Die Leute von Millers Landing von GingerSnaps ================================================================================ Kapitel 37: Die Zeichen der Apokalypse -------------------------------------- Noah drückte die Türklinke herunter und trat ein. Am Esstisch im Schein einer einzigen Öllampe saß seine Mutter und starrte ihn müde und vorwurfsvoll an, sagte jedoch zunächst kein Wort. „Hallo Mutter!“ murmelte Noah und nahm am gegenüberliegenden Ende des Tisches Platz, bereit, seine Standpauke zu erhalten. „Wo warst Du? Ich bin krank vor Sorge!“ bellte Gretchen Schultz ohne große Vorrede. „Es tut mir leid! Ich wollte nicht, dass du dich ängstigst.“ erwiderte Noah sanft: „Ich war mit einem Freund draußen und wir wurden vom Regen überrascht. Wir haben bei ihm zuhause Unterschlupf gesucht, um das Unwetter abzuwarten und sind dann vor dem Kamin eingeschlafen. Als ich aufgewacht bin, bin ich sofort nachhause gelaufen. Es wird nicht wieder vorkommen.“ Seine Mutter anzulügen kam Noah nun wie ein vergleichsweise kleines Vergehen vor, angesichts dessen, womit er seinen Abend heute tatsächlich verbracht hatte. „Ein Freund?“ fragte Gretchen Schultz misstrauisch: „Was für ein Freund? Du hast doch gar keine Freunde! War es dieser Junge, mit dem du zusammenarbeitest?“ „Nein. Es ist ein Junge, mit dem ich zur Schule gegangen bin! Sein Name ist Christian.“ Seine Mutter schüttelte den Kopf: „Ich glaube Dir nicht!“ verkündete sie scharf: „Es war sicher dieses Mädchen Alice! Habt ihr gesündigt, mein Sohn? Sag´ mir die Wahrheit!“ Das Gesicht der Pastorengattin legte sich in bekümmerte Falten. Beinahe hätte Noah laut losgelacht. Seine Mutter hatte wirklich keine Ahnung, wer er eigentlich war und aus irgendeinem Grund machte Noah das plötzlich sehr wütend. „Ja!“ wollte er brüllen: „Ich habe gesündigt! In einer Weise, die du dir nicht einmal vorstellen könntest. Es hat mir gefallen, es tut mir nicht leid und ich werde es wieder tun!“ doch stattdessen schüttelte er nur leise mit dem Kopf und erklärte schlicht: „So war es nicht! Alice ist fort! Das weißt du doch. Es war nur ein Freund!“ Dann er erhob er sich und fügte hinzu: „Ich werde jetzt zu Bett gehen!“ Er zog sich zurück und ließ seine Mutter einfach sitzen. Als er allein in seinem Bett lag schloss er die Augen, dachte an die vergangenen Stunden und lächelte in sich hinein. Auf seiner Haut roch er den Duft von Regen und den eines anderen Menschen. Alice hatte es sich neuerdings zur Angewohnheit gemacht, vor dem Frühstück zu Margarete ins Zimmer und in ihr Bett zu schlüpfen. Margarete war sich nicht sicher, was Helena wohl dazu sagte, oder ob sie es überhaupt wusste und bislang hatte sie es auch noch vermieden danach zu fragen, denn sie genoss es zu sehr, vor dem Aufstehen noch eine Weile in Alices Armen zu liegen, wenn sie sie schon bei Nacht vermissen musste, doch an diesem Morgen siegte die Neugier. Auf Margaretes Frage hin schüttelte Alice den Kopf: „Helena weiß, dass ich hier bin und sie ist keine Spur eifersüchtig! Ist das nicht eigenartig? Denkst du, das heißt ich bedeute ihr nicht genug?“ Margarete lachte leise: „Niemals! Sie hat ihre Verlobung gelöst und ihr ganzes Leben deinetwegen umgeworfen. Ich denke, sie muss verrückt nach dir sein, meine Süße!“ erklärte sie und fügte mit einem kleinen verlegenen Lächeln hinzu: „Wer könnte es ihr verdenken?“ Alice zog eine Augenbraue hoch und Margarete fuhr rasch fort, um die soeben getane Bemerkung zu überspielen: „Ich möchte dir etwas erzählen was noch niemand weiß; auch die beiden Männer nicht: Ich denke es hat geklappt? Ich bin schwanger!“ Alice richtete sich im Bett auf und blickte mit großen Augen auf sie hinab: „Meinst du? Woran merkst du das?“ „Meine Blutung ist ausgeblieben und meine Brüste spannen. Ich bin nicht sicher, aber ich denke, daran merkt man es!“ Alice nahm Margarete Hand, führte sie zu ihrem Mund und küsste sie: „Ich freue mich für dich!“ verkündete sie. Sie meinte es so. Am Frühstückstisch trafen sich die Blicke von James und Kathryn und blieben aneinander hängen. `Diese Augen!´ dachte James. Dann traf es ihn plötzlich, wie ein Schlag: Er liebte sie noch! Er warf einen schuldbewussten Blick auf Melody neben sich. Lydia belauerte ihren Ehemann am Frühstückstisch und konnte es beinahe nicht erwarten, dass er endlich Anstalten machen würde, das Haus zu verlassen, denn heute, so hatte sie beschlossen, würde sie endlich hinüber zum roten Haus gehen, um mit Justine Carpenter über ihre Lebensplanung zu sprechen. Wenn sie ganz vorsichtig wäre, würde sie sicherlich niemand sehen, sagte sie sich, um sich zu beruhigen, doch es half nicht richtig. Sie hatte das Gefühl, ihr gesamtes Inneres sei von Ameisen besiedelt, die wie wild durcheinander liefen. Lydia wusste nicht, was sie mehr ängstigte, Madame Carpenter zu treffen und ihr Urteil zu hören, oder dieses berüchtigte Haus zu betreten. Endlich erhob Hubert sich vom Tisch. Er beäugte sie misstrauisch. Sie starrte durch Augenschlitze zurück. Er ging ohne ein Wort. Lydia schob die Scheibengardinen beiseite, um sich zu vergewissern, dass er wirklich fort war. Dann zog sie denn winzig gefalteten Zettel aus ihrem Dekolletee. Sie las ihn noch einmal und das Geschriebene erschien ihr plötzlich belanglos, lächerlich und erbärmlich. Die Ameisen hatten sich scheinbar noch weiter vermehrt, krochen ihr nun aus den Körperöffnungen und bedeckten schließlich ihren ganzen Körper. An seinem zweiten Arbeitstag blickte Christian immer wieder prüfend zu seinem neuen Chef hinüber, denn Joes Bemerkung vom Vortag ging ihm nicht aus dem Kopf, doch Alexander Czerna zeigte keinerlei unschickliches Interesse an ihm. Eigentlich beleidigend, dachte er bei sich. Schließlich war er doch ein recht ansehnlicher Kerl, oder etwa nicht? Aber letztlich war es sicher besser so. Christian wollte diese Arbeit nicht gleich wieder verlieren und derlei Dinge verkomplizierten häufig alles. Er linste noch einmal hinüber zu Czerna und überlegte, wie dieser IHM denn eigentlich gefiel? Eher schmächtig und klein, besonnen und sanftmütig. Abgesehen davon, dass er alt genug war, sein Großvater zu sein, waren dies durchaus Attribute, die ihm gefielen. Gut möglich, dass Noah ihm in vierzig Jahren ähneln mochte? Christian hoffte jedoch, dass dieser dann nicht derart melancholisch sein möge. Vielleicht wäre er selbst dann ja sogar noch in der Nähe wäre, um das zu verhindern? Was mochte Czerna wohl so traurig machen, überlegte Christian? Vielleicht würde er es ihm eines Tages verraten? Lydia schlich hinüber zum roten Haus und sah dabei aus, wie eine Person, die sich gerade eines Verbrechens schuldig machte. Hektisch drehte sie sich immer wieder nach allen Seiten um, nahm nicht den direkten Weg, sondern schlug Haken, wie ein gejagtes Kaninchen, um etwaige Verfolger, die nur in ihrer ängstlichen Vorstellung existierten in die Irre zu führen. Als sie die beiden hellrot gestrichenen Häuser schließlich am Horizont aufragen sah, raste ihr Herz dermaßen, dass sie fürchtete, sie müsste daran sterben. Warum verdammt nochmal, gab es hier nur so wenig Sichtschutz? Kein Haus weit und breit und nur wenige Bäume. Zwischen ihnen huschte Lydia nun hin und her und näherte sich dabei langsam ihrem Ziel. Nun war es nur noch ein letzter Sprint und sie stand vor dem Wohnhaus. Sie pochte aufgeregt an der Tür und es dauerte scheinbar eine Ewigkeit, bis ihr endlich geöffnet wurde. Ein schmächtiger Junge von etwa vierzehn oder fünfzehn Jahren blickte sie fragend an. Ihr Blick war gehetzt und wechselte aufgeregt zwischen dem Knaben und dem Inneren des Hauses hin und her, ehe sie japsend hervorbrachte: „Madame Carpenter. Ist sie da? Darf ich hereinkommen?“ Sam zuckte gleichgültig mit den Schultern: „Ich hole sie!“ erklärte er, ließ die seltsame Fremde eintreten und führte sie in die Küche. Dort fand Lydia einen großen, schlanken Jungen und eine hübsche, zierliche, junge Frau vor, die Händchen hielten. Der Junge kam Lydia vage bekannt vor. Er erinnerte sie an den jüngeren Sohn des Hufschmieds, doch irgendwie war er es dennoch nicht? Alice zog Helena aus der Küche und aus dem Haus, denn sie hatte die Frau des Sheriffs erkannt und hoffte sehr, dass diese ihrerseits nicht ahnte, wer sie selbst war. Doch wahrscheinlich hatte sie sie nicht einmal als ein Mädchen identifiziert, versuchte sie sich selbst zu beruhigen: „Was ist denn los Liebling? Wer war das?“ wollte Helena wissen. Alice erklärte es ihr und Helena machte große Augen: „Denkst du, sie weiß, wer du bist und wird dich an deine Familie verraten?“ Alice zuckte mit den Schultern: „Ich habe mich ganz schön verändert! Vielleicht habe ich sie täuschen können.“ Sie zögerte, ehe sie weitersprach: „Ich will nicht weiter flüchten müssen! Ich bin gerne hier!“ sagte sie unglücklich: „Mach` dir keine Sorgen. Es wird schon nicht so schlimm werden! Und falls doch, hast du Freunde hier, die dich beschützen werden! Und einer davon ist immerhin der Deputy dieser Stadt!“ Und mit einem schelmischen kleinen Zwinkern fügte sie hinzu: „Komm! Wir verstecken uns in meinem Zimmer, schließen ab und ziehen die Gardinen zu, dann findet uns niemand. Ganz gleich WAS wir treiben!“ Sie kicherte. Alice schüttelte schmunzelnd den Kopf über ihre durchtriebene Freundin: „Du kriegst wohl nie genug?“ fragte sie. „Das siehst du richtig!“ erwiderte Helena und zog Alice hinter sich her. „Na sowas! Haben sie also endlich doch den Weg hierher gefunden, Mrs. Snyder!“ begrüßte Justine Lydia herzlich. Die Frau des Sheriffs wirkte blass und gehetzt: „Soll ich uns einen Tee machen?“ erkundigte sich Justine sanft: „Sie sehen aus, als könnten sie ihn vertragen.“ Lydia nickte fahrig und Justine nahm ihre Hand und drückte sie. Als das Teewasser aufgestellt war, führte Justine Lydia am Arm zum Tisch, hieß sie Platz zu nehmen und setzte sich neben sie: „Was führt sie denn zu mir?“ erkundigte sich Justine: „Wie kann ich ihnen weiterhelfen?“ Der Blick der Gemahlin des Sheriffs war der eines verwundeten Tieres: „Sie haben gesagt, ich soll ihnen sagen, wie ich mein weiteres Leben gestalten möchte. Sie wollten mir helfen! Erinnern sie sich nicht?“ stotterte sie ängstlich. Justine lächelte sanft: „Aber sicher erinnere ich mich, Mrs. Snyder. Sind sie deshalb gekommen? Ich bin sehr gespannt!“ Lydia nickte eifrig und zog einen winzig zusammengekniffenen Zettel aus ihrem Ausschnitt, entfaltete ihn und legte ihn vor Justine auf den Tisch. Die Schrift auf dem Dokument verriet einem bereits alles, was es über Lydia Snyders Gemütszustand zu wissen gab. Die Buchstaben waren klitzeklein, als sollten die niedergeschriebenen Gedanken auf gar keinen Fall zu viel Raum einnehmen. Darüber hinaus fiel auf, wie unglaublich akkurat die Schriftzeichen waren. Sie sahen nicht geschrieben, sondern eher gedruckt aus, so als hinge das Leben der Verfasserin davon ab, so ordentlich, genau und kontrolliert wie möglich alles festzuhalten. Die Liste umfasste folgende Punkte: Etwas tun, was anderen nutzt Menschen helfen Eigenes Geld haben Jemanden zum Reden haben Einmal Millers Landing verlassen und das Meer sehen Beim letzten Punkt war die Schrift schließlich so klein, das Justine ihre Brille, die sie an einer Kette um den Hals trug, zu Hilfe nehmen musste, um sie zu entziffern: Meinen Mann verlassen Stand dort geschrieben. Justine blickte Lydia nachdenklich an. Lydia schaute mit weit geöffneten Augen ängstlich zurück: „Sie finden es sicher sehr dumm, habe ich recht?“ Justine schüttelte energisch den Kopf: „Keineswegs meine Liebe! Was sie schreiben klingt sehr vernünftig!“ erwiderte sie: „Nun lassen sie uns sehen, wie wir ihre Wünsche Wirklichkeit werden lassen können. Haben sie noch lebende Familienangehörige? Eltern, Kinder, sonst irgendjemanden, der ihnen behilflich sein kann oder sie vielleicht sogar bei sich aufnehmen könnte?“ Lydias Gesicht verwandelte sich vor Justines Augen zu einer bleichen Totenmaske. Zwei riesige Tränen kullerten ihr über die wächsernen Wangen: „Da ist niemand!“ schluchzte sie: „Nur meine beiden Jungs, doch die würden mir niemals helfen, ihren Vater zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen. Eher würden sie mich in ein Sanatorium schickten, weil sie sicher wären, das ich den Verstand verloren habe.“ Sie schluckte: „Wahrscheinlich habe ich das ja auch! Ich habe Kinder erzogen und damit meinen Teil geleistet. Ich muss verrückt sein, mehr zu wollen!“ Sie wollte vom Tisch aufspringen, doch Justine griff nach ihren Schultern und drückte sie zurück in den Stuhl: „Warten sie, meine Liebe. Ihr Teewasser hat soeben gekocht. Den sollten wir jetzt noch gemeinsam genießen!“ erklärte sie bestimmt und erhob sich um den Aufguss zu machen: „Wie alt sind sie Lydia?“ erkundigte Justine sich über ihre Schulter hinweg. „Ich werde in diesem Jahr fünfundfünfzig Jahre alt. Eine Großmutter also. Ich habe schon vier Enkelkinder.“ Justine stellte die Becher auf dem Tisch ab, ließ sich wieder nieder und erwiderte: „Sie haben gewiss noch sehr viele Jahre vor sich. Wollen sie diese wirklich damit verbringen, auf den Tod zu warten? Denken sie, dass sich das unser Schöpfer so gedacht hat, als er uns ins Leben gestellt hat?“ Lydia blickte die andere Frau nachdenklich an und schüttelte dann den Kopf: „Vermutlich nicht!“ bestätigte sie matt. Justine lächelte aufmunternd: „Als Frauen lernen wie von klein auf, uns zu begnügen. Aus irgendeinem Grund ist mir das nie sehr gut gelungen. Ich wollte immer mehr, als man mir zugestehen wollte. Und weil ich so daran geglaubt habe, habe ich es auch bekommen. Ich bin viel gereist, habe interessante Menschen getroffen und habe die Chance gehabt, in den Köpfen von Menschen etwas zu verändern. Sie ahnen sicher nicht, wie wundervoll und beglückend das sein kann, aber ich möchte sie ermutigen, große Träume zu haben, sowie den Mut, zu versuchen, diese in die Realität umzusetzen. Ich denke, meine Mitstreiterinnen und ich würden sie gern dabei unterstützen. Können sie sich vorstellen, uns nach Boston zu begleiten, wenn die Zeit gekommen ist?“ Entsetzen, Neugier und Begeisterung kämpften in Lydias Gesicht um die Oberhand. Schließlich platzte sie heraus: „Darf ich darüber nachdenken?“ „Aber sicher!“ erwiderte Justine: „Sie sollten es sich sogar sehr gründlich überlegen, denn es ist eine große Entscheidung. Aber versprechen sie mir, dass sie sich bei dieser nicht allein von ihrer Angst leiten lassen, in Ordnung?“ Lydia nickte und machte sich zum Aufbruch bereit, ohne ihren Tee angerührt zu haben. In der Tür drehte sie sich noch einmal um und erklärte feierlich: „Ich werde sie wieder aufsuchen!“ Dann war sie verschwunden. Justine blickte ihr nachdenklich hinterher. „Eine eigenartige Frau“, dachte sie, aber auf irgendeine Weise fühlte sie sich von Lydia Snyder tief berührt. Lydia verließ das rote Haus seltsam gewärmt. Irgendetwas an Justine Carpenter vermittelte ihr ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen, welches sie sonst nicht kannte. Obwohl einige Jahre jünger als sie selbst, erschien sie ihr wie eine Art freundliche, gütige Mutterfigur. Beinahe hätte Lydia in ihrem Hochgefühl sogar ihre Vorsicht vergessen, sich nicht entdecken zu lassen. Als ihr das klar wurde, schrak sie zusammen und besann sich wieder auf etwas mehr Achtsamkeit. Und wie sich herausstellen sollte, war das auch gut so. Sie war einen großen Bogen gelaufen, damit man von Millers Landing aus nicht ahnen konnte, woher genau sie kam und kaum hatte sie sich dem Ortskern genähert, erblickte sie in der Ferne ihren Ehemann. Er hatte sie auch gesehen, dessen war sie sich sicher, aber er versteckte sich rasch hinter einer Hauswand. „Wo kommt sie um diese Zeit her? Was treibt diese Frau?“ fragte Snyder sich ärgerlich. Sie hatte ihn nicht gesehen; so meinte er zumindest. Wenn er sich sehr beeilte, war er vor ihr zuhause. Dann würde er sie zur Rede stellen. Er rannte los. Immer noch ein wenig keuchend und schwitzend ließ der Sheriff sich am Esstisch in seinem Haus nieder, schlug betont lässig ein Bein über das andere und erwartete seine Frau. Als sich die Tür öffnete, bemerkte er gereizt: „Kommst du auch endlich nachhause? Ich warte schon eine Ewigkeit auf dich! Wo warst du? Wann gibt es Mittagessen?“ Lydia lächelte geheimnisvoll: „Ich fange gleich an zu kochen.“ versicherte sie und verschwand in der Küche, ohne auf seine anderen Fragen auch nur einzugehen. Snyder folgte ihr; nur um sicherzugehen, dass nichts in seinem Mittagessen landete, was nicht dort hinein gehörte. Am folgenden Tag meldete er sich bei seinem Deputy für eine Woche krank, ohne es Lydia wissen zu lassen. Er verließ am Morgen das Haus und verfolgte dann heimlich jeden Schritt seiner Frau. Er würde schon noch herausfinden, was hier gespielt wurde! In den folgenden Tagen machte sich Katerstimmung im roten Haus breit. Nächste Woche war es so weit, die Bostonerinnen würden wieder abreisen. Allen war nur allzu deutlich bewusst, wie fest die Bande geworden waren, die zwischen ihnen entstanden waren. Der Abschied würde schwer werden; mehr noch in dem Bewusstsein, dass sie ihre jüngste Mitstreiterin Helena zurücklassen würden. Und Justine brach es das Herz, Kathryn zu verlassen. Zwar hatte sie sich damit abgefunden, dass diese ihr nicht die gleichen Gefühle entgegenbrachte wie umgekehrt, doch sie würde nicht nur eine Geliebte, sondern auch eine Freundin und Seelenverwandte zurücklassen; einen der interessantesten Menschen, der ihr in ihrem Leben begegnet war. Die Bewohnerinnen und Bewohner des roten Hauses würden ihre Gäste ebenfalls vermissen, doch abgesehen davon war da ja auch die Angst vor der ungewissen Zukunft. Weiterzumachen, wie vorher kam für niemanden infrage; darüber waren sich alle einig, doch welche Alternativen hatten sie schon? Würden die Leute von Millers Landing ihnen wohl die Chance geben, ein bürgerliches Leben zu beginnen? Würden sie hier seriöse Anstellungsverhältnisse finden? Einig waren sie sich wenigstens in einem Punkt: Was immer sie taten, sie würden es gemeinsam tun. Ob sie blieben, oder fortgingen, ob sich ihnen eine Zukunft böte oder sie hungern müssten; sie würden es zusammen durchstehen. Sie kamen schließlich überein, dass sie versuchsweise den Barbetrieb wieder aufnehmen würden, doch abgesehen vom Alkoholausschank würde es keine weiteren Dienstleistungen mehr dort geben. Ob sie damit erfolgreich wären, oder untergingen war ungewiss. Melody bedrückte neben dem Abschiedsschmerz und den Zukunftsängsten noch etwas anderes. Sie hatte nämlich eine erschreckende Feststellung gemacht: Es gab unmissverständliche Anzeichen dafür, dass sie schwanger war! In all` den Jahren als Hure war dies nie geschehen, so dass sie immer davon ausgegangen war, unfruchtbar zu sein und im Grunde war ihr das ganz recht gewesen. Doch offensichtlich hatte sie sich geirrt. Und was nun? Sie wusste genau, was James tun würde, wenn er davon erführe, nämlich das Anständige: Er würde darauf bestehen, dass sie ihn heiratete. Das kam für Melody auf keinen Fall in Frage. Allein der Gedanke daran schnürte ihr die Luft ab! Sie musste also zusehen, dass James in die Arme seiner geliebten Kathryn zurückkehrte, ehe ihr Zustand nicht mehr zu leugnen wäre. Mehr als alles Andere wollte Melody ihrer Schwester erzählen, was geschehen war und ihren Rat einholen, doch zwischen ihnen herrschte immer noch eiszeitliche Stimmung und damit wurden die Optionen rar, sich irgendwem anzuvertrauen. Ein paar Mal hatte Lydia in den vergangen Tagen den Versuch gemacht, hinüber zu Madame Carpenter zu gehen, doch irgendwie hatte sie sich stets unwohl dabei gefühlt, so als würde sie dabei beobachtet werden. Offenbar litt sie bereits unter Verfolgungswahn, doch hin und wieder meinte sie, ihren Ehemann hinter einer Mauer oder einem Baum lauern zu sehen, wenn sie aber nachschaute, war er nicht da, und so verschob sie ihren zweiten Besuch im roten Haus von einem Tag auf den nächsten um ganz sicher zu gehen. Doch langsam wurde sie unsicher, denn sie wusste auch, dass die Damen aus Boston bald abreisen würden. Also nahm sie an einem Nachmittag ihren ganzen Mut zusammen und machte sich auf den Weg. Das tagelange Lauern schien sich endlich bezahlt zu machen. So, wie Lydia sich immer wieder umschaute, ängstlich innehielt und scheinbar sinnlos die Richtung wechselte, hatte sie offenbar ein Ziel vor Augen und wollte unbedingt sichergehen, dass niemand ihr folgte. Was mochte sie vorhaben? Wen wollte sie in dieser Heimlichkeit treffen? War es ein anderer Mann? Oder ging es gar um etwas viel Schlimmeres? Langsam wurden die Verstecke rar, doch mittlerweile erkannte Snyder, wo seine Frau hinwollte. Dem Sheriff lief es eiskalt den Rücken hinab. Er blieb in einem Schlupfwinkel zurück und wartete ab. Erst als Lydia nicht mehr zu sehen war, machte er sich selbst auf den Weg hinüber zum roten Haus. „Ich werde mit ihnen gehen!“ verkündete Lydia Snyder. Es klang, wie ein feierlicher Eid. Justine nickte bedächtig: „Ich freue mich, das zu hören!“ erwiderte sie: „Ich denke, sie haben es sich gut überlegt. Sie können übergangsweise in meinem Haus leben. Alles Weitere werden wir sehen, wenn wir vor Ort sind, denke ich. Es stellt sich ja die Frage, wo und wovon sie auf lange Sicht leben werden, meine Liebe.“ Lydias Augen wurden schreckensweit. Mit einem Mal war sie sich ihrer Sache gar nicht mehr so sicher. Sie konnte nichts und hatte nichts gelernt und vor allem nicht, sich selbst um sich zu kümmern. Sie würde elendig zugrunde gehen und verhungern in der großen Stadt! Selbst als Dirne könnte sie kein Geld mehr verdienen, alt und welk wie sie war! Als sie Justine diese Dinge stotternd erklärte, versicherte diese beschwichtigend: „Haben sie keine Sorge. Diese Dinge werden sich finden. Ich habe sehr viele Kontakte in Boston. Alles wird gut werden. Ich helfe ihnen! Versprochen!“ Sie legte vorsichtig einen Arm um die andere Frau und diese schien sich unter der Berührung ein wenig zu entspannen. Der Sheriff traute seinen Augen kaum, als er durch eines der Fenster linste und seine Frau am Küchentisch mit der Rädelsführerin dieser Hexen aus Boston sah. Was immer sie mit ihr zu besprechen hatte, es konnte nur gegen ihn gerichtet sein. Höchstwahrscheinlich planten sie gerade ein Mordkomplott! Als Snyder erkannte, dass seine Frau sich zum Aufbruch bereit machte, folgte er ihr nicht. Stattdessen schlich er in die Scheune des Hauses, stieg die Leiter hinauf, verbarg sich im Heu und wartete. In diesem Haus ging offensichtlich viel mehr vor, als er bislang geahnt hatte und er würde der Sache nun auf den Grund gehen. Er musste auch nicht lange warten, ehe tatsächlich etwas geschah. Das Scheunentor öffnete sich und zwei Jungen kamen herein; ein großer und ein kleinerer. Den Großen erkannte Snyder als denjenigen, der sich neuerdings bei diesem widerlichen alten Sodomisten in der Lehre befand. Bei dem anderen handelte es sich um den Sohn von Reverend Schultz. Was zur Hölle machte ein braver Pastorensohn wohl an diesem verdammten Ort? Snyder linste über den Rand seines Verstecks und wartete. Die Jungen jagten einander lachend, bis Christian Noah schließlich eingefangen und gepackt hatte. Er drängte ihn grinsend gegen die Wand der Scheune und sie küssten einander. Dann ging das Scheunentor erneut auf. Helena, Alice, Joe und Tiny traten ein. Sie zogen sich in einem Kreis Fässer und Kisten zusammen und ließen sich auf ihnen nieder. „Nun lasst endlich die Finger voneinander und kommt zu uns!“ rief Alice genervt. „Ich kann nicht!“ antwortete Noah kichernd: „Mein Körper gehorcht mir einfach nicht!“ „Geht mir genauso!“ rief Christian. Dann raunte er Noah zu: „Ich bin verrückt nach dir, weißt du das?“ Alice verdrehte die Augen und stöhnte: „Oh Mann, ich glaube mir wird schlecht!“ Helena kicherte, nahm ihr Gesicht in ihre Hände und küsste sie: „Hab` doch ein wenig Nachsicht mit dem jungen Glück!“ säuselte sie zärtlich. Endlich ließen Noah und Christian voneinander ab und setzten sich zu den anderen. In diesem Moment erschien Sam mit Spielkarten in der Tür: „Wollen wir?“ fragte er. Snyder hatte die Runde beim Kartenspiel beobachtet. Vor dem unschuldigen Kind hatten sie sich den Anschein von Normalität gegeben, doch ER erkannte, was diese Leute in Wirklichkeit waren; sie waren hochgefährlich! Von ihnen ging eine Krankheit aus, die soeben im Begriff war, sich tief in das Herz von Millers Landing zu fressen. Und niemand außer IHM selbst schien etwas zu bemerken? Der Sheriff hatte keine Ahnung, wem er noch trauen konnte. Das Böse hatte sich ja sogar schon im Pfarrhaus niedergelassen. Unbemerkt! Männer, die bei anderen Männern lagen. Nicht nur die beiden Jungen. Snyder war auch nicht entgangen, wie der Junge aus dem Gemischtwarenladen und der riesige Schwarze einander bei den Händen gehalten hatten. Ihm wurde übel! Und dann war da ein Zwitterwesen, halb Mann, halb Frau? Wer weiß was noch alles vor sich ging. Es waren die Vorzeichen der Apokalypse! Wenn er seine Stadt und seine Frau retten wollte, musste er etwas unternehmen. Er wusste nur noch nicht, was das sein sollte. Er musste besonnen vorgehen, soviel stand fest. Er musste verstehen, was wirklich vorging. Er musste herausfinden, wie weit die Seuche bereits um sich gegriffen hatte. War nur Millers Landing betroffen? Die Hexen aus der Großstadt waren schließlich überall in der Gegend gewesen. Vielleicht waren sie es gewesen, die über alles und jeden einen Zauber gelegt hatten? Nur ER selbst schien immun zu sein. Und das machte IHN zu Gottes rechter Hand. Die Versammlung unten hatte sich aufgelöst und Snyder fühlte sich überreizt und erschöpft. Doch kaum dass er die Augen schloss, stiegen in seinem Geiste Bilder auf, die ihn keinen Schlaf finden ließen. Eine endlosen Reihe von Leibern: Männern, Frauen und Zwitterwesen, gehörnte und geflügelte Dämon-Mensch-Hybriden; allesamt nackt, verschlungen und sich ekstatisch windend. Eine endlose Orgie! Eine Vision der nahen Zukunft zweifelsohne; die Hölle auf Erden, die ER verhindern musste. Er warte die Nacht ab. Snyder verließ sein Versteck und schlich im Schutz der Dunkelheit hinüber zum Wohnhaus. Im Küchenfenster brannte noch Licht und so warf der Sheriff einen Blick hinein. Mit dem Rücken zu ihm stand eine der schwarzen Huren am Herd und rührte in einem Topf. Da betrat eine weitere Person die Küche und der Sheriff traute seinen Augen kaum, als er erkannte, um wen es sich handelte: Es war Jimmy! Er schlang seine Arme um die Hüften der Frau und küsste ihren Nacken. Sie ihrerseits lehnte sich an ihn, griff seine Hände und zog sie hinauf zu ihren Brüsten. Sie lachten! Sein Deputy war also mitten im Zentrum dieser ganzen Sache; war es vermutlich schon die ganze Zeit gewesen und hatte ihn immer nur an der Nase herumgeführt? Snyder bebte vor Wut, griff nach seinem Revolver und zielte auf die beiden. Doch dann besann er sich. Er durfte nicht vorschnell handeln, musste die Verführten von den Verführern unterscheiden. Erst dann konnte er richten! Er steckte die Waffe wieder zurück in ihr Holster, rutschte an der Hauswand hinab und ließ sich auf den Boden sinken. Er konzentrierte sich auf seinen Atem, um sich zu beruhigen. Shy erwachte schweißüberströmt. Jenes beklemmende Gefühl, das sie bereits seit einiger Zeit begleitete war in diesem Moment so stark, dass es ihr gesamtes Schlafzimmer auszufüllen schien. Sie musste hier auf der Stelle raus, also zog sie sich ihr Kleid und einen Mantel über, verließ den Raum, schritt die Treppen hinab und trat vor das Haus. Es war sternklar und ruhig. Jeder im Haus schlief bereits. Sie beschloss ein paar Schritte zu gehen. Dann hörte sie hinter sich ein Geräusch. Sie drehte sich um und die Welt um sie herum verschwand mit einem Mal im Nichts. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)