Seelenkrank von MarryDeLioncourt ================================================================================ Kapitel 70: Schwanengesang -------------------------- Ein grauer Tag im Frühling. Flo stieg aus dem Flieger und schlenderte zur Gepäckhalle. Die letzten Tage in Tokio hatten im bummerangmäßig wieder mit seiner Vergangenheit konfrontiert und voller Bitterkeit musste er sich eingestehen, dass er noch nicht bereit war eine neue Beziehung einzugehen. Tatsuro hatte es gut gemeint und wollte mit ihm Kamis Grab besuchen und da passierte es. Die Erinnerungen kamen wieder hoch. Erinnerungen, die er so lange verdrängt hatte, um den Schmerz zu unterdrücken. Ja der Schmerz, dieser unerträgliche Schmerz. Und schon schwirrte Kamis Bild wieder in seinem Kopf umher. Seine roten langen Haare, die sein wunderschönes Gesicht mit den rehbraunen Augen umrahmten. Seine Magenkrämpfe traten wieder häufiger auf und das Loch in seinem Herzen, diese unendliche Leere konnte einfach niemand füllen. Da kam auch schon der Koffer. Flo griff danach und schritt in die dunkle Nacht hinaus und hielt nach einem Taxi Ausschau. Als ihn dann endlich eines der gelben Autos wahrnahm, stieg er ein und gab die Adresse an. Der Rest der Fahrt wurde nur von einer wortkargen Unterhaltung gefüllt, denn Flo hatte einfach keine Lust zum Reden. Zu Hause schlich er in sein Zimmer und setzte sich auf das gemachte Bett. Flo hatte noch nie einen geliebten Menschen verloren und es trieb ihn in den Wahnsinn, denn er konnte noch immer nicht verkraften, dass Kami einfach nie wieder kommen würde. Nie wieder würde Kami seinen Namen aussprechen und ihm dabei so liebevoll anlächeln. Nie wieder würden ihn seine roten Haare wachkitzeln, wenn sie nebeneinander im Bett lagen. Nie wieder würde er dieses Gefühl spüren, wenn Kamis Lippen die seinen berührten oder dieses sonderbare Kribbeln, wenn er sich ihre Körper nahe kamen. Flo trieb es unweigerlich die Tränen in die Augen und er schluchzte. Wie sollte er jemals mit diesem Schmerz klarkommen? Schließlich ermahnte er sich dann ein bisschen zu schlafen.   Ich hatte nicht mitbekommen, dass Flo aus Tokio zurück war. Ich freute mich und machte uns Frühstück. Dennoch entging mir nicht, dass mein bester Freund etwas geknigt wirkte, aber darüber würde er sicher reden, wenn er bereit dazu war. Flo schlug vor übers Wochenende mit Basti und mir zum See fahren und ich fand diese Idee brillant, denn es war eine Ewigkeit her, dass wir nur was zu dritt unternommen hatten. Also packte ich meine Campingsachen, besorgte noch was zum Trinken, Grillzeug und stieg mit Flo ins Auto. Natürlich durfte seine Gitarre nicht fehlen. Dann holten wir unseren Dritten im Bunde ab und fuhren zum See. Da es bereits Mitte Mai war, konnten wir davon ausgehen, dass sich noch nicht all zu viele Leute an unserem See herumtrieben. Und so war es auch. Wir hatten freie Platzwahl und schlugen unser Zelt auf. Flo überredete uns schließlich an den Klippen oben zu grillen. Mir war dabei zwar etwas mulmig zumute, aber ich willigte ein. Mir wurde deshalb mulmig, weil die Klippe den einen oder anderen schon das Leben gekostet hatte. Es gab auch immer wieder ein paar durchgeknallte, die Mutproben veranstalteten- wer traut sich runter zu springen. Deshalb wurde diese Klippe für geraume Zeit abgesperrt und auch streng überwacht. Doch da seit zwei Jahren keiner mehr zu Tode gekommen war, hob man die Sperrung auf. Wir nahmen den einfachen Weg nach oben, über einen Grashang. Der Blick von oben war überwältigend und wir ließen uns gemütlich an der Feuerstelle nieder. Flo schnappte sich sogleich den eisgekühlten Wodka und füllte drei Becher. „Das war echt eine gute Idee…“, meinte Basti und wir stießen an. Nach einer halben Stunde grillten wir unseren Käse und die Kartoffeln. Da hatten wir schon ganz schön was intus und Flo spielte auf seiner Klampfe. Ich ließ mich ins feuchte Gras sinken und grinste. Besser hätte mein Leben gerade wirklich nicht sein können. „Basti…ich fänds cool, wenn du ein einziges Mal mit Lukas und mir kiffst.“ Basti zog die Stirn in Falten und warf Flo einen fragenden Blick zu. „Warum sollte ich das tun. Ich hab noch nie gekifft Flo und das wird auch so bleiben.“ „Probier es doch nur ein Mal…für mich“, bettelte unser Freund. Basti seufzte und zuckte dann lässig mit den Schultern. „Ach was soll‘s…aber nur dieses eine Mal. Aber haltet mich bitte davon ab, wenn ich vor lauter Euphorie von der Klippe springen will“, scherzte er. Flo freute sich wie ein kleines Kind zur Weihnachtszeit und bastelte uns sogleich eine Wundertüte. Ich schenkte noch Wodka ein und war irgendwie ein bisschen aufgeregt. Basti hatte noch nie gekifft. Als Flo den Joint anzündete, stieg mir der süßliche Geruch vom Marihuana in die Nase. Unsere Augen richteten sich gespannt auf Basti, als dieser einen tiefen Zug nahm, dann noch einen und er reichte an mich weiter. Flo war nicht gerade sparsam gewesen und ich merkte schon bei den ersten Zügen, wie das Gras seine Wirkung entfaltete. Wie mochte es da erst bei Basti sein? Ein leichtes Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus. „Mh gar nicht so übel Jungs.“ Doch schien dem Armen das Wunderkraut ganz schön auszuhebeln und er pennte innerhalb der nächsten halben Stunde weg. Flo und ich hielten uns wacker. „Hast du schon mal über den Tod nachgedacht? Ich mein auch damals als das mit Juka war…“ Ich warf Flo einen skeptischen Blick zu und zog an meiner Zigarette. „Ähm naja ein bisschen vielleicht…aber nie ernsthaft…du etwa?“ „Nen bisschen schon…ich meine Kami kommt nie zurück Lukas…du erinnerst dich an deine Zeit ohne Juka?“ Ich nickte und wollte eigentlich ungern an diese schmerzhafte Zeit zurückdenken. „Tue ich…“ „Dann stell dir vor es wäre immer so…jeden Tag. Du kannst nich mehr schlafen, weil du ihn dann vor dir siehst. Du quälst dich, weil dich fast alles an ihn erinnert, jedes Lied, die Menschen um dich herum, der letzte bleibende Geruch seines Parfums in deinen Kissen…du versuchst dem Schmerz standzuhalten, weil dir alle sagen, es wird besser…doch das tut‘s nich…“ Während er so redete wurden seine Augen immer kleiner und sein Kopf sank in meinen Schoß. Mein armer Schatz, wenn ich ihm doch nur helfen könnte. Und ich selbst versuchte nicht einzuschlafen, weil ich mich davor fürchtete Flo wäre dann weg. Hätte sich von den Klippen gestürzt oder sonst was. Ich wusste nur zu gut, welche Höllenqualen er litt und trotzdem musste es doch weitergehen. Oder nicht? Wäre ich in der Lage ohne Juka weiterzuleben? Ich wusste es nicht. Lange schaute ich in die Sterne hinauf und dachte über Flos Worte nach. Juka war alles für mich, mehr noch und wenn er nicht mehr war, würde meine Welt unweigerlich einstürzen. Nichts würde von mir übrig bleiben. Aber was war mit Basti und Flo? Mit all den lieben Menschen um mich herum? Konnten sie mich am Leben halten? Ich kannte die Antwort und schmiegte mich an meinen besten Freund, sodass ich jede ach so kleine Bewegung mitbekam. Das Knistern des Feuers weckte mich und sowie der Geruch von Kaffee und Brötchen. Als ich blinzelte unterhielten sich Flo und Basti bereits. Und der Kaffee war tatsächlich keine Sinnestäuschung gewesen. Mir tat alles weh, deshalb baute ich einen Joint. Die Sonne kam raus und es wurde richtig warm, deshalb beschlossen wir uns ein bisschen abzukühlen. Flo hielt einen Moment inne. Ich ergriff blitzschnell seine Hand. „Denk nich mal dran! Du wirst dieser beschissenen Klippe keinen Schritt näher kommen…sonst muss ich dich irgendwo fest ketten.“ Mein Freund lachte nur und folgte uns. Das Wasser war eisig und wir hielten es alle drei nicht sonderlich lange aus. Bibbernd hockten wir uns ins Gras und ließen uns von der Sonne trocknen. „Wisst ihr noch damals als und dein Bruder Basti mit in diese Bar genommen hat? Da war’n wir noch süß und unschuldig. Und was is jetzt aus uns geworden…“ Basti schien dieser unterschwellige Ton zu entgehen, doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass mit Flo was nicht stimmte. „Und Lukas ist mit Jule durchgebrannt…“ Meine Freunde lachten. „Ja stimmt…das war schon krass für uns…lässt uns einfach sitzen und zischt da mit dem heißen Mädel ab.“ „Sorry, ich war jung und musste meine Ehre verteidigen.“ „Ehre? Gibt’s das in deinem Wortschatz überhaupt?“, witzelte Flo und erst jetzt merkte ich, dass er schon wieder an der Wodkaflasche hing. Ich zeigte ihm meinen Mittelfinger. „Übrigens is alleine saufen voll unkollegial“, warf ich ein und schnappte ihm die Flasche weg. Basti schüttelte nur mit dem Kopf und ließ uns machen. Wie immer eben. Plötzlich begann Flo eine mir unbekannte Melodie zu spielen und erstaunlicherweise sang er auch dazu. Das kam ungefähr einmal in hundert Jahren vor und wir lauschten ihm. Ich war mir nicht sicher, ob es an meinem Rausch lag, doch in diesem Lied lag soviel Schmerz und Leid, dass es mich fast zu Tränen rührte. Wir klatschten Applaus und kurz erhaschte ich einen Blick in Flos Augen, der mich erschaudern ließ. Denn auch in seinen Augen spiegelte sich dieser undendlich traurige Ausdruck. „Ich hab mich übrigens von Tatsuro getrennt…irgendwie fühlt es sich nich richtig an…“, rückte Flo dann mit der Sprache heraus. „Aber es lief doch alles so super bei euch“, warf Basti auch ein bisschen entsetzt ein. Doch mich beschlich auf einmal eine sehr sehr düstere Vorahnung. „Schon, aber…ich kann nich…Tatsuro is lieb und so…aber er is nich Kami. Ich weiß, das klingt dämlich, aber dauernd vergleiche ich Tatsuro mit ihm und das is nich fair. Kami war perfekt…das mit uns war perfekt…ich wollte ihn heiraten, weil er das Beste war, das mir im Leben widerfahren is…ihr beiden seid meine besten Freunde und wart immer für mich da…aber manchmal glaub ich das reicht nich.“ Ich hatte so sehr gehofft, dass Tatsuro Flos Schmerz lindern konnte. Doch ich wusste selbst nur zu gut, dass man ein gebrochenes Herz schwer heilen konnte. In diesem Falle wäre das Kami sicher auch gelungen, aber der weilte nun Mal nicht mehr unter den Lebenden. „Flo…das is okay…dann lass dir Zeit…“ Die Sonne verschwamm allmählich am Horizont und färbte den Himmel in ein orangrotes Licht. Blut wurde diese Nacht vergossen, hallten Legolas Worte in meinem Kopf, auch wenn er den Morgen meinte, nachdem die Soldaten Rohans alle Uruks abgeschlachtete hatten. Die Farbe des Himmels war dieselbe und ich hatte auf einmal eine scheiß Angst. Wir waren mittlerweile wieder an unserer Feuerstelle angekommen. „Ich weiß nich, ob‘s das noch bringt. Basti du warst immer er Vernünftige von uns dreien und hast Lukas und mir oft den Arsch gerettet. Lukas…du hast das, was du dir immer gewünscht hast. Kannst du mir was versprechen?“ Ich nickte und spürte wie meine Alarmglocken läuteten, doch ich war unfähig mich zu bewegen. „Was denn?“ „Kläre das mit deiner Mum…vertrage dich wieder mit ihr…und mit deinem Dad auch. Nur so kannst du deinen Frieden bekommen Süßer, aber das weißt du sicher selbst…pass gut auf Juka auf…und du auf Lena Basti.“ Flo erhob sich und noch immer hielt er die Gitarre in den Händen. Wieder stimmte er dieses traurige Lied an. „Hast du das geschrieben?“, fragte Basti schließlich. Flo nickte geistesabwesend. „Fänd es cool, wenn wir das in der Setlist aufnehmen.“ Endlich gehorchten mir meine Glieder wieder und ich eilte zu Flo. Behutsam legte ich ihm meine Arme von hinten um seine Hüften. „Flo…bitte sag mir, dass ich mich irre“, flüsterte ich ihm kaum hörbar zu. „Lukas, du wusstest, dass dieser Tag irgendwann kommt…tief in deinem inneren wusstest du es.“ Ich schloss meine Arme fester um meinen Freund. „Tue es nich…bitte“, flehte ich. Die Gitarre lehnte am Pfeiler neben dem Lagerfeuer und Flo wandte sich mir zu. „Schau mir in die Augen und dann sag mir was du siehst?“ Ich nahm sein Gesicht zwischen meine zittrigen Hände und sah ihn lange an, um mich davon zu überzeugen, dass sein Schmerz nicht echt war. „Du bist traurig, aber das bekommen wir hin…zusammen. Du musst nur fest daran glauben.“ „Lügner…und ein schlechter noch dazu…was siehst du wirklich?“ Ich konnte nicht und zog Flo an mich. Er wehrte sich nicht. „Weißt du, warum ich dich so gern hab Lukas? Weil du immer ehrlich zu mir warst…warum jetzt nich?“ Mein Magen krampfte sich zusammen und auch Basti trat jetzt zu uns. „Weil das bedeuten würde, dich in deinem Wahnsinn zu unterstützen und das kann ich nich…“ „Wahnsinn? Ernsthaft? Ich würde dir niemals Vorwürfe machen Süßer, das weißt du, aber ich kann nich mehr…versteht ihr zwei…ich ertrage diesen Schmerz nich mehr…ich werde mich niemals damit abfinden, dass Kami tot is…weil er das war, was ich immer wollte. Er war mein Herzensmensch…die Liebe zu ihm war so rein und ehrlich…so perfekt. Kami hat mich meine Vergangenheit vergessen lassen, weil er mir eine Zukunft gab…doch die gibt es nich mehr. Ein Teil von mir starb mit ihm und ich kann diesen Teil nich reanimieren, egal was ich auch versuche. Ich kann es nich…niemand kann das.“ „Aber du wirktest doch glücklich in den letzten Monaten“, warf Basti ein, dem nun auch der Ernst der Lage bewusst wurde. „Tja, dann bin ich wohl ein guter Schauspieler.“ Mir schnürte es die Kehle zu und ich rang nach Luft, Flo noch immer in meinen Armen haltend. Zaghaft legte er seine linke Hand an meine rechte Wange und die rechte Hand ruhte auf Bastis Wange. Seine Lippen drückten erst mir und dann Basti einen liebevollen Kuss auf die Stirn. „Flo…“, krächzte ich und versuchte meine Tränen nicht länger zurückzuhalten. „Ich liebe euch beide sehr, das wisst ihr hoffentlich…aber ich kann nich mehr…ihr seid auch ohne mich glücklich…Lukasschatz du mit deinem Juka und Basti du hast deine Lena…vielleicht finde ich Kami wieder…irgendwo. Das macht es leichter…ihr werdet mich niemals vergessen.“ Flo befreite sich aus meinem Griff und nahm seine Gitarre. Auf einmal bekam sein Gesicht einen friedlichen Ausdruck. Meine inneren Alarmglocken waren schriller und lauter denn je und doch stand ich da, als wäre ich versteinert. Flo näherte sich der Klippe. Er stand mit dem Rücken zum Abgrund und winkte uns zu. Endlich löste sich meine Versteinerung und ich rannte los, bekam Flos Hand zu fassen, doch sie entglitt mir und ich sah meinen besten Freund in die Tiefe stürzen. Auch wusste ich, dass er diesen Sturz niemals überleben konnte, denn dort, wo er im Wasser aufschlug, ragten kaum sichtbar scharfkantige Steine heraus. Es musste also an ein Wunder grenzen, dass Flo nicht dort aufprallte. Mein Herz raste und obwohl es schon fast dunkel war, konnte man noch ganz schwach erkennen, was sich ereignete. Mein lieber Freund schlug auf das harte Gestein und obwohl die Entfernung zu groß war, um ein Geräusch zu hören, vernahm ich gedanklich das Knacken seiner Knochen. Auch die Gitarre zersprang in tausend Einzelteile. Ohne auch nur über irgendetwas nachzudenken rannte ich den Hang hinab bis zum Wasser und sah ihn unterhalb der Klippen treiben. Ich sprang in den See und zog Flo an Land. Völlig außer Atem schnappte ich nach Luft und nun lag sein lebloser Körper vor mir. Ich verpasste ihm eine Ohrfeige, weil ich mir einbildete, dass er davon vielleicht zur Besinnung kam. Doch einen toter Mensch blieb nun mal tot. Ich konnte seine Verletzungen in dem dämmrigen Licht nicht ausmachen, doch merkte ich wie sein Blut an meinen Händen klebte. Mir war schlecht und elendig zumute. Flo, mein liebster Flo hatte sich vor meinen Augen das Leben genommen und ich hatte es nicht verhindert. Ich kniete vor seinem reglosen Körper und ließ meinen Kopf auf seine Brust sinke. Dann brach ich bitterlich in Tränen aus. Ich wollte, dass er zurück kam, mit mir scherzte. Von mir aus konnte er sich auch betrinken, wann er wollte. Hauptsache er kam zurück. Ich realisierte nicht, was um mich herum geschah. Irgendjemand rief meinen Namen, aber ich wollte nicht hören. Ich wollte nur, dass Flo wieder aufwachte. Dann wurde ich weggezogen und vernahm mehrere Stimmen, schnelle Schritte und Sirenen. Wie lange hatte ich über meinem toten Freund gekauert? Und wo war Basti? Panisch sah ich mich um und dort hockte er wie ein Häufchen Elend. Doch Lena war an seiner Seite. Wieder übermannte mich diese Übelkeit und ich taumelte, doch wurde aufgefangen und fand mich in den schönsten blauen Augen wieder, die mir so vertraut waren. Meine blutverschmierten Hände hinterließen Spuren auf Jukas hellgrauem Shirt, doch das schien ihm egal zu sein. „Luki, du musst deine nassen Klamotten loswerden, sonst erkältest du dich. Ich hab im Auto eine Decke.“ Ich folgte Juka und tat das, was er von mir verlangte doch meine Gedanken überschlugen sich. Immer wieder sah ich Flo in den Abgrund stürzen. Zu Hause stürmte ich aus dem Auto und verbarrikadierte mich im Proberaum. Blinde Verzweiflung überkam mich und ich schlug die Holzvitrine mit Flos E-Gitarre kurz und klein. Um mich herum splitterte Holz, doch ich hörte nicht auf. Sie Saiten sprangen ab und wieder fiel Flo in meinem Kopf. Ich schrie und schlug wie wild um mich, bis ich umringt von Holzsplittern mit der kaputten Gitarre meines toten Freundes zu Boden sank. Noch immer völlig benommen stapfte ich die Treppen hinauf und holte den Wodka aus dem Kühlschrank. Jojo kam angestürmt, doch mein Liebster hielt sie zurück. „Süße, nicht jetzt…ich erzähl dir später alles, aber lass Luki im Moment seine Ruhe.“ Auch in Flos Zimmer bekam ich die Unterhaltung der beiden mit. „Flo…er ist…tot…“ Ich sah Jojos Reaktion nicht, aber bei mir lösten diese vier Worte den endgültigen Zusammenbruch aus. Warum hatte er das getan? Und erst jetzt fiel mir das weiße Pergament auf dem Bett auf. Ich nahm es zwischen meine noch immer blutigen zittrigen Finger und versuchte die Worte durch meinen Tränenschleier zu entziffern.       An meine beiden Schätzchen, ich habe ein neues Lied geschrieben und ich glaube ich hab es euch am See vorgespielt. Und ich meine es ernst, dass ich mir wünsche, dass ihr es spielt. Auch wenn du dich zuerst weigern wirst Lukas, weil du wütend und verletzt bist. Aber ich glaube mit der Zeit wirst du es lieben. Und ich habe eine Bitte- mach dir keine Vorwürfe, du hättest mich nicht retten können. Niemand hätte das. Ich weiß, mein Verhalten war feige und nicht fair euch gegenüber. Basti und du waren die besten Freunde, die man sich wünschen kann und ich danke euch für all die Stunden, in denen ihr mein Leben bereichert habt. Ihr wart die Familie, die ich nie hatte. Doch als ich Kami kennenlernte fühlte ich noch etwas anderes- Liebe. Diese Liebe stellte ich über alles, denn Kami wurde für mich alles. Er erfüllte mein Leben und ich war auf einmal etwas Besonderes. Ich weiß du kannst nachvollziehen wie es ist von der eigenen Familie verstoßen zu werden Lukas und ich habe dir nie erzählt, dass mich das genauso fertig machte. Nur wollte ich stark für uns beide sein. Ich wollte, dass du denkst mir ist meine Familie egal, damit ich dich nicht mit meinen Problemen belasten muss. Mit Kami hab ich darüber geredet und er hat mich aufgebaut. So, wie Juka und Lena das bei euch beiden tun. Also wisst ihr wie wichtig es ist mit dem Menschen zusammenzuleben, den man liebt. Deshalb muss ich diesen Weg gehen. Ihr wisst, dass ich nicht an Gott oder so glaube, aber dennoch spinne ich mir manchmal zusammen, dass Kami und ich uns in einem anderen Universum wiedersehen. Ziemlich verrückt oder? Seid mir nicht böse, ich hab euch lieb und ich werde für immer auf euch aufpassen. Euer Flo   Da der Brief an uns beide geschrieben war, fand ich es nur gerecht, wenn Basti ihn auch zu lesen bekommt. Deshalb fotografierte ich ihn ab und schickte Basti Flos Worte über WhatsApp. Ich las die Zeilen immer und immer wieder. Nachdem ich die halbe Flasche Wodka geleert hatte, brachte ich den Rest zurück in den Kühlschrank. Im Wohnzimmer brannte nur das kleine Licht zwischen den Sofas. Ich kehrte in den Proberaum zurück, um mein Chaos zu beseitigen. Dort fand ich Juka, der schon begonnen hatte die groben Holzsplitter in einen großen Karton zu räumen. „Ich kann das auch machen Juka.“ Mein hübscher Japaner drehte sich um, weil er mich nicht hatte kommen hören. „Luki…ich weiß nicht, was ich sagen soll…“ Ich schüttelte nur mit dem Kopf, zündete mir eine Zigarette an und half Juka. Lange sprach keiner von uns auch nur ein Wort. Als alles aufgeräumt war fiel ich erschöpft auf das rote Ecksofa und mein Liebster kam zu mir. Ich rauchte eine weitere Zigarette und auch Juka griff nach der Schachtel. „Er hat das alles geplant…Kami hat es geschafft einen besseren Menschen aus Flo zu machen…das konnte ich nie, weil wir uns gegenseitig mit unseren Problemen hochgeschaukelt haben. Ich hab versucht für ihn da zu sein…so wie Basti, aber wir haben nicht ausgereicht Juka…und das schlimme is, dass ich ihm das nich mal übel nehme, weil ich es wahrscheinlich genauso gemacht hätte…wir beide, Flo und ich sind richtig abgefuckt…einer mehr als der andere. Uns sind Freunde und Familie scheißegal, wenn es um die Liebe unseres Lebens geht…“ Juka strich mir liebevoll über die Wange. „Mein armer Schatz…ich pass auf dich auf versprochen und was immer du gerade brauchst, lass es mich wissen. Luki…ich weiß wie es dir geht.“ Ich versuchte zu lächeln, was mir jedoch nicht so ganz gelang. „Klar…Kami und so…aber ich hab es die ganze Zeit kommen sehen, doch immer gehofft, dass Flo das nich durchzieht…zu viel Schiss hat. Weißt du, warum er sich von den Klippen gestürzt hat?“ Juka schüttelte mit dem Kopf. „Weil er so sterben wollte wie Kami. Flo hatte die Hoffnung, dass er so wieder mit Kami vereint sein würde…traurig, aber romantisch.“ „Heftig…die Frage ist vermutlich blöd, aber kommst du mit ins Bett?“ Die Frage war ganz und gar nicht blöd und ich nickte nur. Vorher wusch ich mir noch das getrocknete Blut von den Händen und putzte meine Zähne. Mein Handy piepte und Basti schickte mir ein weinendes Smiley. Außerdem fragte er, ob er morgen auf einen Kaffee vorbeikommen könne. Klar immer und wann du willst, antwortete ich. Dann kroch ich zu Juka ins Bett. Mein Körper fühlte sich ausgelaugt und müde an. Zum Glück war morgen erst Sonntag. „Juka…bitte nimm mich in die Arme.“ Und das tat er auch.   Aus Kaffee wurde dann doch Bier. Basti und ich hockten in Flos Zimmer und schwelgten in Erinnerungen. In den guten und in den weniger guten. „Ich kann‘s noch immer nicht glauben.“ „Mhh, so geht’s mir auch Basti…mein Kopf kann und will das nich verarbeiten. Gehst du morgen arbeiten?“ „Nope…das pack ich nicht.“ Ich lehnte mich zurück und irgendwie konnte ich nicht mal mehr heulen. Die Trauer war wie ein dunkler Schleier, der mich einhüllte. „Lukas…hattest du Flo eigentlich lieber als mich?“ Ich warf meinem Freund einen leicht irritierten Blick zu und zündete mir eine Zigarette an. „Wie kommst du denn auf diese dumme Idee? Ihr seid zwar beide grundverschieden, aber ich hatte euch immer gleich gern.“ „Naja, ich frag ja nur, weil…du weißt schon Flo eben auch schwul war.“ Jetzt musste ich ein bisschen Lächeln. Doch nur ganz schwach, sodass es kaum jemand merkte. „Nur weil wir uns hin und wieder schwuchtelige Spitznamen gaben? Ich kann mir gern einen für dich überlegen…“ Basti schwieg einen Moment und lachte dann auf. „Keine Ahnung warum ich sowas denke…mit ihm bist du eben anders umgegangen als mit mir.“ Ich nahm einen tiefen Zug und blies Ringe in die Luft. „Sorry, wenn dir das manchmal komisch vorkam…das wollte ich nich. Aber wie Flo richtig gesagt hat, warst du immer der Vernünftige von uns…hast auf uns aufgepasst, wenn wir uns mit irgendwelchem Scheiß zugedröhnt haben. Du warst immer genauso wichtig Basti und ohne dich wären Flo und ich sicher schon viel früher abgekratzt.“ Mein Freund lächelte traurig und ich konnte mir denken, zu welchem Tag seine Erinnerungen gerade schweiften. „Das kann ich nicht ganz abstreiten…oh Mann, er fehlt mir so…dauernd haben wir ihm seinen Mist vergeben, weil das seine charmante Art ausglich…weißt du noch, als ihr euch vorm Konzert so übel gezofft habt?“ Ich nickte. „Klar…hast du jemals daran gezweifelt, dass er uns eventuell doch im Stich lassen könnte?“ „Naja, vielleicht ein winziges bisschen…hatte schon Muffensausen, als er einfach abgehauen ist…aber das ist eben Flo…nee, er hätte uns niemals im Stich gelassen.“ Ich trank einen Schluck. „Ach nein? Und was is mit jetzt?“ Die Bitterkeit in meiner Stimme konnte ich kaum unterdrücken. „Was hättest du getan? Flo war bestimmt nie einfach, aber doch versuchte er uns ein guter Freund zu sein…mit seiner Family das hab ich fast geahnt…und dann frag ich mich, warum ich ihn nie darauf angesprochen habe…“ Ich biss mir heftig auf die Unterlippe, weil ich mir nicht sicher war, ob ich Bastis Frage wirklich beantworten sollte. „Wahrscheinlich hätte ich mich ähnlich verhalten…diesen stolzen Egoismus hatten wir wohl gemein.“ Dann tat Basti etwas, das er nur sehr sehr selten tat. Er legte seinen Arm um mich und ließ seinen Kopf auf meine Schulter sinken. „Kannst du mir trotzdem versprechen, dass du bei mir bleibst? Ich mag zwar vernünftig sein und muss mich nicht dauernd bis zur Besinnungslosigkeit betrinken, doch dich auch noch zu verlieren, würde ich nicht ertragen.“ Bastis Stimme brach am Ende des Satzes fast ab und das machte mir deutlich, wie sehr er mich brauchte. „Bastischatz…ich gebe dir mein Wort. Wir müssen jetzt irgendwie zusammen stark sein, auch wenn‘s schwer wird. Das schlimme is…dauernd sehe ich Flo von dieser verfickten Klippe stürzen und dann dreht sich mir der Magen rum. Schätze dieses Bild bekomm ich nie wieder aus meinem Kopf.“ „Okay…bekomm ich noch’n Bier und baust du uns nen Joint?“ „Klar Süßer.“ Ich drückte ihm einen Kuss auf die Wange und Basti lächelte ein bisschen. Als ich mit Bier zurückkehrte hing mein Freund am Handy. „Ich hab gestern noch‘n paar Fotos geschossen…willst du sie seh’n?“ Wollte ich das? Sicher war ich mir nicht. Deshalb öffnete ich mir das Bier und baute einen Joint. „Weiß nich…vielleicht später…aber Basti, nich, dass du jetzt auch anderes Zeug probieren willst, nur weil du auf den Geschmack gekommen bist.“ „Schon klar…ich hab alles im Griff. Nur noch nen letzten Joint…für Flo.“ Und zum ersten Mal an diesem tristen Abend musste ich tatsächlich lachen. „Wenn Flo wüsste, dass du seinetwegen mit dem Kiffen angefangen hast…schon irgendwie sowas wie Situationscomic.“ „Mhh…aber kannst du mir erklären warum? Ich meine…warum konnten wir ihm nicht helfen? Das macht mich übel fertig. Es ist anders als bei meinem Dad damals…er hatte nen Grund, weil er kaum Kohle zum Überleben hatte und sich den Verstand weggesoffen hat. Aber Flo? Scheiße mit 27? Und was war das dann mit Tatsuro? Seinetwegen ist er doch nach Tokio geflogen und dann aus und vorbei? Was ist da bloß schief gelaufen.“ Ich bekam den ersten Zug und der Joint ballerte schon echt heftig. Wie gerne hätte ich Flo jetzt da. Wie gerne würde ich ihm sagen, dass alles gut werden würde, solange wir bei ihm blieben. Doch das wäre nichts weiter als eine Lüge, denn ich wusste es besser. „Wenn ich nich so blind gewesen wäre, hätte ich ihn retten können…“, brach es aus mir heraus und ich konnte nicht mehr. Schluchzend hielt ich mir die Hände vors Gesicht. „Wie meinst du das?“, fragte Basti vorsichtig. „Ich hab ihn jeden Tag geseh’n…wie er alles in sich hineingefressen hat. Nur auf Koks oder so war er relativ normal…nich so depri eben…aber ich hab mich nur um meinen Scheiß gekümmert. Ich vergesse den Abend niemals, als Flo hier auftauchte und mir sagte, dass Kami tot is…das musste die Hölle sein…warum hab ich ihn nich aufgebaut…ihn dazu ermutigt mit den Drogen aufzuhören. Stattdessen hab ich mitgemacht und ihm die Ohren vollgeheult…Juka hier Juka da…Basti ich hätte mehr tun können…“ „Du hast für deine Liebe gekämpft um für Flo da zu sein…sonst hättet ihr euch vermutlich gegenseitig zerstört…hör auf mit den Vorwürfen…dasselbe könnte ich auch behaupten, aber wo steh‘n wir dann? Flo und du seid euch verdammt ähnlich, mit dem einen Unterschied, dass er immer noch eins drauf setzten musste…selbst jetzt. Als das damals mit Juka und dir war…auch du warst nah dran einfach aufzugeben…doch ich glaube deine Schwester hat dich am Leben gehalten. Ich glaub, selbst wenn du nicht wieder mit Juka zusammengekommen wärst, würdest du heute genauso mit mir hier sitzen. Lukas…vielleicht hätten wir mehr tun können, aber Flo war eben Flo…du kannst nichts daran ändern und ich kann es auch nicht.“ Ich wischte mir die Tränen weg und exte mein zweites Bier. „Wahrscheinlich hast du Recht…ich glaub ich geh pennen. Willst du noch heim?“ Basti zuckte mit den Schultern. „Nee, ich glaub ich schlaf auf dem Sofa.“ Ich richtete meinem besten Freund sein Nachtlager im Wohnzimmer und noch lange lagen wir uns in den Armen. „Basti…ich hab dich sehr lieb…wir schaffen das…irgendwie“, flüsterte ich ihm zu und er nickte mir nur kaum merklich zu. Wir hatten fast die halbe Nacht mit Reden verbracht und das hatte uns beiden gut getan. Zu meiner Überraschung war mein schöner Japaner noch wach. Ich schenkte ihm ein schwaches Lächeln, als ich die Schlafzimmertür hinter mir zuzog. Juka streckte die Arme nach mir aus und ich kroch auf seinen Schoß, mit dem Gesicht zu ihm gewandt. „Hast du heute überhaupt schon was gegessen Liebling?“ „Nich wirklich…geht grad nich.“ Juka zog mir mein Shirt über den Kopf und fuhr mit den Händen über meinen nackten Oberkörper. Wieder füllten sich meine Augen mit Tränen, doch mein liebster küsste sie weg. Und Flo hatte nicht ganz Recht, denn es war fast genauso schlimm seinen besten Freund zu verlieren wie den Mann, dem man sein Herz geschenkt hatte. „Und schon wieder leidet unsere Beziehung unter meinen Problemen.“ Juka zog die Stirn in Falten. „Quatsch…red keinen Unsinn. Bleibst du morgen zu Hause?“ Ich nickte. „Aber ich kann dich gerade unmöglich glücklich machen.“ Jukas Hände umfassten mein Gesicht und er zog mich enger zu sich, sodass sich unsere Nasenspitzen fast berührten. „Luki…wir sind verheiratet…das ist für mich Glück genug doch das Leben dreht sich nicht alleine um das Glück, das weißt du nur zu gut. Aber wir versuchen das Beste draus zu machen. Ich weiß, dass es dir gerade richtig beschissen geht…Kami fehlt mir genauso Süßer…jeden Tag…ebenso mein Dad, aber ich kann‘s nicht ändern…aber dann bist da noch du. Mein wunderschöner Mann für den alles tun würde. Ich kann dich auffangen Luki und ich werde alles daran setzen, dass es dir bald wieder ein bisschen besser geht.“ Meine Lippen pressten sich auf seine, als könnte nur dieser eine Kuss mich am Leben halten.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)