Die Leute von Millers Landing von GingerSnaps ================================================================================ Kapitel 29: Neue Spieler ------------------------ Als James erwachte, lag Melody immer noch unverändert bei ihm. Er bewunderte ihren Körper im hellen Morgenlicht, die langen schlanken Extremitäten, die weich geschwungenen Hüften, die ebenmäßige dunkelbraune, seidige Haut im Kontrast zu seiner eigenen. Er war immer noch froh über das, was letzte Nacht geschehen war und fühlte sich endlich wieder wohl in seiner Haut, aber plötzlich überkam ihn auch eine kleine Angst davor, wie Melody die Sache am Morgen danach wohl sehen würde. Immerhin waren sie beide angetrunken gewesen. Hatte er vielleicht die Situation ausgenutzt? Würde sie ärgerlich sein? Endlich öffnete Melody die Augen, hob den Kopf und lächelte ihn an: „Guten Morgen, Süßer!“ sagte sie und küsste ihn. „Guten Morgen!“ erwiderte er und musterte sie prüfend: „Was?“ fragte Melody mit gerunzelter Stirn: „Tut dir die vergangene Nacht etwa leid?“ James schüttelte entschieden den Kopf und beeilte sich zu sagen: „Nein, überhaupt nicht! Aber was ist mit dir?“ Anstelle einer Antwort grinste Melody, küsste James erneut und er beruhigte sich wieder: „Ich bin bloß ein kleines bisschen verwirrt.“ erklärte er: „Wie ist das hier bloß passiert. Wie kommt es, dass du das hier wolltest?“ Melody dachte kurz über ihre Antwort nach: „Aus verschiedenen Gründen, denke ich. Der wichtigste ist, dass ich es wollte. Außerdem hatte ich das Gefühl, wir beide könnten etwas Trost gebrauchen.“ In diesem Moment waren von oben zwei Frauenstimmen zu hören und Melody ergänzte: „Und ein weiterer Grund kommt gerade die Treppe herunter.“ Als James Kathryn und Justine hörte, wollte er aufspringen, die Tür des Gemeinschaftsraumes schließen und sich verstecken, doch Melody hielt James mit ihrem Körper fest, grinste listig und flüsterte: „Lass sie es ruhig sehen. Du wirst sehen, es kann dir nur helfen!“ In James lag Panik, doch Melody fuhr leise fort: „Vertrau` mir! Ich weiß, was ich tue.“ Sie brachte sich mit ihrem gesamten Körper über ihn und küsste ihn innig. Tatsächlich warfen Justine und Kathryn einen Blick in den Gemeinschaftsraum, als sie im Erdgeschoss ankamen und entdeckten das nackte Paar und das Chaos aus herumliegenden Kleidungsstücken, Essensresten und der geleerten Flasche um sie herum. James konnte einen kurzen Blick auf Kathryn erhaschen und sah, wie sie ärgerlich den Kopf schüttelte. Dann verschwanden die beiden Frauen in der Küche. „Warum hast du das getan?“ fragte James unglücklich: „Das wird Kathryn mir nie verzeihen!“ Melody blickte ein wenig belustigt auf ihn hinab und antwortete: „Was denn verzeihen? Du hast doch nichts Unrechtes getan! Sie hat dich fallen lassen und sich etwas anderes gesucht und du hast doch das gleiche Recht. Warum solltest du sie nicht sehen lassen, was ihr nun entgeht?“ James blickte verwirrt drein und Melody schüttelte den Kopf, blickte zärtlich auf ihn hinab und erklärte: „Du bist wirklich ein lieber und anständiger Kerl, aber du bist auch ein Schaf!“ Dann küsste sie ihn ein weiteres Mal, ehe sie aufstand und begann, sich anzuziehen. James griff ebenfalls nach seiner Hose und erkundigte sich unsicher: „Was ist das mit dir und mir denn nun?“ Melody zuckte mit den Schultern und antwortete: „Ich hätte wirklich nichts dagegen, dass hier zu wiederholen, denn es war nett, aber du und ich sind immer noch genau das, was wir auch vorher schon waren, nämlich Freunde! Du liebst Kathryn und das wird wohl auch so bleiben. Ich schätze, sie liebt dich auch irgendwie, dass muss sie nur erst noch herausbekommen. Ich denke, wir helfen ihr ein wenig auf die Sprünge!“ James war mittlerweile vollständig angezogen: „Es ist wohl besser, wenn ich jetzt verschwinde, denkst du nicht?“ Melody schüttelte den Kopf und grinste böse: „Wie? Willst du dir denn den ganzen Spaß entgehen lassen? Nein! Bleib noch zum Frühstück!“ James grinste schüchtern und stellte fest: „Also du bist auf jeden Fall KEIN Schaf!“ Doch er blieb. Als Melody und James Hand in Hand die Küche betraten, waren auch alle anderen bereits am Tisch versammelt. Niemandem entging diese unerwartete neue Verbindung und das war genau das, was Melody beabsichtigt hatte. Sie fand, es reiche nicht, dass Kathryn nun wusste, dass James ein Stück weiter gekommen war, sondern auch alle anderen sollten es sehen. Melody wusste, dass dies am Ego der schönen Kathryn Levroux kratzen würde und sie amüsierte sich königlich, als Sie hörte, wie Kathryn James über den Tisch hinweg entgegen zischte: „Es hat ja nicht lange gedauert, dich zu trösten!“ James deutete mit dem Kinn auf Justine und erwiderte scharf: „Jedenfalls länger als bei dir, Liebste!“ Und damit herrschte erst mal Stille. Keine schlechte Antwort, dachte Melody und beglückwünschte ihn im Stillen. Vielleicht gab es für den Kleinen ja doch noch Hoffnung? Die Aufmerksamkeit aller am Tisch war nun auf die gegnerischen Parteien gerichtet und jeder dachte sich seinen Teil. Joe legte den Kopf schief und blickte James fragend an. Margarete, obwohl noch immer böse auf Melody erkannte, was ihre Zwillingsschwester da trieb und amüsierte sich innerlich darüber. Nach dem Frühstück fragte Joe James, als sie beide für einen Moment allein waren: „Und? Ich schätze, nun ist wieder alles klar, oder?“ James grinste schüchtern und kratzte sich am Hinterkopf. Joe schmunzelte zurück und zerzauste im freundschaftlich das Haar. Den ganzen Tag lang hatte Kathryn auf eine Chance gewartet, mit Melody allein zu sprechen. Als es endlich so weit war, baute sie sich, mit in die Hüften gestemmten Händen vor ihr auf und erkundigte sich ärgerlich: „Kannst du mir mal verraten, was hier vor sich geht und was du für ein Spiel spielst?“ Melody schüttelte den Kopf und fragte ungerührt zurück: „Darf ich fragen, wovon du überhaupt sprichst? “ „Jetzt stell` dich nicht dumm, Melody!“ fuhr Kathryn die Freundin an: „Du schläfst mit James? Willst du mich ärgern? Du könntest dir doch jeden beliebigen Kerl nehmen. Warum musste ausgerechnet er es sein?“ „Ich schlage vor, du beruhigst dich wieder!“ gab Melody gelassen zurück: „Es dreht sich doch nicht immer alles nur um dich! James gefällt mir und du hast ihn so eilig weggeworfen, dass ich nicht den Eindruck hatte, dass du noch Verwendung für ihn hättest. Na ja, und er hat ein wenig Trost gebraucht.“ „Ach darum geht es hier? Du kehrst bloß deine fürsorgliche und mütterliche Seite heraus? Spiel` keine Spielchen mit ihm, denn er ist sehr empfindsam, kapiert“ bellte Kathryn. Melody gab ein kurzes, hartes Lachen von sich, ehe sie antwortete: „Soll das ein Scherz sein? Und so etwas kommt von dir? Du hast ihn monatelang hingehalten, dich dann für ein paar Augenblicke mit ihm amüsiert und ihn dann weggejagt wie einen Hund, als er dir zu langweilig wurde. Bei mir weiß er wenigstens, woran er ist. Ich mache keine Versprechen, die ich nicht halten kann. Hör auf dich da einzumischen Kathryn, denn was wir tun geht dich einen Dreck an, verstehst du? Und übrigens: James ist sicher kein armes, kleines Häschen, das vor mir beschützt werden muss. Er ist erwachsen weißt du!“ Mit diesen Worten wandte sich Melody energisch um und schritt würdevoll davon. Kathryn sah ihr nach und kochte innerlich vor Wut. Kurz dachte sie ernsthaft darüber nach, ihr etwas an den Hinterkopf zu werfen. Sie suchte stattdessen nach Justine und nahm diese für ein kurzes, leidenschaftliches Stelldichein mit hinüber in deren Schlafzimmer. Vor dem Wochenende hatte es Noah gegraust. Wochentags konnte er Joe bei der Arbeit sehen und hatte dadurch jemanden zum Reden, doch nun blickte er der Aussicht entgegen, zwei volle Tage ohne ein freundliches Gesicht, aber dafür mit seinen lieblosen Eltern verbringen zu müssen. In den letzten Tagen war er nach Feierabend meist noch heimlich mit Joe hinüber ins rote Haus gegangen. Wenn Alice und Joe dann einmal keine Zeit für ihn hatten, hatte er für einige Augenblicke mit Sam zusammen gesessen, doch richtig ins Gespräch gekommen waren sie nicht. Dieser Junge wollte immer bloß Karten spielen? Und nun hatte ausgerechnet Sam ihn unverbindlich gefragt, ob er nicht am Samstag vorbeikommen wolle. Alice würde nicht da sein, denn sie war mit Helena in Taylorsville verabredet und Joe hatte angekündigt, dass er mal wieder ein wenig Zeit mit Tiny allein bräuchte, welche sie die in den letzten Wochen nicht gehabt hätten. Noch rang Noah mit sich, ob er der Einladung nachkommen sollte, weil er sich nicht sicher war, was dahinter steckte und was ihn erwartete. War das Angebot vorbeizukommen reine Freundlichkeit gewesen? Und würden Sam und er wohl Gesprächsthemen finden? Plötzlich kam Noah ein Gedanke, der ihn ein wenig erschreckte: Was, wenn Sam mehr als nur einen Spielkameraden suchte? Er verwarf den Gedanken schnell wieder. Sam erschien ihm noch viel zu kindlich, um an dem Thema überhaupt schon irgendein Interesse zu haben. Und außerdem wusste er doch auch gar nichts von Noahs Veranlagung. Darum ging es also nicht! Und das löste in Noah gleich die nächste bange Frage aus. Was, wenn Sam herausfand wie er war und er nicht damit umgehen konnte? Aber andererseits hatte er doch auch immer Joe und Tiny vor Augen und hatte damit scheinbar damit auch kein Problem? Noah entspannte sich wieder ein wenig. Er kam sich töricht vor, weil eine simple Einladung ihn derart nervös machte. Dann traf er eine Entscheidung: Selbst eine öde Verabredung wäre noch besser, als allein und traurig zu sein! Er würde heute Nachmittag also zum roten Haus hinübergehen und vielleicht würde es ja sogar ganz schön werden. Wer konnte das schon wissen? Sam war wahnsinnig aufgeregt. Würde Noah wirklich kommen? Er hatte so zurückhaltend auf seine Einladung reagiert. Und wenn er kam, was würden sie dann wohl zusammen unternehmen? Er konnte nicht schon wieder ein Kartenspiel vorschlagen. Er hatte zuvor nicht den Eindruck gehabt, dass Noah daran allzu großes Interesse hatte. Aber was machten Freunde denn miteinander, wenn sie sich verabredeten? Sam hatte keine Ahnung, denn er hatte ja keine! Er durfte das hier auf keinen Fall vermasseln, denn er hatte es satt, allein zu sein! Sicher, da waren die Kleinen, seine Schwestern und die beiden Jungen von Molly. Außerdem gab es viele Erwachsene um ihn herum. Aber Sam wünschte sich etwas anderes, jemanden, der ungefähr in seinem Alter war und mit dem er über bestimmte Dinge sprechen konnte, Dinge, die die Kleinen noch nicht und die Großen nicht mehr verstanden. Vielleicht konnte Noah ja so jemand sein. Dafür, dass er der Sohn des Predigers war, schien er ihm jedenfalls ganz in Ordnung zu sein. Scheinbar war er nicht so, wie seine Eltern und viele andere Leute in der Stadt, die auf die Menschen hier im roten Haus herabsahen. Das hoffte Sam zumindest! Alice stand mit nacktem Oberkörper in ihrem Zimmer vor dem Spiegel und betrachtete sich kritisch. Ihre Verabredung für heute Abend machte sie nervös. Sie war froh, dass Helena gesagt hatte, sie solle Hosen tragen, denn sie hatte überhaupt keine Lust, die hässliche Freundin des schönsten Mädchens im Raum zu sein. Aber auch, wenn die anderen Anwesenden sie für Helenas männliche Begleitung halten sollten, wollte sie dabei so gut wie möglich aussehen. Sie wollte Getuschel in der Art vermeiden wie: „Wie kommt der grässliche Kerl an ein Mädchen wie sie?“ Und sie wollte überzeugend wirken! Man sollte ihr den Jungen wirklich abnehmen. Sie hatte nämlich große Angst davor entlarvt, als Missgeburt beschimpft und körperlich angegriffen zu werden. Missmutig betrachtete sie ihre Brüste. Sie waren nicht groß, aber ein wenig zeichneten sie sich unter ihrem Hemd dennoch ab. Sie hatte sich deshalb lange Stoffstreifen besorgt. Diese wickelte sie sich nun um den Oberkörper, bis alles schön flach war. Sie zog sich das Hemd darüber und betrachtete zufrieden das Ergebnis. Dann griff sie schließlich noch nach einen kleinen Stoffrest, aus welchem sie ein längliches Objekt wickelte. Sie betrachtete es nachdenklich und platzierte es dann Versuchsweise vorne in ihrer Hose. Der Anblick löste widerstreitende Gefühle in ihr aus: Einerseits empfand sie Widerwillen, aber andererseits spürte sie auch eine gewisse Erregung dabei. Für einen kleinen Moment stellte sie sich vor, wie es wäre, wenn sie tatsächlich ein Junge wäre? Dann würde sie endlich dazugehören, anstatt von allen mit Misstrauen und Abscheu betrachtet zu werden. So etwas, wie das mit ihrem Bruder Nikolas wäre ihr auch nie passiert. Sie könnte mit einem Mädchen zusammen sein und es wäre ganz normal. Vielleicht hätte Margarete sie dann auch nicht zurückgewiesen? Sie starrte auf die kleine Wölbung in ihrer Hose, doch plötzlich schämte sie sich furchtbar. Die Menschen, denen vor ihr graute hatten wahrscheinlich recht? Sie war eine Missgeburt, erbärmlich, ein Fehler der Natur! Sie griff in ihre Hose, zog das Stoffstück wieder heraus und warf es zornig und angewidert in eine Ecke. Alice holte tief Luft und setzte sich eine Weile auf ihr Bett, um wieder ruhig zu werden. Dann fuhr sie mit ihren Vorbereitungen fort. Mit den Fingerspitzen tauchte sie in einen kleinen Topf mit Gänsefett. Dieses verteilte sie in ihren Haaren und kämmte sie zurück. Sie drehte sich kritisch vor dem Spiegel, formte und knetete, bis sie irgendwann befand, dass es nun ganz ordentlich aussah. Sie zog sich eine Weste und ein Jackett über, welche James ihr freundlicherweise für den heutigen Abend geliehen hatte und schließlich nickte sie, einigermaßen zufrieden ihrem Spiegelbild zu und verließ das Zimmer. Als Helena die Zimmertür öffnete, sah sie atemberaubend aus. Das ansonsten hochgesteckte schwarze, lange Haar trug sie heute offen und sie hatte ihre strenge Städterinnenkluft gegen ein Kleid getauscht, dass sie sich offenbar von einer der anderen Frauen geliehen hatte. Es bestand aus einem leichten Baumwollstoff, war relativ tief ausgeschnitten und brachte ihre wohlgeformten, weichen Brüste zur Geltung. Das hellblau des Stoffes unterstrich die Farbe von Helenas Augen, welche sie dezent mit einem Kohlestift betont hatte. „Na großartig!“ dachte Alice grimmig „Sie würde von Verehrern geradezu umzingelt werden!“ Sie versuchte ihre Bedenken freundlich zu formulieren, indem sie sagte: „Oha! Die Männer werden sich um dich reißen! Vielleicht nehme ich lieber einen Revolver mit, falls einer frech wird.“ Helena grinste: „Keine Sorge! Ich weiß, wie man unliebsame Verehrer auf Abstand hält.“ Sie deutete sie mit dem Kinn auf Alice und erklärte anerkennend: „Du siehst wirklich verdammt gut aus, meine Liebe!“ „Mach` dich nicht lustig über mich!“ forderte Alice gequält. „Wie bitte?“ fragte Helena verblüfft: „Das tue ich doch gar nicht. Ich meine es ganz ehrlich! Am Ende werde ich diejenige sein, die allein herumsitzt, während du mit sämtlichen Mädchen von Taylorsville tanzt!“ Alice schenkte ihr einen misstrauischen Blick, doch Helena lachte bloß ihr typisches, warmherziges kleines Lachen und hakte sie unter. Sie stiegen zusammen die Treppe hinab und begaben sich nach drüben ins Wohnhaus, um sich zu verabschieden. In der Küche saßen einige der Frauen beim Kaffee beieinander. Als Alice und Helena eintraten, ertönten Pfiffe und Lachen und Justine erklärte: „Ihr zwei seht einfach hinreißend aus.“ Kathryn nickte grinsend und bekräftigte: „Also ich würde jedenfalls mit beiden tanzen!“ Die Mädchen lächelten verlegen. Margarete hatte still in einer Ecke gesessen und die beiden Ausflüglerinnen stirnrunzelnd gemustert. Nun erhob sie sich, schritt zu Alice hinüber und erklärte: „Du siehst wirklich toll aus, mein Liebling! Amüsier` dich gut, hörst du?“ Sie küsste das Mädchen sanft auf die Stirn. Alice nickte. Ihr war nicht der merkwürdige Unterton in Margaretes Stimme entgangen. Noah klopfte zaghaft an die Tür des roten Hauses. Sam war umgehend zur Stelle, um ihn herein zu lassen, denn er hatte schon ungeduldig seiner geharrt. Er hieß ihn im Gemeinschaftsraum Platz zu nehmen und lief dann aufgeregt in die Küche. Was servierte ein Junge einem Freund, wenn dieser zu Besuch kam? Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht und kam sich plötzlich wahnsinnig dumm vor! Sollte er Tee machen? Nein, das war wohl doch eher etwas für alte Leute, oder wenn man krank war, richtig? Er wusste es einfach nicht, also fragte er verzweifelt seine Mutter. Die schlug Milch und Kekse vor und versprach, sie ihnen gleich zu bringen. Ein wenig beruhigt kehrte Sam in den Gemeinschaftsraum zu seinem Gast zurück. Traurig blickte Regine ihrem Sohn hinterher. Sie wusste genau, was hier vor sich ging. Sam wünschte sich verzweifelt einen Spielkameraden! Ihr war deutlich bewusst, dass sie und ihr Lebenswandel daran schuld waren, dass ihre Kinder kein normales Leben mit Freunden und allem was dazugehörte in der städtischen Gemeinschaft führen konnten, wie es doch eigentlich jedem Kind zustand. Mit einem Mal fühlte sie sich sehr, sehr schuldig. Ein wenig ratlos saßen Sam und Noah einander gegenüber, knabberten an ihren Keksen, nippten an ihren Gläsern und wussten abgesehen davon zunächst nicht recht, was sie miteinander anfangen oder worüber sie sprechen sollten. Sie blickten einander eine Weile verstohlen an, bis Noah schließlich fragte: „Warum gehst du eigentlich nicht in die Schule?“ „Aber ich gehe doch in die Schule, nur zu einer anderen Zeit, als die anderen Kinder von Millers Landing!“ erklärte Sam eifrig: „Die Leute hier wollen nicht, dass ihre Kinder verdorben werden, denn unsere Mütter sind…“ Er stockte ein wenig und fuhr dann fort“… also ich meine, wegen dem, was unsere Mütter tun!“ Sam erklärte das mit solch einer Selbstverständlichkeit, als sei an der Verbohrtheit der Menschen nun einmal gar nicht zu rütteln und als müsse man sich eben damit abfinden. Noah hingegen war entsetzt: „Das habe ich nicht gewusst!“ erklärte er: „Das ist total ungerecht! Es tut mir sehr leid!“ Er blickte Sam mitfühlend an und plötzlich begann es in dessen Gesicht zu arbeiten. Man konnte ihm beinahe ansehen, was er fühlte und dachte und schließlich kullerten ein paar Tränen über Sams Wange, ohne dass dieser es verhindern konnte. Er schämte sich furchtbarund wäre am liebsten weggerannt. Diese Verabredung ging ja gleich gut los! Wahrscheinlich hielt Noah in jetzt schon für eine blöde Heulsuse: „Tut... tut mir leid!“ stammelte er. Noah berührte ihn unsicher am Arm: „Das muss dir doch nicht leidtun! Ich weine auch andauernd. Da kannst du ruhig Joe oder Alice fragen.“ „Ehrlich?“ fragte Sam unsicher: „Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich plötzlich weinen musste. Ich kenne es ja gar nicht anders. Bislang hat einfach noch nie jemand zu mir gesagt, dass das ungerecht ist, wie wir behandelt werden. Ich versuche normalerweise, nicht darüber nachzudenken, damit es mich nicht traurig macht!“ Noah wusste nichts dazu zu sagen und nickte lediglich. Sam beruhigte sich wieder, atmete tief durch und fragte: „Warum musst DU denn eigentlich weinen! Dein Vater ist doch der Reverend. Bestimmt haben alle ganz viel Achtung vor deiner Familie, oder nicht? Ich habe gedacht, dein Leben muss großartig sein. Sicher hast du viele Freunde und so.“ Noah fühlte sich durch Sams Frage in die Defensive gedrängt. Konnte er vor dem anderen Jungen wirklich bekennen, wie einsam und erbärmlich sein Leben tatsächlich war? Oder sollte er ihm etwas vormachen? Nein, entschied er! Entweder würde Sam ihn so mögen, wie er war, oder eben nicht! Doch lügen kam nicht in Frage! „Meine einzige Freundin ist Alice! Von den anderen Kindern in der Schule bin ich oft gehänselt oder geschlagen worden, gerade WEIL ich der Sohn des Predigers bin!“ Dann blickte er Sam geradewegs in die Augen und erklärte: „Es tut mir leid, wenn du enttäuscht bist, weil ich nicht das bin, was du dir vorgestellt hast. Möchtest du nun vielleicht lieber, dass ich wieder gehe?“ Sam schüttelte energisch den Kopf und erwiderte: „Nein, ich bin überhaupt nicht enttäuscht. Ich bin eigentlich sogar ganz froh. Ich hatte schon Angst, dass wir nichts gemeinsam hätten.“ Dann grinste er plötzlich überraschend und sagte: „Soll ich dir vielleicht mal meinen Lieblingsplatz zeigen?“ Noah nickte und folgte dem anderen Jungen in die Scheune, wo sie die Leiter hinaufstiegen. Hier oben wurden Heuballen und einiges Zeug gelagert. Sam wies mit dem Finger auf einen bestimmten Platz, der Noah zunächst nicht weiter besonders erschien und hieß ihn, sich zu setzen. Dann öffnete er jedoch eine große Luke im Dach und legte sich neben Noah auf den Boden: „Hier komme ich immer her, wenn ich allein sein will!“ erklärte Sam: „Meine Schwestern trauen sich nämlich nicht, die Leiter hinaufzusteigen. Dann liege ich hier manchmal stundenlang im Heu, schaue in den Himmel und denke nach. Gefällt dir mein Versteck?“ Noah nickte und lächelte: „Es ist gemütlich hier und sehr schön ruhig!“ Er streckte sich ebenfalls aus und so lagen sie eine Weile schweigend nebeneinander und blickten den flauschigen runden Wolken hinterher, welche an diesem sonnigen Nachmittag sanft über den Himmel zogen. Mit einem Mal waren von unten Geräusche zu hören und eine hohe Mädchenstimme fragte: „Sam? Bist du hier Sammy?“ Sam seufzte: „Wenn wir nicht antworten, dann verschwinden sie einfach wieder!“ flüsterte er: „Es ist doch nicht schlimm. Wir können doch auch ein wenig mit deinen Schwestern spielen. Zum Beispiel könnten wir zum See hinüber laufen und ein wenig mit den Füßen ins Wasser gehen. Es ist ja schon recht warm.“ erwiderte Noah. Sam blickte ihn zweifelnd an, doch Noah nickte ihm aufmunternd zu, also machten sie es so. Tiny und Joe lagen auf einer Decke im hohen Gras. Joe hatte die näherkommenden Stimmen etwas früher gehört und hielt Tiny, welcher soeben ansetzte etwas zu sagen, rasch den Mund zu. Dem Schrecken folgte jedoch die Erleichterung, als die Männer an den Stimmen erkannten, wer sich da in ihrer Nähe niedergelassen hatte. „Und was machen wir jetzt?“ flüsterte Tiny mit Blick auf den Ast in ihrer Nähe, auf dem sie ihre Kleider aufgehängt hatten und den sie unmöglich ungesehen erreichen konnten. „Wir machen gar nichts, Thomas! Wir bleiben einfach hier liegen, bis sie wieder weg sind, denn ich habe heute kinderfrei!“ erwiderte Joe entschieden. Tiny hob den Kopf und grinste belustigt zu ihm hinüber und Joe fügte streng hinzu: „Ich weiß gar nicht, worüber du lachst! Machst du dich etwa lustig über mich, weil ich selbst noch jung bin? In Wirklichkeit habe ich nämlich manchmal das Gefühl, einer der wenigen Erwachsenen weit und breit zu sein. Nicht nur, dass es hier plötzlich von Jugendlichen nur so wimmelt, nein, auch die Erwachsenen fangen auf einmal an, sich wie Kleinkinder aufzuführen! Nimm` nur Kathryn, James und Melody: Was ist denn das für ein Theater?“ Tiny nickte und antwortete gutmütig: „Da hast du natürlich Recht, mein Liebster. Daneben bist du wirklich ein Ausbund an Reife! Aber vergiss` nicht, du bist nur einmal jung! Das solltest du mehr genießen!“ Joe grinste kopfschüttelnd und erwiderte: „Ich dachte darum sind wir heute hergekommen. weil wir etwas Verrücktes anstellen und uns am helllichten Tag unter freien Himmel lieben wollten. Und nun schau´, was dabei herausgekommen ist!“ Sam und Noah hockten barfuß am Seeufer und sahen den kleinen Mädchen beim Planschen zu. „Deine Schwestern sind wirklich süß!“ erklärte Noah lächelnd. Sam verdrehte die Augen und beschwerte sich: „Sie nerven total! Dauernd wollen sie in meiner Nähe sein und mit mir spielen!“ „Ist doch klar!“ erwiderte Noah grinsend: „Sie bewundern dich eben! Du bist ihr toller, großer Bruder!“ Sam blickte Noah zweifelnd an und dieser fuhr fort: „Ich wünschte, ich hätte auch Geschwister. Dann wäre vielleicht alles einfacher und die Erwartungen meiner Eltern würden nicht allein auf meinen Schultern ruhen.“ „Was meinst du?“ fragte Sam: „Was wollen deine Eltern denn von dir?“ Noah seufzte: „Ich soll in die Fußstapfen meines Vaters treten und auch ein Geistlicher werden. Und irgendwann soll ich dann heiraten, ihnen Enkelkinder schenken und all` das.“ Er hielt kurz inne und fügte dann hinzu: „Aber nichts davon wird jemals geschehen!“ „Warum nicht? Woher weißt du das?“ wollte Sam wissen. Nun war die Situation da, vor der Noah Angst gehabt hatte. Er hatte keine Ahnung, was er darauf antworten sollte. Schließlich nahm er seinen Mut zusammen und sagte: „Ich habe ein Geheimnis! Und wenn meine Eltern davon erfahren, dann ist der Teufel los!“ Sam blickte den anderen Jungen gespannt an und wartete darauf, dass dieser fortfuhr. Seufzend sagte Noah: „Du weißt doch sicher, was mit Joe und Tiny los ist, oder?“ Sam blickte ihn verständnislos an und fragte: „Was ist denn mit den beiden?“ Oh je! Es wäre so viel einfacher gewesen, es zu erklären, wenn Sam über die Zwei Bescheid gewusst hätte, dachte Noah unglücklich. Er fuhr fort: „Na ja, die beiden schlafen doch zum Beispiel in einem Bett und verbringen viel Zeit miteinander.“ Sam zuckte mit den Schultern und erwiderte: „Ist doch klar! Die beiden sind doch auch verliebt!“ Noah blickte Sam verwundert an. Dann ging Sam plötzlich ein Licht auf: „Ach so! Du bist auch so wie sie, richtig? Das ist dein Geheimnis?“ Sam wirkte völlig ungerührt bei dieser Feststellung. Noahs Herz raste dennoch vor Angst. „Wie denkst du darüber?“ erkundigte sich Noah ängstlich. Sam zuckte mit den Schultern und erwiderte: „Ist mir doch egal! Ich finde das nicht schlimm.“ Dann wollte er wissen: „Hast du denn einen Freund?“ Noah schüttelte den Kopf und Sam fragte weiter: „Hast du Angst, dass deine Eltern es nicht gut finden, wie du bist?“ Noah gab ein verzweifeltes kleines Lachen von sich, angesichts dieser harmlosen Formulierung und gab zurück: „Ich denke, das werden sie ganz sicher nicht. Im besten Fall verstoßen sie mich lediglich und werfen mich aus ihrem Haus. Aber ich fürchte, dass sie sehr viel Schlimmeres mit mir anstellen würden, wenn sie wüssten, wer ich wirklich bin.“ Sam machte große Augen und erwiderte erschrocken: „Das ist ja schrecklich! Ich könnte mir nichts vorstellen, was meine Mutter dazu bringen würde, mich nicht mehr lieb zu haben, oder mich fortzujagen.“ Noah verbarg sein Gesicht hinter seinen Händen und weinte ein wenig. Sam, der nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte, rückte etwas näher an ihn heran und strich ihm unbeholfen mit der Hand über den Rücken. Schließlich blickte Noah auf, lächelte durch seine Tränen hindurch und sagte: „Siehst du, Sam! Ich bin eine totale Heulsuse!“ Am Abend, als Noah fort war, wollte Regine von ihren Sohn wissen: „Und? Habt ihr eine schöne Zeit gehabt, Sammy?“ Sam strahlte über das ganze Gesicht, nickte und erwiderte: „Ja haben wir! Noah ist so nett!“ Regine zog ihren Jungen fest in ihre Arme und küsste sein Gesicht viele Male, bis dieser seine Nase krauszog und verzweifelt forderte: „Ist schon gut Mama! Du kannst mich jetzt wieder loslassen!“ Regine wunderte sich einmal mehr, wie ihr Sohn bei allem, was er in seinem Leben schon erlebt hatte, so ausgeglichen und bei allem was er bisher schon hatte vermissen müssen, so zufrieden selbst mit den kleinsten Dingen sein konnte. Noch deutlicher als sonst war ihr in diesem Moment bewusst, wie sehr sie ihn liebte. Alice und Helena waren etwa zweieinhalb Stunden geritten. Sie versorgten die Pferde, banden sie fest und betraten die festlich mit Girlanden und Lampions geschmückte Scheune. Es gab eine großzügige Tanzfläche, eine Art Bühne, auf welcher eine Kapelle spielte, einen Tresen, wo Getränke ausgeschenkt wurden und Tische mit rot-weiß-karierten Tischdecken, auf denen Kerzen brannten rings um eine Tanzfläche herum. Die beiden jungen Frauen nahmen an einem freien Tisch Platz und plötzlich fiel Alice etwas ein: „Ich habe gar nicht daran gedacht, dass wir ja Geld für Getränke brauchen würden.“ „Hast du denn welches?“ fragte Helena schmunzelnd. Alice schüttelte traurig den Kopf: „Natürlich nicht! Woher auch?“ „Mach dir darüber bitte keine Sorgen. Ich habe Geld dabei! Willst du uns etwas zu trinken besorgen?“ Helena schob ihr einen Geldschein hinüber, den Alice unglücklich anschaute. „Es ist in Ordnung!“ versicherte Helena: „Ich kann es mir wirklich leisten!“ „Aber sollte ich es nicht sein, die dich einlädt?“ fragte Alice. „Du spielst doch nur den Jungen, schon vergessen?“ gab Helena munter grinsend zurück: „Also sei nicht albern und hol` uns Eistee, in Ordnung?“ Ein wenig unzufrieden trottete Alice davon und Helena blickte ihr kopfschüttelnd mit einem leisen Lächeln hinterher. Als Alice sich auf den Rückweg machte, entdeckte sie bereits den ersten Freier, der sich Helenas Tisch genähert hatte. In einigem Abstand blieb sie stehen und beobachtete die Szene, denn sie wollte Helena nicht dazwischenfunken, falls diese möglicherweise interessiert gewesen wäre, mit ihm zu tanzen. Helena war ausgesprochen freundlich zu dem Kerl, stellte Alice grimmig fest. Sie lachte, legte den Kopf kokett schief und der Mann machte Anstalten, sich auf Alices Stuhl zu setzen. Da schüttelte Helena jedoch, immer noch lächelnd das entzückende kleine Köpfchen, blickte sich um und entdeckte Alice. Sie winkte sie heran und sagte noch etwas zu dem Fremden, was dazu führte, dass dieser sich verabschiedete. Als Alice zum Tisch zurückgekehrt war, fragte Helena vorwurfsvoll: „Wo warst du denn so lange? Ich dachte, ich werde den Blödmann gar nicht mehr los.“ „Entschuldige!“ gab Alice zurück: „Aber du hast so freundlich mit ihm gesprochen, dass ich den Eindruck hatte, du mochtest seine Gesellschaft.“ „So war es aber nicht! Aber was hätte ich machen sollen? Die Arme vor der Brust verschränken und ihn mit einem grimmigen Blick und der Androhung von körperlicher Gewalt in die Flucht schlagen? Das klappt vielleicht, wenn man so ein großes, starkes Mädchen ist, wie du. Bei mir wirkt das wenig überzeugend und so versuche ich es vorher lieber mit Charme!“ Alice musste lächeln. „Das solltest du öfter tun! Es steht Dir!“ kommentierte Helena. Eine Weile saßen die beiden nun gemeinsam am Tisch, blickten in die Menge und schauten den Tanzpaaren zu. Dann fragte Alice plötzlich unvermittelt: „Willst du auch?“ Sie hielt ihr die Hand hin. Helena nickte. Auf der Tanzfläche stellte Helena fest: „Du hast geübt!“ „Gar nicht!“ behauptete Alice. Helena kommentierte diese offensichtliche Lüge mit einem vielsagenden Schmunzeln. Tatsächlich hatte Alice seit letztem Samstag an jedem Tag vor dem Spiegel getanzt, weil sie große Angst gehabt hatte, sich heute zu blamieren, doch das hätte sie im Leben nicht zugegeben. Als die beiden sich später, vom Tanzen müde, mit einem weiteren Getränk schließlich wieder an ihrem Tisch niederließen, fragte Helena unvermittelt: „Ich weiß, du sprichst nicht gern darüber, aber was ist eigentlich mit dir und Margarete los? Du erscheinst nir in letzter Zeit so unglücklich!“ Statt ihr zu antworten blickte Alice Helena lediglich entgeistert an, also fuhr diese fort: „Hör mal, ich weiß doch längst, dass du in sie verliebt bist. Ich finde das überhaupt nicht schlimm! Ich weiß nicht, warum du dir in den Kopf gesetzt hast, ich könnte das alles nicht verstehen?“ „Das ist doch ganz einfach, Helena!“ gab Alice trotzig zurück: „Wir leben in vollkommen verschiedenen Welten! Du bist ein Mädchen aus gutem Hause mit guter Schulbildung. Du bist selbstbewusst, wunderschön und wahrscheinlich hat es noch nie einen Mann gegeben, der nicht mit dir zusammen sein wollte. Du bist mit einem anständigen Kerl verlobt und sobald du wieder zurück in Boston bist, wirst du ihn wahrscheinlich heiraten, ein paar Kinder bekommen und die Art von Leben führen, die ich niemals haben werde. Wie könntest du mich also verstehen?“ So sanft es ihr, angesichts des vorwurfsvollen Tons des Mädchens möglich war, gab Helena zurück: „Es tut mir leid, dass du es immer schwer gehabt hast und dein Leben wohl auch in der Zukunft nicht leicht werden wird! Es tut mir auch leid, dass mir selbst ungerechterweise vieles im Leben geschenkt wurde. Aber gib mir bitte nicht die Schuld dafür, in Ordnung?“ Alice nickte und erwiderte kleinlaut: „Entschuldige Helena! Du bist immer freundlich zu mir gewesen und hast mir eigentlich gar keinen Grund für das Misstrauen gegeben, dass ich dir entgegengebracht habe. Ich schätze, ich war wohl lediglich eifersüchtig auf dich! Verzeihst du mir?“ Helena spürte eine Welle der Sympathie für das große, störrische Mädchen. Sie legte ihre kleine Hand auf die von Alice und sagte: „Ich mag dich, Alice! Sehr sogar! Merkst du das gar nicht?“ Und dann stellte sie noch einmal ihre anfängliche Frage: „Was ist denn nun los mit dir und Margarete?“ Alice zuckte traurig mit den Schultern und antwortete: „Du hast recht, ich bin in sie verliebt und sie hat nicht die gleichen Gefühle für mich. Ich bin sehr traurig deswegen. Ich weiß, es gibt nicht viele Frauen, die so wie ich sind. Und dann frage ich mich manchmal, was geschieht, wenn ich niemals diejenige finden werde, mit der ich zusammen sein kann? Was ist, wenn ich für immer allein bleibe?“ Alice blinzelte die aufsteigenden Tränen fort, Helena jedoch schüttelte lächelnd den Kopf und erwiderte: „Du irrst dich! Es gibt viel mehr Frauen, die so sind wie du, als du denkst. Du musst sie nur finden! Und wahrscheinlich wirst du Dutzende wunderbarer Mädchen küssen, ehe du die Eine findest, mit der du vielleicht zusammen bleiben möchtest.“ Alice wusste nicht recht, was sie von dem, was Helena sagte halten sollte, aber sie klang so zuversichtlich, dass sie ihr beinahe glauben wollte. Für eine Weile versank das Mädchen in nachdenkliches Schweigen. Dann fragte sie: „Hast du denn eigentlich viele Jungen geküsst, ehe du deine Verlobung eingegangen bist?“ Helena kicherte und erwiderte: „Ein paar waren es schon. Meine Eltern waren nicht begeistert davon und sorgten sich um meinen guten Ruf, aber es ist ja schließlich mein Leben. Und Francis hat sich nicht daran gestört. Er wollte mich trotzdem heiraten. Er hatte schließlich auch ein Leben davor und wie ich ihn kenne, ist es da sicher nicht allein beim Küssen geblieben.“ „Und das stört dich gar nicht?“ fragte Alice verblüfft. Helena schüttelte lachend den Kopf: „Nein, gar nicht! Ich bin schließlich eine moderne Frau!“ „Man muss sich wohl sehr sicher sein, ehe man eine solche Verbindung mit jemandem eingeht. Du liebst ihn sicherlich sehr“ meinte Alice. „Er ist mein bester Freund!“ gab Helena zurück. Dabei wirkte sie mit einem Mal nachdenklich. Unvermittelt wechselte sie das Thema und fragte grinsend: „Was ist das eigentlich für eine Sache mit Melody, James, Kathryn und Justine. Ist das nicht eigenartig?“ Die beiden Mädchen spekulierten eine Weile darüber, was wohl hinter dem eigenartigem Verhalten der vier stecken mochte und amüsierten sich auch ein wenig, wie albern und kindisch sie sich benahmen. Und als dieses Thema schließlich ausgereizt war, begannen sie sich heitere Begebenheiten aus ihrer beider Leben zu erzählen, lachten viel und fühlten sich mit einem Mal sehr wohl miteinander. Später, als die Zwei gerade beschlossen hatten, dass sie noch ein wenig tanzen wollten, erblickte Alice in der Menge plötzlich etwas, dass sie blass werden ließ. Sie packte Helenas Arm und deute in ihre Blickrichtung: „Die zwei Männer dort am Tresen sind meine Brüder!“ erklärte sie atemlos. Helena schaute sie mit großen Augen an und meinte: „Dann lass` uns zusehen, dass wir hier von hier wegkommen, ehe sie dich entdecken!“ Aber als die beiden jungen Frauen sich erhoben hatten, war es bereits zu spät. Der ältere der beiden Männer musste zwar zweimal hinschauen, weil Alice nun so verändert aussah, aber er hatte sie dennoch zweifelsfrei erkannt und bahnte sich nun seinen Weg durch den Raum hinüber zu ihr. Alice ihrerseits nahm Helena bei der Hand und zog sie rasch in Richtung Ausgang. Sie waren gerade vor der Scheune angekommen, als Alice zwei große, kräftige Hände fühlte, welche sie unsanft bei den Schultern packten. Nikolas drehte das Mädchen zu sich herum und brüllte: „Hier steckst du also! Weißt du, dass wir überall nach dir gesucht haben? Warst du etwa die ganze Zeit hier in Taylorsville? Und wie siehst du überhaupt aus?“ Er deutete auf das Kurze Haar und die Hosen: „Das ist ja vollkommen krank!“ Sein Gesicht war zu einer angewiderten Grimasse verzerrt. Alice stand wie erstarrt vor ihrem älteren Bruder. Pavel, der jüngere hielt sich unsicher im Hintergrund und blickte unglücklich und hilflos zu ihr hinüber. Lediglich die kleine und zierliche Helena ging zur Gegenwehr über, baute sich vor Niklas auf und erklärte mit autoritärer Stimme: „Lassen sie uns gefälligst in Ruhe! Wir werden jetzt von hier verschwinden und wünschen, nicht weiter von ihnen belästigt zu werden!“ „Wer ist das Flittchen? Wieso mischt sie sich in unsere Familienangelegenheiten ein?“ brüllte Nikolas unhöflich und blies Alice dabei seinen üblen, alkoholgeschwängerten Atem ins Gesicht. Dann fragte er mit einem unangenehmen Grinsen: „Ist die blöde Kuh vielleicht auf deine Maskerade hereingefallen, und glaubt tatsächlich, dass du ein Junge wärst? Das ist sie nämlich nicht!“ Als er das sagte, packte er Alice grob zwischen die Beine, was das Mädchen endlich aus seiner Erstarrung erwachen ließ. „Fass` mich nicht an, du kranker Bastard!“ rief sie, holte mit ihrem Ellenbogen aus und traf Nikolas hart seitlich am Kopf, so dass dieser zu Boden ging. Helena rannte los, um die Pferde zu holen. Niklas machte Anstalten sich wieder zu erheben, doch Alice trat ihm kräftig vor den Brustkorb. Nun wurde auch ihr anderer Bruder Pavel aktiv. Er stürzte sich auf den am Boden liegenden Niklas und rief: „Lauf` Alice! Ich mache das schon!“ Aber Alice wollte ihn Niklas nicht einfach so überlassen und so schlugen sie gemeinsam mit Fäusten auf ihn ein, bis dieser schließlich stöhnend liegen blieb. Dann holte Pavel sich sein eigenes Pferd und trieb das von Nikolas fort, damit er ihnen nicht folgen konnte. In Windeseile ritten Helena, Alice und Pavel davon und blieben erst stehen, als sie sicher waren, in Sicherheit zu sein. Dann stiegen sie ab und Pavel umarmte Alice. Er stammelte unter Tränen: „Ich bin so froh, dass du lebst, Schwesterchen!“ Er hielt sie eine Weile fest umklammert und schluchzte, während sie ihm zärtlich über Kopf und Rücken strich. Schließlich holte der junge Mann tief Luft, um sich zu sammeln, löste sich von seiner Schwester und sagte: „Ich habe wirklich bis heute befürchtet, er hätte dich umgebracht und irgendwo verscharrt. Ich bin so erleichtert, dass es dir gut geht!“ Helena musterte die beiden Geschwister und selbst im Licht des Vollmonds konnte sie erkennen, wie unglaublich ähnlich sie einander sahen. Nikolas hatte schwarzes Haar und war noch größer, aber vor allem wesentlich breiter und kompakter als diese beiden. Alice und Pavel hingegen besaßen beide diesen sehnigen und hageren Körperbau mit den langen Gliedern, das gleiche mittelblonde Haar und diese unglaublich grünen Katzenaugen. Verwundert lächelnd schüttelte sie den Kopf über diese vielen Gemeinsamkeiten. „Du musst mir nicht sagen, wo du jetzt wohnst.“ erklärte Pavel: „Lass` mich nur hin und wieder wissen, dass es dir gut geht, hörst du Schwesterchen?“ Und mit einem Seitenblick auf Helena fügte er noch hinzu: „Und ich freue mich aus dass du…jemanden gefunden hast!“ Alice dachte kurz darüber nach, das Missverständnis aufzuklären. Dann erst wurde ihr bewusst, was ihr Bruder ihr damit eigentlich nur hatte sagen wollen und beschloss, dass es eigentlich keine Rolle spielte, dass sie und Helena nicht das waren, was Pavel annahm. Stattdessen fragte sie ihn: „Was wirst du denn nun tun. Nikolas bringt dich um, wenn er dich in die Finger bekommt!“ „Es wird schon nicht so schlimm werden! Ich reite jetzt zurück und kümmere mich um ihn. Vielleicht kann ich mich damit wieder bei ihm einschmeicheln. Und solange er verletzt ist, kann er mir nicht so gefährlich werden. Mach` dir keine Sorgen Alice!“ Das Mädchen schüttelte den Kopf: „Du musst nicht zu ihm zurück! Du kannst mit mir kommen, oder wir finden irgendetwas anderes für dich. Hauptsache du bist vor ihm sicher!“ Pavel schüttelte den Kopf und antwortete resigniert: „Dazu fehlt mir dein Mut, kleine Schwester. Ich kann nicht einfach so weggehen und irgendwo anders neu anfangen. Ich gehe zurück zu unserem Vater und unserem Bruder und ziehe den Kopf ein. Solange ich mich still verhalte, geschieht mir nichts!“ Alice blickte ihn traurig an, wusste aber, dass sie seine Meinung nicht würde ändern können. Pavel schüttelte Helena zum Abschied die Hand und küsste Alice sanft auf die Stirn. Dann ritt er davon und die beiden jungen Frauen machten sich auf den Rückweg nach Millers Landing. Beim roten Haus angekommen, stellte Helena fest, dass Alices Hemd bei dem Handgemenge mit Nikolas am Ärmel gerissen war: „Oh, wie schade! Kannst du nähen?“ wollte sie wissen Alice schüttelte den Kopf: „Dann zieh` es rasch aus. Ich repariere es für dich!“ versprach Helena. Alice wurde ein wenig blass. Sie wollte Helena nicht sehen lassen, was sie mit ihren Brüsten angestellt hatte: „Ich gebe es dir oben, in Ordnung!“ erklärte sie. Sie gingen hinauf, Alice verschwand in ihrem Zimmer und reichte Helena das beschädigte Kleidungsstück durch den Türspalt. Während Alice sich etwas anderes anzog, rief Helena ihr zu: „Du musst dich vor mir nicht schämen, Alice! Du hast nichts, was ich nicht schon einmal gesehen hätte.“ „Hmm!“ lautete Alices ausweichende Antwort. Dann trat sie wieder aus dem Zimmer und die beiden jungen Frauen blieben eine Weile unschlüssig voreinander stehen. Schließlich sagte Helena: „Es tut mir leid, dass der Abend heute so ausgegangen ist. Ich hätte dich nie gefragt, wenn ich geahnt hätte, dass so etwas passieren würde.“ „Mir tut es eigentlich nicht leid!“ gab Alice nachdenklich zurück: „Ich habe mich die ganze Zeit vor dem Tag gefürchtet, an dem ich Nikolas wieder über den Weg liefe. Nun ist es geschehen und ich fühle mich plötzlich wie befreit. Und darüber hinaus konnte ich mich von Pavel verabschieden. Es hat mich die ganze Zeit belastet, dass ich ihn darüber im Unklaren lassen musste, ob es mir gut geht“ Dann fügte sie noch hinzu: „Und abgesehen von dieser Begegnung war es ein wirklich schöner Abend. Ich danke dir!“ Schüchtern gab sie Helena einen Kuss auf die Wange und verschwand. Margarete war kurz eingenickt. Plötzlich erwachte sie mit einem Gedanken. Nein, eigentlich war es mehr als das; es war eher eine Art von Gewissheit, klar wie eine Vision! Mit einem Mal wusste sie genau, wie ihr Leben weitergehen sollte; was sie brauchte und sich sehnlich wünschte. Sie lächelte! Doch schon im nächsten Moment kamen ihr ernste Zweifel. Wahrscheinlich war es doch gar nicht möglich, oder? Und selbst wenn es theoretisch denkbar wäre, würde es wohl trotzdem nicht dazu kommen! Sie würde mit Tiny und Doktor Miller darüber sprechen müssen. Aber vorerst wollte sie noch abwarten. Vielleicht änderte sich ihre Meinung ja wieder? Vielleicht würde sie morgen bei Tage erkennen, wie wahnwitzig ihre Idee war? In den nächsten Stunden war es ihr unmöglich einzuschlafen. Erst als Alice eintrat und zu ihr unter die Decke schlüpfte, fand sie ein wenig Ruhe. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)