn wir gleich dabei sind, sollten wir auch mal über unsere Hochzeit reden…“ „Fängst du schon wieder damit an?“, fragte Frinna, genauso genervt klingend, wie ich mich fühlte. „Mensch, sie ist noch keine 20 Jahre alt! Das dauert noch drei Monate! Und wenn du jeden Tag, bis zu ihren Geburtstag diese elendige Frage stellst, so werde ich persönlich deinen Mund zunähen – und ich schwöre dir – den bekommst du dann nicht mehr auf!“ Ich empfand das als eine gute Drohung – schließlich war meine Freundin eine gute Schneiderin – wenn auch noch in der Lehre. Aber ihre Nähte waren wahrlich reißfest. Und selbst ihr Meister war von ihrem Können mehr als erstaunt. „Genau, Mann! Außerdem solltest du den Kram mit mir weiter sortieren! Vielleicht gibt es noch etwas Brauchbares. Wenn du so weiter machst, dann wird Berryn außerdem ganz gewiss Nein sagen, wenn es soweit ist. Und dann brauchst du dich nicht bei mir ausheulen!“ „Ach! Ihr seid doch alle nur neidisch. Die Liebe von mir und meiner Berryn ist wirklich etwas Außergewöhnliches. Ihr müsst doch alle noch jemanden finden, der euer Herz so berührt, wie sie meines!“ Ja, diese Liebe war sogar so außergewöhnlich, dass ich nicht einmal wusste, was ich selbst davon halten sollte. Oder von Marquus ewigen Versuchen, mich um den Finger zu wickeln… Natürlich fühlte ich mich auf der einen Seite äußerst geschmeichelt und geehrt, wissend, dass ich jemanden hätte, der mir Sicherheit, Geborgenheit und Liebe schenken würde, sobald ich schon das Heiratsfähige Alter erreichte. Und Marquu war nun auch kein schlechter Fang – er war gut aussehend, mit seinen dunklen, braunen Haaren, einer bronzefarbenen Haut und den olivgrünen Augen, war er ein wahrer Frauenschwarm im Dorf. Zudem hatte er einen kräftigen Körperbau, der wahrlich eine Art des ‚schützenden Heldens‘ ausstrahlte. Wahrscheinlich war er durch das Schleppen der schweren Kisten und Säcke in seinem kleinen Laden so stark geworden, denn als Kind war eher schmächtig gewesen. Außerdem war er relativ klug, verstand zwar manchmal nicht, wenn man sarkastisch wurde, doch hatte er sich Lesen und Schreiben selbst beigebracht. Und es konnten wirklich nicht viele Menschen bei uns im Dorf lesen. Allerdings wusste ich nicht, ob ich eine Ehe mir in solch einem frühen Alter vorstellen konnte…Eine Ehe mit ihm… Daher beugte ich mich, ohne noch etwas zu sagen, über den letzten Soldaten, einen Winterkrieger, der, wie schon der erste Herbstsoldat, auf dem Bauch lag, während eine kleine Blutlache sich an seiner linken Seite gebildet hatte. ‚Geschieht ihm recht‘, dachte ich nur, während ich ihn auf den Rücken drehte. Doch kaum hatte sein Rücken den Erdboden berührt, schnellten seine Augen auf und eine Hand ergriff mein Handgelenk, noch bevor ich es ihm entreißen konnte. Schon wollte ich „Falle!“, rufen, um die anderen darauf aufmerksam zu machen, doch als ich Lockerheit des Griffes bemerkte und die Trübheit in seinen Augen sah, wusste ich, dass dies nur ein letztes Aufbäumen, bevor der Tod auch ihn ereilte, war. Er keuchte schwer und sein Brustkorb hob und senkte sich hektisch. Ich betrachtete ihn für einige Zeit in Stille, sein Griff eisig auf meiner Haut, während so etwas wie Mitleid versuchte mein Herz zu ergreifen. „He-He! Berryn! Alles in Ordnung!“, hörte ich plötzlich Frinnas Stimme hinter mir, als sie meine Situation wohl bemerkt haben musste. „Mist!“, rief nun auch Hinn, gefolgt von einem vulgäreren Ausdruck von Marquu. Meine drei Freunde kamen gleich zu mir gelaufen, während meine Schwester schnell nachkam, die sogar aus der Kutsche hinausgeklettert war. „Hände weg von ihr!“, knurrte Marquu, nahm meine Hand und entzog sie dem Krieger schleunigst. „Dreckiger Winterkrieger!“ „Marquu…“, versuchte Marlyn ihn zu beschwichtigen, die von uns allen wohl das größte und freundlichste Herz besaß und scheinbar für alles und jeden Verständnis aufbringen konnte. Da war sie eigentlich das genaue Gegenteil von mir. „Wir sollten gehen…vielleicht ist das ja doch ein Hinterhalt“, gab nun Hinn zu bedenken, bereits schon aufgeregt hin und her laufend und bereit zu fliehen. „Der stirbt hier! Glaube kaum, dass die Winterkrieger einen Halb-Toden für ihre Fallen benutzen…“, flüsterte Frinna, welche nervös mit den Franzen ihres Umhangs zu spielen begann. „Lasst uns einfach gehen…“, murmelte ich, im verzweifelten Versuch sein Blut von meinem Handgelenk zu wischen. „Die Zeit wird schon ihr Übliches tun…Und wenn es nicht die Zeit ist, so werden gewiss die Soldaten unseren Landes sich darum kümmern…“ Wir sahen uns an, nickend und einstimmend, auch wenn meine kleine Schwester stark an der Entscheidung zweifelte und den jungen Mann am liebsten aufgepäppelt hätte, bis er wieder auf seinen eigenen Beinen stand. „N-nein…“, brachte der Krieger so plötzlich, aber kaum hörbar hervor, gerade als wir uns umdrehen wollten, um zu gehen. „B-bitte…Ihr könnt mich doch nicht…ihr könnt mich…nicht sterben lassen! B-bitte…“ „Oh, hört den edlen Winterkrieger flehen!“, sprach Marquu verachtend und ballte seine Fäuste. „Der ist unsere Zeit doch gar nicht wert!“ „Lasst mich…lasst mich nicht…zurück! Bi…bitte… Ich muss nach Hause…nach Hause zurückkehren…“, seine Stimme war kaum mehr als ein Hauchen, röchelnd durch das Blut in seiner Kehle. Er streckte seine Hände zu uns aus, doch war er so schwach, dass sie gleich wieder auf den Boden fiel. „Nach Hause?! Damit du deinen Freunden sagen kannst, dass es hier ein Dorf in der Nähe gibt, oder wie? Du glaubst doch nicht wirklich, dass wir, das Herbstvolk, so schwach und dumm sind?“, sagte Frinna und verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust. Der Winterkrieger schüttelte seinen Kopf, so gut er konnte und stöhnte dann vor Schmerzen. Dann richtete er seine Augen auf Marlyn, welche bereits Tränen in den Augen hatte und einmal schluchzte. Wohl hatte er ihre Gutherzigkeit bemerkt. „Meine… kleine Schwester… sie hat noch mich… und wenn ich… wenn ich nicht… zurückkehre… Dann hat sie niemanden mehr…der…d-der sich um sie kümmert. Bitte… helft… helft mir…“ Mit diesen Worten schlossen sich seine Augen, doch seine Brust hob und senkte sich noch weiter. „Berryn…“, flehte nun meine eigene, kleine Schwester und drehte sich zu mir. „Wir können ihn nicht einfach hier lassen…“ „K-können wir auch nicht“, stimmte Hinn stotternd zu. „Aber wir können ihn ja auch nicht einfach mit in unser Dorf nehmen, oder? Das fällt doch auf!“ „Ja, was sollen wir dann machen? Also ich bin dafür, dass der hier bleiben soll! Anders würden die auch nicht mit unseren Leuten umgehen! Das Pack ist doch alles gleich…“, entgegnete Marquu, woraufhin Frinna zustimmend nickte. „Berryn, lass ihn doch zu uns nehmen…“ Entgeistert blickte ich zu Marlyn, welche allerdings ganz ernst blieb. „Zumindest so lange, bis unsere Eltern wiederkehren. Es wird also keiner mitkriegen…“ „Marlyn, das ist absolut verrückt“, flüsterte ich, woraufhin sie aber breit zu grinsen begann. „Du weißt doch - ich stehe auf verrückte Sachen!“ Kapitel 2: Der Feind im Haus ---------------------------- Wäre Marlyn nicht gewesen, so hätten wir uns wahrscheinlich einheitlich dafür entschieden, den Winterkrieger an Ort und Stelle zu lassen. Was auch immer dann geschehen wäre, sei dann nicht unsere Schuld. Außerdem wäre das wohl für alle am besten gewesen – schließlich hätten wir dann nicht den Feind direkt in unser Haus geholt und er selbst wäre seinen Verletzungen einfach erlegen und wäre gestorben. Doch – nein – nun mussten wir uns um ihn kümmern.   Es war nicht schwer gewesen, ihn zu uns nach Hause zu bringen: Der Mond hatte sich hinter einigen Wolken versteckt und verbarg die Welt unter sich nun in schwärzester Nacht. Nicht einmal die Sterne hätten etwas daran ändern können. Doch immerhin kannten wir den Weg nach Hause bestens, sodass wir uns nicht noch zusätzliche Sorgen machen mussten, dass wir uns verirrten.   Zudem hatten wir Glück, dass wir zwei starke Männer hatten, die den Mann tragen konnten, mit den Armen um seinen Körper gelegt und ihn fest haltend, auch wenn sein Körper schlaff und entkräftet war, schließlich war der Krieger ohne jeglicher Bewusstsein.   Hinn schien sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben und führte den Krieger ohne Wiederworte. Genauso wie meine Schwester war er schließlich eine gute Seele – nur selten hinterfragend, wenn es um etwas ging. Wahrscheinlich war der Grund hierfür auch, dass er ein sehr ruhiger Zeitgenosse war und nicht gern gestört und genervt werden wollte. Zwar sah man es dem Rothaarigen nicht an, da er sehr groß und schlaksig war, wodurch man so schnell annehmen konnte, dass er seine freie Zeit gern unter freien Himmel verbrachte, aber er genoss es lieber, sich in sein Bett zu verkriechen, um dort ein gutes Buch zu lesen. Daher war er auch relativ blass, was seine Sommersprossen nur noch mehr zur Geltung brachte. Selbst die, die er schon zehnmal gelesen hatte – und davon gab es einige, da wir alle nicht besonders reich waren und unsere Familien sich daher kaum Bücher leisten konnten. Ja, wahrscheinlich fluchte der arme Hinn gerade innerlich, sich wünschend, er wäre lieber im Bett geblieben und hätte zum elften Mal eines seiner Bücher gelesen… Marquu hingegen war da mit seinen Gefühlen wesentlich offener: Er fluchte, schimpfte auf den Winterkrieger und sein ganzes Volk und wünschte sich, nie mitgekommen zu sein. Zwischen seinen fürchterlichen Schimpftiraden kommentierte er immer wieder, dass er das ja nur machen würde, damit es ich mich gut fühle, da es ja der Wunsch meiner Schwester war, dass wir uns um ihn kümmern würden. Es war wieder einmal einer seiner unzähligen Versuche, mir mehr zu gefallen. Frinna, die gemeinsam mit mir ein wenig hinter den anderen lief, gab ab und an zu bedenken, dass dies wohl kaum unsere cleverste Idee war: „Wenn uns nur jemand erwischt…“, versuchte sie mich zu beschwichtigen „…, ich wette, dass man uns hängen wird…Das ist doch bestimmt so etwas, wie Hochverrat, denkst du nicht?“   „Ich weiß…“, flüstere ich zurück „Doch meinst du, dass wir ihn dort hätten liegen lassen sollen? Gewiss wäre das ein qualvoller Tod gewesen…“ Ich hörte sie ab und an seufzen.   „Ja…du hast ja Recht… Allerdings glaube ich kaum, dass das jetzt besser ist… Aber ich muss auch sagen, dass ich deiner Schwester Recht geben muss – was ist, wenn er noch Familie hat, um die er sich kümmern muss? Wenn diese sterben sollte, falls er nicht zurückkehrt… Ist das dann auch unsere Schuld? Das ist wirklich eine verzwickte Situation!“   „Na…, du kommst auch so recht mit deinen Gedanken nicht klar, stimmt‘s?“, fragte ich lächelnd, wissend, dass auch ich mir nicht einig war, denn – es stimmte – wenn das Leben anderer davon abhing, wären wir doch selbst Mörder geworden, falls er dort liegengeblieben wäre, verreckend. Und, auch wenn ich ihn persönlich den Soldaten übergeben wollte - das hätte ich dann wahrscheinlich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren können. Oder mit meiner Schwester, die in solchen Situationen oft als solches diente.   Schließlich war sie die Bessere von uns beiden.   Ich sah meine Freundin nicken, was mich wieder aus meinen Gedanken holte. „Keine Sorge Frinna, wir behalten ihn auch nur so lange bei uns, bis unsere Eltern wiederkommen. Keiner bekommt etwas mit – und keiner wird wissen, dass ihr drei da mit drin steckt.“ „Berryn, du musst aber bedenken, dass wir fünf so gute Freunde sind, dass uns eh jeder unter einen Hut stecken würde, glaubst du nicht? Also kommen wir jetzt nicht mehr aus dieser Situation heraus, ohne dass wir uns genauso die Finger verbrennen…oder man uns beim lebendigen Leib im Kerker schmoren lässt…In einem Topf mit siedendem Wasser.“ Ich musste ein wenig lachen, als ich das hörte, schließlich liebte ich Frinnas düstere, pessimistische Art, die einen wirklich aufheitern konnte. Und ich war dankbar dafür, dass sie es – bewusst oder nicht – auch immer mit ihrer eigenen Einstellung schaffte.     Es dauerte dann auch nicht mehr lange, bis wir unser Dorf erreichten, welches friedlich in einem Tal zwischen zwei waldigen Bergen lag und tief zu schlafen schien. Nein, nicht einmal die Wachhunde taten ihren Dienst und schliefen so tief, wie ein jeder hier.   Dennoch stahlen wir uns durch die Schatten der Häuser und Hütten, bis wir bei dem meiner Eltern ankamen. Marlyn fischte den Schlüssel aus der Tasche und schloss auf, während die beiden jungen Männer den Krieger hinein hievten. „Wohin soll er?“, fragte Hinn leise. „In mein Zimmer…“, antworte meine Schwester schnell, während sie die Türen aufmachte, um den beiden den Weg so zu erleichtern. „Moment – zu dir?“, fragte ich hastig und entgeistert, ließ sogar fast die Kerze und das Streichholz fallen, welche ich genommen hatte, um etwas Licht zu machen. „Wo willst du dann bitte schlafen?“   Während Hinn und Marquu den Mann bereits in das besagte Zimmer gebracht hatten, sah Marlyn mich ein wenig verlegen an, strich sich sogar, wie so oft in diesen Situationen, eine Strähne ihres rötlich braunen Haares hinter die Ohren, zum Boden blickend. „Naja, ich dachte mir, dass er wohl kaum bei dir schlafen kann, genauso wenig bei unseren Eltern. Und in der Küche kann er ja auch kaum nächtigen… Also wird er erstmal in meinem Zimmer bleiben, während ich in Mutter und Vaters Bett schlafen… Er wird uns ja gewiss eh verlassen, bevor sie wiederkommen, nicht? So hast du das doch geplant, nehme ich an?“ Ich nickte stumm, während ich Frinna die Kerze überreichte, um ihr mit der Bewegung meines Kopfes anzudeuten, dass sie auch schon zum Krieger gehen sollte.   Als meine Freundin dann auch verschwunden war, seufzte ich und lehnte mich gegen den Küchentisch, meine Arme vor der Brust verschränkend. „Marlyn…“, begann ich, während ihre gelb-grünen Augen nun auf mich gerichtet waren, zumindest meinte ich es, in der Dunkelheit zu sehen. „…, du weist genau, wie gefährlich das ist, was wir hier machen…Das…weist du doch, nicht?“   Sie nickte vorsichtig.   „Und wenn das jemand mitkriegt – wenn sich einer von uns nur verplappert – dann weißt du doch sicher auch, was uns blühen wird?“ Wieder ein stummes Nicken.   „Ich meine…er ist ein Winterkrieger! Wer weiß denn schon, was er plant, sobald er wieder gesund ist und selbst auf den Beinen stehen kann! Die sind gefährlich! Die sind zu jeder Zeit bereit uns zu töten! Und er wird keine Ausnahme sein!“ „Dann…dann soll jeder von uns ihn einmal bewachen. Bewaffnet. Dann wird auch bestimmt nichts passieren…“   Ich sah Marlyn lange und eindringlich an.   Ja, auch wenn sie gerademal zwei Jahre jünger als ich war, schien es, dass sie noch immer nicht gelernt hatte, wie gefährlich die Welt da draußen war. Natürlich erinnerte sie sich genauso an den Angriff der Winterkrieger auf unser altes Dorf, doch das hatte sie ganz anders geprägt, als mich. Seither war sie schließlich der Meinung, dass es Gründe gab, warum unsere Feinde sich so benahmen, wie sie es taten, und es doch Möglichkeiten geben musste, wie man sie läutern könne. Sie war felsenfest der Meinung, dass diese Winterkrieger genauso Menschen waren wie wir, die genauso in einen Krieg gezwungen wurden.   Natürlich waren wir uns nur selten einig, wenn es um solche Diskussionen ging. Dennoch war die ganze Art und Marlyns ganzes Wesen wahrscheinlich der Grund, warum ich sie so sehr liebte und alles für sie tun würde – wie einen Winterkrieger in unser Haus aufnehmen, bis es diesem besser ging.   Ich seufzte und strich mir mit meinen Händen durch meine roten Locken, im Versuch meine Verzweiflung and Angst verschwinden zu lassen.   „Ach Marlyn, ich hoffe nur, dass du weißt, worauf du dich da eingelassen hast…“   Sie nickte, ein sanftes Lächeln überzog ihre Lippen. „Und wie ich das weiß… Aber meinst du denn nicht, dass wir so etwas bewegen können? Kaum auszumalen, was dieser eine Winterkrieger alles seinen Freunden und seiner Familie erzählt, wenn er wieder heimkehrt. Vielleicht gibt es dann wesentlich weniger Angriffe auf unser Volk, als zuvor!“   Ich drehte mich um, damit sie mein Grinsen nicht sehen konnte, nahm einen Krug, der auf dem Tisch stand und goss etwas Wasser in eine Schale, bevor ich im Dunkeln nach einem Lappen suchte, mit welchem wir die Wunden säubern konnten. „Glaube ich kaum. Böse bleibt nun mal böse…“, sagte ich, auch wenn ihre Weltanschauung mal wieder sehr niedlich fand. Dann drehte ich mich wieder um, ging zu ihr hinüber und drückte ihr die Schale in die Hand. „Aber da du dich ja so bereit erklärt hast, ihm zu helfen, kannst du dich ja jetzt auch um ihn kümmern, nicht?“   Sie nickte eifrig und ohne dass sie noch ein Wort verlor, drehte sie sich um und ging, mit der Wasserschale in den Händen, in ihr Zimmer. Ich blickte ihr einige Augenblicke nach, bevor mir etwas einfiel, was die ganze Situation eventuell etwas sicherer machen könnte.   Somit zündete ich noch eine zweite Kerze an und eilte ich schnell in das Zimmer meiner Eltern und durchsuchte dort eine Kommode, bis ich es fand: Ein paar alter, rostiger Handschellen. Sie gehörten meinem Vater, der sie nach seiner Zeit im Krieg mitgebracht hatte, als eine Art Andenken. Außerdem war er der Meinung, dass man ja nie wusste, ob man sie nicht noch einmal gebrauchen könnte. Und nun war solch eine Zeit und sie würden wirklich von Nutzen sein. Schleunigst verließ ich wieder das Zimmer meiner Eltern und ging in das von Marlyn, wo alle meine Freunde um ihr Bett, in welchem der Krieger lag, versammelten waren.   Im Kerzenschein konnte ich erkennen, dass seine Augen noch immer geschlossen waren, während meine Schwester vorsichtig an einer Schnittverletzung an seiner Stirn herumtupfte. Wahrscheinlich war sie zu schüchtern, um seine dicke Lederrüstung auszuziehen, um sich um die – wahrlich offensichtliche – Wunde an seiner Seite zu kümmern.   Ich zögerte für einen Moment, als ich das friedliche Gesicht des Kriegers wahrnahm, wundernd, was sich wohl für ein Monster hinter ihm verstecken würde.   Als Frinna mich aber fragte, was ich da in meiner Hand hielt, kam ich zurück aus meiner Traumwelt in die Realität und schritt and Marlyns Bett heran. Stumm sah sie mir zu, wie ich eine seiner Hände ergriff und eines der metallenen Bänder dort befestigt, während ich das zweite um einen dicken Bettpfosten zuschnappen ließ.   „Jetzt kann der bestimmt nicht mehr gefährlich werden“, sagte ich dazu, bevor mich jemand hätte fragen können.   „Wir schlau durchdacht, liebe Berryn!“, hörte ich Marquus Kompliment. „So wird er keine Chance haben, uns anzugreifen.“   „Und was machen wir jetzt mit ihm…?“, gab Hinn nun noch zu bedenken, die Augen stets auf den Krieger gerichtet. „Nun ja…“, antwortete meine Schwester „Wir päppeln ihn auf und der Rest wird sich dann sicher schon ergeben.“ „Klingt, als sei der ein verletztes Reh, was wir im Wald gefunden haben…“, murmelte Frinna belustigend, während sie sich auf einen Stuhl setzte, der an einem kleinen Tischchen in Marlyns Raum stand. Und wir alle mussten lachen, als wir das hörten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)