Die Leute von Millers Landing von GingerSnaps ================================================================================ Kapitel 4: Familien ------------------- Am folgenden Morgen hatte der Regen nachgelassen und die staubige, fest gebackene Erde in Schlamm verwandelt. Rebecca führte die angekündigte Visite bei ihrem jungen Patienten durch, welcher nach Tinys Auskunft die ganze Nacht durchgeschlafen habe. Der Junge war inzwischen wach und offenbar bei klarem Bewusstsein, was Rebecca zuversichtlich bezüglich seiner medizinischen Prognose stimmte, denn scheinbar gab es keine schwerwiegenden Verletzungen des Gehirns. Sie versprach, übermorgen noch einmal zum Verbandswechsel hereinzuschauen. Bevor sie ging, murmelte der Junge ein kleines „Danke“ und lächelte sie schwach an. Rebecca erwiderte das Lächeln und nickte kurz burschikos, um ihre Verlegenheit zu überspielen, denn sie war schließlich keine Ärztin und hatte ja auch gar nicht viel tun können. Kathryn brachte Rebecca zu Pferde wieder nachhause, da es bei all dem Matsch für sie beschwerlich gewesen wäre, sich zu Fuß auf den Weg zu machen. Daheim wurde sie bereits von Felicity mit dem Frühstück erwartet. Kathryn trat ein und betrachtete das gemütliche, warme Zuhause der beiden Frauen: Ein Holzhaus mit indianischen Wandteppichen, schweren, alten Holzmöbeln und einem brennenden Kamin. Sie spürte Traurigkeit und Sehnsucht in sich aufsteigen. Ein liebevolles, Sicherheit spendendes Heim für sich und die Geliebte: Das hatte sie sich eines Tages auch für Liz und sich selbst gewünscht. Das, und viel mehr Zeit! „Möchtest du zum Frühstück bleiben, meine Liebe?“ erkundigte sich Felicity. „Nein, vielen Dank, aber ich muss wieder rüber“, antwortete Kathryn rasch und verbarg ihre wahren Gefühle hinter einem Lächeln. Sie umarmte ihre Freundinnen kurz, bedankte sich bei Rebecca für die Hilfe, um dann beinahe fluchtartig aufzubrechen. Auf dem Rückweg erlaubte sie sich einen Moment des Selbstmitleids. Den Tod Elizabeths konnte sie auch nach vier Jahren immer noch nicht begreifen. Wie konnte jemand, um den sich ihre ganze Welt gedreht hatte, an einem Tag noch da sein und am nächsten für immer fort? Manchmal hatte Kathryn das Gefühl, auch sie selbst sei damals irgendwie abgestorben. Natürlich war sie noch hier, aß, schlief, sprach, lachte sogar; ganz so wie früher, doch etwas fehlte in jedem einzelnen Augenblick. Alles fühlte sich viel weniger wichtig und in manchen Momenten kaum noch real an; so als sei sie ein Geist; nicht mehr wirklich ein Teil dieser Welt. Zwar war die Trauer nicht mehr dieselbe wie am Anfang, als die Verzweiflung und Wut noch so gewaltig waren, dass sie nicht gewusst hatte, wie sie damit weiterleben sollte; stattdessen waren da heute diese Taubheit und Freudlosigkeit, welche sie ständig begleiteten, ebenso wie die Frage, wieso das Leben eigentlich immer noch weiterging, mit jedem Morgen an dem sie erwachte? Welchen Sinn konnte das nun noch haben? Als Kathryn zurückkehrte, waren bereits alle Haushaltsmitglieder erwacht und saßen beim Frühstück. Es fehlte nur Tiny, der, wie sie vermutete, immer noch Wache am Bett von Joseph Harper hielt. Er hatte sich gestern ein Feldbett in den Raum gestellt und dem Verletzten großzügig seine eigene Schlafstätte überlassen. Kathryn ging hinauf und winkte Tiny aus dem Krankenzimmer, um allein mit ihm sprechen zu können: „Hat der Kleine schon irgendwas erzählt; wie er hergekommen ist oder wer ihn in diesen Zustand versetzt hat?“ wollte sie wissen. Tiny schüttelte den Kopf: „Nein, ich wollte ihn aber auch nicht bedrängen.“ Kathryn zog kurz eine Augenbraue hoch, vor Überraschung über die seltsame Fürsorge und Rücksichtnahme gegenüber einem möglicherweise gefährlichen Fremden: „Du magst den Jungen.“ stellte sie fest. Tiny dachte eine Weile nach, ehe er antwortete: „Ich hab` ein gutes Gefühl bei ihm. Er erinnert mich an uns beide früher: Zu viel gesehen für sein Alter, zäh, aber auch sehr verletzt!“ Kathryn lächelte über diese Beschreibung und die Erinnerung an ihrer beider Jugend: „Ja! Und wir hatten damals wenigstens einander. Dieser Joseph ist ganz allein. Trotzdem halte ich etwas Skepsis für angebracht. Wir haben Kinder hier, für deren Sicherheit wir verantwortlich sind. Und überdies leben wir ohnehin alle bereits die ganze Zeit am Rande der Legalität. Wir dürfen uns bei keinem Fehler erwischen lassen. Der Sheriff hat uns sowieso schon ständig im Blick und wartet nur darauf, uns alle hinter Gitter bringen zu können.“ „Du hast sicher recht!“ entgegnete Tiny ein wenig verletzt. Sie musste doch wissen, dass ihm die Sicherheit ihrer kleinen Familie ebenso wichtig war wie ihr und er stets alles tat, sie zu beschützen, dachte er finster und fügte hinzu: „Aber vergiss` nicht; jeder in diesem Haus ist irgendwann als Flüchtling hier angekommen, einschließlich uns selbst.“ Kathryn war verblüfft über diese Beschreibung, denn so hatte sie selbst es noch nie zuvor betrachtet. Dennoch hatte Tiny vollkommen Recht! Melody und Margarete waren vor den sexuellen Übergriffen des Plantagenbesitzer geflohen, dem bereits ihre Eltern als Sklaven gedient hatten, und der noch immer in dieser Vergangenheit lebte und seine Untergebenen für sein Eigentum hielt. Bei Molly und Regine waren es jeweils gewalttätige Ehemänner gewesen, denen sie mit ihren Kindern entkommen waren. Und Shy bewahrte zwar Stillschweigen über ihre wahre Herkunft und verriet nicht einmal ihren wirklichen Namen, was ihr auch ihren Spitznamen eingetragen hatte, da sie bei ihrer Ankunft so gut wie gar nicht gesprochen hatte und alle sie für schüchtern gehalten hatten, doch es fehlte nicht viel Fantasie, um zu erraten, dass sie aus einem Indianerreservat irgendwo weiter im Norden geflohen sein musste. „In Ordnung, ich gebe dem Jungen eine Chance. Ich werde mal versuchen, mit ihm zu reden. Aber das würde ich gern erst mal allein probieren.“ erklärte Kathryn. Tiny nickte und ließ sie das Zimmer betreten, vor dessen Eingang er bislang wie ein Wachhund gestanden hatte. Joseph lag im Bett und musterte Kathryn misstrauisch. Sie nahm auf der Bettkante Platz, lächelte ihn an und fragte: „Wie geht es dir heute Morgen? Hast du noch große Schmerzen?“ Der Junge zuckte mit der Schulter des unversehrten Arms. Der Ausdruck seines geschwollenen, grün-blau verfärbten Gesichts war verschlossen, misstrauisch und ängstlich. Das würde wahrscheinlich eine harte Nuss werden: „Wie bist du nach Millers Landing gekommen?“ wollte Kathryn wissen. „Güterzug!“ lautete die knappe Antwort. „Und wieso bist du ausgerechnet zu uns gekommen?“ bohrte sie weiter. „Brauchte`n Versteck!“ gab der Junge zurück. Kathryn seufzte innerlich, angesichts dieser mühsamen Unterhaltung: „Ja, aber was hat dich gerade hierher zu uns ins „Yasemines“ geführt?“ Der Junge dachte eine Weile nach „Hat so`n Haus wie hier auch gegeben, wo ich herkomme. Mit Huren und so!“ An dieser Stelle zog Kathryn kritisch eine Augenbraue hoch, sagte jedoch nichts. Joseph, dem dies scheinbar entgangen war, fuhr fort: „Dachte, hier würde man mich vielleicht nicht gleich verraten, falls man mich findet.“ „Gut gedacht!“ entgegnete Kathryn. „ Aber wir müssen wissen, dass du uns nicht schaden wirst. Du wirst wegen versuchten Mordes gesucht, Joseph!“ Er schaute sie mit einer Mischung aus Verwirrung und Ärger an: „Ich bin doch bloß` n Junge, der von seinem Vater zu Brei geschlagen wurde. Was kann ich euch schon antun.“ „Vielleicht fragen wir danach mal deinen Vater?“ entgegnete Kathryn. Josephs Gesicht verschloss sich und sie erkannte, dass diese Äußerung offenbar ein Fehler gewesen war. Die Gesprächsbereitschaft des Jungen war nun verschwunden. „Dann geht doch zum Sheriff. Ich hau´ dann aber ab!“ sagte Joseph und schickte sich an, aufzustehen. Der Versuch scheiterte jedoch an seinem körperlichen Zustand und der Junge stöhnte vor Schmerzen. Kathryn drückte ihn sanft wieder zurück in das Bett. „Ruhig, Kleiner! Niemand will dich verraten! Du bist hier erst mal sicher! Aber früher oder später wirst du uns genauer berichten müssen, was passiert ist, damit wir wissen, dass wir dir trauen können. Schau, ich habe hier eine Familie, die ich beschützen muss! Wir alle riskieren viel, wenn wir dich verstecken!“ Joseph starrte an ihr vorbei an die Wand und kämpfte trotzig mit den Tränen. Kathryn streichelte die Wange des Jungen, doch dieser entzog sich: „Bis später Joseph.“ sagte sie sanft: „Joe!“ erwiderte er mit Nachdruck. „In Ordnung! Bis später, Joe! Ich schicke dir etwas zu Essen rauf, in Ordnung?“ Kathryn verließ das Zimmer. Vor der Tür wartete immer noch Tiny: „Wie ist es gelaufen?“ fragte er: „Nicht so toll. Ich habe ein paar deutliche Worte mit ihm gesprochen und schätze, ich bin im Augenblick nicht gerade seine Lieblingsperson. Er kriegt jetzt erst mal Frühstück, aber vielleicht sollten wir ihn ein wenig allein lassen. Kannst du trotzdem unauffällig darauf achten, dass er nicht versucht abzuhauen? Er ist nicht in der Verfassung!“ Tiny nickte grinsend: „Scheint so, als magst du den Jungen auch?“ „Ach hör` schon auf, du kennst mich doch! Es liegt doch hauptsächlich an mir liegt, dass dieses Haus voll von missgestalteten Haustieren ist, weil ich jedes verwundete Kätzchen aufnehmen muss.“ Lächelnd zog Tiny seine Freundin in eine feste Umarmung: „Ich weiß, du willst immer alle glauben machen, du wärst so knallhart, doch ich weiß es besser Schwesterchen!“ sagte er liebevoll. Kathryn rief die Frauen zu einer Besprechung zusammen. Alle sollten darüber mitentscheiden, wie weiter vorzugehen sei, denn so handhabten sie die Dinge hier. Erwartungsgemäß waren Regine und Molly zurückhaltend und ein wenig um die Sicherheit ihrer Kinder besorgt. Jedoch waren sie bereit, Joe eine Chance zu geben. Molly meinte: „Wer weiß, was geschehen ist. Hätte ich den Mut gehabt, hätte ich meinen Kerl vielleicht auch erschlagen. Weiß Gott, er hätte es verdient! Und ich hab` ja gesehen, wie der Kleine aussah, als Tiny ihn reingebracht hat.“ Melody, Margarete und Shy waren sich einig, den Jungen zu schützen. „Wenn Tiny denkt, er sei ein guter Kerl, dann glaube ich ihm. Er kann Menschen ins Herz sehen!“ Meinte Margarete mit Überzeugung und die andere Frauen nickten zustimmend. Und so war es beschlossen: Joe Harper wurde unter Vorbehalt in die Familie aufgenommen! Die nächsten beiden Wochen ließen Joes Blessuren nach und nach verblassen und enthüllten einen gutaussehenden, jungen Mann mit strahlend blauen Augen und einem ansteckendem Lächeln. Bald waren die einzigen sichtbaren Folgen der ganzen Angelegenheit die Platzwunde an der Stirn, von der er eine Narbe zurückbehalten würde und der gebrochene Arm. Mit den äußerlichen Veränderungen gingen auch die inneren einher und der verstockte Teenager entpuppte sich immer mehr als lustiger, charmanter Bursche, den alle schnell in ihr Herz geschlossen hatten, insbesondere Tiny. Rebecca war noch einige Male vorbeigekommen, um Joes Verletzungen zu versorgen. Seine übrige Pflege und Fürsorge erledigte Tiny. Er schlief weiterhin auf dem Feldbett, um Tag und Nacht für ihn da sein zu können und der Junge öffnete sich ihm gegenüber zum Dank, sprach über alles Mögliche, insbesondere seine Mutter, die er sehr geliebt habe und die vor einigen Jahren gestorben sei und über seinen besten Freund Lucas, den er schon seit Kindertagen gekannt habe. Er sprach über alles, außer seinen Vater und Tiny ließ ihn zunächst gewähren. Doch eines morgens fand er schließlich, dass es sei an der Zeit sei, dies zu ändern. Er setzte sich neben den jungen Mann auf das Bett und überlegte, wie er anfangen sollte. Schließlich begann er so: „Du weißt, dass dich hier mittlerweile alle akzeptiert haben und ein großes Risiko auf sich nehmen, indem sie dich verstecken?“ Joe wurde schlagartig ernst und nickte: „Du schuldest uns fairerweise noch ein paar Antworten.“ erklärte Tiny bestimmt. Wiederum ein Nicken von Joe. „Also? Was ist zwischen Dir und deinem Vater geschehen?“ Der Junge schwieg lange und Tiny glaubte bereits, er würde gar keine Antwort erhalten, als plötzlich die Worte doch noch zu fließen begannen: „Alles war besser, als meine Mutter noch lebte. Wir standen uns sehr nahe und sie hat mich vor meinem Vater beschützt. Oft genug hat SIE Prügel eingesteckt, die eigentlich MIR gegolten haben. Ich hätte gern etwas dagegen getan, aber ich war noch zu klein“ Während er redete liefen Joe Tränen über das Gesicht, doch er wischte sie fort, ohne sie zu beachten und sprach weiter: „Als sie starb, wurden die Dinge zwischen ihm und mir immer schwieriger. Er hat gesoffen und dann furchtbare Dinge gesagt, z.B. dass er wünschte ich wäre nie geboren worden. Ich wusste lange nicht, warum er mich so sehr hasste. Ich versuchte irgendwie durchzuhalten, war oft mit meinem Freund Lucas zusammen und…“ Hier geriet Joe ins Stocken und brauchte einige Zeit, um weiter sprechen zu könne. Dann fuhr er fort: „ Es war immer schlimm, doch an diesem Abend war es anders. Mein Vater kam mit seinen Saufkumpanen in unser Haus. Sein Blick war nicht wie sonst, sondern irgendwie... kalt. Sie waren zu viert und griffen mich an, stießen mich herum, spielten mit mir, wie eine Katze mit einer Maus spielt. Ich hab` den Hass in den Augen der Männer gesehen und mir war klar, dass sie sich zuvor betrunken in Hitze geredet haben mussten. Und da erkannte ich plötzlich, dass sie mich nicht lebend davonkommen lassen wollten. Sie kreisten mich ein. Ich versuchte, zu fliehen und entkam aus dem Haus, doch sie holten mich ein, traten und prügelten mich. Und sie machten so lange weiter, bis ich mich nicht mehr regte.“ Dem Jungen liefen nun heiße Tränen die Wangen hinab und während er sprach brach seine Stimme immer wieder. Tiny legte ihm sanft seine große, dunkle Hand auf die magere Schulter. „Dann war da dieser große Stein. Er lag neben mir auf der Erde“ fuhr Joe schluchzend fort: „Ich ergriff ihn, stand auf und trat von hinten an meinen Vater heran. Niemand hatte mich kommen sehen! Ich schlug ihm den Stein auf den Kopf, so fest ich konnte. Mein Vater sackte zusammen, fiel zu Boden und ich schlug ihn noch zwei weitere Male. Seine Freunde waren so erschrocken, weil sie mich ja bereits für tot gehalten hatten. Sie liefen davon, als sie mich mit dem blutigen Stein über meinem Vater hatten stehen sehen. Und dann floh ich auch!“ Nun begann der junge Mann, nachdem er die Schrecken dieses Tages noch einmal hatte erleben müssen, unkontrolliert zu Schluchzen und Tiny wusste nichts zu tun, als ihn fest in den Arm zu nehmen. Joes schmaler Körper bebte und zitterte und es dauerte eine Weile, bis er sich wieder einigermaßen gefangen hatte. Tiny ließ ihm Zeit, ehe er ihm die letzte Frage stellte, die ihm unter den Nägeln brannte: „Warum hat dein Vater dich so sehr gehasst, dass er dich töten wollte. Was kann einen Vater denn überhaupt zu so etwas treiben?“ Joe blickte ihn hilflos an, öffnete zweimal den Mund, als ob er etwas sagen wollte, doch es kam kein Ton: „Du weißt es nicht!“ stellte Tiny fest. Joe schüttelte langsam und traurig den Kopf: „Doch, ich weiß es…“ und nach ein paar nachdenklichen Sekunden ergänzte er: „…nun weiß ich es. Aber ich kann es dir nicht sagen.“ Tiny wartete eine Weile ab und fragte schließlich sanft: „Was kannst du denn so Furchtbares getan haben, um den Tod zu verdienen, mein Junge?“ Gequält schaute Joe Tiny an. Und was der junge Mann als nächstes tat, traf Tiny vollkommen unvorbereitet: Joe griff ihn bei den Schulten, zog den viel größeren und kräftigeren Mann mit erstaunlicher Kraft zu sich heran und küsste ihn fest und ein wenig ungeschickt auf die Lippen. Und zu seiner eigenen Überraschung erwiderte Tiny den Kuss. Joe löste sich wieder von ihm und rief mit wildem Blick: „Verstehst Du es jetzt?“ Dann sprang er auf und rannte aus dem Zimmer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)