Far Across the Distance von Morwen (Shiro x Keith) ================================================================================ Part II ------- Jetzt   Die Schreie waren mittlerweile gedämpfter und nur noch vereinzelt waren laute Hilferufe zu hören. Keiths Zähne klapperten vor Kälte, während er sich verzweifelt an das nasse Holz klammerte. Immer wieder drehte sich die Kiste zur Seite, und Keith tauchte erneut in das eiskalte Wasser ein. Und mit jedem Mal fiel es ihm schwerer, wieder hochzuklettern. „Shiro...“, stieß er schwach hervor, doch wie auch die Male zuvor blieb sein Rufen unbeantwortet.   Zuvor   „Hey Pidge!“, rief Keith, kaum dass er zurückgekehrt war. „Ich habe dir was mitgebracht.“ Der verwuschelte, dunkelblonde Schopf seines Zimmergenossen kam aus einem Berg zerknitterter Decken zum Vorschein, den er um sich und einen Stapel von Büchern auf seinem Bett errichtet hatte. „Keith, was-?“, begann der junge Mann, doch dann wurden seine Augen plötzlich groß, als er sah, was Keith in den Händen hielt. „Woah!“, rief er aus und rückte seine zerkratzten Brillengläser zurecht, bevor er vom Doppelstockbett hinunterkletterte, um sich mit Enthusiasmus auf das Brot zu stürzen. Keith grinste nur, amüsiert von dem Eifer des anderen Jungen. Natürlich bekam auch die dritte Klasse ihre drei Mahlzeiten am Tag serviert, doch es war nie genug, um den ewigen Hunger zweier junger Menschen zu stillen, die sich noch in der Wachstumsphase befanden. Darum suchte Keith schon seit dem Beginn ihrer Reise nach Wegen, ihr Nahrungsangebot ein wenig zu erweitern. Er hatte schnell festgestellt, dass er mit einem halbwegs sauberen Hemd und seiner Weste gut als Mitglied des Servicepersonals durchging, ein Umstand, den er ausnutzte, um sich auf das Deck der zweiten – und manchmal, wenn er sich besonders mutig fühlte, auch das der ersten – Klasse zu schleichen und dort die Essensreste einer gesellschaftlichen Schicht zu stehlen, die ihr ganzes Leben lang nie Hunger gekannt hatte. Bisher war Keith auch noch nie erwischt worden – nicht bis zu diesem Morgen. Doch anstatt ihn dem Schiffspersonal zu melden, hatte ihn der Fremde mit der weißen Uniform und den warmen Augen einfach wieder gehen lassen und ihm dabei sogar noch mehr Essen angeboten. Keith war sich immer noch nicht sicher, was er davon halten sollte. Er zögerte einen Moment, doch die Sache beschäftigte ihn zu sehr, als dass er sie Pidge vorenthalten konnte. „Ich habe vorhin einen seltsamen Typen getroffen“, sagte er, während der andere Junge bereits die dritte Scheibe Brot in sich hineinstopfte. „Hrmmgh?“, machte Pidge an dem Brot vorbei, was seine Art war Keith mitzuteilen, dass er ihm zuhörte. „Er war zweite Klasse, ich glaube Militär oder Marine oder so“, fuhr Keith fort. „Er hat einfach sein Essen mit mir geteilt, ohne irgendwelche Fragen zu stellen.“ Während er die Worte aussprach, merkte er plötzlich, wie dubios das Ganze klang. Auch Pidge hatte auf einmal aufgehört zu kauen und beäugte misstrauisch das Brot in seiner Hand. „Wie wirkte er auf dich?“, fragte er dann. Keith überlegte kurz. „Erstaunlich normal für einen von weiter oben“, gab er dann zu. Dann fiel ihm ein weiteres Detail ein. „Er schien nicht wirklich zu wissen, wie er mit mir umgehen soll. Als wären ihm europäische Verhaltensweisen fremd. Er sah asiatisch aus, vielleicht Chinese oder so.“ Pidge dachte für einen Moment darüber nach, dann zuckte er mit den Schultern und aß weiter. „Dann mache ich mir keine Sorgen“, meinte er kauend. „Unsere Kultur hat ihn ganz offenbar noch nicht verdorben.“ Und damit schien das Thema für ihn erledigt zu sein. Keith wandte sich kopfschüttelnd ab und ließ sich auf seinem Bett nieder, um die letzte Scheibe Brot zu essen. Sein Zimmergenosse gab ihm täglich neue Rätsel auf. Pidge Gunderson war auf dem Weg in die neue Welt, um seinen Vater und seinen älteren Bruder zu finden, die ein paar Jahre zuvor dorthin ausgewandert waren und vor einigen Monaten aufgehört hatten, auf seine Briefe zu antworten. Das war jedenfalls die Geschichte, die Keith am ersten Abend ihrer Reise aus ihm herausgekitzelt hatte, auch wenn er spürte, dass insgeheim noch mehr dahinter steckte. Sah man mal von seiner familiären Situation ab, war Pidge ein lebhafter und interessierter junger Mann, der der Welt um sich herum mit jugendlicher Begeisterung begegnete und stets das Gute in den Menschen sah. Außerdem war er ein wandelndes Lexikon und konnte Keith stundenlang von Orten und Dingen erzählen, von denen er noch nie zuvor gehört hatte. Und obwohl Keith manchmal Desinteresse vortäuschte, um für eine Weile seine Ruhe zu haben, genoss er ihre Unterhaltungen doch sehr. Alles in allem hätte er es mit seinem Zimmergenossen wesentlich schlechter treffen können. Nachdem Pidge das restliche Brot verputzt hatte, kletterte er wieder auf sein Bett hinauf und vertiefte sich erneut in eines seiner Bücher, die er mit derselben Leidenschaft hütete, wie ein Drache seinen Hort. Keith wurde hingegen nach einer Weile rastlos und stand auf, um durch die öffentlichen Räumlichkeiten der dritten Klasse zu streifen und sich nach etwas Abwechslung umzusehen. Er mochte den Rauchsalon nicht besonders, er hasste den Gestank der billigen Zigarren und den Anblick der allgegenwärtigen Spucknäpfe. Doch es war der perfekte Ort, um seine Mitreisenden beim Karten- oder Würfelspiel um ein paar Münzen zu erleichtern. Denn wenn Keith eines gebrauchen konnte, dann war es Geld. Das Ticket für die Überfahrt hatte ihn sein gesamtes Vermögen gekostet, und wollte er in der neuen Welt vorankommen, dann brauchte er dringend etwas Kleingeld. Keith rollte seine Schultern und zog seine Schirmmütze tiefer ins Gesicht, dann setzte er eine grimmige Miene auf und stürzte sich in den Trubel. Eine Stunde später war er beim Kartenspiel um drei Schilling und ein paar verärgerte Mitreisende reicher geworden. Bevor sich die Stimmung jedoch gegen ihn wenden konnte, nahm er seinen Gewinn an sich und trat den Rückzug an. Zwar würde er in wenigen Tagen New York erreichen und all diese Leute nie wiedersehen, doch es gab keinen Grund, sich bis dahin unnötig Feinde an Bord zu machen. Beim Verlassen des Salons rempelte er versehentlich einen anderen Passagier an. „Sorry“, murmelte Keith und wollte gerade weitergehen, als der Mann ihn ansprach. „Keith?“ Überrascht starrte Keith ihn an. „... Shiro?!“ Unter der grauen Kappe, die seine dunklen Haare bedeckte, und dem Schal, den er um seinen Hals geschlungen hatte, hätte er ihn fast nicht erkannt. Shiro hatte seine Uniform abgelegt und sie gegen eine schlichte Hose mit Trägern und ein beigefarbenes Hemd eingetauscht. Lediglich die edlen, dunklen Lederschuhe ließen darauf schließen, dass er einer höheren gesellschaftlichen Schicht angehörte als der, in der er sich gerade bewegte. Der andere Mann schien mindestens ebenso überrascht zu sein, wie er, denn er starrte Keith einen Moment lang aus großen Augen an. Dann verzog sich sein Mund zu einem Lächeln. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen würden“, sagte er. „Was machen Sie hier?“, fragte Keith ihn jedoch nur ohne große Einleitung. „Neue Perspektiven erfahren“, entgegnete Shiro, als würde dies alles erklären. Keith sah ihn fassungslos an. Erlaubte sich der Mann einen Scherz mit ihm? „Ist diese Sache ein Spiel für Sie?“, zischte er und zog Shiro zur Seite, fort von der Tür, um ungestört mit ihm reden zu können. „Aus Ihrem Elfenbeinturm zum gemeinen Volk herabzusteigen und sich an unserer Armut zu ergötzen?“ Shiro sah ihn betroffen an. „Es liegt mir fern, dich oder die anderen Passagiere zu verspotten“, erwiderte er schließlich und schloss seine Hand warm um Keiths Handgelenk, als wollte er seine Worte damit untermauern. „Alles, was ich will, ist für die Dauer der Fahrt Dinge zu erleben, die ich nirgendwo sonst erleben kann, bevor ich mich wieder Strukturen fügen muss, die schon seit meiner Geburt mein Leben bestimmen.“ Seine Stimme war leise und gefasst, und Keith wurde plötzlich bewusst, wie ernst dem anderen seine Worte waren. Und obwohl er nichts über den Mann und seine Hintergründe wusste, hatte er mit einem Mal fast so etwas wie Verständnis für ihn. Reichtum hin oder her, Shiros Leben schien strengen Reglementierungen unterworfen zu sein, und die Überfahrt in die neue Welt war offenbar seine einzige Gelegenheit seit langem, aus seinem vertrauten Leben auszubrechen. Wer war Keith, ihn daran zu hindern...? Er stieß ein Seufzen aus und nickte knapp, bevor er wieder zu Shiro aufsah. „Na schön“, sagte er leise. „Was genau wollen Sie machen?“ Die dunklen Augen des anderen Mannes leuchteten auf. „Ich habe gehört, dass man sich hier am Glücksspiel beteiligen kann...?“ Shiro war auf fast charmante Art naiv, aber er war auch kein Dummkopf, das erkannte Keith schnell. Nachdem der andere Mann zwei Pfund beim Würfelspiel verloren hatte – mehr Geld, als Keith manchmal in einem ganzen Monat verdient hatte – wurde er vorsichtiger und setzte deutlich kleinere Beträge ein. Keith erklärte ihm derweil die besten Strategien beim Spiel oder woran man erkennen konnte, dass der Gegenüber schummelte, und keine halbe Stunde später war Shiro bereits wesentlich sicherer und selbstbewusster gegenüber seinen Mitspielern geworden. Als sie schließlich die letzte Runde beendetet hatten und den Salon verließen, hatte Shiro einen Teil seines Geldes wieder zurückgewinnen können. Doch trotz der finanziellen Verluste lag ein Lächeln auf seinen Lippen und seine Augen funkelten vor Begeisterung. „Das war wunderbar!“, sagte er, nachdem Keith und er die Gemeinschaftsräume hinter sich gelassen und auf das Deck hinaufgestiegen waren. „Vielen Dank für deine Hilfe, Keith.“ Keith zuckte nur mit den Schultern und wandte den Blick ab. Die offene Freude und Zuneigung auf dem Gesicht des anderen Mannes war ihm auf seltsame Art... nein, unangenehm war das falsche Wort. Er wusste schlichtweg nicht, wie er damit umgehen sollte. „Keine Ursache“, murmelte er. „War ja nicht mein Geld.“ Shiro brach in Gelächter aus, und sein Lachen ließ auch Keith für einen Moment schmunzeln. Als sich ihre Wege kurz darauf wieder trennten, hatte Keith einen Ort und eine Uhrzeit für ein weiteres Treffen erhalten. Und irgendwie... irgendwie sah er ihrer nächsten Begegnung tatsächlich mit so etwas wie Vorfreude entgegen. Vielleicht würde er sich auf der Überfahrt doch nicht ganz so langweilen, wie er anfangs befürchtet hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)